Titelbild © Warner Bros. 2004
Inhalt
Vorbemerkung
Am 13. Mai 2009 habe ich dieses Buch auf fanfiktion.de erstmals als Internetroman veröffentlicht. Genau 5 Jahre zuvor, am 13. Mai 2004, startete in den deutschen Kinos der Film Troja. Ich entsinne mich, dass ich bis zum Samstag, den 15. Mai 2004, wie auf Kohlen gesessen habe, weil ich diesen Film unbedingt sehen wollte, aber keine Gelegenheit hatte, früher ins Kino zu gehen.
Damals wurde – insbesondere im Forum auf der offiziellen Filmseite – viel diskutiert, ob die Verfilmung so in Ordnung war oder ob sie sich zu weit von der literarischen Vorlage der Homer-Epen Ilias und Odyssee entfernt hatte, ob die Personen denen der Vorlage entsprachen. Durch die Diskussionen im damaligen Troja-Forum habe ich einige Leute kennen gelernt, mit denen mich bis heute eine Freundschaft verbindet.
Für sie habe ich damals eine erste (Gedächtnis-)Version eines Filmbuchs produziert, weil es mich wirklich ernsthaft geärgert hat, dass der Roman Die Frauen von Troja als Buch zum Film verkauft wurde, der mit der tatsächlichen Filmhandlung aber so viel zu tun hatte wie eine Sage mit der realen Historie. Natürlich basierte auch der Roman auf Ilias und Odyssee, war aber eine gänzlich andere Interpretation, als Drehbuchautor David Benioff und Regisseur Wolfgang Petersen für ihren Film gewählt hatten.
Als die DVD zur Kinofassung von Troja auf den Markt kam und ich Gelegenheit hatte, die Gedächtnisversion in eine dem Original entsprechende Fassung umzupolen, kursierten schon die ersten Bilder von Königreich der Himmel. Wer einen Blick auf mein Profil auf fanfiktion.de wirft, sieht schnell, dass ich gerade in Sachen Königreich der Himmel aktiv bin. Ich habe das Filmbuch damals zwar für meine Freunde fertiggestellt, es aber nicht auf fanfiktion.de veröffentlicht, weil Balian mich da bereits fest im Griff hatte.
Meine Freunde aus dem damaligen Troja-Forum haben mich nach Erscheinen des Director’s Cut als DVD im September 2007 nach allen Regeln der Kunst bekniet, doch eine erweiterte Fassung zu produzieren. Ich hatte es ihnen schon Ende 2007 versprochen, bin aber dank der Anhänglichkeit von Balian von Ibelin und William Turner jr. erst 2009 dazu gekommen.
Bis Juli 2015 war dieses Filmbuch auf fanfiktion.de veröffentlicht und hatte reichlich Leser; dann musste ich es dort entfernen, weil reine Nacherzählungen dort unerwünscht sind.
Der Director’s Cut ist mit 196 Minuten etwa 30 Minuten länger als die Kinofassung. Er hätte gern noch vier Minuten länger sein können und auch die Szene enthalten, in der Helena Paris nach dem Zweikampf mit Menelaos wieder zusammenflickt … Diese Szene fehlt mir wirklich – als bekennender Fan von Orlando Bloom, aber auch als jemand, der vollständige Filme schätzt.
Mein Filmbuch Troja Director’s Cut ist deshalb ein Director’s Cut Spezial – mit der entfallenen Szene (gekennzeichnet mit u am Beginn und t am Ende) und einer kleinen Ergänzung aus dem Drehbuch, die ich an Beginn und Ende mit ¿ gekennzeichnet habe.
Die Doppel-DVD enthält insgesamt 45 Kapitel. Wenn dieses Filmbuch mit Prolog und Epilog nur 38 Kapitel enthält, liegt das daran, dass manche Filmkapitel so kurz geraten sind, dass sie vielleicht eine halbe DIN A 4 Seite ausmachen. Das ist für meine Begriffe kein wirkliches Buchkapitel. Deshalb habe ich manche DVD-Kapitel zu einem größeren Buchkapitel zusammengefasst.
Der Film enthält einige Fehler, die ich nicht völlig umgehen konnte. Sparta und Mykene sind Städte, die mitten im Land liegen. Beide haben keinen Zugang zum Meer. Im Film wird dieser Eindruck aber vermittelt, indem an einer Steilküste ein Palast des Königs von Sparta gezeigt wird und der Königspalast von Mykene auch an einem Meeresarm zu liegen scheint. In beiden Fällen konnte ich die jeweiligen Orte nur als Sommerresidenzen titulieren, um die Meeresnähe halbwegs glaubwürdig erscheinen zu lassen. Ich habe mir dafür mit Nauplia für Agamemnon und Gythio für Menelaos griechische Hafenstädte in den jeweiligen Herrschaftsbereichen ausgesucht, die um 1200 v. Chr. bereits existierten.
Ein weiterer Fehler ist der zeitliche Ablauf der Heimfahrt der Trojaner und der im Film viel zu schnellen Zusammenstellung des griechischen Aufgebots. Hier habe ich die entsprechenden Szenen in die Abfolge gebracht, die realistisch erscheint.
Es gibt auch wieder ein Glossar, das wie üblich am Ende zu finden ist.
Ein besonderer Dank gilt der Redaktion der Zeitschrift für lebendiges Mittelalter, Karfunkel, (für die ich auch schon ein paar Artikel geschrieben habe) die mir genau zum richtigen Zeitpunkt ein Sonderheft über das antike Griechenland an den Kiosk geliefert hat. Danke, Claudia, dass du meine Gedanken gelesen hast und den Inhalt des Heftes angestoßen hast, lange bevor ich selber wusste, dass gerade zum passenden Zeitpunkt wieder nach Troja reise. Es ist purer Zufall, dass ich gerade jetzt Zeit für Troja gefunden habe … Oder hatte da etwa Apollon seine Hand im Spiel?
Wer auch immer seine Finger dran hatte – es hat mir noch ein paar zusätzliche Infos gegeben, die ich gut verwenden konnte.
Ich wünsche euch gute Unterhaltung bei
Troja – Director’s Cut Spezial
Euer Gundolf
ΩΩΩ
Prolog
3200 Jahre vor unserer Zeit
Nach Jahrzehnten des Krieges hat Agamemnon, König von Mykene, die griechischen Königreiche in eine lockere Allianz gezwungen.
Nur Thessalien ist noch unabhängig.
Agamemnons Bruder Menelaos, König von Sparta, ist kriegsmüde. Er sehnt sich danach, Frieden mit Troja zu schließen, dem mächtigsten Rivalen der entstehenden griechischen Nation.
Achilles, der als der größte Krieger betrachtet wird, der je geboren wurde, kämpft für die griechische Armee.
Aber seine Ablehnung von Agamemnons Herrschaft gefährdet den brüchigen Frieden.
***
Es war die Zeit, in der die Waffen aus Bronze waren und die Völker im Mittelmeerraum ihren Wanderungen folgten. Es war zu der Zeit, die man in der Erinnerung der Völker dieser Welt später die Bronzezeit nennen würde; eine Zeit, die etwa 1200 Jahre vor Beginn unserer gegenwärtigen Zeitrechnung lag. Man kannte die Jahreszahl nicht, die wir nach unserem heutigen Kalender diesem Jahr geben würden. Nach unserer heutigen Rechnung ereignete sich das, wovon hier berichtet werden soll, im Jahr 1193 vor Christi Geburt.
Ein einsamer Hund lief schnüffelnd über den flachen Boden eines ausgetrockneten Flusstales. Er vermisste seinen Herrn, der am Tag zuvor nicht heimgekehrt war. Der Hund fand eine Spur und folgte ihr unbeirrbar. Schwanzwedelnd nahm der den Geruch seines Herrn wahr und folgte dem stärker werdenden Duft. Er lief über Stock und Stein, ignorierte aufflatternde Krähen und verrenkt und zerschlagen daliegende Tote. Ihn interessierte nur ein einziger Mensch, und keiner von den Toten roch nach dem Gesuchten. Die Spur führte das Tier in einen Hohlweg, der zu einer schmalen Schlucht wurde.
Am Ende der sandigen Schlucht fand er, was er gesucht hatte. Mit einem Bellen verscheuchte er die Krähen, die sich an seinem Herrn laben wollten. Winselnd leckte der Hund den von vielen Wunden gezeichneten Körper seines Herrn ab. Es war zu spät – sein Herr war tot. Seit gestern schon …
ΩΩΩ
Uns Menschen verfolgt die schier unermessliche Ewigkeit. Und so fragen wir uns:
Werden unsere Taten die Zeiten überdauern? Werden Fremde unsere Namen hören, lange nachdem wir tot sind und sich fragen, wer wir waren, wie tapfer wir kämpften, wie leidenschaftlich wir liebten?
Odysseus, König von Ithaka
Kapitel 1
Krieg in Thessalien
Sie kamen zu Hunderten – Thessalier auf der einen Seite, auf der anderen Seite Krieger aus Mykene, aus Messenien, Argolis, Lakonien, Arkadien, Achaia und anderen Reichen, die sich im Laufe der Zeit unter dem Banner Agamemnons, des Königs von Mykene, mehr oder weniger freiwillig zusammengefunden hatten.
Siegessicher führte Agamemnon seine Armee in die Schlacht. Noch war das Land kein einheitliches Reich, aber Agamemnon schwebte etwas in dieser Art vor – vorausgesetzt, er beherrschte dieses Reich. Seit er den Thron von Mykene vor etlichen Jahren bestiegen hatte, war sein Streben darauf gerichtet, die Völker Griechenlands unter seiner Herrschaft zu vereinigen. Er stand nahe vor der Erfüllung seines Traumes, denn Thessalien war eines der wenigen, noch nicht von Mykene abhängigen oder mit ihm verbündeten Reiche in der Ägäis. Ein siegesgewisses, leicht höhnisches Grinsen zeigte sich auf dem Gesicht des Mykeners, als er den in seinem Streitwagen stehenden Herrscher Thessaliens, Triopas, sah, der wie Agamemnon seine Truppen persönlich anführte. Der ältere König, er mochte etwa sechzig Jahre alt sein, stand gleichfalls stolz und entschlossen neben seinem Wagenlenker. Schon am Tag zuvor hatte Agamemnon einen großen Sieg errungen, aber Triopas gehörte nicht zu den Herrschern, die sich von einer verlorenen Schlacht beeindrucken ließen, sofern er noch genügend treue Männer hatte, die es ein zweites Mal versuchen würden, ihr Land mit ihrem Leben zu verteidigen.
Die beiden Armeen hielten gerade außerhalb der Reichweite der Bogenschützen an. Agamemnon und Triopas hießen die Wagenlenker weiterfahren. Die beiden Wagen trafen sich etwa in der Mitte zwischen den Fronten, die Könige stiegen aus und gingen die letzten Schritte zu Fuß. Agamemnon blinzelte in den blauen Sommerhimmel, an dem sich die Krähen in froher Erwartung auf ein reiches Mahl schon versammelten. Die klugen Vögel hatten längst verinnerlicht, dass es viel zu fressen gab, wenn solche konzentrierten Ansammlungen von Menschen in metallenen Rüstungen so drohend aufeinander zumarschierten.
„Ein guter Tag für die Krähen“, grinste Agamemnon. Triopas sah ihn grimmig an.
„Ich sagte es dir bereits gestern, und ich sage es dir heute noch mal: Zieh’ deine Streitmacht aus meinem Land zurück!“, forderte er. Agamemnons Grinsen wurde breiter.
„Aber mir gefällt dein Land“, erwiderte er mit liebenswürdigem und dennoch unverhohlen drohendem Unterton. „Ich denke, wir bleiben noch. Deine Soldaten gefallen mir auch … Sie haben tapfer gekämpft gestern. Nicht besonders gut, aber tapfer“ setzte er hinzu.
„Für dich werden sie nicht kämpfen“, wehrte Triopas ab. Wieder verbreiterte sich des Mykeners Grinsen.
„Das haben die Messenier auch gesagt; und die Arkadier und die Epeier. Aber jetzt … kämpfen sie alle für mich“, erwiderte Agamemnon beinahe sanft.
„Du kannst nicht die ganze Welt erobern, Agamemnon! Sie ist zu groß – selbst für dich!“, warnte Triopas. Agamemnon brach in Gelächter aus, während Triopas sprach.
„Ich will nicht noch ein Gemetzel erleben“, sagte er dann, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. „Lass’ uns diesen Krieg auf die alte Art beenden: Dein bester Krieger gegen meinen Besten“, schlug er vor. Triopas wurde hellhörig. Er hatte einen Krieger, dem so schnell keiner etwas entgegenzusetzen hatte.
„Und wenn mein Mann gewinnt …?“, fragte er listig.
„… ziehen wir uns aus Thessalien zurück!“, versprach Agamemnon. „Ich bin ein großzügiger Mann. Wenn der meine gewinnt, kannst du deinen Thron behalten. Aber Thessalien untersteht dann meinem Kommando. Ihr kämpft für mich, wann immer ich es verlange“, ergänzte er die Bedingungen. Verhalten lächelnd drehte sich Triopas um.
„BOAGRIUS!“, brüllte er, und seine Männer antworteten mit tosendem Jubel. Die Front seiner Männer teilte sich und ein Hüne von einem Mann – glatzköpfig, mit dem üblichen Schurz und einem Unterleibspanzer bekleidet und sonst, von einem keltischen Halsring und Oberarmreifen abgesehen, nackt, von zahlreichen alten Narben geschmückt und wenigstens sechseinhalb Fuß groß – kam nach vorn. Neben dem runden Schild trug der Thessalier zwei Wurfspeere und ein Schwert.
„Das … ist mein Mann!“, erklärte Triopas.
Agamemnon sah Boagrius an, zog die Augenbrauen in überheblicher Verwunderung hoch, drehte sich um und brüllte in ähnlicher Lautstärke wie eben Triopas:
„ACHILLES!“
Aber in den Reihen der Soldaten Agamemnons blieb es still. Kein Ruf, schon gar kein vortretender Krieger! Triopas schmunzelte spöttisch, seine Krieger lachten.
„Boagrius hat diese Wirkung auf so manchen Helden“, lächelte er nachsichtig. Oh, er wusste genau um die Wirkung, die dieser Riese auf andere Männer hatte. Viele Schlachten hatte der alte König schon deshalb mehr oder weniger kampflos gewonnen, weil Boagrius die in der Regel eineinhalb Köpfe kleineren griechischen Männer doch sehr verschreckte und es nur wenige wagten, mit ihm einen Kampf aufzunehmen. Boagrius war einer der guten Gründe, weshalb Thessalien noch unabhängig war. Agamemnon zuckte herum und bedachte den thessalischen König mit einem strafenden Blick.
„Gib Acht, wen du beleidigst, alter König!“, warnte er drohend.
Aus der Front der Krieger Agamemnons löste sich ein einzelner Reiter, einer seiner Heerführer.
„Mein König! Achilles ist nicht unter den Kriegern!“, sagte der Mann. Agamemnons Zorn wuchs.
„Wo ist er dann?“, fauchte er.
„Ich habe einen Jungen nach ihm ausgesandt“, erklärte der Heerführer.
Nicht weit von der Stelle, an der sich die Armeen gegenüber standen, befand sich ein kleines Lager aus diversen Zelten im Stil nomadischer Jurten. Einige Wachtfeuer brannten noch, aber sonst war nicht viel Geschäftigkeit. Der von Agamemnons Heerführer ausgesandte Botenjunge wusste, wo er nach dem vermissten Helden zu suchen hatte. Zielstrebig ritt er auf eine der geräumigen Jurten zu. Ein schönes, schwarzes Pferd stand davor. Der Junge sprang vom Pferd und spähte vorsichtig durch den Zeltvorhang aus breiten Filzstreifen, die allerlei geflügeltes Ungeziefer wie Mücken und Fliegen fernhielten. In dem aus dicken Filzbahnen gefertigten Zelt war es dunkel. Lediglich ein fast völlig heruntergebranntes Feuer gab ein wenig Licht, in dem der Junge drei nackte Leiber erkannte: Achilles und seine beiden gegenwärtigen Gefährtinnen der Nacht, die nach einer anscheinend anstrengenden Liebesnacht noch in tiefem Schlaf lagen.
Leise pirschte der Junge zu dem auf dem Bauch liegenden Kriegerfürsten und berührte ihn leicht an der Schulter. Achilles zuckte hoch und bekam den Jungen am Gewand zu fassen, doch erkannte er schnell, dass er es nicht mit einem ernsthaften Feind zu tun hatte und ließ sich wieder auf sein bequemes Lager aus Fellen fallen.
„Ich hatte einen schönen Traum“, brummte Achilles verschlafen und schnaufte in sein Bettfell. „Einen sehr schönen Traum.“
„König Agamemnon schickt mich. Er hat …“, setzte der Junge an.
„Ich steh’ deinem König morgen zur Verfügung“, unterbrach Achilles ihn brummelnd.
„Aber, mein Herr! Es ist bereits Morgen! Alle warten auf Euch!“, erinnerte der Junge vorsichtig. Schnaufend und noch sehr verschlafen stemmte Achilles sich von seinem nächtlichen Lager auf. Er hatte Agamemnon sein Kommen zugesagt, nun musste er die Zusage auch einhalten …
Kühles Wasser und ein paar Früchte brachten Achilles’ Lebensgeister schneller in Schwung, als der junge Bote erwartet hatte. Rasch war der berühmte Krieger gerüstet und bereit, sein Versprechen zu erfüllen. Mit dem Jungen trat er vor das Zelt, gerüstet mit einem geschwärzten bronzenen Brustpanzer über einem schwarzen Lederharnisch, der die Arme freiließ und einem dazu passenden Lendenschurz, der die ebenso edlen wie empfindlichen Teile des Unterleibs schützte. Geschnürte Sandalen und geschwärzte, bronzene Schienbein- und Armschützer ergänzten die Körperrüstung. Behände schwang er sich auf den Rappen, den der Botenjunge inzwischen für ihn aufgezäumt hatte. Bewundernd sah der Junge den Krieger an.
„Sind die Geschichten über Euch wahr?“, fragte er interessiert. „Es heißt, Eure Mutter sei eine unsterbliche Göttin. Es heißt, niemand kann Euch töten“, gab er seine Kenntnisse wieder und reichte Achilles den Schild mit den darin befestigten Wurfspeeren. Der Kriegerfürst lächelte nachsichtig. Er wusste um die unglaublichen Geschichten, die sich um seine Person rankten.
„Wenn es so wäre, würde ich den Schild nicht brauchen, oder?“, fragte er spöttisch und setzte sich den geschwärzten Bronzehelm auf, der den Kopf vollständig bedeckte. Die langen Wangenschützer und der Nasenschutz ließen nur sehr wenig von Achilles gut aussehendem Gesicht frei. Im Wesentlichen waren es seine blauen Augen, die aus der Tiefe des Helmes zu leuchten schienen. Gekrönt wurde der Helm von einem Kamm aus dunklen Borsten, die von einem wilden Eber stammen mochten.
„Aber der Thessalier, gegen den Ihr kämpfen sollt, ist der größte Mann, den ich je sah. Ich würd’ nicht gegen den kämpfen wollen“, gab der Junge zu bedenken. Achilles Lächeln wurde breiter.
„Deshalb wird sich auch niemand an deinen Namen erinnern“, versetzte er und drückte dem Pferd die Hacken in die Weichen.
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Kapitel 2
Fürst der Krieger
Wenig später erreichte Achilles den vorgesehenen Kampfplatz. Die Reihen der Soldaten Agamemnons teilten sich, um dem Helden Platz zu machen. Laut skandierten sie seinen Namen, wohl wissend, dass dieser Mann allein schon viele Schlachten für Agamemnon gewonnen hatte. Achilles ritt vor die Front und sprang vom Pferd. Ohne Agamemnon zu beachten, ging er gleich auf den Thessalier zu, der den seiner Ansicht nach eher viel zu schmal geratenen Soldaten mit einer Mischung aus Spott und Übermut ansah. Er animierte seine Kameraden, ihn anzufeuern, was sie auch brüllend taten.
Agamemnon behagte die Missachtung durch den großen Krieger gar nicht. Er war es nicht gewohnt, dass man ihm nicht den schuldigen Respekt erwies.
„Vielleicht sollten wir unseren Krieg morgen ausfechten, wenn du ausgeruhter bist“, versetzte der König ätzend. „Ich sollte dich auspeitschen lassen für deine Unverschämtheit!“, drohte er. Das reichte. Achilles blieb stehen und sah den König verächtlich an.
„Vielleicht solltest du selbst kämpfen“, grollte er, drehte auf dem Absatz um und strebte wieder zu seinem Pferd. Mochte Agamemnon nicht gewohnt sein, dass es jemanden gab, der vor ihm nicht winselnd im Staub lag, so war Achilles es als unabhängiger Krieger nicht gewohnt, Befehlen zu gehorchen und sich auch noch beschimpfen zu lassen. Nein, Achilles gehörte nicht zu Agamemnons Zwangsverbündeten. Er hatte sich im Gegensatz zu den weitaus meisten auf mykenischer Seite Anwesenden aus wirklich freiem Willen in den Dienst des Königs von Mykene gestellt. Dessen unablässige Kriegszüge versprachen die Möglichkeit, Ruhm zu erwerben – und genau das war es, was Achilles wollte.
Nestor, Agamemnons weiser Berater, lief eilig hinter Achilles her.
„Achilles! Achilles!“, rief er, holte den Kriegerfürsten ein und stellte sich ihm vorsichtig, aber bestimmt in den Weg. „Schau in die Gesichter dieser Männer! Du kannst Hunderte von ihnen retten. Mit einem einzigen Hieb deines Schwertes kannst du diesen Krieg beenden“, beschwor er ihn. Achilles war versucht zu sagen, dass auch ein eiliger Rückzug Agamemnons das bewirken würde, andererseits war er für den Krieg geboren, strebte nach unsterblichem Ruhm, der noch lange nach seinem Tod überdauern würde. Agamemnon war der Einzige, der ihm die Gelegenheit bot, seinen Ruhm zu mehren. Doch Achilles konnte Agamemnon in seiner selbstherrlichen Art und seiner schier unersättlichen Habgier nicht leiden. Gewiss, der Mann hatte Macht, viel Macht; aber ob er wusste, an welchem Ende man ein Schwert anfasste, wagte Achilles ernsthaft zu bezweifeln.
„Bedenke, wie viele Lieder sie zu deinen Ehren singen werden! Lass’ sie zu ihren Frauen heimkehren!“, traf Nestor in seiner Beredsamkeit genau den wunden Punkt des mächtigen Kriegers. Ja, genau das war es, wonach er strebte, wenn er ehrlich zu sich selbst war… Nestor erwischte ihn immer wieder mit dem gerade besten Argument. Aber so ganz kommentarlos wollte er nicht gegen seine eigene Meinung handeln. Ein vernichtender Blick traf den König.
„Ein König, der seine Schlachten selber schlägt – das wär’ ein Anblick!“, knurrte Achilles und drehte wieder zu dem Thessalier um.
„Von allen Kriegern, die von den Göttern geliebt werden, hasse ich ihn am meisten“, brummelte Agamemnon zu Nestor, als er Achilles außer Hörweite glaubte.
„Wir brauchen ihn, mein König“, erinnerte Nestor Agamemnon an den Grund seines Erfolges als König aller Könige Griechenlands.
„Vorerst …“, brummte Agamemnon. Er konnte nur zu Zeus persönlich beten, dass der Vater aller Götter ihn von der immer größer werdenden Gefahr Achilles befreite, bevor der bemerkte, dass er Agamemnon als Großkönig Griechenlands ersetzen konnte.
Boagrius hob die Arme und forderte seine Landsleute zu lautstarker Unterstützung auf, die sie ihm auch bereitwillig zukommen ließen. Achilles nahm einen leichtfüßigen Trab auf und lief auf Boagrius zu. Der Thessalier hob den ersten Speer und schleuderte ihn mit einem Urschrei auf Achilles, der den anfliegenden Speer aber mit seinem Schild abfing und den Schild beiseite warf. Dem zweiten Speer wich Agamemnons großer Kämpfer geschickt aus, so dass dieser wirkungslos über ihn hinweg ging. Dann setzte Achilles zum Spurt an, sprang etwa einen Klafter* vor Boagrius hoch in die Luft und bohrte dem verblüfften Thessalier die Klinge zwischen Schlüsselbein und Schulterblatt, versenkte sie bis zur halben Klingenlänge im Körper des Riesen, zerfetzte ihm das Herz und riss das Schwert wieder heraus. Als Achilles landete, stolperte Boagrius noch zwei Schritte vorwärts, kippte um wie ein gefällter Baum, fiel auf das Gesicht und war schon tot, bevor auf dem staubigen Boden aufschlug.
Lähmendes Entsetzen erfasste die Thessalier, als Achilles weiter auf sie zukam. Niemand rührte sich. Achilles blieb stehen und sah an der schweigenden Reihe der Krieger entlang.
„Ist das wirklich alles?“, schrie er. „Ist das wirklich alles?“
Schweigen. Von der rechten Seite her nahm Achilles eine langsame Bewegung wahr und sah mit nur leicht gedrehtem Kopf dorthin. Es war Triopas, der ihn mit blanker Bewunderung betrachtete.
„Wer bist du, Soldat?“, fragte er voller Staunen.
„Achilles, Sohn des Peleus“, gab der Gefragte Auskunft.
„Achilles!“, wiederholte Triopas. „Ich werden mir diesen Namen merken.“
Dann präsentierte er Achilles sein Zepter.
„Der Herrscher über Thessalien trägt dieses Zepter. Bringe es deinem König.“
Achilles warf ihm einen verächtlichen Blick zu, der weit eher dem siegreichen König als dem Besiegten galt.
„Er ist nicht mein König!“, wehrte der freie Kriegerfürst ab und drehte wieder zur Front der Soldaten Agamemnons um, ohne das Zepter zu nehmen. Triopas sah ihm mit einem verblüfften Blick nach.
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Kapitel 3
Friedensfest in Sparta
Ein trojanisches Segelschiff lag vor den Klippen der Hafenstadt Gythio in der Bucht von Lakonien, die den Peloponnes nach Süden hin zum Mittelmeer abschloss. Wie alle Schiffe, die von den zahlreichen Völkern der Ägäis gesegelt wurden, hatte es außer dem rechteckigen Segel am zentralen Mast Ruderbänke, auf denen Ruderer mithilfe langer Riemen dem Schiff zusätzliche Geschwindigkeit geben konnten. Sie ermöglichten es, nötigenfalls auch gegen den Wind zu steuern. Vor dem Bug befand sich unter Wasser ein Rammsporn, der im Falle einer Seeschlacht dazu genutzt werden konnte, feindliche Schiffe zu versenken, der aber auch dazu diente, das Wasser besser zu teilen und dem Schiff damit eine bessere Fahrt zu ermöglichen. Neben dem Steven* prangten auf beiden Seiten des Rumpfes auf den rohen Planken Gottesaugen – die Augen des Poseidon, des obersten Meeresgottes, dessen Schutz sich die Seeleute unterstellten. Das Meer war ein gefährlicher Ort, das Wetter schier unberechenbar, aber für eine erfolgreiche Fahrt auf dem Meer unendlich wichtig. Doch Poseidon hatte seine Launen, wie unschwer daran zu erkennen war, dass auch so manches mit seinen allsehenden Augen geschmückte Schiff nie sein Ziel erreichte …
Die Besatzung des trojanischen Seglers war damit beschäftigt, Wasser, Proviant und Gastgeschenke zu verladen und das Schiff seeklar zu machen, sollte es doch am folgenden Morgen mit der Flut die Heimreise nach Troja antreten. Noch aber waren nicht alle Reisenden an Bord.
Oberhalb der Klippen lag ein prächtiger Palast, aus dem die Geräusche eines Festes bis in den Hafen hinunter drangen. Der Palast diente Menelaos, dem König von Sparta, als Sommerresidenz, die er nutzte, wenn die Hitze im Landesinneren unerträglich wurde. Seine Stadt Sparta lag etwa sieben Parasang* nordwestlich der Flussmündung des Euratos. Das Fest war ein großes Abschiedsfest und galt den Prinzen Hektor und Paris von Troja, zwei jungen Männern, die im Auftrag ihres Vaters Priamos nach Sparta gekommen waren, um den von ihrem Vater ausgehandelten Frieden zwischen Troja und Sparta zu besiegeln. Der Festsaal im königlichen Sommerpalast von Sparta war gut besucht, die beiden jungen Prinzen saßen in der Mitte der langen Tafel dem spartanischen Königspaar gegenüber, die übrigen Plätze wurden von trojanischen und spartanischen Adligen sowie von Händlern und Beamten eingenommen. Dutzende von Sklaven bedienten die Tafelrunde. König Menelaos erhob sich.
„Auf die Freundschaft!“, rief er und sein Ruf wurde von den Anwesenden wiederholt.
„Waffenbrüder!“, brachte er einen zweiten Trinkspruch aus, der auf die Prinzen gemünzt war, die sich in höflicher Diplomatie an der Wiederholung des Rufes durch die übrige Festgesellschaft nicht beteiligten.
„Ihr Prinzen Trojas seid gegrüßt von Königin Helena und mir an unserem letzten gemeinsamen Abend. Es herrschte bisweilen Zwietracht zwischen uns. Wir haben viele Schlachten geschlagen – Sparta und Troja – und gut gekämpft!“, sprach der König von Sparta. Die Anwesenden jubelten zu seinen Worten. Hektor sah den König aufmerksam an, während der Blick seines jüngeren Bruders Paris den der jungen Königin suchte – und fand. Sie sah so verloren aus, fand Paris, viel zu jung und viel zu schön für ihren eher grobschlächtigen, erheblich älteren Ehemann. Helena erwiderte den Blick des jungen Prinzen mit stiller Sehnsucht, immer hoffend, dass niemand außer Paris diese Sehnsucht in ihren blauen Augen sehen würde. Die Worte des Königs von Sparta nahm Paris nur mit halbem Ohr wahr.
„Aber ich habe euren Vater stets geschätzt. Priamos ist ein guter König, ein guter Mann. Ich habe ihn als Gegner geschätzt und heute schätze ich ihn als meinen Verbündeten!“, fuhr Menelaos fort. „Hektor, Paris, junge Prinzen! Erhebt euch! Trinkt mit mir! Trinken wir auf den Frieden!“, forderte er dann die jungen Männer auf. Hektor erhob sich und gab seinem abwesend wirkenden jüngeren Bruder unauffällig einen Schubs, der Paris geistig an die Tafel zurückholte. Gemeinsam mit den übrigen Anwesenden standen sie von ihren Plätzen auf und erhoben die goldenen Becher.
„Auf den Frieden zwischen Troja und Sparta!“, erwiderte Hektor, der Thronfolger, den Trinkspruch des Königs von Sparta.
„Auf dass die Wölfe in den Bergen bleiben und die Frauen in unseren Betten!“, setzte Menelaos lachend hinzu und trank.
Das Fest wurde immer fröhlicher, immer lauter. Die Gäste tanzten zu den ansteckenden Rhythmen der Musiker, der Wein floss in Strömen. Dienerinnen erschienen, um vor dem König und seinen Gästen zu tanzen, aber auch um mit ihnen zu tanzen – oder noch mehr für die Herren zu tun… Menelaos kümmerte es nicht, dass seine junge Gemahlin anwesend war und sehr wohl sehen musste, dass ihr Ehegatte die Sklavin an seiner Seite nicht nur herzte, sondern auch vor allen Anwesenden küsste. Hektor bemerkte des Königs Tun mit abweisendem Blick. Schon recht vom Wein benebelt erhob sich der König von Sparta und schwankte auf den ihm viel zu nüchtern und ernst wirkenden Hektor zu, erhob seinen goldenen Becher und prostete Hektor zu:
„Für die Götter!“
Hektor erhob ebenfalls seinen Becher.
„Für die Götter!“, erwiderte er den Trinkspruch des Gastgebers. Beide verschütteten ein wenig Wein auf den Boden. So war es Sitte, um den Göttern für das kostbare Geschenk zu danken, das sie den Menschen mit dem Wein gemacht hatten – auch wenn es viel menschlicher Arbeit bedurfte, um die Trauben zu züchten, aus den Trauben Saft zu gewinnen und zu Wein zu vergären. Aber die Tatsache, dass der Saft vergor und ein so wohlschmeckendes und berauschendes Getränk ergab, das war auch ein Geschenk der Götter.
Menelaos drückte kräftig Hektors muskulösen rechten Oberarm.
„Starke Arme!“, sagte er anerkennend. „Und nun herrscht Frieden zwischen uns. Ich habe zu viele Männer gesehen, die dieser Arm niederstreckte“, setzte er hinzu. Hektors persönlicher Einsatz für das Reich seines Vaters, seine unerschütterliche Kraft und sein Mut waren durchaus Gründe, die Menelaos bewogen hatten, das Friedensangebot des trojanischen Königs anzunehmen.
„Das geschieht nie wieder, hoffe ich“, erwiderte Hektor. Er war ein kampfstarker Krieger, aber er war kein Mann, der nur für den Krieg lebte. Im Gegenteil: Nach all den Jahren, die er kämpfend das Reich seines Vaters vor dessen Feinden geschützt hatte, sehnte Hektor sich danach, mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn ein friedliches Leben zu führen, sich darauf vorzubereiten, eines Tages die Regierungsgeschäfte von seinem Vater Priamos zu übernehmen und für einen geordneten Übergang zu sorgen.
„Nur ein Mann beherrscht das Schwert noch besser als du“, bemerkte Menelaos.
„Achilles“, sagte Hektor. Es gab wohl niemanden in ganz Griechenland, in der Ägäis und auf dem kleinasiatischen Festland, der nicht schon von den kämpferischen Fähigkeiten des Peleussohnes Achilles gehört hatte. Menelaos kicherte trunken vor sich hin.
„Der Wahnsinnige würde seinen Speer gegen Zeus selbst schleudern, sollte der Gott ihn beleidigen! Hahaha!“, prustete er. Nach einer Pause fragte er:
„Siehst du die Schönheit dort?“, und wies auf Polydora, eine der Dienerinnen, die mit ihrem Tanz die Männer erfreuten. „Ich hab’ sie eigens für dich ausgesucht. Sie ist eine kleine Löwin!“, pries Menelaos die Vorzüge der jungen Frau. Hektor lächelte verbindlich.
„Danke! Meine Frau wartet auf mich in Troja“, wehrte er vorsichtig ab. Menelaos lachte herzlich.
„Meine Frau wartet auf mich gleich dort!“, sagte er und wies mit dem Kopf in Helenas Richtung. „Frauen dienen der Fortpflanzung“, bemerkte Menelaos und meinte damit Ehefrauen. „Sie sollen uns Prinzen schenken! Heute Nacht sollst du dich amüsieren!“
Hektor hob seinen Weinbecher.
„Ihr macht sehr guten Wein in Sparta!“, lobte er die Kunst der Winzer und lenkte das Gesprächsthema in ungefährlichere Bahnen.
Helena schätzte derartige Orgien nicht, hatte nicht die Absicht, sich noch mehr solcher Bemerkungen ihres Gemahls anhören zu müssen und zog sich diskret aus dem Festsaal zurück, begab sich in ihr Schlafgemach weiter oben im Palast. Paris bemerkte, dass sie die Feier verließ, bat den spartanischen Höfling, mit dem er eben freundlich Konversation gemacht hatte, ebenso höflich um Entschuldigung und folgte Helena unauffällig. Lediglich Hektor vermisste seinen Bruder schnell und sah mit besorgtem Blick zu der Treppe, auf der er gerade noch den Schatten seines Bruders nach oben hatte verschwinden sehen – wenigstens glaubte er das. Und er hoffte inständig, dass sein jüngerer Bruder keine von den Dummheiten anstellen würde, für die Paris immer gut war. Er irrte sich…
Helena saß in ihrem Schlafgemach und zog die Kämme aus ihrem goldenen Haar, als der Lichtschein und lauter werdende Geräusche vom Flur ihr bedeuteten, dass er gekommen war. Paris sah sich noch einmal auf dem Flur um. Nein, es war niemand dort, der ihn gesehen haben konnte. Leise schloss er die Tür und legte den Riegel vor. Die junge Königin drehte sich um. Ihr Blick tauchte in den des jungen Prinzen, der sie sanft anlächelte. Widerstrebend wandte sie sich ab. Nein, es durfte nicht sein…
„Du solltest nicht hier sein“, sagte sie mit sehnsüchtig-trauriger Stimme. Sein leichter Schritt kam leise näher.
„Das hast du gestern Nacht auch gesagt“, erinnerte er leise.
„Die gestrige Nacht war ein Fehler“, erwiderte sie mit unterdrückter Trauer. Langsam, wie um ein scheues Reh nicht zu verjagen, trat er nahe zu ihr.
„Und die Nacht davor?“, fragte er sanft. Sie seufzte leise.
„Ich hab’ in dieser Woche viele Fehler begangen“, räumte sie ein. Sie schloss die Augen, als sie Paris’ unmittelbare Nähe spürte. Sanft und zärtlich nahmen seine schlanken Hände ihr duftiges, weizenblondes Haar und zogen es zurück auf ihren schmalen Rücken. Das Leder der Verschnürungen seiner Armschienen knarrte leise. Liebevoll streichelte er ihren langen Schwanenhals. Die junge Königin schloss verzaubert die Augen, die sachte Berührung seiner streichelnden Finger sichtlich genießend. Er war in seiner Art, sie zärtlich zu liebkosen, einfach unwiderstehlich. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug, als er ihre Haut berührte. Heftiges Begehren überkam sie – wie in allen Nächten dieser Woche. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Menelaos sie jemals so zärtlich angesprochen oder gar berührt hatte, wie Paris es tat. Sie sah sein schönes Lächeln nicht, aber sie spürte es.
„Soll ich wieder gehen?“, bot er leise an – wohl wissend, dass Helena dieses Angebot jetzt ausschlagen würde. Mit lustvoll geschlossenen Augen genoss die schöne Königin seine Zärtlichkeiten.
„Ja“, flüsterte sie. Sie gab sich einen verzweifelten Ruck, stand auf, drehte sich zu ihm um und umarmte ihn.
„Und… wohin sollte ich gehen?“, fragte er und küsste sie sanft auf die rosigen Lippen.
„Weg von hier!“, hauchte sie und zog ihn fester in ihre Arme. „Weg von hier!“
Dann löste sie die Fibeln, die ihren Chiton* auf den schmalen Schultern zusammenhielten, ließ ihn fallen und umarmte den jungen Mann wieder. An ihrem nackten Leib spürte sie die kühlen Bronzebeschläge seiner königlich-prächtigen Rüstung und begann vorsichtig, die Verschlüsse seines Harnischs zu öffnen, als auch er sie erneut umarmte und sie – wie in den Nächten zuvor – in einem leidenschaftlichen Kuss versanken.
Während Helena und Paris im Schlafzimmer der Königin lustvoller Liebe frönten, bemühte Hektor sich im Festsaal, seine Besorgnis über Paris’ Abwesenheit nicht sichtbar werden zu lassen. Er kannte seinen kleinen Bruder. Wenn Paris einen langen Chiton sah, konnte er nicht anders, als hinter dem weiblichen Inhalt her zu sein. Hektor hoffte inständig, dass sie weit von Sparta entfernt sein würden, wenn irgendein gehörnter Ehemann dahinter kam, dass es ein trojanischer Prinz gewesen war, der ihm das Geweih verpasst hatte.
Oben im Schlafgemach der Königin erhob Paris sich nach ebenso leidenschaftlicher wie zärtlicher Liebe von Helenas Lager, beugte sich über sie und küsste sie zärtlich auf die Stirn. Es wurde langsam Zeit, dass er ging. Aber so ganz ohne ein angemessenes Abschiedsgeschenk wollte er die Geliebte nicht verlassen.
„Ich habe etwas für dich“, flüsterte er, erhob sich und beugte sich kurz zu seinen Sachen. Er kam wieder hoch, kniete nackt und verschwitzt neben dem Bett nieder und präsentierte der Geliebten sein Abschiedsgeschenk – eine wunderschöne Halskette.
„Perlen aus der Propontes!“, sagte er. Helena richtete sich halb auf und ließ sich die Kette von Paris umlegen. Jede zweite Perle war etwa so lang wie zwei Drittel von Helenas kleinem Finger, eine äußerst seltene und ungewöhnliche Form. Jede dieser besonderen Perlen war für sich allein schon ein Vermögen wert. Nur ein Prinz aus einem der reichsten Länder in der Ägäis konnte es sich leisten, solch ein Geschenk zu machen. Helena bedachte die Perlen und auch ihren wohlig verschwitzten Liebhaber mit einem verzückten Blick. Paris war nicht nur vom Angesicht ein schöner Mann. Auch das, was für gewöhnlich seine kostbare Rüstung oder sein aus weichem, kunstvoll gewebtem Stoff gefertigter Chiton verbarg, war ein höchst erwärmender Anblick. Er war hochgewachsen und sehr schlank, hatte aber dennoch kraftvolle Arme, verstand es, seine Kraft zu zügeln und unendliche Zärtlichkeit zu geben.
„Sie sind wunderschön“, hauchte die Königin. „Doch tragen kann ich sie nicht, Menelaos würde uns beide töten“, setzte sie hinzu. Paris streichelte sie sanft.
„Fürchte dich nicht vor ihm“, sagte er leise. Helena schüttelte den Kopf und tastete gleichzeitig nach der kostbaren Kette um ihren Hals. Bald würde nur noch das Gefühl, das diese wundervollen Perlen in ihrer Hand auslösten, an diese letzte Liebesnacht mit Paris erinnern.
„Ich fürchte nicht den Tod. Ich… ich fürchte den morgigen Tag. Es macht mir Angst, dich fortsegeln zu sehen und zu wissen, dass du nie mehr zurückkehrst“, flüsterte sie. Ihre schönen, blauen Augen füllten sich mit Tränen.
„Bevor du nach Sparta kamst, war ich nur ein Geist. Ich ging umher, ich aß und bin im Meer geschwommen. Aber ich war nur ein Geist“, fuhr sie fort. Ihre Stimme erstickte in Tränen. Paris hatte ihrem Leben einen Sinn gegeben – und morgen würde er nicht mehr bei ihr sein. Nie wieder so eine wundervolle Liebesnacht! Der Gedanke war für die junge Königin schier unerträglich. Paris lächelte sanft. Es war dieses wundervolle, sanfte, ein wenig geheimnisvolle Lächeln, das sie – abgesehen von seinen warmen, braunen Augen – so sehr faszinierte. Seine Hand nahm sachte ihren Kopf und zog ihn näher zu sich, bis sie sich an der Stirn berührten.
„Du brauchst vor morgen keine Angst zu haben. Komm mit mir!“
Helena zuckte erschrocken hoch. Das meinte er doch nicht ernst!? Sollte er ebenso grausam sein, wie andere Männer? Die Tränen flossen noch stärker.
„Spiel’ nicht mit mir!“, flehte sie schluchzend. „Bitte nicht!“
Sein Blick wurde noch weicher, als er mit dem Daumen sanft eine Träne von ihrer zarten Wange fortwischte.
„Wenn du mit mir kommst, sind wir nirgends sicher. Man wird uns jagen, die Götter werden uns verfluchen…“, warnte er mit liebevoller Leidenschaft. „Aber ich werde dich lieben. Bis hin zu dem Tag, an dem ich zu Asche verbrenne, werd’ ich dich lieben!“, gelobte er dann. Helena fand etwas mühsam ihr Lächeln wieder und umarmte ihn erneut.
ΩΩΩ
Kapitel 4
Abschied von Sparta
Die Nacht war weit fortgeschritten. Hektor war inzwischen mit seinen Begleitern allein im Festsaal des königlichen Palastes von Sparta. Seine Männer lagen auf Ziegenhäuten und Fellen um das zentrale Feuer; manche schliefen, manche sangen alte trojanische Lieder, die vom Westwind und der See erzählten. Hektor fand, dass es Zeit wurde, Poseidon um seine Gunst für eine sichere Heimkehr zu bitten.
„Tekton!“, rief er nach seinem Hauptmann. Der stiernackige, etwas untersetzte Mann trat zu seinem Prinzen und verbeugte sich leicht.
„Bring Poseidon das ihm geziemende Opfer, bevor wir in See stechen. Wir brauchen nicht noch mehr Witwen in Troja“, wies Hektor ihn an.
„Ziege oder Schwein?“, erkundigte sich Tekton. Hektor lächelte.
„Was bevorzugt der Gott?“, fragte er. Hektor war ein eher weltlich veranlagter Mann, was nicht hieß, dass er die Götter nicht ehrte; aber die Frage nach dem richtigen Opfertier hatte ihn nie wirklich gekümmert.
„Ich wecke den Priester und frage ihn“, erwiderte Tekton, der von derartigen Dingen ebenso wenig Ahnung hatte wie sein Herr.
Tekton ging fort. Im selben Moment schlich Paris die Treppe vom oberen Stockwerk herunter, bemerkte Hektor und wollte sich zur Seite davonstehlen, aber Hektor hatte ihn schon gesehen.
„Paris!“, rief er ihn an. Auf Paris ebenmäßigen Gesichtszügen breitete sich Unsicherheit aus. Hektor hatte ihn doch erwischt … Zögernd kam er näher.
„Du solltest zu Bett gehen“, empfahl Hektor. „Wir werden für Wochen nicht mehr an Land schlafen.“
Paris ertappte sich beim Aufatmen. Hektor wollte ihn wohl doch nicht fragen woher er gerade gekommen war … In seinem Lächeln lag immer noch Unsicherheit, als er sagte:
„Ich schlafe gerne auf See, Bruder. Da singen mich die Meeresnymphen in den Schlaf.“
Hektor nickte.
„Und … wer hat dich heute in den Schlaf gesungen?“, fragte er dann langsam, eingedenk der Tatsache, dass das Morgengrauen nicht mehr fern war.
„Heute?“, erwiderte Paris stockend und schluckte schwer. „Heute hat die Frau des Fischers für mich gesungen. Ein hübsches Geschöpf“, beeilte er sich zu sagen und betete im Stillen zu Aphrodite, dass Hektor ihm diese handfeste Lüge abkaufte.
„Der Fischer hat dich hoffentlich nicht erwischt …“, bemerkte Hektor. Der wissende Ausdruck in seinem Grinsen entging Paris.
„Der kümmert sich mehr um seine Fische“, erwiderte Paris und spürte langsam wieder Boden unter den Füßen.
„Du weißt, wofür wir nach Sparta zogen?“, erkundigte sich Hektor spitz.
„Für den Frieden!“, presste Paris etwas mühsam heraus.
„Und du weißt auch, dass Menelaos, der König von Sparta, ein mächtiger Mann ist? Und dass sein Bruder Agamemnon, der König von Mykene, die griechischen Truppen unter sich hat?“, bohrte Hektor unnachsichtig weiter. Wollte Paris ihn ernsthaft für dumm verkaufen? Aber der junge Mann tat so, als habe er noch immer nicht bemerkt, dass Hektor längst wusste, wo er wirklich gewesen war …
„Wie … hängt das mit der Frau des Fischers zusammen?“, fragte Paris in möglichst harmlosem Ton und wünschte sich ganz weit weg. Hektor riss der Geduldsfaden. Er packte seinen Bruder hart am Kinn und quetschte ihm das Gesicht zusammen.
„Paris!“, schnaufte er gereizt. „Du bist mein Bruder, und ich liebe dich! Aber wenn du etwas tust, das Troja in Gefahr bringt, werde ich dir dein hübsches Gesicht von deinem hübschen Schädel reißen …“, drohte er finster. „Und nun leg’ dich schlafen! Wir segeln am Morgen!“, setzte er dann wieder ganz sanft hinzu.
Der Tag war strahlend schön. Unendlich weiter, tiefblauer Himmel wölbte sich über der ebenso blauen Ägäis und dem einzelnen Schiff, das vom Peloponnes aus mit Ostkurs lief, unterstützt von einem stetigen achterlichen Wind. Hektors Einschätzung, dass die trojanische Gesandtschaft Wochen auf See verbringen würde, war sicher weit übertrieben. Von der Mündung des Euratos in der Bucht von Lakonien bis zum Hafen von Troja am Hellespont waren es knapp einhundert Parasang, wenn das Schiff den kürzesten Weg um die Südostspitze des Peloponnes und dann nordöstlich durch die Kykladen Andros und Euböa in die Ägäis nahm. Mit gutem Wind und nötigenfalls Ruderhilfe war diese Strecke in drei bis höchstens sieben Tagen zu bewältigen, im schlechtesten Fall in zwei Wochen.
Hektor stand am Bug des Schiffes und schnitzte aus einem Stück Holz einen kleinen Löwen, der etwa halb so lang war wie seine Hand – ein Mitbringsel für seinen kleinen Sohn Astyanax*, der in Troja mit seiner Mutter, Hektors Frau Andromache, auf ihn wartete.
Die Backluke öffnete sich, und Paris stieg an Deck. Wie sein älterer Bruder trug er einen wadenlangen Schurz aus weichem, dunkelblauem Leinen und einen dazu passenden, kurzen Chiton aus dem gleichen Material, der nicht ganz bis zu dem auf Hüfthöhe geschnürten Schurz reichte und die Arme freiließ. Sein hübsches Gesicht strahlte vor Glück und Freude.
„Was für ein schöner Morgen! Poseidon selbst hat unsere Überfahrt gesegnet!“, freute sich der junge Mann. Hektor sah seinen Bruder mit gewisser Skepsis an.
„Oft segnen einen die Götter am Morgen und verfluchen einen am Nachmittag!“, brummte er und prüfte die Schnitzerei erneut kritisch. Sie war fast fertig. Nur noch ein paar Kleinigkeiten und sein Söhnchen hatte ein herrliches Spielzeug, das nicht so schnell Schaden nehmen würde, ganz gleich, was der Kleine damit anstellen würde.
Paris sah seinen Bruder einen Moment an. So lange er denken konnte, war Hektor stets sein Beschützer gewesen; einer, der ihn immer gegen jeden Angriff verteidigt hatte. Hektor war nicht nur der ältere der beiden Brüder, die etwa acht Jahre Altersunterschied trennten, er war auch der kräftigere und größere von beiden. Seit er erwachsen war, war Hektor der Heerführer der Trojaner und galt als erfahrener, kampfstarker Krieger. In vielen Dingen waren sich die Brüder ähnlich: Das weiche, dunkle, lockige Haar, in das beide goldene Spiralspangen geflochten hatten, um es wenigstens etwas zu zähmen, hatten sie ebenso von ihrer Mutter Hekabe geerbt wie die braunen Augen; die gemeinsame Vorliebe für blaue Kleidung hatten sie eher vom Vater geerbt; und sie hatten die Angewohnheit, sich sowohl in der Kriegsrüstung wie in der sonstigen Tracht nahezu gleich zu kleiden. Aber so sehr sie sich in diesen Dingen glichen, so unterschiedlich waren ihre sonstigen Interessen und Neigungen. Hektor war ein glücklich verheirateter Mann, der seine Frau über alles liebte. Paris dagegen hatte bisher an jedem weiblichen Chiton Gefallen gefunden, ein Umstand, den sein Bruder ganz und gar nicht gutheißen konnte. Das heißt, bisher war das der Fall gewesen … Jetzt hatte sich etwas geändert, aber das musste Paris Hektor schonend beibringen …
„Liebst du mich, Bruder?“, fragte der Jüngere vorsichtig. „Würdest du mich gegen jeden Feind verteidigen?“
Hektor stutzte. Hier stimmte etwas nicht; etwas stimmte ganz und gar nicht …
„Das letzte Mal, als du das zu mir gesagt hast, warst du zehn Jahre alt und hattest das Pferd unseres Vaters gestohlen. Was hast du jetzt angestellt?“, erkundigte er sich, ganz der ältere Bruder.
„Ich muss dir etwas zeigen“, erwiderte Paris und ging zur Backluke. Hektor folgte ihm mit böser Ahnung und stieg den Niedergang hinunter. Als er das untere Deck erreicht hatte, erhob sich jemand im Dunkel des Decks und lüftete einen dunkelblauen Schleier. Zum Vorschein kam zu Hektors blankem Entsetzen Helena von Sparta, Menelaos’ Frau! Paris stand daneben, wich dem Blick seines geschockten Bruders aus und sah betreten zu Boden.
Etwa zur gleichen Zeit stürmte ein zornroter Menelaos in Gythio durch den königlichen Sommerpalast und hetzte kochend vor Wut in die Gemächer seiner Frau. Doch dort war nur noch eine Dienerin, die vor dem tobenden König entsetzt zurückwich.
„Wo ist sie?“, fuhr er die erschrockene Frau an. Die Dienerin stolperte weiter rückwärts, bis die Wand sie hinderte.
„Wer, mein König?“, fragte sie erschrocken. Menelaos packte sie an der Kehle und zog den Dolch.
„Ich schwör’ beim Vater aller Götter: Ich schneid’ dir die Gedärme ‘raus, wenn du’s mir nicht sagst!“, drohte er finster. Noch bevor die zu Tode erschrockene Frau ein Wort herausbringen konnte, waren einige Hofbeamte zur Stelle.
„Mein König!“, rief einer den Rasenden an. „Sie ist fort! Mit den Trojanern! Dieser Fischer hier sah sie an Bord ihres Schiffes gehen.“
Zögernd ließ Menelaos die Dienerin los und starrte vor sich hin.
„Die Trojaner!“, flüsterte er entsetzt. War das der Dank für seine Bereitschaft zum Frieden? Wie hatte er denen nur trauen können?
„Der junge Prinz! Paris! Sie …“, gab der Fischer seine Beobachtung wieder. Menelaos gab sich einen Ruck und ließ die Dienerin endgültig los.
„Macht mein Schiff bereit!“, befahl er und stapfte aus dem Raum.
Hektor sprang ebenso eilig wie wortlos an Deck zurück.
„Beidrehen! Wir kehren um nach Sparta!“, befahl er heftig.
„Hart in den Wind!“, rief der Steuermann. Die Matrosen beeilten sich, dem Befehl nachzukommen.
„Warte!“, rief Paris erschrocken. „Warte!“
Hektor drehte sich zornig um und verpasste seinem Bruder einen heftigen Stoß vor die Brust.
„Du verfluchter Narr!“, fuhr Hektor ihn an.
„Hör mir zu!“, setzte Paris von neuem an und bekam erneut einen Schubs, dass er zwei Schritte zurücktaumelte.
„Weißt du, was du getan hast?“, wetterte Hektor wütend. „Weißt du, wie viele Jahre unser Vater für den Frieden gearbeitet hat?“
„Ich liebe sie“, versuchte Paris die Situation zu retten.
Hektor stöhnte sarkastisch auf.
„Ooohh, für dich ist alles nur ein Spiel, nicht wahr? Du ziehst von einer Stadt zur nächsten und beglückst die Frauen der Händler und die Tempeldirnen! Und da glaubst du, du verstündest etwas von der Liebe?“, schnauzte er. „Was ist mit der Liebe zu unserem Vater? Als du sie auf dieses Schiff brachtest, hast du darauf gespuckt! Was ist mit der Liebe zu deinem Land? Soll Troja etwa brennen für diese Frau? Du wirst ihretwegen keinen Krieg anzetteln!“
Paris schluckte trocken. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, hatte er so weit nicht gedacht. Es war sein größter Fehler, nicht über die möglichen Folgen seines oft impulsiven Handelns nachzudenken – und Paris wusste das. Hektor hatte auch noch Recht! Das war das Schlimmste! Der junge Prinz atmete tief durch.
„Darf ich sprechen?“, setzte er schüchtern an. Hektor nickte brummig.
„Was du sagst, ist wahr! Ich habe Unrecht an dir getan – und an unserem Vater“, räumte Paris schuldbewusst ein. „Wenn du Helena nach Sparta zurückbringen willst, soll es so sein – aber ich werde mit ihr gehen!“
„Nach Sparta???“, stieß Hektor hervor. „Sie würden dich töten!“
„Dann werd’ ich kämpfend sterben!“, verkündete Paris in einem Anflug von Kühnheit, die Hektor an seinem Bruder unbekannt war.
„Aaahh – und das scheint heldenhaft für dich zu sein, ja? Kämpfend in den Tod zu gehen!“, erwiderte Hektor spöttisch. „Sag’ mir, kleiner Bruder: Hast du jemals einen Mann getötet?“
„Nein“, erwiderte Paris wahrheitsgemäß. Kampf und Krieg waren nicht gerade sein Lebensinhalt. Genau genommen hatte Paris jede Gelegenheit genutzt, dem Unterricht im Schwertkampf fernzubleiben, der für die königlichen Prinzen eigentlich eine Pflichtveranstaltung war, um sich lieber anderweitig zu amüsieren. Er war ein guter Bogenschütze, auch wenn sich seine Bogenkunst bisher noch nicht gegen Menschen gerichtet hatte – aber Paris genügte das als erforderliche Kampffähigkeit.
„Jemals einen Mann im Kampf sterben sehen?“, bohrte Hektor weiter.
„Nein“, bekannte Paris.
„Ich habe Männer getötet. Ich habe gehört, wie sie starben. Ich sah zu, wie sie starben – und daran ist überhaupt nichts Ruhmreiches, nichts Poetisches!“, erwiderte Hektor knurrend. „Du sagst, du willst für die Liebe sterben, doch weißt du nichts über das Sterben, und du weißt auch nichts von der Liebe!“, fauchte er wütend. Paris senkte den Kopf, sah seinen Bruder dann wieder offen und gerade an.
„Wie auch immer: Ich gehe mit ihr. Ich verlange nicht von dir, dass du meinen Krieg führst“, sagte er dann.
„Das hast du bereits getan!“, versetzte Hektor schnaufend. Er hielt sich an der Reling fest, beherrschte sich nur mühsam, seinem jüngeren Bruder nicht noch ein paar Ohrfeigen zu verpassen. Verdient gehabt hätte er sie und vielleicht wäre er dadurch wieder zur Vernunft gekommen, sagte Hektor sich. Der Ältere kämpfte noch einen Moment mit sich und drehte sich dann zum Steuermann um.
„Nach Troja!“, befahl er. Die Entscheidung bezüglich Helenas musste wohl doch ihr Vater treffen. Paris war sein Bruder, nicht sein Diener.
„Bereit zur Wende!“, rief der Steuermann. „Setzt das Segel!“
ΩΩΩ
Kapitel 5
Etwas braut sich zusammen
Während die Trojaner die Kykladen erreichten, kam Menelaos nach Nauplia. Ebenso wie sein jüngerer Bruder zog Agamemnon von Mykene es im Sommer vor, am Meer zu sein. Menelaos stampfte zum Königspalast zur königlichen Sommerresidenz von Mykene hinauf, als wollte er seinen Bruder Agamemnon persönlich für den Verlust Helenas verantwortlich machen. Die Wachen sprangen erschrocken beiseite, als sie den Spartaner wie einen wütenden Stier heranstürmen sahen. Der Ruf:
„Macht Platz!“, war beinahe überflüssig angesichts der puren eigenen Masse, die Menelaos auf die Wachen zudonnern ließ. Tatsächlich wollte er keinen Augenblick verlieren, denn jeder Moment, den Helena bei ihrem Geliebten war, war der blanke Hohn für den König von Sparta.
Im Korridor zum Thronsaal riss Menelaos den Helm vom Kopf, drückte ihn seinem Heerführer in die Hand, stemmte dann die großen Flügeltüren schwungvoll auf und marschierte auf den Thron seines Bruders zu, der von zwei deutlich überlebensgroßen, mykenischen Löwen geschmückt wurde, die aus der massiven, aus großen Quadern errichteten Wand hinter dem Thron erhaben heraus gemeißelt waren.
Agamemnon, der gerade die Huldigungen seiner Vasallen entgegengenommen hatte, nahm den zeremoniellen Kronenhelm ab und reichte ihn einem Diener. Dann empfing er Menelaos mit brüderlicher Umarmung auf den Stufen des Thrones.
„Ich will sie wiederhaben!“, klagte Menelaos sein Leid. Agamemnon, von dem Verlust schon durch Boten unterrichtet, klopfte Menelaos mitfühlend auf die Schulter.
„Natürlich willst du das! Sie ist eine schöne Frau“, bemerkte er. ‚Zwar dumm wie Bohnenstroh, aber schön’, dachte er bei sich. Doch das war nicht ganz das, was Menelaos’ Vorstellung war.
„Ich will sie wieder haben, damit ich sie mit meinen eigenen Händen töten kann!“, grollte der Jüngere. „Und ich werde erst Ruhe finden, wenn ich Troja niedergebrannt habe!“, setzte er rachedurstig hinzu. Agamemnon zog ebenso fragend wie spöttisch die Brauen hoch.
„Ich dachte, du wolltest Frieden mit Troja?!“, erkundigte er sich listig.
„Ich hätte auf dich hören sollen“, bekannte Menelaos reumütig. Agamemnon zeigte ein leises Lächeln. Er hatte seinen Bruder lange gewarnt, Frieden schließen zu wollen. In Agamemnons Wortschatz existierte diese Vokabel nicht. Er kannte nur Unterworfene, keine Freunde.
„Frieden ist etwas für die Frauen – und für die Schwachen“, erklärte Agamemnon nachsichtig. „Jedes Reich wird nur geschmiedet in der Schlacht.“
Menelaos richtete sich auf und sah seinem Bruder gerade in die Augen.
„Mein ganzes Leben hab’ ich dir zur Seite gestanden und gegen deine Feinde gekämpft. Du bist der Ältere. Du erntest den Ruhm. So ist der Lauf der Welt. Aber hab’ ich mich jemals beklagt, Bruder? Hab’ ich dich je um etwas gebeten?“, sagte er schließlich. Agamemnon lächelte milde.
„Niemals!“, erwiderte er im Brustton der Überzeugung. „Du bist ein Ehrenmann! Jeder Mann in Griechenland weiß das!“
„Die Trojaner haben meine Ehre besudelt. Und wer mich beleidigt, beleidigt auch dich!“, beschwor er die familiäre Schicksalsgemeinschaft. Agamemnon nickte.
„Und wer mich beleidigt, beleidigt alle Griechen!“, stellte der Großkönig klar. Menelaos riskierte seine Bitte.
„Wirst du mit mir in den Krieg ziehen, Bruder?“
Statt einer Antwort hob Agamemnon die rechte Hand, in die der Jüngere herzhaft einschlug.
Wenig später war der Thronsaal leer. Nur Nestor, der weise, alte Berater des Königs von Mykene, und Agamemnon selbst waren noch anwesend. Agamemnon durchmaß seinen Thronsaal mit bedächtigen Schritten.
„Ich war stets der Meinung, die Frau meines Bruders sei eine Närrin“, sinnierte er halblaut. „Nun … hat sie sich als äußerst nützlich erwiesen. Hahaha“, kicherte er bösartig. „Nichts eint ein Volk mehr als ein gemeinsamer Feind.“
Nein, einen größeren Gefallen hatte Paris ihm gar nicht tun können, als sich mit Menelaos’ schöner Frau einzulassen und sie auch noch zur gemeinsamen Flucht zu überreden … Endlich hatte er einen greifbaren Grund, sich dem vorläufig letzten Ziel seines Strebens widmen zu können: Troja!
„Noch nie wurden die Trojaner besiegt. Nicht wenige sagen, sie seien unbesiegbar!“, warnte der alte Berater.
„Der alte König Priamos glaubt, er sei unangreifbar hinter seinen hohen Mauern. Er glaubt, er würde unter dem Schutz des Sonnengottes stehen. Aber die Götter breiten ihre schützende Hand nur …“, geräuschvoll ließ Agamemnon sein mit Pferdehaar geschmücktes Zepter (das zur Not auch als Fliegenwedel benutzt werden konnte) auf der auf dem Tisch ausgebreiteten Karte der Ägäis niedergehen, „… über die Starken! Und wenn Troja fällt …“, fuhr er fort und zeichnete mit dem Wedel einen Kreis um die Küste Trojas, „… herrsche ich … über die Ägäis!“, vollendete er seine Vorstellung. Nestor war noch nicht überzeugt.
„Hektor befehligt die stärkste Armee im ganzen Osten“, gab er zu bedenken. „Troja ist gebaut, einer zehnjährigen Belagerung standzuhalten!“, warnte er. Agamemnon schüttelte den Kopf. Daran hatte er auch schon gedacht, aber er hatte auch die Lösung für das Problem.
„Eine zehnjährige Belagerung wird es nicht geben! Mein Angriff wird der gewaltigste, den die Welt je gesehen hat! Ich will alle Könige Griechenlands – und deren Armeen!“, versetzte er. „Schicke gleich morgen früh Sendboten aus!“, befahl er dann dem Ratgeber und drehte um, um den Thronsaal zu verlassen.
Nestor verbeugte sich leicht, um anzudeuten, dass er dem Befehl nachkommen wollte. Der Mann war selbst ein König, der König von Pylos, doch für Agamemnon war er letztlich nur einer von vielen griechischen Kleinkönigen, die sich seinem Willen und seiner militärischen Macht hatten beugen müssen
„Ein Letztes noch: Wir brauchen Achilles – und seine Myrmidonen“, sagte Nestor dann. Agamemnon blieb erschrocken stehen, drehte sich wieder um und sah Nestor mit schierem Entsetzen an.
„Achilles!“, flüsterte er betroffen. Lauter fuhr er fort: „Achilles lässt sich nicht lenken!“
Es gab nichts Schlimmeres für Agamemnon, als einen Krieger unter seinen Männern zu haben, der ihm nicht widerspruchslos gehorchte.
„Es ist ihm gleich, ob er gegen uns oder gegen Troja kämpft!“, gab der König zu bedenken. Nein, Peleus-Sohn war zu unberechenbar! Gegen Thessalien hatte er die Schlacht fast verschlafen, was würde er jetzt tun?
„Wir brauchen ihn nicht zu lenken“, beruhigte Nestor Agamemnon. „Er muss entfesselt werden! Dieser Mann wurde geboren, um zu töten!“
Agamemnon kam wieder zum Beratungstisch.
„Jaaaa“, sagte er gedehnt. „Er ist ein begnadeter Schlächter!“, räumte er ein. „Doch er gefährdet alles, was ich aufgebaut habe! Bevor ich kam, war Griechenland nichts! Ich war derjenige, der alle griechischen Reiche einte! Ich erschuf ein Volk aus Feueranbetern und Schlangenessern! Ich habe die Zukunft erschaffen, Nestor, ich war das! Achilles … ist die Vergangenheit – ein Mann, der für keine Flagge kämpft; ein Mann, der keinem Land zugetan ist!“, widersprach der König.
„Wie viele Schlachten haben wir nur durch sein Schwert gewonnen?!“, gab Nestor zu bedenken. „Das wird der größte Krieg, den die Welt jemals gesehen hat. Dafür brauchen wir den größten Krieger!“, beharrte er dann. Agamemnon nickte. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass Nestor absolut Recht hatte. Er brauchte Achilles. Ohne Achilles gab es kein Hineinkommen nach Troja und damit keine Unterwerfung des wirklich letzten unabhängigen Königreichs in der Ägäis. Aber gleichzeitig fürchtete Agamemnon diesen Mann. Er fürchtete, dass der Sohn des Peleus ihm eines Tages seinen Platz als König aller Könige Griechenlands streitig machen würde – und er wusste, dass er sich dagegen nicht würde wehren können, nicht gegen Achilles! Davon einmal abgesehen, würde Achilles auf Agamemnons Befehl gewiss nicht erscheinen. Zu groß waren die Differenzen seit dem Krieg in Thessalien.
„Es gibt nur einen Mann, auf den er hört …“, brummte der König – und das war Odysseus von Ithaka!
„Ich entsende gleich morgen früh ein Schiff!“, bestätigte Nestor.
ΩΩΩ
Kapitel 6
Troja
Die Stadt Troja an der westlichen Küste Kleinasiens, zwischen den Flüssen Simoeis und Skamander gelegen, war ein strategisch höchst wichtiger Ort im ganzen östlichen Raum der Ägäis. Sie lag einen knappen Parasang südlich vom westlichen Ausgang des Hellesponts, der Meerenge, die das Mittelmeer und das Schwarze Meer verbindet. Schon seit Menschengedenken – nun, jedenfalls seit der Mensch den Raum des Mittelmeeres besiedelte und Schiffe benutzte, um es zu überqueren – war dies eine wichtige Handelsstraße weiter nach Norden und noch tiefer in den Osten hinein. Kostbare Gewürze, Seide und Gold wurden über diese Handelsstraße transportiert.
Die günstige Lage des Burgberges, auf dem die Königsburg Trojas, die Akropolis, vor Hunderten von Jahren errichtet worden war (manche behaupteten, es seien Apollon und Poseidon selbst gewesen, die die Burg und die Mauer errichtet hatten) hatte die Ansiedlung von Menschen hier geradezu herausgefordert. Die Burg schützte nicht nur den Hellespont, sondern auch eine kreuzende Handelsstraße, die nach Norden über die Meerenge nach Europa und in Richtung Süden nach Ägypten weiterführte. Diese viel befahrenen Handelsstraßen hatten Troja reich gemacht – sehr reich; so reich, dass es den Herrscher eines jeden anderen Reiches in dieser Gegend der Welt neidisch machte. Doch Troja hatte sich stets erfolgreich behauptet, wie Nestor König Agamemnon verdeutlicht hatte. Nicht allein mit militärischer Stärke, sondern auch mit viel diplomatischem Geschick hatte Troja stets seinen Feinden widerstehen können
Während die Boten von Agamemnon auf dem Weg zu Odysseus von Ithaka waren, um durch ihn Achilles zum Krieg zu rufen, verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Nachricht vom Hafen in die knapp sechzig Stadia* von Hafen und Küste entfernte Stadt, dass das Schiff mit den Söhnen des Königs aus Sparta zurückgekehrt war.
Auf der Agora* nahe dem Skäischen Tor waren zahlreiche Soldaten Trojas zu Ehren der heimkehrenden Prinzen angetreten, aber auch viele Bürger hatten sich hier eingefunden, um die Prinzen zu begrüßen. Trojas Volk jubelte, brachten die jungen Prinzen doch die Kunde vom besiegelten Frieden mit Sparta – und damit war eine längere Zeit friedlichen Handels und Wandels garantiert, die den Wohlstand der Bürger und des Adels mehren würde.
Der Jubel des Volkes drückte sich auch in den Blütenblättern aus, die die Menschen wie Schnee auf die Straße fallen ließen, um die Prinzen zu begrüßen. Als Erster passierte Paris im offenen Streitwagen das Stadttor. Neben ihm stand Helena im Wagen und war völlig überwältigt von dem begeisterten Empfang, den die Bürger ihren Prinzen und auch ihr machten. Scheu sah sie sich um. Oben, auf dem flachen Dach eines der Häuser am Straßenrand, stand eine Gruppe Frauen, alle dunkelhaarig wie die meisten Trojanerinnen, tuschelten und wiesen mit bewundernden Gesten auf die junge Frau neben ihrem jüngeren Prinzen. Paris bemerkte die Blicke, die die schöne Frau an seiner Seite auf sich zog und lächelte sie sanft und liebevoll an. Helena erwiderte seinen Blick mit einem eher scheuen Lächeln. Paris verbeugte sich leicht zu ihr und konnte sich nur wundern. Hatten die Bürger von Sparta eigentlich nie bemerkt, welch eine Schönheit sie zur Königin hatten? Oder hatten sie keinen Sinn für solche Schönheit?
Hektor ritt mit einigen Männern der Apollonischen Garde, der Leibgarde des Königs, die er persönlich befehligte, hinter dem Streitwagen her und winkte grüßend in die Menge, die Freude der Bürger über seine und Paris’ glückliche Heimkehr sichtlich genießend.
Die Prinzen und Helena erreichten schließlich die Burg selbst und schritten unter dem Applaus der Anwesenden die Stufen zum Palast hinauf. Priamos, der mit einigen Beratern gesprochen hatte, kam an die Stufen und breitete freudig die Arme aus, als er seine Söhne die Treppe heraufsteigen sah. Hektor, der ältere Prinz, ging voran. Priamos empfing ihn auf den obersten Stufen und umarmte ihn mit väterlicher Wiedersehensfreude. Der alte König war ein würdiger, alter Herr mit gepflegtem, weißem Haar und einem schmalen Gesicht, das von einem kurzgeschorenen, weißen Bart umrahmt wurde. König Priamos war ebenso wie seine beiden liebsten Söhne ein schlanker, hochgewachsener Mann, doch hatte er im Gegensatz zu seinen Söhnen blaue Augen. Trotz seiner siebzig Jahre war er immer noch ein Mann, dem das Alter nicht viel anhaben konnte – und auch seine blauen Augen strahlten noch so wie in jenen Tagen, als er seiner Frau Hekabe – Mutter dieser beiden prächtigen Söhne – begegnet war, sie lieben gelernt und sie geheiratet hatte.
„Mein Sohn!“, sagte er, froh, den Thronfolger wieder daheim zu haben, umarmte den älteren Sohn und empfing von ihm Küsse auf beide Wangen.
„Vater!“, erwiderte Hektor ebenso voller Freude und drückte seinen Vater fest an sich, bevor er beiseitetrat, um Paris Platz zu machen. Priamos’ Gesicht strahlte auf, als er den Jüngeren sah. Gewiss, Hektor galt als sein Lieblingssohn, aber Paris und er hatten gewisse Gemeinsamkeiten – nicht nur, dass der Jüngere eindeutig die schlanke Gestalt und das schmale Gesicht vom Vater geerbt hatte; wie sein Vater war auch Paris dem weiblichen Geschlecht sehr zugetan. Es gab Gerüchte, die von über fünfzig Kindern des Königs von Troja wissen wollten …
„Paris!“, begrüßte der König den jüngeren seiner Söhne, umarmte den jungen Mann und drückte ihm väterlich-liebevolle Küsse auf die Wangen. Mit einem sanften Lächeln löste Paris sich von seinem Vater, drehte sich halb um und präsentierte die schöne Frau an seiner Seite, die scheu einige Stufen weiter unten gewartet hatte.
„Vater – das ist Helena“, stellte er die geliebte Frau vor. Helena kam die Stufen zu Paris herauf. Priamos’ Lächeln zeigte einen düsteren Schatten.
„Helena von Sparta?“, fragte er besorgt nach.
„Helena von Troja“, korrigierte Paris sanft.
Priamos zögerte einen kurzen Moment, dann umarmte er auch die junge Frau, küsste sie gleichfalls väterlich auf beide Wangen.
„Ich hörte Gerüchte über deine Schönheit. Dieses Mal erweisen sie sich als wahr. Willkommen“, sagte er.
„Danke, guter König“, bedankte sich Helena artig für den freundlichen Empfang. Priamos nahm sie bei der schmalen Schulter und drehte sich zum Thronsaal um.
„Komm, du musst müde sein“, setzte er sanft hinzu. Helena spürte die Hand ihres neuen Schwiegervaters, die sie ähnlich sanft berührte, wie Paris es tat. Sie bekam eine Ahnung, wie ihr geliebter Paris aussehen würde, wenn er einmal so alt war, wie sein Vater es jetzt war. Vorsichtig atmete sie durch. Priamos hatte sie mit dem Kuss des Vaters bedacht. Sie war nun aufgenommen in seine Familie – als neue Tochter.
Der König, seine Söhne und seine neue Tochter betraten den luftigen Thronsaal. Die anwesenden Höflinge begrüßten die Prinzen und die Prinzessin mit freundlichem Applaus. Eine schöne, dunkelhaarige Frau kam mit schnellen Schritten auf Hektor zu und umarmte den Thronfolger wortlos, aber mit sichtlicher Wiedersehensfreude, die der Prinz ebenso herzlich und glücklich erwiderte. Es war Andromache, seine Frau, die er auf dieser Reise sehr vermisst hatte. Aber ihr kleiner Sohn war mit seinen nunmehr zehn Monaten für lange und weite Reisen wie diese noch viel zu klein, weshalb Andromache mit dem kleinen Jungen daheim in Troja geblieben war. Andromache löste sich vorsichtig aus Hektors zärtlicher Umarmung und hob ein kleines Bündel Mensch zu seinem stolzen Vater.
„Sieh nur“, sagte sie leise. Hektor sah den kleinen Jungen voller Freude und Staunen an. Der Kleine lächelte seinen Vater freudig an.
„Er ist gewachsen!“, entfuhr es dem Prinzen. Andromache warf einen liebevollen Blick auf das Baby, dann auf den begeisterten Vater, den sie so sehr liebte.
„Er ist stark!“, sagte sie. „Er ist genauso wie sein Vater.“
Paris war – gefolgt von Helena – ein Stück weitergegangen und entdeckte ebenfalls jemand, die er sehr vermisst hatte.
„Briseis!“, entfuhr es ihm freudig. Eine junge Frau im Gewand der Tempeldienerinnen des Apollon bemerkte den jüngeren Prinzen und erwiderte sein strahlendes Lächeln, um das ihn so viele beneideten.
„Paris!“, jauchzte sie und lief in die ausgebreiteten Arme des Prinzen, der sie freudig herzte.
„Meine geliebte Cousine! Jedes Mal, wenn ich dich sehe, bist du schöner als zuvor“, machte er ihr ein ehrliches Kompliment. Auch Hektor bemerkte die schöne, dunkelhaarige Cousine und kam hinzu.
„Briseis!“, sagte er und umarmte sie. Dann bemerkte er ihre veränderte Kleidung und hielt sie ein Stück von sich ab. „Eine Dienerin Apollons bist du nun!“, setzte er hinzu. Mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht gesellte sich Priamos hinzu.
„Die jungen Männer Trojas waren erschüttert, als Briseis sich für die Jungfräulichkeit entschied“, sagte er.
„Onkel!“, erwiderte Briseis ebenso entschieden wie schüchtern. Priamos küsste die junge Frau liebevoll auf die Stirn, dann ließ er sich und seinen Söhnen einen Becher Wein geben, hob den Becher.
„Ich danke den Göttern für eure sichere Heimkehr!“, sagte er. Hektor und Paris hoben ebenfalls die Becher und verschütteten gemeinsam mit ihrem Vater etwas Wein zu Ehren der Götter.
„Für die Götter!“, sagte Hektor.
„Für die Götter!“, weihte auch Paris ihnen seinen Wein.
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Kapitel 7
Der Wille der Götter
Einen Tag später war der Thronsaal von Troja verlassen. Nur Hektor und sein Vater Priamos waren dort. Hektor, nun in Chiton und Himation*, der zivilen Kleidung seiner Heimat, hatte nach einer Versammlung der Räte Trojas alle anderen gehen lassen, um mit seinem Vater vertraulich sprechen zu können. Es gab nicht viele Gelegenheiten dazu. Der König von Troja empfing oft und viel Besuch in seiner luft- und lichtdurchfluteten Burg hoch über der Stadt. Dennoch – oder gerade deshalb – legten König und Thronfolger viel Wert darauf, auch Zeit für vertrauliche Gespräche zu haben, so wie jetzt.
„Vater – ich weiß, das ist das Letzte, was wir brauchen“, setzte Hektor an. Das Problem Helena musste schleunigst gelöst werden – bevor es zu einer Katastrophe kam, wie Hektor ernsthaft befürchtete. Priamos schlenderte gemessen zu der großen Loggia des Thronsaals, die den Blick auf die Küste und das dahinter liegende, türkisblaue Meer erlaubte; jenes Meer, das Troja seit Jahrhunderten Garant für Handel und Reichtum war, das es aber auch schützte.
„Es ist der Wille der Götter. Alles liegt in ihren Händen“, erwiderte der tiefgläubige König. Sein Vater Laomedon hatte die Götter nicht so sehr geachtet, er hatte sie unterschätzt und damit beinahe bereits den Untergang Trojas heraufbeschworen, als er die Baumeister seiner Stadt, Apollon und Poseidon persönlich, aus der Stadt und dem Land gejagt hatte, sie gar mit Folter und Tod bedroht hatte. Priamos hatte sich geschworen, nie an den Göttern zu zweifeln und ihren Willen stets zu beachten. Nein, er wollte nicht aus menschlicher Vermessenheit den Untergang seines Königreiches riskieren – und er hatte die Gunst der Götter für Troja zurückgewinnen und seither stets erhalten können.
„Aber mich überrascht, dass du ihm erlaubt hast, sie herzubringen“, fuhr Priamos fort. Hektor zuckte hilflos mit den Schultern und kam gleichfalls auf die Loggia.
„Hätte ich zugelassen, dass er gegen Menelaos um sie kämpft, wäre dein Sohn jetzt tot – und du hättest keine neue Tochter“, gab er zu bedenken. Priamos dachte einen Moment nach.
„Wir könnten Botschafter des Friedens zu Menelaos schicken“, sagte er. Hektor schüttelte den Kopf.
„Hmm“, brummte der verneinend. „Du kennst Menelaos: Er würde ihre Köpfe aufspießen lassen“, warnte der Prinz.
„Was würdest du mir empfehlen?“
„Schaffe sie auf ein Schiff – und schicke sie zurück nach Hause“, schlug Hektor vor.
Jetzt war es der alte König, der den Kopf schüttelte.
„Schon immer haben die Frauen Paris geliebt und er hat sie geliebt. Doch diesmal ist es anders. Etwas hat sich in ihm verändert“, stellte er fest. Er hatte seinen Sohn und seine Schwiegertochter beobachtet. Nein, das war etwas anderes als sonst. Paris war der Typ junger Mann, dem die Frauen in hellen Scharen nachliefen und der sich nur zu gern von ihnen einholen ließ. Priamos kannte das; er gehörte selbst zu dieser Sorte Mann – nun, früher jedenfalls, bevor er seine Königin Hekabe kennen gelernt hatte. Von dem Moment an, in dem er Hekabe begegnet war, hatten ihn andere Frauen nicht mehr interessiert. Und bei Paris war es Helena, die es fertig brachte, ihn so zu fesseln, dass er sich seinen Lebtag nicht mehr für eine andere würde erwärmen können. Er hatte seine Prinzessin gefunden – und sie offenbar endlich den Mann, den sie von Herzen lieben konnte.
„Wenn wir sie zurückschicken, wird er ihr nachreisen“, setzte Priamos hinzu. Wenn Paris das tat – und er würde es tun, mochte er auch nicht wissen, worauf er sich dabei einließ – wäre das sein unvermeidliches Todesurteil. Menelaos würde ihn gewiss nicht leben lassen. Das war Menelaos sich schon in seinem beleidigten männlichen Stolz schuldig. Es war nur die Frage, wie er Paris umbringen würde – mit eigenen Händen oder durch die des Henkers; schnell und gnädig oder langsam und qualvoll. Priamos spann den Gedanken nicht weiter. Er schmerzte zu sehr, zu wissen, dass sein und Hekabes jüngster Sohn diese Reise nicht überleben würde.
„Dies ist mein Land“, sagte Hektor langsam und deutlich. „Und das sind meine Landsleute. Ich will sie nicht leiden sehen, nur damit mein Bruder seine Beute behalten kann“, setzte er hinzu. Hektor sah über den Küstenstreifen zum Meer. Er liebte dieses Land und seine Menschen, er hatte es oft genug mit dem eigenen Leben verteidigt. Paris war sein Bruder. Er konnte nicht bestreiten, seinen Bruder zu lieben, doch fragte er sich, ob das Wohl der Vielen nicht über dem Wohl des Einzelnen stand, mochte dieser Einzelne auch ein Prinz aus königlichem Hause sein. Paris hatte sich selbst in diese verzwickte Lage gebracht. Sollte er sehen, wie er da wieder herauskam, durchzuckte es den älteren Prinzen.
„Es sind nicht nur die Spartaner, die um ihretwillen kommen werden. Menelaos hat sich längst an Agamemnon gewandt. Und Agamemnon versucht schon seit Jahren, uns zu vernichten! Hat er uns erst beseitigt, ist er der Herrscher der Meere“, warnte er eindringlich.
„Unsere Feinde haben uns jahrhundertelang angegriffen. Unsere Mauern hielten stand“, erwiderte Priamos.
„Vater! Diesen Krieg können wir nicht gewinnen!“, beharrte Hektor. Priamos sah seinen Sohn mit dem sicheren Glauben an den Beschützer dieser Stadt und dieses Landes an.
„Apollon wacht über uns. Nicht einmal Agamemnon kann es mit den Göttern aufnehmen“, versetzte er. Hektor seufzte in einem Anflug von Ungeduld.
„Und wie viele Bataillone befehligt unser Sonnengott?“, fragte er sarkastisch.
„Spotte nicht über die Götter!“, wies Priamos seinen älteren Sohn sanftmütig zurecht und verließ die Loggia. Hektor folgte ihm.
„Als du klein warst, warst du einmal an Scharlach erkrankt“, fuhr der alte König fort. Hektor hob die Augen gen Himmel. Die Geschichte kannte er…
„Deine kleine Hand war so heiß! Der Heiler sagte, du würdest die Nacht nicht überstehen. Ich lief hinunter zu Apollons Tempel und betete, bis die Sonne am Himmel aufging. Der Weg vom Tempel zurück war der längste meines Lebens. Doch als ich in das Zimmer deiner Mutter kam, lagst du schlafend in ihren Armen. Das Fieber war gefallen. An dem Tag schwor ich, mein Leben den Göttern zu weihen. Und ich werde meinen Schwur nicht brechen! Ich habe dreißig Jahre für den Frieden gewirkt. Dreißig Jahre! Paris ist manchmal ein Narr, das weiß ich. Aber ich werde tausend Kriege kämpfen, bevor ich ihn sterben lasse!“
Hektor verneigte sich leicht vor seinem Vater.
„Vergib mir Vater – aber du bist nicht der, der kämpft“, erwiderte er und erinnerte seinen Vater so daran, wer sein Leben für Troja gewöhnlich riskierte.
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Kapitel 8
König Silberzunge
Weit von Troja entfernt, auf der anderen, der westlichen Seite des griechischen Festlands, lag im Ionischen Meer die Insel Ithaka. Zwei Boten von König Agamemnon kämpften sich japsend einen steilen Hang hinauf, nachdem ihnen Königin Penelope den Weg in die Berge gewiesen hatte, in denen sich ihr Gemahl aufhielt. Unter einem Ölbaum sahen die Boten einen Mann sitzen, neben ihm ein Hund. Da Schafe und Ziegen in der Nähe waren, nahmen sie an, dass es sich um den Hirten dieser Tiere handelte. Heftig nach Atem ringend sprach einer der Boten den Hirten an:
„Ich grüße dich …, Bruder. Man sagte uns … König Odysseus … versteckt sich in den Hügeln …“
Der Hirte sah die Boten abweisend an.
„Odysseus …? Der alte Bastard! Trinkt meinen Wein und bezahlt ihn nie!“, grollte er.
„Du solltest dem König Respekt zollen, mein Freund“, warnte der andere Bote ihn.
„Respekt?“, entfuhr es dem Hirten. „Eher möchte ich ihm ins Gesicht schlagen! Immer macht er sich an meine Frau ran, reißt ihr die Kleider runter!“, knurrte er.
Die Boten sahen sich an und hielten es für besser, sich woanders auf die Suche zu machen. Vor allem hatten sie keine Neigung, von dem Hirten noch Schläge einzustecken, wenn sie weiter für den König sprachen. Der Mann war offensichtlich überhaupt nicht gut auf Odysseus zu sprechen – und er sah so aus, als ob er mit dem Stab und einer Schleuder umgehen konnte, von dem Hund mal ganz abgesehen … Sie drehten sich um und wollten den Hang wieder hinuntersteigen.
Der vermeintliche Hirte kraulte seinen Hund Argos liebevoll hinter den Ohren.
„Ich hoffe nur, Agamemnons Generäle sind klüger als seine Gesandten“, grinste er dem Hund zu. Die Boten blieben wie angewurzelt stehen, drehten sich langsam wieder um.
„Was hast du gesagt?“, fragte der eine Bote, der den Hirten zuerst angesprochen hatte.
„Ihr wollt, dass ich euch helfe, gegen die Trojaner zu kämpfen“, sagte der ‚Hirte’, niemand anderes als König Odysseus von Ithaka persönlich.
„Ihr seid …!“, entfuhr es dem ersten Boten.
„Seid Ihr’s?“, fragte der zweite vorsichtig nach. Odysseus lachte nur und kraulte seinen Hund. Er machte sich gern einen Spaß daraus, sich als König zu verleugnen und sich als dessen Gegner auszugeben. Die Boten verneigten sich tief vor ihm.
„Vergebt uns, König Odysseus“, baten sie. Seufzend kraulte Odysseus den treuen Argos.
„Nun ja“, seufzte er, „der Hund wird mir fehlen.“
„König Agamemnon … Er bittet Euch um einen Gefallen“, schnaufte der Bote. Odysseus nickte. Er hatte richtig geahnt.
„Das ist mir klar“, sagte er schicksalsergeben.
An der westlichen Küste der Ägäis lag Phthia an einer Meerenge gegenüber der Insel Euböa und südlich der thessalischen Provinz Larissa. Hierher zog Achilles sich zurück, wenn er eine Weile Ruhe haben wollte. Gewiss, Achilles suchte Ruhm – unsterblichen Ruhm. Aber selbst er, der halb göttlicher Herkunft war, brauchte Pausen – und sei es nur, um eine Weile Agamemnons Wünschen nach immer neuen Eroberungszügen zu entgehen. Kein Ort war dafür besser geeignet, als dieser.
Larissa, Achilles’ eigentliche Heimat, lag weit im Landesinneren und hatte keinerlei Verbindung zum Wasser. Dieser Umstand war für Achilles’ Mutter, die Meeresgöttin Thetis, eine Tatsache, die sie noch zu Lebzeiten ihres Gatten Peleus bewogen hatte, eine Sommerfrische bei Phthia an der Mündung des Sperchios am Meer bauen zu lassen, die manchmal auch Larissa genannt wurde.
Ein Gebäudeteil der Sommerfrische war vor einigen Jahren bei einem Erdbeben schwer beschädigt worden. Zunächst hatte Achilles überlegt, den luftigen Terrassenüberbau wieder herrichten zu lassen, doch dann hatten sich die von weit her bereits sichtbaren Ruinen als idealer Übungsplatz für den Kriegerfürsten und seine Myrmidonen herausgestellt. So hatte Achilles die Ruinen lediglich von losem Schutt räumen lassen und sie ansonsten so gelassen, wie Poseidons* harter Tritt sie hinterlassen hatte. Seine Sommerresidenz hatte er ein Stück weiter an der Küste neu errichten lassen
Im Moment entsprang Achilles’ Anwesenheit in Phthia allerdings nicht nur dem Wunsch, Agamemnon möglichst nicht zu begegnen. Er hatte sich ohnehin geschworen, nicht noch einmal für Agamemnon zu kämpfen. Zu viel trennte den habgierigen König von dem Kriegerfürsten. Vor einiger Zeit hatte Achilles seinen jungen Vetter Patroklos nach dem Tod von dessen Eltern zu sich nach Phthia genommen. Patroklos war ein junger Heißsporn, der gute Anlagen für einen großen Krieger hatte, doch sie mussten noch geformt werden. In der Ruhe seines abgelegenen Sommer-Domizils hatte Achilles auch die besten Möglichkeiten, Patroklos weit entfernt von wirklichem Kampf sorgfältig zu trainieren und ihn alles zu lehren, was er selbst an Kampftechniken meisterhaft beherrschte. Niemand außer Achilles brachte es fertig, aus dem Sprung heraus einem Gegner das Schwert von oben ins Herz zu stoßen. Seine Beweglichkeit war legendär; ebenso wie die Tatsache, dass er noch aus Positionen tödlich zustoßen konnte, in denen andere längst über die eigenen Füße gestolpert wären.
In der heißen Sonne des späten Vormittags fochten Achilles und Patroklos sich durch die unübersichtlichen Ruinen. Der Kriegerfürst und sein junger Schüler übten den Schwertkampf mit stabilen Holzschwertern die in ihrer Handhabung dem scharfen Bronzeschwert nahezu ebenbürtig waren, jedoch allenfalls blaue Flecken verursachten.
„Niemals zögern!“, wies Achilles den jungen Mann an, der dem Schlag seines Meisters gerade noch ausweichen konnte. Doch Patroklos war inzwischen lange genug Achilles’ Schüler, um sofort selbst wieder anzugreifen. Wirbelnd um die Achsen drehten sich die beiden Kämpfer bis auf die Plattform in den Ruinen. Achilles’ Bewegung wirkte auf seinen Vetter recht hektisch.
„Aufwändige Fechtkunst“, spottete Achilles, als Patroklos einige schnelle Kreuzhiebe absichtlich in der leeren Luft machte.
„Nervös?“, stichelte Patroklos seinerseits, während er erneut zum Sprung ansetzte. Achilles wich geschickt aus, drehte sich und drängte Patroklos an eine der frei stehenden Säulen.
„Ich schlottre vor Angst!“, grinste er und blieb wie eine sprungbereite Katze in einem tiefen Ausfallschritt stehen. Die Spitze seines Schwertes war in bedrohlicher Nähe von Patroklos’ Kehle. Der junge Mann tauchte weg, befreite sich aus der Bedrängung, doch sah er sich gleich wieder dem Schwert seines älteren Vetters gegenüber – diesmal allerdings in dessen linker Hand.
„Du hast mir beigebracht: Wechsle nie die Schwerthand!“, protestierte Patroklos und schraubte sich erneut weg. Achilles setzte ihm nach.
„Ja. Wenn du weißt, wie’s geht, wirst du meine Anweisung nicht mehr beachten“, räumte der Kriegerfürst ein.
Ein Geräusch machte Achilles aufmerksam. Die Ruinenterrasse lag auf einer Landspitze. Zwischen der Sommerresidenz der Peliden und der Landspitze erstreckte sich ein unübersichtlicher Olivenhain, durch den offenbar Reiter kamen. Achilles hielt inne, trat auf einen am Boden liegenden Speer, schnippte ihn mit dem Fuß hoch, bekam ihn zu fassen und schleuderte ihn aus der Drehung mit der ihm eigenen Präzision und Wucht in die Richtung, aus der er die fremden Geräusche hörte.
Odysseus sah den Speer mit gewisser Verblüffung an, der in den Ölbaum vor ihm gedrungen war und zog ihn dann mit einem wissenden Lächeln heraus. Er kam unerwartet, das war ihm klar. Fünf Tage waren vergangen, seit die Boten des Agamemnon ihn in den Hügeln Ithakas aufgespürt hatten.
„Der Ruf deiner Gastfreundschaft eilt dir weit voraus!“, lachte der König von Ithaka, als er mit dem Speer in der Hand die Ruinen betrat und nahm den mit einem Borstenkamm geschmückten Helm ab. Achilles sah zu Odysseus, um ihn zu begrüßen, bemerkte aber hinter sich Patroklos, der sich anschleichen wollte. Er drehte sich um und schnappte ihn am Gewand und riss ihn schwungvoll nach vorn, wobei er ihm eher scherzhaft das Übungsschwert in den Rücken bohrte.
„Patroklos, mein Vetter“, stellte der Pelide ihn dem Besucher vor. „Odysseus, König von Ithaka“, erklärte er dann dem jungen Mann. Odysseus sah ihn freundlich an, klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
„Patroklos! Ich kannte deine Eltern gut … Sie fehlen mir“, sagte er. Dann sah er zu Achilles.
„Und nun passt also er hier auf dich auf! Du gehst in die Lehre bei Achilles selbst. Könige würden töten für eine solche Ehre“, sagte der König voller Anerkennung.
Achilles bekam nicht häufig Besuch in seiner Sommerresidenz. So bekannt er auch war, hatte er es doch immer verstanden, sich einen Platz zu erhalten, an dem er ungestört war. Einen Platz, von dem die meisten nicht ahnten, dass Achilles sich hierher zurückzog. Odysseus gehörte zu den Wenigen, die um sein Refugium wussten. Doch auch der ithakische König kam nicht oft in Achilles’ Sommerfrische am Meer. Sein Erscheinen zu dieser Zeit, kurz nachdem Menelaos die Frau weggelaufen war, weckte in Achilles einen bestimmten Verdacht.
„Bist du hier auf Agamemnons Befehl?“, fragte er direkt. Odysseus rieb sich verlegen den kurzgeschorenen Bart.
„Wir müssen reden“, sagte er. Das genügte als Bestätigung. Der König von Ithaka kam im Auftrag des Mykeners. Achilles wandte sich ab und ging ein Stück weiter in die Ruinen hinein.
„Ich kämpfe nicht für ihn“, versetzte er. Odysseus folgte ihm.
„Ich bitte dich nicht, für ihn zu kämpfen. Ich bitte dich, für die Griechen zu kämpfen“, erklärte er. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden, Achilles zu überreden, das wusste Odysseus sehr wohl. Aber er war beredt genug, das zu erreichen, dass wusste er auch. Achilles blieb stehen und drehte sich wieder um.
„Warum? Sind sie es leid, sich gegenseitig zu bekriegen?“, fragte er spöttisch.
„Fürs Erste“, bestätigte Odysseus. Die zweite Bestätigung, durchzuckte es Achilles. Mit einer pathetischen Geste sprang Patroklos seinen Vetter an, um das Training fortzusetzen.
„Für die Griechen!“, rief er im Überschwang. Achilles wehrte den Angriff seines heißblütigen Verwandten mit einer leichten Bewegung ab und verpasste ihm mit dem Holzschwert einen Klaps auf den Allerwertesten.
„Die Trojaner haben mir nichts getan“, entgegnete der Kriegerfürst an Odysseus gewandt.
„Sie haben Griechenland verhöhnt“, widersprach der König von Ithaka. Achilles schüttelte den Kopf.
„Sie haben einen Griechen verhöhnt; einen Mann, der seine Frau nicht halten konnte“, korrigierte Achilles. „Was interessiert mich das?“
„Dich interessiert der Krieg, mein Freund“, erklärte Odysseus. Achilles fühlte sich ertappt, war aber nicht bereit, das zuzugeben.
„Ist das so?“, fragte er sarkastisch. „Bin ich die Hure des Schlachtfelds?“, fragte er bissig. „Der Mann hat keine Ehre!“, versetzte er dann. „Ich will nicht, dass man sich meiner als Söldner eines Tyrannen erinnert!“
„Möge Achilles für die Ehre kämpfen!“, sagte Odysseus. „Agamemnon kämpft für die Macht. Einzig und allein die Götter entscheiden am Ende, wem der Ruhm zusteht.“
Patroklos griff Achilles wieder an, aber Achilles hielt sich den jungen Mann geschickt vom Leib.
„Vergiss Agamemnon!“, sagte Odysseus. „Kämpfe für mich!“, bat er dann. „Meiner Frau wird sehr viel wohler sein, wenn sie dich an meiner Seite weiß. Mir selbst wird sehr viel wohler sein!“
„Wird Ajax auch in Troja kämpfen?“, fragte Patroklos neugierig. „Es heißt, er kann eine Eiche mit einem einzigen Hieb seiner Axt fällen!“
„Eichen wehren sich auch nicht“, bemerkte Achilles spöttisch. Nach einer Pause fuhr Odysseus fort:
„Wir entsenden die größte Flotte, die je Segel setzte: Eintausend Schiffe!“
„Eintausend Schiffe!“, entfuhr es Patroklos voller Staunen. Das war eine ungeheure Anzahl. „Ist Prinz Hektor ein so guter Krieger, wie man sagt?“, erkundigte er sich dann mit jugendlichem Eifer.
„Der Beste – von allen Trojanern“, erwiderte Odysseus. Mit einem Seitenblick auf Achilles setzte er hinzu:
„Manch einer sagt, er wäre besser als alle Griechen.“
Achilles trank durstig aus einer Kürbisflasche, die er im Schatten der Ruinen kühl hielt und sah Odysseus schweigend und spöttisch an.
„Auch, wenn dein Vetter uns nicht begleitet, so hoff’ ich doch auf dich, Patroklos!“, warb der weiter. „Einen so starken Arm könnten wir gebrauchen.“
Achilles setzte die Flasche wieder in den Schatten und hielt das Übungsschwert zwischen Odysseus und Patroklos.
„Versuch’ deine Listen bei mir, nicht bei meinem Vetter!“, versetzte er.
„Du hast dein Schwert und ich … ich hab’ meine List. So spielen wir mit den Gaben, die uns die Götter verleihen. In drei Tagen segeln wir nach Troja“, entgegnete Odysseus. Ihm wurde klar, dass Achilles mindestens nicht heute zustimmen würde. Aber er hatte noch etwas in der Hinterhand. Langsam ging er die Stufen hinauf, drehte sich noch einmal halb um.
„Weder wird dieser Krieg in Vergessenheit geraten, noch die Helden, die in ihm kämpfen“, streute er ein Körnchen Salz aus, das in Achilles’ stetiger Wunde der Ruhmsucht zu zwicken begann.
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Kapitel 9
Thetis’ Weissagung
Achilles grübelte zwei Tage lang, ob er sich dem Kriegszug nach Troja gegen seine Überzeugung anschließen sollte. Die Trojaner waren nicht zwangsläufig seine Feinde, für Hektor empfand er jene Achtung, die große Kämpfer voreinander hatten. Sein Wunsch war Ruhm. Das hatte ihn dazu getrieben, sein Schwert in die Dienste Agamemnons zu stellen, der mit seinen Eroberungszügen durch ganz Griechenland Achilles die Möglichkeit geboten hatte, sich als Krieger zu profilieren. Doch Agamemnon war in seiner Selbstherrlichkeit nicht nach Achilles’ Geschmack. Ein so großer Krieg gegen Troja, wie Odysseus ihn angedeutet hatte, versprach Ruhm. Aber sich diesem Kriegszug anzuschließen bedeutete auch, unter dem Kommando von Agamemnon zu kämpfen – und genau das wollte Achilles nicht mehr. Andererseits, wenn er Ruhm suchte – unvergänglichen Ruhm – wurde es Zeit, ihn zu erwerben … Während er noch in Gedanken versunken an der Steilküste in der Nähe des kleinen Hafens entlangging, sah er unten in einer felsigen, türkisblauen Lagune eine schlanke Frauengestalt im Wasser stehen und ging hinunter.
Thetis stand bis zu den Waden im warmen Wasser. Ihre schlanke Hand glitt in ihr ureigenes Element und fischte zielsicher ein silbrig glänzendes Meeresschneckenhaus aus dem Wasser. Sie spürte die Nähe ihres geliebten Sohnes Achilles, der ihr sehr viel mehr Freude machte, als sein älterer Halbbruder Kalibos* es getan hatte. Kalibos hatte wohl eine schöne Gestalt gehabt – jedenfalls bis Zeus ihn für seine stete Bosheit gestraft hatte – doch seine Gedanken waren verderbt gewesen. Achilles war nicht nur ein großer Kämpfer, er hatte auch ein gutes Herz, wie seine Mutter wusste – nur hatte er bisher in der Öffentlichkeit sein sanftmütiges Inneres wenig gezeigt. Ohne dass sie sich umsah, wusste sie, dass er langsam ebenfalls ins Wasser kam. Ein sanftes, mütterliches Lächeln verschönte ihr Gesicht.
Sie war eine unsterbliche Göttin, die – wie alle Götter – die Fähigkeit hatte, ihre Gestalt den Umständen anzupassen. Wenn sie bei ihrem Sohn Achilles war, wählte sie das Äußere einer würdigen, älteren Dame, die trotz eines gewissen Faltenanteils im Gesicht und grauer Haare immer noch eine schöne, begehrenswerte Frau war. Hier, in der Sommerfrische der Peliden, fühlte sie sich außerhalb von Meer und Olymp am wohlsten. Thetis konnte sich in ihrer menschlichen Gestalt hier auch sicher fühlen. Die Gestalt eines Menschen oder eines Tieres anzunehmen, barg für die Götter auch gewisse Risiken. Kannten Sterbliche das richtige Mittel, konnten sie einen Gott oder eine Göttin in der irdischen Gestalt gefangen halten. Doch in Phthia brauchte Thetis davor keine Sorge zu haben. Sie hatte ihren Sohn, den größten aller Krieger. Er würde sie mit seinem Leben schützen. Nicht zuletzt ihretwegen liebte Achilles diesen Ort, der seiner Mutter so viel bedeutete.
„Es heißt, der König von Ithaka habe eine silberne Zunge“, bemerkte sie, als sie Achilles’ Nähe spürte. „Ich wusste, dass sie zu dir kommen würden. Schon lange vor deiner Geburt wusste ich, dass sie kommen würden. Du sollst für sie in Troja kämpfen“, sagte sie, ohne sich umzusehen. Er lächelte kaum merkbar. Es gab nicht wirklich viele Gelegenheiten, bei denen seine Mutter ihre göttliche Vorhersicht offenbarte.
„Ich sammle für dich Muscheln; für eine neue Kette. Diese Ketten mochtest du schon als kleiner Junge“, fuhr sie dann fort, ein sehr normales Thema wählend.
Er bückte sich und fischte gleichfalls eine Muschel aus dem Wasser, betrachtete sie von allen Seiten und warf sie dann wieder ins Wasser.
„Mutter“, sagte er bedächtig, „heute entscheide ich mich.“
Sie drehte sich um und sah ihren Sohn einen Moment an. Mit gewisser Nervosität spielte sie mit den Muscheln in ihre Hand, so sah es jedenfalls für Außenstehende aus; tatsächlich jedoch nutzte sie die Muscheln, um aus deren Lage in ihrer Hand die Zukunft ihres Sohnes zu lesen. Wenn sie in ihrer Menschengestalt bei ihrem Sohn war, benötigte sie solche Hilfsmittel. War sie auf dem Olymp, war das nicht erforderlich.
„Wenn du in Larissa bleibst, wirst du Frieden finden. Du findest eine wunderschöne Frau, du wirst Söhne und Töchter haben, und sie werden Kinder gebären, und sie werden dich lieben. Wenn du einst tot bist, werden sie sich deiner erinnern. Und wenn deine Kinder tot sind und ihre Kinder auch, wird dein Name vergessen sein“, weissagte die Göttin. „Wenn du nach Troja gehst, wirst du Ruhm ernten. Viele tausend Jahre lang wird man Geschichten über deine Siege schreiben; die Welt wird sich an deinen Namen erinnern“, fuhr sie fort. Dann stockte sie, trat nahe zu ihrem Sohn und strich ihm liebevoll über das Gesicht.
„Aber wenn du nach Troja gehst, kehrst du nie wieder heim“, sagte sie mit vor Trauer versagender Stimme. „Denn deine ruhmreichen Taten gehen Hand in Hand mit deinem Untergang – und ich werde dich nie wieder sehen“, schloss sie ihre Weissagung. Achilles überlegte eine Weile.
„Und das weißt du gewiss, Mutter?“, hakte er nach. Sein Blick ging wieder zu seiner Mutter.
„Ich weiß es“, sagte sie. Achilles sah in die unbestimmte Ferne der unendlich weiten See und traf seine Entscheidung.
Der Tag darauf fand den größten aller griechischen Krieger an Bord eines Schiffes mit einem schwarzen Segel, auf dem ein einfacher, weißer, nach unten offener Winkel anzeigte, dass dieses Schiff das Schiff von Achilles und seinen Myrmidonen war … Dieses Schiff war inmitten einer unendlich weit das Meer bedeckenden Flotte von tausend Schiffen, deren Ziel Trojas Küste war.
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Kapitel 10
Helenas Vorahnung
Helena wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit sie Sparta verlassen hatte, um ihrem Geliebten Paris in seine Heimat zu folgen. Sie hatte die Tage nicht gezählt, die sie mit dem jungen Prinzen nun glücklich war. Sie hatte beschlossen, das Glück in seinen Armen einfach zu genießen und nicht nach dem nächsten Tag zu fragen.
Paris war es ebenso gegangen. Es war so schön, sie an seiner Seite zu fühlen, die Leidenschaft mit ihr zu genießen und eine Innigkeit der Liebe zu spüren, die er nie zuvor einer anderen Frau entgegengebracht hatte. So hatte auch er die ihnen gegebene Zeit friedlichen Liebesglücks einfach nur dankbar als Geschenk der Göttin Aphrodite entgegengenommen und in vollen Zügen ausgekostet, ohne nach dem Morgen oder gar Übermorgen zu fragen. Den Liebenden war entgegengekommen, dass Priamos sich nicht hatte entschließen können, Helena nach Sparta zurück zu schicken, und Hektor hatte seinen Vater nicht mehr bedrängt, das zu tun.
Doch wie jede Zeit des Glücks auch ohne unser Zutun viel zu schnell verrinnt, verging auch diese Zeit wie im Fluge, ohne dass die Liebenden hätten sagen können, was in dieser wundervollen Zeit genau geschehen war. Sie wussten nur, dass es ein wunderschöner Traum gewesen war, den sie geteilt hatten. Doch aus jedem Traum erwacht man irgendwann – und aus den glücklichen Träumen stets zu früh …
Helena stand an der großen Loggia, die zum Hofgarten in der Königsburg Trojas gebaut war, lehnte an einer der Säulen, die das Dach darüber stützten. Die Säulen an den Gebäuden in der Stadt Troja stellten insofern eine Besonderheit dar, als sie sich nach oben verbreiterten, während die Säulen in Griechenland sich nach oben hin verjüngten. Ein leichter Wind ließ die aus Seide und leichter, ägyptischer Baumwolle gewebten Vorhänge in der Nachtluft leise wehen und die im Raum verteilten Feuer in den Kohlepfannen und in der achteckigen Bodenvertiefung für die zentrale Feuerstelle flackern. Über den Hofgarten hinweg ging ihr Blick hinaus auf das weite Meer, auf dem sich der Mond spiegelte, Schutzbefohlener der Göttin Artemis. Sein Strahlen war so hell, dass der Widerschein auf dem Wasser fast wie das erste Morgenlicht wirkte. Die junge Frau hatte mehr als nur eine Ahnung, dass dort, in der dunstigen Ferne, schon die Flotte Menelaos’ auf die Küste Trojas zuhielt. Der Wind war warm, doch Helena fröstelte. Es war ihre blanke Angst, die sie zittern ließ. Die friedliche Zeit war vorüber, die Bedrohung nahte unaufhaltsam, das spürte sie genau.
Ein leichter Schritt leiser Sohlen ließ sie Paris’ Gegenwart bemerken.
„Sie kommen um meinetwillen“, flüsterte sie mit versagender Stimme. „Der Wind bringt sie immer näher.“
Er blieb stehen und sah besorgt zu der recht aufgelöst wirkenden Helena. Ihn selbst hatten ähnliche Ahnungen beschlichen, doch hatte er sie noch zu verdrängen versucht. Recht gelungen war es ihm nicht, so unruhig, wie er in seinen Gemächern herumlief.
„Und wenn wir fortgehen?“, schlug er vor und kam zu ihr. „Noch heute; jetzt gleich! Wir könnten zu den Ställen gehen. Wir satteln zwei Pferde und reiten fort – nach Osten! Immer weiter.“
Sie sah ihn betrübt an.
„Und wohin?“, fragte sie. Er sah hinaus und legte ihr sanft eine Hand auf den Rücken.
„Nur fort von hier!“, erklärte er und sah sie direkt an. „Ich könnte Rehe jagen, Fallen stellen. Ich sorge für uns“, versprach er. Helena sah ihren Geliebten an. Jugendliches Feuer in seinen Augen ließ sie glauben, er wisse nicht, wovon er redete.
Sie konnte nicht ahnen, dass er sich in der Wildnis sehr wohl auskannte und wusste, wie man dort ohne Probleme überleben konnte. Insofern hatte er eine Qualität, mit der wahrhaft nicht jeder Königssohn aufwarten konnte. Er hatte bisher keine Notwendigkeit gesehen, sie darüber aufzuklären, dass er eine gewisse Zeit in den Bergen östlich von Troja bei den Hirten gelebt hatte. Damals – nachdem er sich verbotenerweise an seines Vaters Pferd vergriffen hatte – hatte König Priamos bestimmt, dass Paris zur Strafe für seinen Ungehorsam alle königlichen Privilegien entzogen wurden und er für eine Weile auf sich selbst gestellt leben sollte, weil er lernen sollte, dass Gehorsam gegenüber den Eltern eine Grundvoraussetzung menschlichen Zusammenlebens war. Paris hatte einige Jahre bei dem Hirten Agelaos im Idagebirge gelebt – zunächst zur Strafe, später, weil ihm das Leben dort gefiel und er sich unter dem freien Himmel bei den Hirten sehr wohl gefühlt hatte. Er war an den Hof zurückgekehrt, als sein Vater ihm nach ernsthafter Fürsprache seines älteren Bruders Hektor verziehen hatte, doch hatte er gewisse Flausen nicht aufgegeben, sonst hätte er sich nicht mit einer – wenn auch unglücklich – verheirateten Frau wie Helena eingelassen.
Helena, die um diese Dinge noch nicht wusste, konnte nicht verstehen, dass Paris all das, was er an der schönen Stadt Troja und seiner Familie hatte, einfach so aufgeben wollte – und das nur ihretwegen.
„Aber hier ist deine Heimat!“, bemerkte sie erschrocken.
„Du hast deine für mich aufgegeben“, erinnerte er sanft. Sie löste sich vorsichtig von ihm und ging mit schweren Schritten zurück in das offene, luftige Gemach hinein, das sie seit ihrer Ankunft in Troja mit ihm teilte. Neben ihrem Bett blieb sie stehen.
„Sparta war nie meine Heimat“, entgegnete sie traurig. „Mit sechzehn schickten meine Eltern mich dorthin, um Menelaos zu heiraten. Aber es war nie meine Heimat“, erklärte sie. Helena war das traurige Beispiel, wie Frauen im Spiel der Politik zum frei verfügbaren Ball wurden, der bald hierhin, bald dorthin gerollt wurde. Paris schmerzte es, wie schlimm diese wundervolle Frau herumgestoßen worden war. Er liebte sie von Herzen und hätte sich nie vorstellen können, sie um der hohen Politik willen wieder herzugeben. Mit ihr ins Idagebirge zu gehen, Agelaos und seine Freunde dort wieder zu sehen, dort frei von allen Zwängen zu leben, das wäre sehr reizvoll gewesen …
„Wir leben von dem, was wir finden“, überlegte er laut und war in Gedanken schon dort oben im Gebirge. „Keine Paläste mehr, keine Diener, keine Sklaven – das alles brauchen wir gar nicht.“
Sie sah ihn verstört an.
„Und deine Familie?“, erinnerte sie. Er drehte sich zu ihr um. Warum erkannte sie die Logik seiner Überlegung nur nicht?
„So beschützen wir sogar meine Familie“, erklärte er. „Wenn wir nicht hier sind, ist der Krieg zwecklos!“
Sie kam zu ihm zurück. Ihre Augen schwammen in Tränen.
„Menelaos wird nicht aufgeben. Er jagt uns bis ans Ende der Welt“, widersprach sie und streichelte sanft sein Gesicht, das nur von wenigen Bartstoppeln um Oberlippe und Kinn geprägt wurde.
„Er kennt dieses Land nicht. Ich schon“, erwiderte er voller Zuversicht. „Innerhalb eines Tages sind wir unauffindbar“, sagte beruhigend und umarmte sie tröstend. Sie schmiegte sich schutzsuchend an ihn.
„Du kennst Menelaos nicht! Du kennst nicht seinen Bruder! Sie werden jedes Haus in Troja niederbrennen, um uns zu finden. Nie werden sie glauben, dass wir fort sind“, warnte sie eindringlich und tränenerstickt. „Selbst wenn sie’s glauben, werden sie’s trotzdem tun!“
Er hielt sie in seinen Armen und sah einen Moment unschlüssig zu Boden. Sie hatte wohl Recht; schließlich kannte sie ihren Ex-Mann und würde um seine Reaktion wissen, sagte er sich. Langsam hob er den Kopf wieder und sah ihr in die Augen.
„Dann werd’ ich es ihm leicht machen, mich zu finden. Ich gehe zu ihm und sag’ ihm, dass du zu mir gehörst“, erwiderte er entschlossen. Helenas Lippen umspielte ein sanftes Lächeln, als sie in seine warmen, braunen Augen schaute. Glaubte er wirklich, dass Menelaos sich davon beeindrucken lassen würde? Wenn ja, war er wirklich naiv … Liebevoll streichelte sie sein schmales Gesicht und küsste ihn.
„Du bist sehr jung, mein Liebster“, sagte sie leise. Paris sah sie verblüfft an.
„Wir sind gleich alt“, erinnerte er sie an den Umstand, dass sie beide im selben Jahr geboren worden waren und nun fünfundzwanzig Jahre alt waren. Helena bekam ein bekümmertes Lächeln.
„So jung wie du war ich nie“, erwiderte sie. Nein, so naiv war sie wahrhaft niemals gewesen …
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Kapitel 11
Die Griechen kommen
Der Morgen graute und mit ihm erschien Eos, die Rosenfingrige, die das Morgenrot in die leichten Dunstwolken am Himmel brachte und das baldige Erscheinen von Apollons Sonnenwagen selbst ankündigte.
Nur wenige Wächter waren auf den mächtigen, nahezu quadratischen Türmen, die die Stadtmauer und hoch über der Stadt die Burgmauer schützten. In der Burg selbst war nur König Priamos außerhalb seiner Gemächer. Er hatte schlecht geschlafen und kniete vor der Statue des obersten Gottes Zeus im Ratssaal der Burg, um für den Frieden zu beten, den seine Stadt und sein Land für ihr Wohlergehen brauchten.
Die Sonne stieg höher und mit ihr zeigten sich im Morgenlicht die Aktivitäten, die der kluge und vorsichtige Hektor bereits veranlasst hatte: Am Strand, vor dem Tempel des Apollon, waren zahlreiche Soldaten bereits damit beschäftigt, doppelt armdicke Baumstämme als schräg stehende, gegen landende Schiffe gerichtete Strandhindernisse in die Dünen zu schlagen. Andere spitzten die eingerammten Stämme mit Äxten an. Bogenschützen bezogen Stellung in diesen Hindernissen.
Im Tempel des Apollon verrichteten die Priester ihre Gebete, brachten Rauchopfer für den Sonnengott dar, damit er die Stadt und das Land vor den Feinden schützen möge. Briseis brachte den Priestern die erforderlichen Kräuter, Gewürze, den Weihrauch und klein gehacktes Holz, damit die Rauchopfer nicht unterbrochen werden mussten.
Die Zeughäuser der Stadt wurden kontrolliert und – wo nötig – die Ausrüstung dort ergänzt. Schmiede hämmerten an neuen Schwertern und Lanzenspitzen, machten neue Helme und Schilde. Händler lagerten Vorräte an Getreide, Gemüse, Fleisch, Oliven, Wasser und Wein ein, die die Bauern in die Stadt lieferten.
Weit oben in der Burg begann der Tag in Hektors Gemächern damit, dass er seinen Sohn aus der Wiege nahm und mit ihm spielte, ihm den kleinen Holzlöwen hinhielt, den er auf der Rückfahrt von Sparta geschnitzt hatte. Der Kleine jauchzte glücklich und strahlte seinen Vater voller Freude an. Hektor hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Astyanax morgens eine Weile zu beschäftigen, damit Andromache noch etwas länger schlafen konnte. Noch machte ihr kleiner Sohn einen guten Teil der Nacht zum Tag, weil er zum Durchschlafen noch zu klein war und auch nachts nach der Mutterbrust verlangte.
„Sieh mal“, sagte Hektor leise zu dem Kleinen, und zeigt ihm den Löwen. Der Junge griff glucksend vor Freude danach. Hektor nahm einen leichten Schritt wahr und sah hoch. Andromache kam zu ihm. Ein liebevolles Lächeln, das sowohl Vater als auch Sohn galt, verschönte ihr ohnehin sehr hübsches Gesicht. Sie streckte ihre Arme zu Astyanax aus, als ein durchdringender, tiefer Glockenton das glückliche Lächeln auf dem Gesicht der Prinzessin von Troja in eine zutiefst erschrockene Miene verwandelte.
Hektor selbst ging es nicht anders. Er sprang auf, legte seinen Sohn in Andromaches Arme und eilte zur westlichen Terrasse, um zu sehen, was geschehen war. Die Terrasse bot einen ungestörten Blick auf das weite Meer westlich der Küste – und was der Prinz sah, ließ seine schlimmsten Albträume wahr werden: Das Meer jenseits der Küste war bedeckt von Schiffen – eine schier unübersehbare Menge von Schiffen, die sich in der dunstigen Ferne verloren und dennoch den Eindruck vermittelten, es sei möglich, an der ganzen Küste Trojas über die See laufen zu können, ohne nasse Füße zu bekommen …
Nicht nur die Familie des älteren Prinzen wurde vom Klang der großen, bronzenen Alarmglocke geweckt, deren Stößel von vier kräftigen Männern bedient werden musste. Der Klang der Glocke schallte über die ganze Küste bis tief in das Hinterland hinein. Immer wieder stießen die Wächter die Glocke an, damit niemand ungewarnt blieb. Helena schreckte ebenfalls hoch, Paris lief ebenso wie sein Bruder gleich auf die Terrasse hinaus, um zu sehen, weshalb Alarm gegeben wurde.
Unten, in der Stadt löste der Klang der Glocke schon erstes Durcheinander aus. Jeder Trojaner wusste: Wenn diese Glocke ertönte, dann war Gefahr im Verzug und jeder Bürger musste sehen, dass er sich in Sicherheit brachte.
Wer sich vor der Stadt aufhielt, den rief sie in die Sicherheit der Mauern zurück. Viele Bauern und Händler, die sich in der Morgenkühle zu ihren Feldern und auf die Märkte aufgemacht hatte, die Frauen, die Wasser von den außerhalb der Stadt befindlichen Brunnen holen wollten, sie alle rannten so schnell es ihnen möglich war, zurück nach Troja hinein.
Die Soldaten rief sie zum Dienst und verkündete den Kriegszustand. Eilig liefen die Männer, die im Dienste Trojas standen, zu ihren Quartieren, um ihre Ausrüstung zu holen und eilten dann in die Stellungen, die sie zu verteidigen hatten.
Es war Hektors großes Verdienst, dass jeder, aber auch wirklich jeder Soldat, der in der Stadt Troja Dienst tat, ganz genau wusste, wo er sich im Alarmfall einzufinden hatte. Eine Abteilung Bogenschützen rannte eilig zum Tempel des Apollon, der fast direkt am Strand gelegen war und bezog davor in den gerade eben fertiggestellten Strandhindernissen Stellung. Mit schussbereiten Bogen erwarteten sie die Landung der feindlichen Flotte.
Aus der griechischen Flotte, die in breiter Front auf Trojas Küste zuhielt, hatte sich ein einzelnes Schiff gelöst, dessen Mannschaft zusätzlich zum stetigen, achterlichen Wind ruderte, als gelte es Kampfspiele zu Ehren der Götter zu gewinnen.
Vorn, am Bug dieses Schiffes stand Achilles, der seine Männer angewiesen hatte, so schnell wie möglich zu rudern, damit sie, die Myrmidonen, die Ersten wären, die an Trojas Küste landeten. Eudoros, Achilles’ Heerführer und Kapitän des Schiffes, sah sich besorgt nach den anderen Schiffen um. Eudoros war ein tapferer Mann; einer, der seit langer Zeit im Dienste des Kriegerfürsten Achilles stand. Doch dass er ein tapferer Mann war, bedeutete nicht, dass er sich keine Gedanken um die Sicherheit seiner Männer machte. Jedes dieser Schiffe, die in der Flotte des Agamemnon segelten, hatte eine Besatzung von fünfzig Mann. Sie konnten nicht damit rechnen, von den Trojanern mit offenen Armen und Blütenregen empfangen zu werden – Pfeile waren die wahrscheinlicheren Grüße, die ihnen aus Troja entgegenkommen würden; das war dem erfahrenen Eudoros völlig klar. Er wusste aber auch um die Kühnheit seines Herrn, die ihm zuweilen etwas übertrieben vorkam. Und mit fünfzig Männern eine vermutlich stark verteidigte Küste zu attackieren, schien Eudoros gar zu tollkühn – mochten die Myrmidonen auch die besten Krieger sein, die ganz Griechenland zu bieten hatte. Er eilte zum Bug.
„Mein Herr!“, sprach er Achilles an. „Sollten wir nicht auf die anderen warten?“
Der Kriegerfürst sah den Heerführer an und lächelte leicht.
„Wir sind hier, um Krieg zu führen. Hab’ ich Recht, Eudoros?“, fragte er.
„Aber Agamemnons Befehl …“
„Kämpfst du für mich oder für Agamemnon?“, unterbrach Achilles seinen Heerführer.
„Für Euch, mein Herr“, antwortete der treue Eudoros.
„Dann kämpfe für mich. Sollen die für Agamemnon kämpfen, die ihm dienen“, versetzte Achilles und sah wieder zum Strand, auf den sein Schiff unaufhaltsam zuhielt.
Einige Stadia hinter Achilles’ Schiff kam ein sichtlich verblüffter König Agamemnon zum Bug seines Schiffes, an dem schon sein Bruder Menelaos und Nestor standen.
„Ein schwarzes Segel. Das ist Achilles“, erklärte Nestor, der Agamemnons Blick zu dem weit voraus befindlichen Schiff folgte.
„Was treibt der Narr?“, entfuhr es dem düpierten Mykener. Jetzt machte Achilles ihm schon die Ehre streitig, als Erster in Troja zu landen! „Will er die Küste Trojas mit fünfzig Mann einnehmen?“
Das Erscheinen der griechischen Flotte hatte in Troja hektische Betriebsamkeit ausgelöst. Tekton, Hektors Stellvertreter in der Apollonischen Garde, galoppierte eilig durch die schmale Gasse, in der eines der Zeughäuser Trojas untergebracht war. In diesem Zeughaus lagerte ein Teil der Waffen und Rüstungen der Apollonischen Garde; auch die Waffen Hektors befanden sich in Friedenszeiten hier. In dem Zeughaus war ein Treiben wie in einem Bienenstock, so drängten sich die Soldaten um die Waffenständer.
Tekton hatte richtig kalkuliert: Der Prinz hatte sich gerade seine hier gelagerten Rüstungsteile geholt. Hektor sah seinen Stellvertreter kommen.
„Tekton“, sprach er ihn an, „steht die Apollonische Garde bereit?“
„Sie wartet vor den Stadttoren“, erwiderte Tekton mit einer knappen Verbeugung.
„Ich komme sofort“, kündigte Hektor an. Tekton verbeugte sich noch einmal und eilte dann wieder hinaus.
Hektor drehte sich um. Sein Blick suchte den Führer einer anderen Einheit.
„Lysander!“, rief er. Lysander kam eine kurze Leiter herunter, verbeugte sich ebenso knapp wie Tekton.
„Wie lange noch, bis unsere Truppen bereit sind?“, erkundigte sich der Prinz.
„Die Hälfte der Männer kommt aus dem Landesinneren. Wir müssen sie noch den Kommandeuren zuteilen“, erklärte Lysander.
„Wie lange noch?“, hakte Hektor nach.
„Bis zum Mittag.“
„Das muss schneller gehen!“, wies Hektor den Heerführer an. „Und … Lysander: Ich will, dass Patrouillen das ganze Gelände durchkämmen. Alle Weiden, alle Häuser werden durchsucht! Jeder Trojaner wird hinter die Stadtmauer gebracht! Und wer nicht laufen kann, der wird getragen!“, befahl er und lief eilig aus dem Zeughaus.
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Kapitel 12
Landung
Vor der Küste Trojas traf Achilles eine Entscheidung bezüglich der Schiffswache. Niemals durfte ein Schiff, das an einer feindlichen Küste landete, unbewacht bleiben. Zudem wollte er auf keinen Fall, dass Patroklos mit der ersten Angriffswelle an Land ging. So weit war der junge Mann noch nicht.
„Patroklos!“, rief Achilles. Patroklos kam sofort zu ihm an den Bug – Speer und Schild in den Händen.
„Leg’ deinen Speer beiseite!“, befahl der Kriegerfürst. Patroklos sah ihn verstört an. Er hatte sich doch wohl verhört!
„Aber ich kämpfe gegen die Trojaner!“, erinnerte er seinen Vetter. Achilles schüttelte den Kopf.
„Nicht heute“, wehrte er ab.
„Aber ich bin dafür bereit! Du brachtest mir das Kämpfen bei!“, protestierte Patroklos. Wozu hatte er all das gelernt? Doch wohl nicht, um dann im entscheidenden Moment zuschauen zu müssen! Achilles legte ihm sanft die rechte Hand auf die Schulter.
„Du bist ein guter Schüler“, sagt er anerkennend. „Aber noch bist du kein Myrmidone“, erklärte er und drehte Patroklos zu seinen Männern um. „Sieh dir diese Männer an! Es sind die grimmigsten Soldaten von ganz Griechenland. Ein jeder hat sein Blut für mich vergossen. Bewach’ du das Schiff“, erklärte Achilles. Doch Patroklos wollte nicht einsehen, dass Achilles durchaus Recht hatte.
„Aber ich will kämpfen!“, versetzte er trotzig wie ein Kind, das zu Bett geschickt werden soll und weiterspielen will. Achilles nahm ihn in den Arm, drückte ihn fest an sich. Der Junge mochte sein Vetter sein, doch Achilles liebte ihn wie Sohn und Bruder gleichzeitig. Patroklos zu verlieren, weil er unvernünftig war und sich in eine Gefahr begab, die er noch nicht wirklich einschätzen konnte, war für Achilles ein unerträglicher Gedanke.
„Patroklos!“, seufzte er verzweifelt. „Ich kann nicht kämpfen, wenn ich um dich in Sorge bin! Bewach’ das Schiff!“, beschwor er den jungen Mann. Patroklos begriff, dass Achilles ihn eher zu seiner eigenen Sicherheit an das Schiff ketten lassen würde, als ihn zum ersten Angriff gegen die Trojaner mitzunehmen. Er machte sich zornig aus dem Arm seines Vetters frei, warf den Schild in trotzigem Frust beiseite und stapfte zum Heck des Schiffes.
Hektor war fertig gerüstet und galoppierte eilig mit Tekton vor die Mauern der Stadt, wo seine berittenen Apollonier bereits in Reih und Glied angetreten auf ihn warteten. Die trojanische Reiterei war eine Besonderheit. Meist wurden Pferde als Zugtiere für die Streitwagen benutzt, einzelne Heerführer ritten auch in die Schlacht, nutzten das Pferd aber lediglich als Transportmittel zum Schlachtfeld. Wenn sie dann kämpften, taten sie das zu Fuß. Dass eine ganze Truppe zu Pferd in den Kampf ging und auch zu Pferd kämpfte, das war ungewöhnlich. Die Trojaner hatten die Reiterei von den Skythen übernommen, einem Reitervolk der asiatischen Steppe, mit denen sie Handel trieben und teilweise verwandt waren. Zum Volk der Skythen gehörten auch die Amazonen, ein matriarchalisch geprägtes Reitervolk, die in direkter Nachbarschaft Trojas lebten. Manche Frauen Trojas waren Amazonen – wie Hekabe, König Priamos’ Gemahlin. Diese pferdeliebende Verwandtschaft hatte dazu geführt, dass die Trojaner als nahezu einziges Volk an den Küsten der Ägäis Pferde als Kampfgefährten nutzten. Der Durchschlagskraft galoppierender Pferde hatten Fußtruppen kaum etwas entgegenzusetzen.
Hektor ritt vor die angetretenen Reihen und nahm den Helm ab.
„Trojaner!“, rief er, dass alle ihn hören konnten. „Mein ganzes Leben lebte ich nach einem Gesetz! Und das Gesetz ist einfach: Ehre die Götter, liebe deine Frau und verteidige dein Land!“
Seine Soldaten antworteten mit lautem Jubel auf die Worte ihres Anführers, schwangen die Speere.
„Troja ist unser aller Mutter!“, fuhr Hektor fort. „Kämpft für sie!“, befahl er dann, wendete unter dem Jubel seiner Leute sein Pferd und gab ihnen mit einem Wink das Zeichen, ihm zu folgen. Die ganze Truppe setzte die Pferde in Galopp und sprengte an den Strand.
Achilles’ Schiff war nur noch wenige Stadia vom Strand entfernt. Der Kriegerfürst am Bug drehte sich zu den Männern um, die auf der Back standen und ihn erwartungsvoll ansahen.
„Myrmidonen!“, rief er. „Meine Brüder im Kampf! Lieber kämpfe ich mit euch als mit einer Armee von Tausenden!“, erklärte er voller Leidenschaft. Bestätigend stießen die Männer ihre Speere mit dem Schaft auf das Plankenholz, dass es dröhnte.
„Lasst keinen vergessen, wie gefährlich wir sind! Wir sind Löwen!“, fuhr Achilles in seiner flammenden Rede fort. „Könnt ihr euch vorstellen, was dort wartet… jenseits dieses Strandes? Die Unsterblichkeit! Holt sie euch! Sie gehört euch!“, rief er und wies mit dem blanken Schwert auf seine Männer, die dröhnend jubelten und ihrem Anführer damit ihre unbedingte Gefolgschaft signalisierten.
In diesem Moment erreichte das Schiff den Strand und rutschte mit voller Fahrt aus dem Wasser auf den Sand. Der kantige Bugsporn schob sich drohend über den Flutsaum hinauf auf den Strand, bis das flachbodige Schiff nahezu zur Hälfte auf dem Trockenen war.
„Nach vorn!“, befahl Eudoros.
Achilles sprang als Erster aus dem Schiff, war der erste Grieche, der Trojas Boden in dem nun entbrennenden Krieg feindseliger Absicht betrat. Die Männer, die er für diese erste Attacke ausgewählt hatte, folgten ihm augenblicklich.
Die am Strand verschanzten Bogenschützen der Trojaner zögerten keinen Moment und überschütteten die Eindringlinge mit einem tödlichen Pfeilhagel. Einige von Achilles’ Männern, die im Aussteigen begriffen waren, wurden getroffen, stürzten tödlich oder mindestens schwer verwundet in die Fluten. Wer nicht schon durch die Pfeile selbst getötet wurde, ertrank elend.
Einige der Bogenschützen schickten brennende Pfeile zu dem gelandeten Schiff, um es gleich im Flammen aufgehen zu lassen. Doch dort, wo die Pfeile auf brennbare Teile trafen, waren diese von der Überfahrt so nass, dass die Flammen verloschen oder kaum eine Wirkung zeigten. Einige der Brandpfeile trafen auch Myrmidonen und quälten die Verwundeten durch das Feuer zusätzlich.
Achilles war unter seinem Schild oberhalb der Flutkante in Deckung gegangen und winkte seine Männer zu sich, die sich um ihn scharten und ihre Schilde zu einer Schildkröte* zusammennahmen.
„Aufstellung!“, befahl er. Die Speere, die die trojanischen Verteidiger auf diese tragbare, halbrunde Festungsmauer warfen, prallten wirkungslos daran ab.
Auf seinem Schiff, das noch längst nicht landen konnte, stand ein kopfschüttelnder Agamemnon.
‚Was macht der Mann da vorn nur?’, durchzuckte es ihn, als er Achilles und dessen Männer aus dem Schiff springen sah.
„Der Mann will tatsächlich sterben!“, entfuhr es dem König von Mykene. Und er war sich nicht ganz sicher, ob er nicht genau das wünschte – dass Achilles starb, bevor er sich ihm erneut widersetzte. Gleichzeitig bemühte er sich, geflissentlich zu überhören, dass praktisch die gesamte Armee, die sich auf den anderen Schiffen befand, lauthals:
„Achilles! Achilles!“, skandierte. Nestor bemerkte den Grund für die abweisende Haltung des Großkönigs.
„Überlass’ ihm die Schlacht“, riet der weise König. „Nimm du den Krieg!“
Agamemnon stieß ein heiseres Geräusch hervor, das nach einem verunglückten Lachen klang.
„Überlass’ ihm zu viele Schlachten und die Männer vergessen, wer König ist!“, grollte er.
Eudoros bemühte sich, Ordnung in das heillose Durcheinander zu bekommen und wies die Männer ein. Immer mehr Soldaten scharten sich hinter dem Schildwall. Schließlich waren praktisch alle Myrmidonen, die lebend und halbwegs unversehrt an Land gekommen waren, vollzählig hinter dem Schildwall versammelt. Auf diesen Moment hatte Eudoros gewartet.
„Vor! Vor!“, befahl er und die ganze Schildkröte rückte geschlossen gegen den Tempel Apollons vor. Hinter dem Schildwall schossen einige von Achilles’ Männern nun ihrerseits auf die Trojaner, die außer von den in die Dünen gerammten Abwehrspießen ungeschützt vor dem Tempel standen. Die Männer Trojas wichen langsam zurück.
Unten am Strand hatte Eudoros die Lage soweit stabilisieren können, dass die Myrmidonen zum Sturm auf den Tempel übergehen konnten.
„Auf Befehl!“, wies Eudoros die Männer an. „Greift an! Greift an!“
Wie Läufer, die auf das Zeichen des Schiedsrichters zum Start gewartet hatten, stießen sich die Myrmidonen aus dem weichen Sand ab und spurteten über den Strand, erreichten die vordersten Verteidiger des Tempels und verwickelten sie in ein heftiges Gefecht, bei dem es auf beiden Seiten Verluste gab.
Draußen, vor der Küste, war die Flotte näher gekommen. Auf dem vordersten der Schiffe stand Ajax, der Telamonier, vorn am Bug. Auch Ajax war ein Vetter von Achilles, waren ihre Väter, Peleus und Telamon, doch Brüder gewesen. Ajax, selbst einer der mächtigsten Krieger Griechenlands und ein Meister im Umgang mit dem Streithammer, bewunderte seinen Vetter Achilles, aber dass Achilles sich so vordrängelte, fand er keineswegs angemessen …
„Aaach! Den Ruhm will er wohl für sich allein!“, rief der Telamonier. „Seht!“
Dann drehte er sich um und übersah seine Mannschaft.
„Rudert, ihr faulen Huren!“, schrie er. Mit einem Satz war er an der vordersten Ruderbank an Backbord, hob den dort sitzenden Mann einfach beim Schlafittchen hoch, warf ihn beiseite und setzte sich selbst dorthin, griff sich den Riemen*.
„Rudert! Griechen sterben!“, feuerte er seine Männer an, die ihre Anstrengungen noch einmal erhöhten. Alles wollte Ajax tun, um seinem Verwandten zu Hilfe zu eilen – und um dessen Ruhm zu teilen.
Nur kurz darauf rutschte auch Ajax’ Schiff auf den Strand, seine Männer sprangen heraus und griffen sofort in den heftigen Kampf zwischen den Trojanern und den Myrmidonen ein. Ajax schwang seinen gewaltigen Streithammer mit dem Steinkopf einmal im Kreis herum.
„Ich bin Ajax, der Steinbrecher!“, brüllte er. „Bei meinem Anblick verzweifelt ihr!“
Ajax’ Eile tat Not, denn in diesem Moment erreichte die trojanische Reiterei den Dünenkamm. Hektor übersah, was dort unten geschah. Er drehte sich halb um.
„Die Männer dort unten brauchen Hilfe! Schnell!“, wies er einen seiner Unterführer an.
„Tekton, mir nach!“, rief er dann.
„Vorwärts!“, befahl Tekton. Seine Truppe teilte sich in zwei Hälften, die eine ritt eilig in Richtung von Ajax’ Schiff, um dort auszuhelfen und die Griechen nach Möglichkeit mit der Wucht des berittenen Angriffs ins Meer zurückzutreiben. Der Rest folgte Hektor in Richtung Tempel.
Vor dem Tempel fochten Achilles und seine Myrmidonen einen wilden, verwegenen Kampf, machten ihrem Ruf als grimmigste Soldaten Griechenlands alle Ehre. Das Geschehen am Strand Trojas wurde von den weiter aufkommenden Schiffen in der Flotte der Invasoren sehr wohl gesehen. Auf allen Schiffen, von denen aus man das Geschehen an der Küste bereits beobachtet werden konnte, skandierten die Männer:
„Achilles! Achilles! Achilles!“
Der Gerufene nahm wahr, dass man seinen Namen rief, drehte sich kurz um, wie um sich zu vergewissern, dass er das nicht nur träumte. Dann wandte er sich wieder den trojanischen Soldaten zu, die verzweifelt den Tempel gegen die Myrmidonen verteidigten – und die einer nach dem anderen fielen und damit als Fahrgast am Styx auf den Fährmann Charon warteten, allerdings noch ohne Fahrgeld. Denn solange nicht die übliche Bestattungszeremonie vollzogen war, bei der dem Toten auf jedes Auge eine Münze für den Fährmann als Fahrgeld gelegt wurde, bevor er verbrannt wurde, solange wartete der Tote vergeblich auf die Passage zur Insel der Toten, zum Reich des Hades. Wie jeder gute Fährmann beförderte Charon die Toten nur gegen Bargeld über den Styx.
Die Trojaner sahen ein, dass sie trotz zahlenmäßiger Überlegenheit gegen die wie Berserker kämpfenden Myrmidonen und die inzwischen ebenfalls gelandeten Telamonier keine Chance hatten.
„Zurück zur Stadt!“, befahl der Kommandeur der hoffnungslos geschlagenen Truppe. Wer konnte, setzte sich ab; wer nicht konnte, fiel unter den erbarmungslosen Streichen der Myrmidonen und gesellte sich zu den Wartenden am Styx.
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Kapitel 13
Kampf um Apollons Tempel
Die Myrmidonen standen unter Achilles’ Führung als vorläufige Sieger auf den Stufen des Apollon-Tempels. Achilles sah sich um. Die menschlich wirkenden steinernen Figuren, die an den Außenwänden des Tempels aufgestellt waren oder als plastische Statuen aus den Quadern der Mauern herausgearbeitet waren, stellten verschiedene Gottheiten dar, die dem Apollon untergeordnet waren, repräsentierten teilweise auch frühere Könige Trojas, denen göttliche Verwandtschaft zugesprochen wurde. Diese Figuren machten deutlich, dass Trojas Interessen eher im östlichen Mittelmeerraum lagen – diese Statuen zeigten eindeutig ägyptischen Einfluss. Achilles’ Blick fiel auf eine vergoldete Statue auf der obersten Stufe der Freitreppe, die zum Tempel führte und sehr viel eher griechisch wirkte als die Steinfiguren. Es war ein kniender Bogenschütze – Apollon höchstselbst, Gott der Sonne und der Heilkunst, Schutzpatron der Bogenschützen. Achilles maß die Götterstatue mit einem abschätzigen Blick.
„Der Sonnengott ist ein Schutzpatron Trojas, unseres Feindes!“, sagte er dann. „Nehmt alle Schätze, die ihr finden könnt!“, befahl er. Eudoros hörte den Befehl seines Herrn mit sichtlichem Erschrecken.
„Mit Eurer Erlaubnis, mein Herr!“, meldete er sich zu Wort. Achilles sah den treuen Heerführer an.
„Sprich!“, sagte er.
„Apollon sieht alles, mein Herr! Vielleicht… vielleicht ist es nicht klug, ihn zu beleidigen“, warnte der Heerführer besorgt. Achilles sah auf die Statue, holte aus und trennte den Kopf der Statue mit einem einzigen, gewaltigen Hieb seines Schwertes ab.
„Ha!“, stieß er hervor und trommelte sich triumphierend auf die Brust. Eudoros sah völlig geschockt auf das frevelhafte Tun seines Herrn, doch es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, Achilles deshalb die Treue aufzukündigen.
Wie zur Bestätigung, dass Apollon mit der Schändung seines Abbildes nicht einverstanden war, kamen in diese Moment Hektor und seine Reiter über den Dünenkamm. Achilles sah sie kommen.
„Warne die Männer!“, wies er Eudoros an, der hinter ihm am Eingang des Tempels stand. Eudoros nickte und wollte hineingehen.
„Warte!“, sagte Achilles noch und streckte die Hand aus. Eudoros verstand die Geste seines Herrn, auch ohne, dass dieser seinen Wunsch aussprach. Dafür kannten sie sich lange genug. Achilles hatte keinen Speer – und um die Reiter zu beeindrucken, brauchte er einen. Eudoros reichte ihm seinen Speer, Achilles holte aus und schleuderte den Speer mit ungeheurer Gewalt den trojanischen Reitern entgegen.
Hektor sah den Speer aus Achilles’ Hand fliegen und konnte knapp davor ausweichen – aber Tekton konnte es nicht mehr. Hektor hatte ihm die Sicht versperrt. Der Speer, der Hektor knapp verfehlte, fuhr dem unglücklichen Tekton unmittelbar über dem Panzerrand in den Körper, tötete ihn auf der Stelle. Hektor sah sich noch einmal um und bemerkte, dass Tekton tot aus dem Sattel fiel. Noch nie, das hätte der Prinz beschworen, hatte er einen solchen Speerwurf gesehen.
Hektors kurzes Umdrehen verschaffte Achilles die Möglichkeit, sich in den Tempel zurückzuziehen. Als Hektor und seine Männer den Tempel erreichten, war kein Grieche mehr außerhalb des Gebäudes zu sehen. Die Männer sprangen von den Pferden, sahen sich draußen nochmals um und drangen vorsichtig in den Tempel ein. Auf den ersten Blick war der Apollon-Tempel leer, niemand war zu sehen. Die Trojaner gingen entschlossen weiter und liefen in die von Eudoros vorbereitete Falle.
Hinter den Säulen im Inneren des Tempels sprangen die Myrmidonen hervor und bewiesen ihre Fähigkeit, auch innerhalb eines Bauwerks schnell und sicher zuzuschlagen, erfolgreich zu kämpfen. Die völlig überraschten Trojaner fanden kaum Gelegenheit zur Gegenwehr. Allein Hektor, der weit genug vorn gewesen war, und die Angreifer abschütteln oder niedermachen konnte, gelang es, weiter ins Allerheiligste vorzudringen. Was er dort sah, raubte ihm den Atem: Die Priester des Apollon lagen erschlagen um den Altar! Priester! Wer tat so etwas? Wer vergriff sich an Waffenlosen? Hektor konnte zum einen nicht begreifen, dass es Soldaten gab, die derlei taten und zum anderen, dass Apollon die Frevler dafür nicht auf der Stelle bestrafte.
Hinter dem Altar entstand eine Bewegung, die Hektors Aufmerksamkeit forderte. Durch den offenen Rauchabzug über dem Altar oben im Tempel fiel Licht auf den Mann, der sich dahinter verborgen hatte und zeigte ihn etwa zur Hälfte. Hektor konnte mit einiger Mühe erkennen, dass es wohl derselbe Mann sein musste, der Tekton mit dem unglaublichen Speerwurf getötet hatte.
„Du bist entweder sehr mutig oder sehr dumm, dass du es allein mit mir aufnehmen willst. Du musst Hektor sein. Weißt du wer ich bin?“, vernahm Hektor eine ruhige, dunkle Stimme, die Selbstsicherheit ausstrahlte – und Verachtung. Hektor war es im Moment völlig egal, wer der Mann hinter dem Altar war. Wie kam dieser Mensch dazu, unbewaffnete Priester zu töten?
„Diese Priester waren nicht bewaffnet!“, hielt der Prinz ihm vor.
„Ja … es ist nicht ehrenvoll, alte Männer zu töten“, räumte der Fremde ein.
„Nur Kinder und Narren kämpfen um der Ehre willen! Ich kämpfe für mein Land!“, knurrte Hektor und sprang ihn an, doch der Myrmidone wich aus.
„Kämpfe mit mir!“, forderte Hektor grollend. ‚Erst sich an wehrlosen Priestern vergreifen und dann vor Bewaffneten kneifen, das hab’ ich gern!’, durchfuhr es den trojanischen Thronfolger.
„Warum sollte ich dich jetzt töten, Prinz von Troja, wenn niemand sieht, wie du fällst?“, bemerkte der Grieche süffisant und ging auf der Seeseite des Tempels wieder ins Freie.
Hektor folgte ihm und trat ebenfalls hinaus. Ja, es war der Mann, der Tekton getötet hatte, erkannte Hektor.
„Warum bist du hergekommen?“, fragte er verblüfft.
„Noch in tausend Jahren wird man über diesen Krieg reden“, versetzte der Grieche. Hektor schüttelte den Kopf.
„In tausend Jahren wird der Staub unserer Knochen längst verweht sein“, widersprach er.
„Ja, Prinz“, bestätigte der Grieche. „Aber unsere Namen werden bleiben“, setzte er hinzu.
Hektor kam ein Verdacht: Dieser Mann konnte nur Achilles sein! Niemand anderer hätte sich geweigert, einen Kampf auszutragen weil es keine Zuschauer gab. Niemand anderer hätte einen Kampf auf Leben und Tod nur deshalb gekämpft, weil er wollte, dass man sich an ihn erinnerte. Es war bekannt, dass Achilles, Sohn des Peleus und der Thetis, nach unsterblichem Ruhm strebte.
Hektor wollte den Fremden erneut angreifen, um die unbewaffneten Priester zu rächen, die er erschlagen hatte. Doch im selben Moment kamen dessen Männer unter Führung von Eudoros aus dem Tempel und kreisten den Trojaner sofort ein. Hektor schloss in Gedanken mit seinem Leben ab. Das waren eindeutig zu viele!
„Geh nach Hause, Prinz. Trink Wein und vergnüge dich mit deiner Frau. Morgen haben wir unseren Krieg.“
„Du sprichst vom Krieg, als wäre er nur ein Spiel!“, knurrte Hektor. „Viele Frauen warten vor den Toren Trojas auf ihre Männer, die sie nie wieder sehen!“
Achilles sah den Prinzen offen an.
„Vielleicht kann dein Bruder sie trösten?“, schlug er spöttisch vor. „Es heißt, er umgarnt gern die Frauen anderer Männer.“
Eudoros und die Myrmidonen wollten Hektor angreifen, doch es geschah etwas Unerwartetes: Achilles hielt seine Männer mit einer leichten, kaum sichtbaren Handbewegung zurück, während sein Blick stur auf Hektor gerichtet war. Mit dem Kopf machte er eine Bewegung, die Hektor befahl, zu verschwinden, die er mit einem Zischlaut unterstrich. Die Männer an der seitlichen Freitreppe wichen zurück, Hektor zog sich beschämt und gedemütigt vor den Myrmidonen zurück, erreichte unangefochten sein Pferd, schwang sich behände darauf und ritt unbehelligt fort.
„Mein Herr! Ihr lasst ihn gehen?“, wunderte sich Eudoros. Achilles schüttelte müde den Kopf.
„Es ist noch zu früh am Tage, um Prinzen zu töten“, versetzte er.
Während Hektor eilig nach Troja zurück ritt, erstieg Achilles das Dach des Tempels und sah hinunter auf den Strand. Bis zum Horizont lagen die Schiffe der Invasionsflotte nun dicht nebeneinander, waren bis zur Hälfte der Rümpfe auf den Strand gezogen. Die Männer unten an den Schiffen erkannten die kleine Gestalt hoch oben auf dem Tempel und skandierten erneut laut Achilles’ Namen. Der Pelide hob seinen Schwertarm und streckte ihn im Triumph über die griechische Armee aus, die nun bereit war, Troja anzugreifen. Der Jubel der Männer war ihm zunächst der schönste Lohn für die Eroberung des Strandes.
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Kapitel 14
Kriegsbeute
Etwas später, als Achilles vom Tempel heruntergestiegen war und zu seinem eigenen Schiff und dem dort befindlichen Lager ging, kam ihm bei den Schiffen Ajax entgegen.
„Achilles!“, rief der Telamonier.
„Ajax!“, erwiderte Achilles dessen Gruß, lief aber an ihm vorbei. Ajax folgte ihm.
„Du bist so furchtlos wie ein Gott“, pries Ajax den Peliden. „Es ehrt mich, mit dir in den Krieg zu ziehen.“
„Die Ehre ist auf meiner Seite“, wehrte Achilles ab. Dann sah er Odysseus.
„Wärst du noch langsamer gesegelt, wär’ die Schlacht vorbei gewesen!“, spöttelte Achilles. Odysseus zuckte lachend mit den Schultern.
„Solange ich das Ende mitbekomme, kann ich den Anfang ruhig verpassen!“, erwiderte er.
Achilles ging weiter und gelangte zu seinem Schiff, vor dem seine Männer unter Führung von Patroklos die Jurten bereits aufgebaut hatten. Froh, seinen Vetter mit dieser Aufgabe betraut zu haben, nahm Achilles den jungen Mann bei der Schulter. Eudoros lief ihm eilig nach und holt ihn an seinem Zelt ein.
„Mein Herr! Ich muss Euch etwas zeigen …“, sagte Eudoros und winkte Achilles zum Eingang des Zeltes. Achilles sah in seine Jurte hinein. Im hinteren Teil saß eine junge Frau, die an einen der inneren Zeltpfosten gefesselt war. Sie war dunkelhaarig und hatte dunkle Augen, die den Kriegerfürsten mit ungebrochenem Stolz musterten. Der Blick des Peliden ging nochmals zu Eudoros, der ihn anlächelte.
„Die Männer haben sie gefunden. Sie hatte sich im Tempel versteckt. Sie meinten, Ihr würdet Euren … Spaß … mit ihr haben“, erklärte der Heerführer den ungewöhnlichen Gast mit einem scheelen Seitenblick auf die junge Frau.
Achilles nahm es nickend zur Kenntnis und fing an, sich ohne Scheu vor dem Mädchen aus der Rüstung zu schälen.
„Wie heißt du?“, fragte er eher beiläufig. Briseis, jüngste Dienerin Apollons und Cousine von Hektor und Paris, wandte sich trotzig ab und sagte kein Wort. Achilles zog sich weiter aus, stand schließlich splitternackt vor einer Schüssel mit Wasser.
„Hast du mich nicht verstanden?“, hakte er nach. Seltsam – die Trojaner sprachen doch die gleiche Sprache wie die Griechen! Sollte sie etwa eine Hethiterin sein?, durchzuckte es Achilles. Briseis sah kurz zu ihm hin, wandte den Blick wieder von dem vom Kampf verdreckten und verschwitzten Achilles ab.
„Du hast Apollons Priester getötet!“, warf sie ihm vor. Achilles sah sie interessiert an. Sie hatte ihn also doch verstanden … Dann warf er den Kopf in den Nacken. Schon die zweite Person, die ihm heute Vorwürfe wegen der getöteten Priester machte …
„In fünf Ländern hab’ ich Männer getötet – aber nie einen Priester!“, widersprach er. Achilles strebte nach Ruhm, ja; doch ihm war klar, dass er Ruhm nur ernten konnte, wenn seine Gegner ihm ebenbürtig und bewaffnet waren. Nie, niemals hätte er einen Unbewaffneten angegriffen, geschweige denn getötet – jedenfalls er persönlich. Soviel Ehre hatte durchaus. Was seine Männer machten, war etwas anderes …
„Dann waren es deine Männer!“, beharrte Briseis. Mochte ja sein, dass er nicht selbst Hand an die Priester gelegt hatte, aber er war der Anführer, also war er für deren Handlungen verantwortlich – so lautete jedenfalls das Gesetz in Troja.
„Der Sonnengott wird sich rächen!“, drohte sie.
Achilles stützte sich auf seinem Waschtisch ab.
„Worauf wartet er dann noch?“
Es klang müde und resigniert, beinahe verzweifelt, so wie er es sagte. Briseis sah den Mann wieder an. Er war höchst ansehnlich, männlich schön; zwar vom Kampf verdreckt, aber unübersehbar ein wirklich gut aussehender Mann, muskulös, wohl proportioniert mit fast schulterlangem, blondem Haar und einem markanten, kantigen Gesicht, aus dem blaue Augen hervorleuchteten, wie Briseis sie noch nie gesehen hatte. Doch wenn sie ihn schön fand, musste sie ihm das im Moment wirklich nicht sagen – nicht unter diesen Bedingungen.
„Auf den richtigen Augenblick!“, versetzte sie kalt. Achilles tauchte die Hände in das erfrischend kühle Wasser und wusch sich damit Schweiß und Dreck vom Körper.
„Seine Priester sind tot, seine Dienerin ist gefangen. Ich glaube, dein Gott hat Angst vor mir“, erwiderte er mit einem sanften Grinsen. Briseis sah den Kriegerfürsten verblüfft an.
„Angst???“, entfuhr es ihr. „Apollon ist der Herrscher über die Sonne! Er hat vor nichts Angst!“, herrschte sie Achilles an. Belustigt sah er sie an.
„Wo ist er denn?“, fragt er bissig.
„Du bist nichts als ein Mörder!“, schalt sie. „Was weißt du schon über die Götter?“
Achilles’ Grinsen wurde breiter. Diese Frau gefiel ihm. Hilflos gefesselt, recht zerschunden, aber mit dem Mut einer Löwin, die auch in dieser Lage nicht aufgab. Er nahm den knielangen Schurz, den seine Männer ihm bereitgelegt hatten, wickelte sich das Kleidungsstück um die Hüften, verschnürte es an der Seite und ging langsam zu Briseis hin.
„Ich weiß mehr über die Götter als eure Priester“, entgegnete er. Mit einem geheimnisvollen Flüstern offenbarte er ihr:
„Ich habe sie gesehen!“
Es war nichts als die lautere Wahrheit; schließlich war er der Sohn einer Göttin und hatte als Halbgott das Privileg, seiner Mutter olympische Verwandtschaft sehen zu dürfen – im Gegensatz zu normalen Sterblichen, die an die Götter allenfalls glauben konnten, aber nie die Gewissheit bekamen, bis sie nicht selbst in Hades’ Reich einkehrten. So wusste Achilles auch, dass selbst die Götter ihre Schwächen und Fehler hatten, ein Umstand, der ihn an der Macht Apollons gelegentlich zweifeln ließ. Nur deshalb hatte er die Beschädigung der Statue riskieren können, nur deshalb konnte er sich solch provozierende Worte überhaupt erlauben. Er trat nahe zu Briseis.
„Du stammst aus königlichem Hause, bist es gewohnt auf andere herabzublicken“, erkannte er. Er nahm beinahe sanft eine Strähne ihres dunklen Haars und schnupperte daran. Obwohl sie selbst vom Kampf verschmutzt war, wirkte sie gleichzeitig doch sauber, duftete ihr Haar nach wohlriechenden Essenzen, sah ihre Haut weich und gepflegt aus.
„Du musst aus einem Königshaus sein“, bekräftigte er. Nur ein reiches Königshaus konnte sich solche kostbaren Essenzen leisten.
„Wie heißt du?“, fragte er nochmals. Sie wandte sich brüsk ab, eisern schweigend. Achilles setzte sich neben sie und löste ihre Fesseln.
„Selbst die Diener Apollons müssen einen Namen haben“, setzte er unnachgiebig, aber doch sanftmütig hinzu. Briseis schluckte hart.
„Briseis“, presste sie leise hervor. Achilles nickte.
„Hast du Angst, Briseis?“, fragte er. Sie sah ihn wieder an.
„Sollt’ ich das?“, erkundigte sie sich.
Bevor er antworten konnte, hörte er, dass der Filzstreifenvorhang beiseite gezogen wurde.
„Mein Herr!“, hörte er Eudoros’ Stimme. „Agamemnon erbittet Eure Anwesenheit. Die Könige versammeln sich, um den Sieg zu feiern.“
Achilles drehte sich halb um.
„Du hast gut gekämpft heute“, lobte er den treuen Gefährten. Eudoros‘ Gesicht entspannte sich zu einem dankbaren Lächeln. Solches Lob aus Achilles’ Mund war ihm mehr wert als alle Ehrungen, deren Agamemnon fähig gewesen wäre. Nicht umsonst diente er dem Peliden schon so lange.
„Mein Herr!“, erwiderte er, verbeugte sich voller Dankbarkeit und zog sich zurück.
„Was willst du hier in Troja? Du bist doch nicht wegen Spartas Königin hier?“, fragte Briseis, an Achilles gewandt. Achilles sah sie wieder an. Ein sanftes, leicht schelmisches Lächeln umspielte seine scharfgeschnittenen Gesichtszüge.
„Das, was alle Männer wollen. Nur will ich es noch viel mehr“, erwiderte er und ließ Briseis bewusst im Ungewissen, was er genau meinte. Nach einer Pause erhob er sich und ergänzte:
„Du brauchst mich nicht zu fürchten. Von allen Trojanern bist du die Einzige, die das sagen kann.“
ΩΩΩ
Kapitel 15
Königliche Habgier
Nur wenig später ging Achilles durch das wachsende Lager der Griechen zu Agamemnons Schiff. Er hatte gebadet und trug seinen Lederharnisch ohne die bronzene Schulterverstärkung zum üblichen kurzen Schurz und einen dunklen Umhang, der ihn als freien Kriegerfürsten auswies. Sein Schwert hatte er in einer besonderen Scheide griffbereit über dem Rücken. Die Männer Agamemnons hatten das Schiff fast vollständig an Land gezogen, die Vertiefungen für die Ruderbänke mit breiten Holzplanken überbaut und über dem Deck ein großes Zelt errichtet, an dessen seeseitigem Ende drei stufenförmig angelegte Zeltbahnen den Bau ergänzten. Unter diesen stufenförmigen Zeltbahnen befand sich der Thron des Mykeners.
Achilles betrat das Schiffszelt durch einen seitlichen Zugang aus Planken und blieb im Eingang zunächst stehen, als er sah, was sich gerade vor seinen Augen tat: Triopas kniete vor Agamemnon und überreichte dem Großkönig einen kostbaren Dolch mit silberbeschlagener Scheide.
„Du hast einen großen Sieg errungen, mein König aller Könige. Wer hätte gedacht, die Küste Trojas könnte mit solcher Leichtigkeit eingenommen werden“, sagte er. Agamemnon nahm mit einem freundlichen Lächeln den wertvollen Dolch aus der Hand des besiegten Königs von Thessalien an, der sich in diesem Augenblick auch wieder als Sieger fühlen durfte, standen seine Männer doch auf Agamemnons Seite.
„Ein wundervolles Geschenk, Triopas. Du wirst morgen zu den Ersten gehören, die durch die Straßen Trojas gehen“, sagte der Mykener.
Odysseus, der etwas abseits stand, rieb sich mit sichtbaren Zweifeln den Bart. Morgen war Agamemnons Armee gewiss noch nicht in der Stadt Troja. Achilles, der immer noch in der Nähe des Eingangs war und dort wie ein Löwe im Käfig langsam auf und ab ging, konnte sich ein spöttisches Schmunzeln nicht verkneifen.
In der Reihe der Gratulanten war Nestor der nächste, der darauf wartete, Agamemnon zu huldigen. Triopas ging beiseite und Nestor trat von König Agamemnon, kniete vor dem Thron nieder. Er überreichte Agamemnon eine kostbare Fayence.
„Mein Vater Neleus hat diese Urne fertigen lassen als Erinnerung an seinen Sieg bei Kybriseis. Nun überreiche ich sie dir zu Ehren eines noch denkwürdigeren Sieges.“
Agamemnon nahm die Urne entgegen und umarmte Nestor mit dem freien rechten Arm.
„Danke, alter Freund“, lächelte er. „Morgen speisen wir in den Gärten Trojas zu Abend.“
Agamemnon sah auf. Sein Blick fiel auf den immer noch spöttisch grinsenden Achilles, der es unglaublich lächerlich fand, dass die Könige Griechenlands sich einem zu Füßen warfen, der ihnen ebenbürtig war.
„Lasst uns allein!“, befahl Agamemnon. Gehorsam verließen die Könige das Audienzzelt. Odysseus kam auf dem Weg nach draußen zu Achilles.
„Krieg bedeutet, dass junge Männer sterben und alte Männer reden. Du weißt das“, versuchte er die Szene herunterzuspielen, die sich Achilles geboten hatte. „Schenk’ der Politik keine Achtung“, empfahl er und klopfte dem Kriegerfürsten auf die Schulter, verließ dann das Zelt.
Achilles ging langsam durch das Zelt in Richtung des Throns.
„Du warst anscheinend siegreich“, sagte er mit leisem Spott. Agamemnon setzte sich bequem auf seinen Thron.
„Ach, vielleicht hast du das nicht bemerkt: Die Küste Trojas gehörte heute Morgen noch Priamos. Doch schon am Nachmittag gehörte sie … Agamemnon“, entgegnete der Mykener spitz.
„Die Küste kannst du haben. Ich bin nicht wegen des Sandes hier“, versetzte Achilles.
„Nein!? Du bist hier, weil du willst, dass dein Name die Jahrhunderte überdauert. Heute wurde ein großer Sieg errungen, doch dieser Sieg war nicht deiner! Nicht vor Achilles haben sich sämtliche Könige verbeugt. Nicht Achilles haben sämtliche Könige gehuldigt“, erwiderte Agamemnon mit ätzendem Spott.
„Vielleicht waren die Könige zu weit hinten und sahen nichts“, erwiderte Achilles, leicht gereizt. „Die Soldaten gewannen die Schlacht“, stellte er dann kühl klar. Agamemnon sprang auf.
„An Könige wird man sich erinnern, nicht an Soldaten!“, fuhr er Achilles an, der davon jedoch unbeeindruckt blieb. „Morgen werden wir die Tore Trojas niederreißen! Auf jeder Insel Griechenlands werde ich ein Siegesdenkmal errichten lassen. Als Inschrift wird Agamemnon im Stein stehen!“, fuhr Agamemnon fort. „Mein Name wird die Jahrhunderte überdauern. Dein Name ist in den Sand geschrieben – damit ihn die Wellen hinweg waschen!
Achilles schüttelte leicht den Kopf.
„Sei vorsichtig, König aller Könige. Noch hast du nicht gewonnen“, warnte er. Agamemnon hatte tatsächlich keine Vorstellung, dass die Einnahme der Küste keineswegs bereits der endgültige Sieg über Troja war. Der Weg war noch lang …
Agamemnon nahm Achilles’ Warnung nicht zur Kenntnis.
„Deine Männer haben Apollons Tempel geplündert, ja?“, erkundigte sich der Mykener scheinbar zusammenhanglos. Achilles bemerkte die Spitze, die in dieser Frage lag. Agamemnon erwartete also auch von ihm ein Geschenk …
„Du willst Gold? Es ist deins. Es ist mein Geschenk, deinen Mut zu ehren. Nimm dir, was du willst“, bot er großzügig an. Agamemnons Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes, fand Achilles, als er in das hämische Grinsen des Großkönigs sah.
„Das habe ich bereits getan. Aphareos, Haemon!“
Achilles stockte, als er sah, dass die Gerufenen Briseis in das Zelt schleppten. Die junge Frau schluchzte verzweifelt.
„Das ist Kriegsbeute“, bemerkte Agamemnon süffisant. Achilles sah die beiden Männer scharf an.
„Gegen euch, meine Brüder, hab’ ich nichts. Aber wenn ihr sie nicht freilasst, wird dies euer Ende sein!“, drohte er finster. Alles konnte Agamemnon haben – aber nicht sie!
„Entscheidet euch!“, fauchte Achilles.
„Wachen!“, rief Agamemnon, als Achilles sein Schwert aus der Scheide auf seinem Rücken riss und damit augenblicklich auf Agamemnons Bedienstete losging. Eilig verteilten sich die Wachen, doch vor Achilles hatten sie mehr als nur großen Respekt.
„Hört auf!“, rief Briseis schluchzend. „So viele Menschen erlitten heute den Tod!“
Sie wandte sich an Achilles:
„Du verstehst dich nur aufs Töten! Das ist dein Fluch! Ich will nicht, dass jemand für mich stirbt!“
Achilles kam aus seiner tiefen Kampfstellung hoch. Vielleicht hatte sie sogar Recht … Schweigend ging er in Richtung des Zeltausgangs. Agamemnon lachte böse.
„Der mächtige Achilles … Eine Sklavin bringt ihn zum Schweigen!“, feixte er und trat nahe zu Briseis, nahm eine Haarsträhne der schönen Gefangenen und hob sie an seine Nase, den Blick stur auf Achilles gerichtet.
„Heute Abend … wird sie mich baden. Und dann … wer weiß?“, grinste er. Das war zu viel. Achilles riss sein Schwert wieder heraus und streckte es Agamemnon drohend entgegen.
„Versoffenes Schwein!“, fauchte er zornig. „Bevor meine Zeit gekommen ist, werd’ ich mich über deinen Leichnam beugen und ich werde lächeln.“
Mit einem wütenden Keuchen stapfte er aus dem Zelt. Agamemnon war nicht nur einen Schritt zu weit gegangen. Jetzt reichte es ihm endgültig. Er würde nie wieder das Schwert für Agamemnon erheben!
ΩΩΩ
Kapitel 16
Kriegsrat in Troja
Beide Seiten bereiteten sich auf den nun unvermeidlichen Krieg vor. Die Griechen hatten nun alle Schiffe an Land gezogen und sicherten ihren Landungsplatz mit ebensolchen Strandbarrikaden wie es die Trojaner vor dem getan hatten, schlugen die eroberten Hindernisse in der umgekehrten Richtung in den Sand, spitzten abgebrochene Spieße neu an, nachdem sie verankert waren. Im Schutz dieser Befestigungen bauten sie ihre Zelte auf, brachten Vorräte und Waffen an Land.
In der Stadt Troja sorgten graubärtige Heerführer für die Verstärkung der Mauern und der Tore, schafften tausende von Pfeilen heran, mit denen die trojanischen Bogenschützen die Feinde auf Distanz halten sollten.
Als sich die Dunkelheit senkte, hatten die Trojaner ihre Toten geborgen und ihnen – je nach Rang – vor dem Tempel des Poseidon auf der Agora in der Stadt hölzerne Plattformen für die Feuerbestattung errichtet. Die Plattformen wurden mit weiterem Holz und Reisig unterfüttert, dann legte man die Leichname darauf, die von ihren Verwandten gewaschen und hergerichtet worden waren. Manche Leichname waren in kostbare Gewänder gehüllt, mit dem ihrem Stand angemessenen Schmuck versehen und sahen aus, als ob sie friedlich schliefen; andere, die ärmer waren und deren lebende Verwandte kein einziges Kleidungsstück entbehren konnten, waren in leinene Säcke gehüllt und würden am Styx ankommen, wie Zeus sie geschaffen hatte – nackt. Schließlich legte der jeweils nächste Verwandte, der die Plattform auch entzündete, dem Toten auf jedes Auge ein Stück Gold, Silber oder Kupfer – je nach Reichtum – stieg dann auf die nächste Stufe der Plattform und entzündete den Scheiterhaufen.
Als die Scheiterhaufen hell loderten, brachen die Witwen und die professionellen Klageweiber in lautes Weinen und Wehklagen aus, das die Toten an den Styx begleitete.
Die Totenfeuer in der Stadt waren kaum verloschen, als sich der König von Troja selbst, seine beiden Söhne und die Berater des Königs im Thronsaal versammelten. In der Mitte des Saales war ein schmales, rechteckiges Becken, das die Feuer der Kohlenbecken an den Seiten wie ein Spiegel vervielfältigte. Die kurze Innenseite des Thronsaales, die der Loggia gegenüberlag, wurde von der riesigen steinernen Statue des thronenden Zeus geprägt. In seiner rechten Faust hielt der Göttervater einen goldenen Apfel, aus dem ein goldenes Blitzbündel wuchs, in der Linken hielt er einen langen Stab. Die langen Seiten des Saales waren durch kleinere, stehende Statuen der Zeus untergebenen Götter des griechischen Pantheons geschmückt, die aber immer noch überlebensgroß waren. Diese Steinplastiken zeigten wie auch jene am Tempel Apollons, dass die Könige Trojas gern ägyptische Künstler und Steinmetze für die Schaffung ihrer Götterstatuen beschäftigten.
Am Rand dieses Beckens nahmen die Berater auf steinernen Schemeln Platz, der König und seine Söhne saßen auf einer kleinen, drei Stufen vom Hauptsaal erhöhten Empore gegenüber dem Zeus-Standbild auf Steinsitzen mit Armlehnen. Priamos hatte auf dem zentralen Thronsitz Platz genommen, der als einziger für Menschen nutzbarer Sitz im Saal mit Armlehnen und einer hohen und breiten Rückenlehne ausgestattet war. Rechts neben ihm saß Hektor, links von ihm Paris. Vorn am Becken, rechts vom König, war der Platz des alten Heerführers Glaukos, der die Ratssitzung eröffnete.
„Wenn sie den Krieg haben wollen, sollen sie den Krieg bekommen!“, äußerte er mit der ihm eigenen Leidenschaft. „Die besten Männer Trojas können sich mit den Besten Griechenlands messen – jederzeit!“
Ihm gegenüber stand Velior, einer der adligen Räte, auf.
„Die Besten Griechenlands zählen zweimal mehr als die Besten Trojas!“, warnte er.
„Was schlägst du also vor?“, fragte Glaukos. „Sollen wir unsere Stadt aufgeben? Sollen wir den Griechen gestatten, unsere Männer abzuschlachten, unsere Frauen zu schänden?“
„Ich bin für den Weg der Diplomatie“, erwiderte Velior. „Die Griechen sind nur aus einem Grund hergekommen. Wir wollen ehrlich sein, meine Freunde: Heute brennen Trojaner auf den Scheiterhaufen … wegen einer … jugendlichen … Unbesonnenheit.“
Velior sah Paris durchdringend an, der betreten den Blick senkte.
Priamos nahm die beiden gegensätzlichen Meinungen zunächst zur Kenntnis.
„Glaukos!“, wandte er sich dann an den alten Heerführer. „Seit vierzig Jahren kämpfst du an meiner Seite. Können wir diesen Krieg gewinnen?“, fragte der König. Glaukos sah den König stolz an.
„Noch nie sind unsere Mauern durchbrochen worden. Wir haben die besten Bogenschützen der Welt. Und – wir haben Hektor! Seine Männer würden noch die Schatten des Tartarus bekämpfen, wenn er es befehlen würde“, fasste er die Vorzüge Trojas zusammen. „Ja!“, sagte er dann überzeugt. „Wir können gewinnen.“
Die anderen Räte applaudierten begeistert. Archeptolemos, Hohepriester Apollons, saß Glaukos gegenüber und erhob sich nun.
„Ich habe heute mit zwei Bauern gesprochen. Sie sahen einen Adler, der eine Schlange in seinen Krallen hielt“, erklärte er. „Das … ist ein Zeichen von Apollon. Wir werden morgen einen großen Sieg davontragen!“, prophezeite Archeptolemos.
Hektor zog zweifelnd die Augenbrauen hoch.
„Vogelschau?“, fragte der Prinz sarkastisch. „Wollen wir wirklich unsere Strategie dem Flug der Vögel überlassen?“
„Hektor, zeige Respekt!“, wies Priamos seinen älteren Sohn zurecht. „Als Archeptolemos uns vier Jahre der Dürre prophezeite, hoben wir tiefere Brunnen aus. Die Dürre kam und wir hatten Wasser zu trinken. Der Hohepriester ist ein Diener der Götter!“
„Und ich bin ein Diener Trojas!“, versetzte Hektor an seinen Vater gewandt. „Ich habe die Götter stets geehrt, Vater, das weißt du. Doch heute kämpfte ich gegen einen Griechen, der das Antlitz Apollons entweihte. Apollon hat nichts getan, um ihn zu töten! Die Götter werden diesen Krieg nicht für uns kämpfen.“
Paris stand auf. Er äußerte sich selten auf solchen Versammlungen. Doch diese Sache betraf ihn sehr persönlich, und er hatte sich überlegt, was er tun konnte, um den Krieg zu verhindern, den er nicht wollte. Diese Ratsversammlung war die beste Gelegenheit für ihn, seinen Vorschlag dazu anzubringen. Paris hatte durchaus ernst gemeint, dass er von niemandem – erst recht nicht von seinem Bruder – verlangen wollte, für seine Dummheit Krieg zu führen. Dass er eine Dummheit gemacht hatte, war ihm inzwischen sehr klar geworden. Veliors Vorwurf bestärkte ihn nur in dieser Einsicht. Er hoffte, diese Dummheit selbst bereinigen zu können, ohne das Leben von noch mehr Trojanern zu gefährden.
„Es wird keinen Krieg geben“, sagte er und ging die Stufen der Empore hinunter zum Beckenrand. „Dies ist kein Streit zwischen Völkern, dies ist ein Streit zwischen zwei Männern. Und ich will nicht, dass meinetwegen auch nur noch ein Trojaner stirbt!“, erklärte er. Priamos war es von seinem jüngeren Sohn nicht gewohnt, dass er das Wort in der Ratsversammlung ergriff – noch dazu mit solcher Bestimmtheit.
„Paris!“, wies er ihn zurecht. Der junge Mann drehte sich zu ihm um. Unsicherheit spiegelte sich in seinen Zügen, doch er hatte einen Entschluss gefasst, den es jetzt durchzusetzen galt – zum Wohle aller Trojaner.
„Morgen früh werde ich Menelaos um das Recht auf Helena herausfordern. Der Sieger nimmt sie mit sich. Der Verlierer wird brennen – noch vor Einbruch der Nacht“, erklärte er entschieden, wenngleich die Nervosität in seinem ebenmäßigen Gesicht wie in einer offenen Schriftrolle geschrieben stand. Für Paris war es auch der Versuch, sich aus dem Schatten seines Bruders zu lösen und seinem Vater zu beweisen, dass er ebenfalls ein mutiger Mann war, der sich von seinen Entschlüssen nicht abbringen ließ. Ohne ein weiteres Wort und ohne auf die Erlaubnis seines Vaters zu warten, verließ er die Ratsversammlung. Glaukos sah ihm nach.
„Kann er gewinnen?“, fragte der alte General mit hörbaren Zweifeln. Glaukos’ Blick traf auf den Hektors. Auch Hektor hatte Zweifel an der Fähigkeit seines jüngeren Bruders, im Zweikampf zu bestehen. Die Zweifel waren ihm so deutlich anzusehen, als stünden sie in großen Schriftzeichen auf eine offene Buchrolle geschrieben…
Etwas später saß Paris im Hofgarten vor dem dortigen Heiligtum der Aphrodite. Er war von der Ratsversammlung dorthin gegangen, um von der ihm persönlich so nahestehenden Göttin Beistand für den bevorstehenden Kampf zu erbitten.
„Vater … verzeih’ mir den Schmerz, den ich dir bereitet habe“, sagte er leise, als er bemerkte, dass sein Vater ihm gefolgt war. Priamos setzte sich auf die Bank neben seinen Sohn und sah ihn einen Moment an.
„Liebst du sie?“, fragte der König direkt. Paris sah zur Statue der Aphrodite.
„Du bist ein großer König, weil du dein Land so sehr liebst. Jeden einzelnen Grashalm, jedes winzige Sandkorn, jeden Stein im Fluss“, sagte er sanft und sah dann seinen Vater an. „Du liebst alles an Troja – genauso liebe ich Helena“, erklärte der junge Mann. Priamos nickte.
„Ich habe viele Kämpfe zu meiner Zeit geführt. Manche um Land, manche um Macht, manche um Ruhm. Ich nehme an, wenn man um die Liebe kämpft, ist das vielleicht ein weit besserer Grund als alle anderen“, sagte er versonnen. „Aber ich werde nicht der sein, der kämpft.“
Mit diesen Worten zog der König ein Schwert mit einer blattförmigen Klinge; ein legendäres Schwert, von dem Paris bisher nur gehört hatte. Es zu Gesicht zu bekommen, war schon eine besondere Ehre für den Prinzen.
„Das Schwert Trojas!“, flüsterte er ehrfürchtig, als die Klinge im Schein der offenen Feuer in den Kohlebecken und der Fackeln rotgolden aufleuchtete. Priamos hielt das Bronzeschwert mit beiden Händen und sah auf die scharf geschliffene Klinge.
„Mein Vater trug dieses Schwert und seine Väter vor ihm. Durch die Zeiten zurück bis zur Gründung Trojas ist die Geschichte unseres Volkes mit diesem Schwert geschrieben worden. Führe es morgen mit dir“, sagte er und übergab seinem Sohn das legendäre Schwert. Paris konnte seinen Blick kaum von der eleganten Waffe abwenden, als sein Vater weitersprach:
„Die Seele Trojas ist in diesem Schwert. Solange ein Trojaner es trägt, hat unser Volk eine Zukunft.“
Paris sah die Waffe mit wachsender Zuversicht und dennoch ebenso aufkommender Nervosität an. Er war nicht der perfekte Schwertkämpfer, dessen war sich der Prinz bewusst; wenn dieses Schwert mit der ihm innewohnenden Seele Trojas ihm nicht zum Sieg über Menelaos verhelfen konnte, konnten es auch Aphrodite oder Apollon selbst nicht …
ΩΩΩ
Kapitel 17
Ratschläge
Weiter oben in der Burg saßen Andromache und Hektor in ihrem Schlafgemach, vor sich die Wiege mit ihrem kleinen Sohn Astyanax, die viel Ähnlichkeit mit einem Papyrusboot vom Nil hatte. Mit dem fernen Ägypten bestanden seit langer Zeit intensive Handelsbeziehungen. So hatte die ägyptische Mode auch in Troja Einzug gehalten – in solchen Möbelstücken, in der Gestaltung mancher Götterstatuen und in Bautechniken. Der Kleine sah seinen Vater mit großen Augen an und spielte fröhlich mit dem handgeschnitzten Holzlöwen. Andromache sah ihrem geliebten Mann an, dass der Tag ihn sehr aufgewühlt hatte.
„Der Mann, der Tekton vor Apollons Tempel tötete …“, setzte er nachdenklich an, „nie sah ich jemanden einen Speer so schleudern! Ein unglaublicher Wurf!“
Hektors Blick fiel auf seinen Sohn, der seinen Vater anlachte und begeistert auf seinem Holzlöwen kaute.
„Er weiß nichts von dem, was morgen geschehen wird“, sagte er dann.
„Den Göttern sei Dank!“, entfuhr es Andromache. Sie nahm Hektors Hand und küsste sie zärtlich und voller Liebe, aber auch schier verzweifelt.
„Geh’ morgen nicht!“, flehte sie. „Bitte geh’ nicht!“
Hektor sah seine Frau einen Moment an. Er war der Heerführer Trojas. Wenn sich jemand vor einem Kampf nicht drücken konnte, dann ganz bestimmt er! Andererseits verstand er die Sorge seiner geliebten Frau. Seit er erwachsen war, war es seine Aufgabe, für Trojas Sicherheit zu sorgen. Gewiss hatte Andromache gewusst, wen sie geheiratet hatte, aber ihr kleiner Sohn hatte das Leben für sie beide sehr verändert. Zudem war es zwar Hektors Aufgabe, Troja zu verteidigen, aber es war nicht sein Lebensinhalt. Hektor lächelte sie zärtlich an.
„Nicht ich kämpfe morgen, sondern Paris“, erklärte er. Andromache schüttelte den Kopf.
„Fünfzigtausend Griechen sind nicht hier, um deinen Bruder kämpfen zu sehen. Das weißt du.“
Hektors Lächeln wurde breiter. Seine Frau! Sie war nicht nur schön, sie war auch klug.
„Du wärst ein guter General, mein Liebling“, sagte er anerkennend. Doch Andromache wollte kein Lob für ihr strategisch folgerichtiges Denken – sie wollte Hektor nicht verlieren. Eines Tages, das sagte ihr ausgeprägter, gesunder Menschenverstand, würde er aus einem Kampf nicht lebend zurückkehren. Sie wollte nicht, dass dieser Tag schon morgen war. Ein Leben ohne Hektor konnte sie sich nicht vorstellen – besonders jetzt.
„Du hast dein ganzes Leben lang gekämpft. Lass’ diesmal die anderen kämpfen“, beharrte sie. Hektor sah auf den kleinen Jungen in seiner Wiege. Wie sehr liebte er seine Familie, sein eigenes kleines Reich!
„Du weißt, dass ich nicht kämpfen will“, entgegnete er sanft. „Ich will meinen Sohn heranwachsen sehen. Ich will es miterleben, wie die Mädchen ihm nachstellen“, lächelte er.
„So wie seinerzeit seinem Vater?“, lächelte sie. Er schüttelte den Kopf.
„Er ist um so vieles schöner als ich es je war“, sagte er. Es war eine grobe Untertreibung. Hektor war ein wirklich gutaussehender Mann; er war geradezu von Frauen umlagert gewesen, ein echter Mädchenschwarm – und das hatte nur in geringem Maße etwas damit zu tun gehabt, dass er der Thronfolger war. Begehrt zu sein war kein Privileg von Paris. Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder hatte Hektor aber nur einmal gebrochene Herzen hinterlassen und auch nur in einer Stadt, nämlich in Troja, als er Andromache geheiratet hatte und alle anderen, die sich Hoffnungen gemacht hatten, leer ausgingen. Paris dagegen hatte in so ziemlich jeder Stadt, die mit Troja Handelsbeziehungen unterhielt, reihenweise geknickte Mädchen zurückgelassen …
„Ich muss zu Paris“, sagte er dann und wollte aufstehen, doch Andromache hielt ihn zurück. Sie wusste wohl, dass Hektor den Kampf nicht von sich aus suchte, doch sie war noch längst nicht überzeugt, dass er morgen sein Schwert nicht anfassen würde. Dafür kannte sie ihn einfach zu gut.
„Ich habe … in Kriegen mit Sparta … sieben Brüder verloren. Ich sollte an Verluste gewöhnt sein“, sagte sie und presste Hektors Hand an ihre Wange. „Dich darf ich nicht verlieren!“, schluchzte sie. „Ich würde es nicht überleben!“
Hektor wurde klar, dass Worte allein seine Frau nicht beruhigen würden. Er zog sie an sich und küsste sie – lange und intensiv. Dann machte er sich ganz vorsichtig aus ihren Armen frei. Wenn er morgen nicht kämpfen sollte, durfte Paris keinen Fehler machen. Sein jüngerer Bruder war kein geübter Schwertkämpfer, das wusste Hektor nur zu gut. Er war ein guter Bogenschütze, wenngleich er schon länger keinen Bogen mehr benutzt hatte; aber ein Schwertkämpfer, nein, das war er gewiss nicht. Hektor wollte ihm noch Ratschläge geben.
„Ich muss zu Paris“, sagte er leise und verließ seine Gemächer.
Die Akropolis von Troja war eine weitläufige Burg. Zwar wohnten die Brüder nur durch ein Stockwerk getrennt, doch in den vielen Gängen der Burg konnte sich ein Unkundiger nur verirren. Im Korridor, der zu Paris’ Wohnbereich führte, sah Hektor mehr aus dem Augenwinkel, dass dort jemand herumschlich. Der Schatten hatte den Prinzen ebenfalls bemerkt und eilte mit schnellem Schritt davon.
„Warte!“, rief Hektor. Doch der Schatten beschleunigte seine Schritte nur.
„Warte!“, rief der Prinz erneut, immer noch keine Antwort. Er rannte eilig hinter dem fliehenden Schatten her und holte ihn im Hofgarten vor dem Heiligtum der Aphrodite ein. Er packte zu und spürte sofort, dass er eine Frau eingefangen hatte. Aus dem Himation schälte er Helena heraus.
„Helena!“, entfuhr es ihm. „Was hast du vor?“, fragte er verblüfft. Alles hatte er erwartet, aber gewiss nicht Helena.
„Lass mich gehen!“, flehte sie mit tränenerstickter Stimme.
„Nein!“, erwiderte er und umarmte die weinende junge Frau.
„Ich lass’ sie brennen!“, schluchzte sie. „Ich lass’ sie brennen auf dem Scheiterhaufen! Das ist alles meine Schuld!“
Er schüttelte den Kopf und streichelte sie tröstend.
„Doch!“, beharrte sie schluchzend. „Du weißt das genau. So viele Witwen! Ich höre sie noch immer wehklagen. Ihre Männer sind gestorben, weil ich hier bin. Ich gehe hinunter zu den Schiffen.“
„Nein, das tust du nicht!“, widersprach Hektor. Helena wand sich wie ein Aal, doch ihr Schwager hielt sie sicher fest – wenn auch mit einiger Mühe.
„Ich gehe wieder zu Menelaos“, beharrte sie. „Er kann tun, was er will: Mich töten, zur Sklavin machen, ganz gleich! Alles ist besser als das hier!“
Hektor schüttelte Helena einmal durch. Sie gab ihren Widerstand auf.
„Dafür ist es zu spät!“, sagte er eindringlich. „Denkst du, Agamemnon ist hier, um seines Bruders Ehe zu retten? Hier geht es um Macht, nicht um Liebe“, stellte er klar.
Hektor hatte in Paris’ Interesse für Helena zunächst nicht mehr gesehen als das übliche kurzfristige Abenteuer seines kleinen Bruders. Die letzte Zeit, seit sie ungeplant zu dritt aus Sparta nach Troja gekommen waren, hatte Hektor eines Besseren belehrt. Nie zuvor hatte sein Bruder sich so intensiv um eine Frau gekümmert und bemüht wie um Helena. Gewiss, vieles davon war eher im Verborgenen geschehen, aber Hektor selbst gewährte auch nicht jedem Zutritt zu seinem Schlafgemach. Dennoch wusste er, dass sein Vater Recht hatte: Paris hatte sich verändert – zu seinem Vorteil, wie Hektor es empfand. Er selbst hatte Helena als Schwägerin ebenfalls lieb gewonnen – zu sehr, als dass er sie ihrem grobschlächtigen Ex-Mann um seiner eigenen Sicherheit willen ausgeliefert sehen wollte. Helena sah ihren neuen Schwager einen Moment an.
„Paris wird also morgen früh gegen ihn kämpfen?“
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
„Ja“, antwortete er. Erneut schüttelte sie heftig den Kopf.
„Menelaos wird ihn umbringen!“, warnte sie.
„Das ist seine Entscheidung“, entgegnete er bestimmt. Er wusste nicht, ob er hoffen sollte, dass Paris zu dieser Entscheidung stand. Die Zweifel bei Hektor blieben und verstärkten sich eher noch, wenn er über die Fähigkeit seines kleinen Bruders im Umgang mit dem Schwert nachdachte.
„Nein! Ich kann von niemandem verlangen, für mich zu kämpfen. Ich bin nicht länger Spartas Königin.“
Hektor nahm sie wieder in die Arme. Dass Helena Menelaos weggelaufen war, war zwar ein willkommener Anlass für Agamemnon gewesen, Troja anzugreifen; doch es war nicht der wahre Kriegsgrund, wie Thronfolger nur zu genau wusste. Sie hatte in Paris einen sehr viel liebevolleren Mann gefunden hatte, der ihr gab, wonach es sie verlangte und Paris hatte endlich selbst gefunden hatte, was er seit Jahren vergeblich in vielen, vielen Liebesabenteuern gesucht hatte,
„Jetzt bist du eine Prinzessin Trojas“, bestätigte er ihre Worte. „Und mein Bruder braucht dich heute Nacht“, stellte er dann klar. Helena nickte und rang sich ein schüchternes Lächeln ab. Vorsichtig machte sie sich aus Hektors Armen frei und kehrte in den Palast zurück.
ΩΩΩ
Kapitel 18
Achilles’ Verweigerung
Die aufgehende Sonne des folgenden Tages fand das Lager der Griechen in geschäftigen Vorbereitungen für den an diesem Tag geplanten Angriff auf Troja, von dem mindestens Agamemnon annahm, er werde ausreichend sein, um Troja in einem Zug zu erobern. Eudoros wunderte sich, wo sein sonst so kampfeswilliger Herr blieb und eilte mit Patroklos zu Achilles’ Zelt. Zu seinem und Patroklos’ Erstaunen saß der Kriegerfürst recht teilnahmslos auf seinem Lager und frühstückte eher lustlos.
„Mein Herr!“, sprach Eudoros ihn an. Er reagierte nicht.
„Mein Herr, die Armee marschiert!“, wies Eudoros auf den Aufbruch hin. Achilles drehte sich zu dem Heerführer um.
„Soll sie marschieren. Wir bleiben!“, versetzte er scharf.
„Aber die Männer sind bereit!“, wunderte sich Eudoros.
„Wir bleiben, bis Agamemnon Achilles anfleht, zu kommen!“, versetzte Achilles mit nicht zu überhörender Reizung in der Stimme. Eudoros wechselte einen schnellen Blick mit dem über diese Worte recht indigniert wirkenden Patroklos.
„Wie Ihr wünscht“, erwiderte er und zog sich mit einer Verbeugung zurück.
Achilles griff in die Schale vor sich und schob sich eine Handvoll geschälte Pistazien in den Mund. Dann, nach einer ganzen Weile beredten Schweigens, sah er Patroklos an.
„Bist du bereit zu kämpfen? Bist du bereit, zu töten, Leben auszulöschen?“, fragte er. Patroklos sah seinen Vetter von oben an, ohne den Kopf zu senken.
„Das bin ich“, stellte der junge Mann klar. Achilles sah wieder in das Feuer im Zelt, wirkte abwesend.
„Nachts seh’ ich ihre Gesichter“, sagte der Kriegerfürst leise. „All die Männer, die ich getötet habe. Da stehen sie … am fernen Ufer des Styx … Sie warten auf mich. Sie sagen: ‚Willkommen, Bruder.’“
Er hob seinen Trinkbecher an die Lippen, einen kunstvoll verzierten Pokal aus Zinn, und trank geistesabwesend einen Schluck von dem guten Wein, den sie aus Larissa mitgebracht hatten.
„Wir Menschen sind elende Kreaturen“, fuhr er fort und stellte den Becher dann wieder ab. „Ich habe dir beigebracht, wie man kämpft – aber nicht warum man kämpft.“
Patroklos sah mit einem leichten Anflug von Ärger zur Kuppel des Zeltes. Zuweilen hatte sein Vetter große Gewissensbisse über das, was er tat, was seine Berufung war. Patroklos verstand diese Haltung nicht.
„Ich kämpfe für dich“, versetzte er. Achilles sah ihn direkt an.
„Für wen wirst du kämpfen, wenn ich tot bin?“, erkundigte er sich. „Soldaten kämpfen für Könige, denen sie noch nie begegnet sind. Sie tun, was man ihnen sagt, sie sterben, wenn man es ihnen befiehlt.“
„Soldaten gehorchen eben!“, entgegnete Patroklos, der seinen Vetter immer weniger verstand. Als er zu Achilles gekommen war, war für ihn klar gewesen, dass er selbst sein Leben ebenso dem Kampf und dem Krieg widmen wollte, wie Achilles es tat. Wer das tat, musste sich auch als freier Krieger eben dem Befehl eines Königs unterstellen, der Soldaten für einen Krieg suchte und anheuerte. Das galt auch für Leute wie Achilles. Dass sein Vetter und Mentor derartig resigniert wirkte und zum Kämpfen sehr offensichtlich keine Lust hatte – und das ausgerechnet heute beim ersten und vielleicht entscheidenden Angriff auf Troja, das wollte nicht in Patroklos’ Kopf.
Achilles sah ihn an, schüttelte ungläubig den Kopf und schnaubte verächtlich. Die Verachtung galt sowohl dem in diesem Falle augenscheinlich blinden Gehorsam seines Vetters als auch der verachtenswerten Art Agamemnons
„Du bist verloren, wenn du den Befehlen eines Narren gehorchst!“, stieß er hervor und winkte Patroklos hinaus. „Geh!“, sagte er und ließ sich auf sein Lager zurückfallen.
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Kapitel 19
Vorbereitungen
An diesem Morgen versammelten sich die Truppen Trojas vor dem Skäischen Tor, dem Haupttor der Stadt Troja. Mit einigen Begleitern der Apollonischen Garde ritten auch Hektor und Paris hinaus vor die Stadt. Die Männer ließen den Heerführern eine breite Gasse frei, damit sie unbehindert vor die Front der angetretenen Truppen gelangen konnten.
Oben, auf dem Turm der – von der Stadt aus gesehen – rechts neben dem Haupttor lag, befand sich die von einem luftigen Baldachin beschattete Aussichtsplattform der königlichen Familie. Priamos und Andromache hatten bereits unter dem Baldachin Platz genommen. Helena kam herauf, nachdem sie unten am Tor Paris verabschiedet hatte und ging gleich nach vorn an die mit brusthohen Zinnen bewehrte Mauer. Unten, vor dem Tor waren auf beiden Seiten des Stadttores einige tausend trojanische Soldaten in sauberer Formation angetreten – eine eindrucksvolle Demonstration der Entschlossenheit der Trojaner, ihre Stadt nicht kampflos preiszugeben.
Eines war klar: Der heutige Tag würde die erste große Schlacht zwischen Trojanern und Griechen bringen. Die Landung der Griechen am gestrigen Tag und der Kampf um den Tempel Apollons waren nur ein schwacher Vorgeschmack dessen gewesen, was nun folgen würde.
Helenas Blick ging nach unten zu den beiden Reitern, die sich von der Front der angetretenen Soldaten lösten und weiter nach vorn ritten. Hektor kannte die Gepflogenheiten: Zunächst würde man miteinander reden, wenn dann keine Seite nachgab, kam es zur Schlacht. Für Hektor stand fest, dass er nicht nachgeben würde …
Eine halbe Meile außerhalb der Stadtmauern zügelten die Brüder ihre Pferde. Mit gespannter Aufmerksamkeit übersah Hektor die weite Fläche vor der Stadt. Noch war niemand außer den Trojanern da, aber er hatte es im Gefühl, dass die Armee Agamemnons nicht mehr weit entfernt war. Er sah seinen Bruder an.
„Bist du sicher, dass du das tun willst?“, fragte der Ältere. Bevor sie von Troja fortgeritten waren, hatte Paris nochmals gesagt, dass er Menelaos herausfordern wolle, um einen größeren Streit zu verhindern. Hektor hatte Zweifel, ob sein jüngerer Bruder wirklich wusste, worauf er sich einlassen wollte. Paris erwiderte seinen Blick.
„Ich habe diesen Krieg verschuldet“, sagte er schuldbewusst.
Paris war bisher nie in die Verlegenheit gekommen, für sich selbst kämpfen zu müssen, überhaupt Verantwortung übernehmen zu müssen. Aber in den letzten Tagen hatte er die Erkenntnis gewonnen, dass das, was nun geschah, einzig und allein seiner Dummheit zu verdanken war. Paris fühlte sich schuldig am Tod so vieler Trojaner am Vortag. Er wollte nicht, dass seinetwegen noch mehr Männer starben, die Troja dringend brauchte. Jetzt wollte er beweisen, dass er fähig war, für seine Unzulänglichkeit einzustehen.
Oben, auf dem Turm, fand Priamos, dass es nicht gut war, wenn Helena so deutlich sichtbar dort stand.
„Helena!“, rief er. Die junge Frau sah sich um.
„Setz’ dich zu mir“, wies er sie an. Helena wandte sich von der Brüstung ab und ging zu dem Sitz zur Rechten ihres Schwiegervaters, setzte sich dort.
„Ein Leben lang habe ich gebetet, dieser Tag möge nie kommen“, setzte er hinzu.
„Ja, mein König“, bestätigte sie scheu. Priamos sah sie an.
„Nenn mich Vater, hörst du, Kind?“
Helena traute sich nicht, den König anzusehen.
„Vergib mir … Vater“, sagte sie dann, die vertrauliche Anrede vorsichtig benutzend. „Mich trifft alle Schuld“, ergänzte sie. Doch Priamos schüttelte den Kopf.
„Ich mache dir keine Vorwürfe“, sagte er. „Wir wissen, dass alles in den Händen der Götter liegt. Und wie sollte ich jemand zum Vorwurf machen, dass er Paris liebt?“, lächelte er. Helena erwiderte das Lächeln ihres Schwiegervaters, sah in Richtung Küste und stellte fest, dass Hektor und Paris weit genug von der Stadt fortgeritten waren, dass sie den Sichtschutz der Mauerbrüstung verlassen hatten. Helena wurde dadurch nicht ruhiger. Sie wusste, was für ein Kämpfer ihr Ex-Mann war.
Sowohl unten vor der Stadt als auch oben auf dem Turm hörten alle das dumpfe Grollen, das vom Meer her immer näher kam. Wer immer es hörte – König Priamos, seine Schwiegertöchter, der alte General Glaukos, Hektor, Paris, die Soldaten Trojas vor den Mauern der Stadt – bekam ein mulmiges Gefühl. Es fühlte sich an, als ob… Poseidon ein Erdbeben senden wollte. Die fünfzigtausend Männer, die Agamemnon aufgeboten hatten, die Pferde und Wagen der Könige verursachten ein Beben im Boden, das nicht weit von einem schwachen Erdbeben entfernt war. Alle vor der Stadt und auf den Mauern hatten einen mehr als nur besorgten Ausdruck im Gesicht.
Auch auf einem anderen Aussichtspunkt, der die weite Ebene vor der Stadt deutlich überragte, fanden sich Beobachter ein: Die Myrmidonen, auf Achilles’ Befehl nicht in den Reihen der griechischen Armee, erstiegen den am Tag zuvor eroberten Tempel und sahen von dort aus, was sich vor der Stadt tat. Eudoros entglitt ein leiser Pfiff, der sein grenzenloses Staunen über das Schauspiel ausdrückte, das sich ihm, Patroklos und den Myrmidonen bot.
Wie eine dunkle Flut strömten die Griechen über den letzten Geestrücken vor den Stadtmauern, voraus fuhren die Streitwagen, in denen Agamemnon, Menelaos, Odysseus, Nestor, Triopas und Ajax neben ihren Wagenlenkern standen. Dahinter folgten ihre Soldaten in Reih und Glied.
Aus der Entfernung war nicht zu erkennen, ob unter den versammelten Truppen vor der Stadt Bogenschützen waren. Agamemnon ging kein unnötiges Risiko ein und ließ die Armee so weit vor den Trojanern halten, dass selbst die oben auf den Mauern Trojas postierten Bogenschützen seine Männer nicht gefährden konnten. Die Bogenschützen der Trojaner galten nicht nur nach Glaukos’ Meinung als die besten der Welt …
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Kapitel 20
Verhandlung
Ψ„Vorwärts!“, wies Agamemnon seinen Wagenlenker an. Der Streitwagen fuhr weiter, die anderen Könige folgten ihm. Die trojanischen Reiter, die weit vor den Truppen warteten, setzten sich ebenfalls in Bewegung.
Hektor sah seinen Bruder an, wandte den Blick dann wieder Agamemnon zu und sagte ohne Paris anzusehen:
„Menelaos ist wie ein Stier. Er geht auf dich los. Halte ihn auf Distanz, nutze deine Geschwindigkeit.“
Paris antwortete nicht, sondern nickte nur nervös. Der jüngere Prinz gestand sich ein, vor dem, was da kommen sollte, richtige Angst zu haben. Aber wenn er einen Krieg verhindern wollte, den er ganz allein verursacht hatte, dann musste er sich der Herausforderung stellen – und beweisen, dass er mehr konnte, als mit dem Bogen umgehen …
„Bruder – höre, du musst das nicht tun!“, bot Hektor zum wiederholten Mal an, aber Paris schüttelte den Kopf, auch wenn es mächtig zitterig wirkte. Er war sich nicht einmal sicher, dass er in dem Zustand, in dem jetzt war – mit bis zum Hals klopfendem Herzen und zitternden Händen – mit seiner Spezialwaffe, dem Langbogen, ein Ziel getroffen hätte, das die Größe der Zeusstatue im Palast hatte …
Etwa in der Mitte zwischen den Armeen trafen sich trojanische Prinzen und griechische Könige. Hektor und Paris stiegen in brüderlichem Gleichklang von den Pferden, die Könige verließen die Streitwagen. Agamemnon sah sich mit siegessicherem Blick um.
„Ihr habt euch nicht hinter euren Mauern versteckt. Sehr tapfer von euch. Unbedacht, aber tapfer“, sagte er mit gewisser Anerkennung.
„Ihr kamt uneingeladen her. Kehrt zu euren Schiffen zurück und fahrt nach Hause!“, forderte Hektor bestimmt.
Agamemnon lächelte ihn nachsichtig an. Wieder einer, der glaubte, er würde Agamemnon allein mit Worten besiegen …
„Wir kommen von zu weit her, Prinz Hektor“, entgegnete er.
„Prinz? Welcher Prinz?“, schnaubte Menelaos wütend. „Welcher Königssohn würde die Gastfreundschaft eines anderen annehmen, dessen Speisen essen, dessen Wein trinken, sich freundschaftlich geben und ihm dann mitten in der Nacht die Frau stehlen?“, fauchte er.
Paris versteifte sich.
„Die Sonne schien, als deine Frau dich verließ!“, stellte er klar. Er war kein Dieb, und Helena war kein Schmuckstück, das man einfach so stahl! Aber wenn er geglaubt hatte, den gehörnten Ehemann damit wieder auf den Boden der Sachlichkeit zurückzuholen, sah er sich getäuscht. Menelaos riss zornig das Schwert heraus und hielt es dem jungen Prinzen drohend vor die Nase. Hektor packte gerade noch zu, um Paris von eigener Unbedachtsamkeit abzuhalten.
„Ist sie nicht dort oben und sieht zu?“, knurrte der König von Sparta. „Gut! Sie soll mit ansehen, wenn du stirbst!“
Bevor er zuschlagen konnte, griff Agamemnon beherzt zu, packte den Schwertarm seines Bruders und zog ihn herunter.
„Noch nicht, Bruder“, bremste der Mykener. Noch war man nicht beim Kampf … Menelaos war zuweilen etwas aufbrausend. Wohl auch ein Grund, weshalb Sparta nicht so unabhängig war, wie Menelaos es sich wünschte.
„Sieh es dir an, Hektor: Ich habe alle Krieger Griechenlands an eure Küste geführt“, wandte er sich dann an Hektor.
„Noch kannst du Troja retten, junger Prinz!“, meldete sich Nestor zu Wort, der neben Agamemnon stand. Der Thronfolger verstand die Drohung, die in Agamemnons Worten lag.
„Ich habe zwei Wünsche“, fuhr Agamemnon fort. „Gewährst du sie, muss keiner deiner Leute mehr sterben. Als Erstes musst du meinem Bruder Helena zurückgeben. Als Zweites fällt Troja unter mein Kommando und kämpft für mich, wann immer ich es verlange“, forderte Agamemnon.
Hektor sah den um einen halben Kopf kleineren mykenischen König verächtlich an. Die erste Forderung, darüber konnte man vielleicht reden, über die zweite gewiss nicht! Das war eine Beleidigung!
„Ich soll deine Armee erblicken und soll erzittern?“, fragte Hektor spöttisch. „Ich sehe sie“, sagte er. „Ich sehe fünfzigtausend Männer, die für die Habgier eines Einzelnen in die Schlacht ziehen“, versetzte er. Agamemnons siegessicheres Grinsen erlosch.
„Sei vorsichtig, Junge!“, warnte er grollend. „Meine Barmherzigkeit hat Grenzen!“
„Ich kenne die Grenzen deiner Barmherzigkeit!“, entgegnete Hektor scharf. „Und ich sage dir: Kein Sohn Trojas wird sich jemals einem fremden Herrscher unterwerfen!“
„Dann sind alle Söhne Trojas … des Todes!“, knurrte Agamemnon mit einem halb wölfischen Zähnefletschen.
Paris schluckte hart und gab sich einen Ruck.
„Es gibt noch einen Weg!“, mischte er sich ein. Hektor und Agamemnon sahen ihn verblüfft an.
„Ich liebe Helena. Ich gebe sie nicht frei und du genauso wenig“, wandte er sich an Menelaos. „Kämpfen wir unsere eigene Schlacht. Der Gewinner nimmt Helena mit sich und so hat die Sache ein Ende.“
„Ein mutiges Angebot“, brummte Agamemnon. „Aber nicht genug“, setzte er hinzu und wandte sich seinen Leuten zu. Hektor hatte nichts anderes erwartet. Ihm war es von vornherein klar gewesen, dass Agamemnon nicht allein wegen Helena hier war. Ein Seitenblick traf seinen Bruder Paris, der offenbar immer noch die Hoffnung hatte, ein Kampf zwischen ihm und Menelaos würde ausreichen, um die Griechen zum Abzug zu bringen – mit oder ohne Helena, je nach Ausgang des Kampfes.
Menelaos sah sich um den Grund seiner Anwesenheit vor Troja betrogen. Mochte sein, dass sein Bruder auch noch andere Pläne hatte, aber für ihn war vorrangig, dass er Helena zurückbekam. Er drehte sich heftig um und fasste Agamemnon am Arm.
„Lass mich ihn töten, diesen eitlen Pfau!“, knurrte er. Agamemnon sah seinen Bruder an.
„Ich bin nicht wegen deiner hübschen Frau gekommen!“, stellte er zischend klar. Er bot nicht fünfzigtausend Männer auf, nur um eine einzelne Frau zurückzuholen. „Ich bin hier wegen Troja!“
Menelaos sah ein, dass er sich in seinem Bruder gründlich verschätzt hatte. Er hatte tatsächlich geglaubt, Agamemnon wolle ihm helfen, Helena nach Sparta zurückzubringen und ihren Liebhaber über den Styx zu jagen.
„Ich will meine Ehre zurück!“, schnaubte der Jüngere. „Jeder Atemzug von ihm verhöhnt mich. Lass’ mich ihn töten. Wenn er tot ist, gibst du das Zeichen zum Angriff. So bekommst du deine Stadt und ich meine Rache.“
Agamemnon sah ihn an. Er verlor nichts dabei, wenn Menelaos Paris persönlich in den Hades schickte. Ein Blick auf die Trojaner zeigte dem Mykener, dass mindestens Paris noch nicht begriffen hatte, dass es hier um ganz andere Dinge ging als um eine verbotene Liebschaft. Sie würden sehr überrascht sein, wenn seine Soldaten nach dem Zweikampf angriffen … Diese Überraschung sollte genügen, um Troja zu erobern.
„So soll es sein“, bestätigte Agamemnon den Vorschlag seines Bruders. Menelaos nickte und drehte und drehte sich zu Paris um.
„Ich nehme die Herausforderung an“, sagte er und wies drohend mit dem Schwert auf den Prinzen. „Heute Abend trinke ich auf deine Gebeine!“
Erneut machte der König von Sparta kehrt und holte seinen Helm.
Das, was er gesagt hatte, war keine Drohung, erkannte Paris erschrocken, das war eine Ankündigung. Der junge Mann hatte in den Augen seines Gegenübers fressenden Vernichtungswillen gesehen. Es gab keinen Zweifel: Menelaos wollte ihn töten! Er wollte nicht nur einfach seine Frau zurück, er wollte deren Galan tot sehen! Noch größere Nervosität ergriff den jüngeren Prinzen.
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Kapitel 21
Zweikampf
Paris und Hektor kehrten ebenfalls um, damit Paris sich für den Zweikampf rüsten konnte. Lysander reichte ihm Helm und Schild. Sichtlich nervös nahm Paris die Rüstungsteile entgegen.
„Lass’ ihn sich verausgaben, dann wird er müde“, empfahl Hektor. Er hatte gesehen, dass Menelaos von Kopf bis Fuß nur noch aus Zorn bestand. Zorn führte zu unbedachtem Handeln und damit zu der Möglichkeit, den Zornigen sich austoben zu lassen. Wichtig war nur, dass er seine Wut an der leeren Luft auslassen konnte. Doch Paris schien ihm nicht zuzuhören. Besorgt sah der Jüngere auf den zorngeladenen Menelaos, der probehalber mit seinem Schwert die sonnendurchglühte Luft zerschnitt. Wenn ihn so ein Hieb traf, dann gute Nacht … durchzuckte es Paris. Mit bangem Blick sah er Hektor an.
„Bruder …, wenn ich falle, sag Helena … sag ihr …“ stammelte er nervös.
„Das werde ich“, versprach Hektor beruhigend.
„Menelaos darf ihr nichts antun …“ setzte er erneut mit besorgtem Seitenblick an. Hektor packte seinen Bruder heftig bei den Schultern.
„Du denkst nur an dein Schwert und an das seine – und an nichts anderes!“, schärfte er ihm die Strategie ein wie einer der Alipten* seinem Schützling in der Kampfschule. Paris war mit dem Bogen erheblich besser als mit dem Schwert, das wusste auch Hektor. Aber das musste sein jüngerer Bruder jetzt beiseiteschieben … Zu viel stand auf dem Spiel. Paris sah nochmals zu Menelaos hinüber. Seine Nervosität nahm eher zu, wenn er der Empfehlung Hektors folgend an das Schwert denken sollte. Hektors Umarmung gab ihm wieder etwas Zuversicht, aber die weichen Knie blieben, wie jeder bemerken musste, der die unsicher wirkenden Schritte des Prinzen sah, als er auf Menelaos zuging. Seine Unsicherheit wurde noch sichtbarer, als er das Schwert hob, lange, bevor er seinen Kontrahenten erreichte.
Menelaos wurde plötzlich klar, dass Paris sich auf etwas eingelassen hatte, wovon er offenbar wenig verstand. Das würde eine leichte Beute werden! Hohnlachend warf der König von Sparta seinen Schild beiseite. Um diesem grünen Bengel den Hintern zu versohlen, würde er den nicht brauchen. Gleich der erste Hieb von Menelaos überzeugte Paris, dass er sich eindeutig mit dem Falschen angelegt hatte. Nach dem ersten Zusammenprall umkreisten sie sich kurz, dann griff Paris seinerseits an. Menelaos’ Hieb konnte er mit dem Schild parieren, doch sein Stich ging ins Leere, weil der Ältere sich geschickt wegdrehte und damit dem Stich auswich. Dass Paris im Vergleich zu Menelaos eher ein Hänfling war, zeigten bereits die nächsten Hiebe des Spartaners. Mit voller Wucht drosch er mit der flachen Klinge auf den runden Schild ein, den Paris schützend erhoben hatte. Der junge Prinz brauchte beide Hände, um den Schild festzuhalten, damit er ihn unter den wuchtigen Hieben seines Gegners nicht verlor. Unbewusst ging er nach unten in Deckung, aber vor Menelaos’ Hieben gab es kein Entrinnen, jedenfalls nicht in dieser Richtung. Nach unten und rückwärts ausweichend stolperte Paris über einen unbedeutenden Stein, aber der reichte, um ihn zu Fall zu bringen. Im Fallen verlor er den Helm; Schild und Schwert konnte er gerade noch halten und schlug ein halbes Rad.
Hektor stand breitbeinig vor seinen Männern und hatte den dringenden Wunsch, Paris zu Hilfe zu kommen. Zu offensichtlich war es, dass sein Bruder Menelaos hoffnungslos unterlegen war.
„Steh’ auf!“, brummelte er anfeuernd. „Komm schon!“
Auf der anderen Seite kicherte Agamemnon höhnisch vor sich hin, wies schadenfroh auf den trojanischen Prinzen.
Paris rappelte sich auf und griff wieder an. Doch die ersten beiden Hiebe trafen nur die leere Luft, den dritten konnte Menelaos ohne Schwierigkeiten parieren und verpasste Paris mit der freien Linken einen wuchtigen Schlag ins Gesicht, der dem jungen Mann das Blut aus Nase und Mund und Tränen in die Augen trieb und ihn im Kreis herumdrehte. Noch benommen von Menelaos’ Faustschlag zielte er nicht genau genug und traf wieder nur die Luft.
Menelaos packte ihn am Schwertarm und wollte seinerseits zustechen, doch Paris gelang es, sich vor dem tödlichen Stich wegzudrehen. Menelaos hielt ihn am Arm fest, zog ihn wieder zu sich heran und stieß ihn dann wuchtig weg, entriss Paris dabei den Schild und warf ihn hohnlachend beiseite. Agamemnon stimmte in das höhnische Lachen seines jüngeren Bruders ein.
Dass Menelaos und Agamemnon ihn auslachten, machte Paris wütend. Er holte aus und schlug erneut zu, doch Menelaos packte ihn und verdrehte ihm schmerzhaft den Schwertarm. Paris presste einen mehr oder weniger unterdrückten Schmerzlaut heraus. Immerhin gelang es ihm, sich aus dem harten Griff zu befreien und das Schwert noch in der Hand zu behalten. Aus der Drehung heraus schlug Paris voller Verzweiflung über seine untaugliche Kampfweise mit der linken Faust zu und verpasste Menelaos einen Schwinger, der den König von Sparta zwei Zähne kostete und ihn im Gesicht ebenso mit Blut verzierte wie seinen Kontrahenten.
Der kleine Zwischenerfolg, dass auch Menelaos blutete und Schmerz spürte, gab Paris Auftrieb. Er griff wieder an, doch Menelaos hatte sich wieder in der Gewalt und konnte den Angriff knapp parieren. Der nächste Hieb von Menelaos traf Paris am linken Bein und hinterließ eine tiefe Wunde quer über dem Oberschenkel knapp unter dem unteren Rand seiner Rüstung. Aufstöhnend stolperte er drei Schritte zurück und ging zu Boden, als das linke Bein ihm vor Schmerz den Dienst versagte. Menelaos ging langsam hinter dem mühsam rückwärts robbenden Paris her, das Schwert drohend vor sich haltend.
„Siehst du die Krähen?“, fragte er. „Sie haben noch nie Prinz gekostet“, setzte der gehörnte Ehemann spöttisch hinzu.
Paris sah auf und fand in den Augen seines Gegners den unbedingten Willen ihn zu töten. Mit letzter Kraft raffte er sich nochmals auf und griff Menelaos wieder mit dem Schwert an. Ohne Mühe parierte der Spartaner die ebenso verzweifelten wie schwächer werdenden Hiebe des unerfahrenen Prinzen und entwaffnete ihn. Das Schwert flog in unerreichbare Entfernung.
Entsetzen packte den Hofstaat oben auf der Aussichtsplattform der Stadtmauer. Helena hielt nichts mehr auf ihrem Sitz neben Priamos, sie stürzte nach vorn zu den Zinnen. Auch der König von Troja stand auf und eilte an die Brüstung.
Paris schloss mit dem Leben ab. Die Beinwunde hinderte ihn, weiter zu kämpfen, gegen Menelaos hatte er im Schwertkampf ohnehin keine Chance, wie er sich eingestand. Der König von Sparta war eine gute Spanne* größer als er und erheblich schwerer. Paris’ Mutmaßung, dass die Breite des Spartaners eher Speck als Muskulatur zuzurechnen war, hatte sich als gründlich falsch erwiesen. Resigniert lag er auf den Knien vor Menelaos im Staub und erwartete den tödlichen Hieb.
Doch in dem Moment, als Menelaos das Schwert hob und zuschlagen wollte, packte Paris die Todesangst. Sein Lebenswille war doch noch stärker, als er selbst noch vor Bruchteilen von Augenblicken vermutet hatte. Paris hatte keine Ahnung, dass es ein Stoß Adrenalin war, der ihm genügend Kraft gab, um sich noch einmal von Menelaos abzusetzen – er hatte die Kraft noch einmal und das genügte ihm. Auf allen Vieren krabbelnd erreichte er seinen entsetzten Bruder Hektor, warf sich an dessen rechtes Bein, hielt es fest umklammert und präsentierte Menelaos den Allerwertesten. Menelaos war zunächst ebenso sprachlos wie alle anderen, die mit ansahen, dass ein trojanischer Prinz auf allen Vieren vor einer Gefahr davonkroch.
Dann breitete der Spartaner die Arme aus und wandte sich an die weiß gekleidete Gestalt, die er hoch oben auf der Stadtmauer fand. Er spekulierte richtig, dass es sich um Helena handelte.
„Und dafür hast du mich verlassen?“, brüllte er so laut, dass es ohne Schwierigkeiten bis dort hinauf zu hören war. Helena schluchzte. Priamos konnte nicht genau ermessen, ob sie über die Niederlage oder die Feigheit seines jüngeren Sohnes so erschüttert war.
„Kämpfe! Kämpf’ mit mir!“, schrie Menelaos wutentbrannt. Er war es nicht gewohnt, dass sich ein Gegner einfach dem Todesstoß durch Flucht entzog und sich einem anderen zu Füßen warf, von diesem Hilfe erbat – auch wenn Paris kein Wort sagte, war es genau das, was er von seinem Bruder erhoffte und schweigend erflehte. Hektor zuckte nur einmal kurz mit dem Bein, doch Paris hielt es fest umklammert, gab es nicht frei.
„Du Feigling! Kämpf’ mit mir! Wir haben einen Pakt! Kämpfe!“, schrie Menelaos weiter. Er war entschlossen, dem, der ihm Hörner aufgesetzt hatte, das Lebenslicht auszublasen. Dass der Pakt, den Paris vorgeschlagen hatte, nicht beinhaltete, dass einer von beiden auf jeden Fall am Ende tot sein würde, war ihm nicht bewusst.
Priamos sah mit einer Mischung aus Verzweiflung und peinlicher Berührung nach unten, wo sein jüngerer Sohn am Bein des älteren Sohnes hing und keine Anstalten machte, den vereinbarten Kampf fortzusetzen.
„Kämpfe, mein Sohn!“, sagte er, als ob Paris ihn über diese Entfernung hören konnte. „Stell’ dich ihm!“
„Feigling! Kämpf’ mit mir!“, brüllte Menelaos so laut, dass es selbst dort oben, ein halbe Meile entfernt, zu hören war.
Helena stand entsetzt neben ihrem Schwiegervater und sagte nichts. Ihr war nicht entgangen, dass Paris zusammengebrochen war und stark gehinkt hatte, als er sich zu Hektor geflüchtet hatte. Konnten sie denn alle nicht verstehen, dass ihr Liebster verwundet war und Hilfe brauchte? Warum, beim Zeus, half ihm keiner?, durchzuckte es die junge Frau.
Agamemnon sah den richtigen Zeitpunkt gekommen, den eigentlichen Angriff zu beginnen. Er sprang auf seinen Streitwagen.
„Die Trojaner verstoßen gegen die Abmachung! Bereit machen für die Schlacht!“, rief er. Augenblicklich gingen die Hopliten* in Kampfstellung, indem sie den rechten Fuß vorstellten und ihre Lanzen senkten. Das Dröhnen des Stellungswechsels war bis hinauf auf die Stadtmauer zu hören.
Ein Stück vor der kampfbereiten Linie der Griechen tobte immer noch Menelaos.
„Das ist unehrenhaft! Das ist eines Prinzen nicht würdig!“, schmähte er den Geflohenen. „Wenn er nicht kämpft, ist Troja dem Untergang geweiht!“, drohte er dann, an Hektor gewandt. Hektor empfand durchaus Scham darüber, dass sein Bruder an seinem Bein hing, andererseits kannte er Paris’ Grenzen beim Schwertkampf und wusste, dass er sie bereits weit überschritten hatte. Wohl wissend, dass Paris nicht mehr konnte, schüttelte Hektor das rechte Bein und wandte sich an seinen Bruder:
„Paris?“
Paris’ Klammergriff wurde noch stärker, als er sich noch weiter verkrampfte.
„Nein!“, stieß er hervor. „Nein! Nein!“
Hektor begriff.
„Der Kampf ist vorüber“, sagte er ruhig. Der ältere Prinz konnte sich nicht an eine Vereinbarung erinnern, die einen Kampf bis zum Tod vorsah. Paris hatte verloren und hatte aufgegeben. Hektor akzeptierte das; Menelaos nicht.
„Der Kampf ist nicht vorüber!“, rief Menelaos erbittert. „Tritt beiseite, Prinz Hektor! Ich töte ihn zu deinen Füßen, ganz gleich!“
Paris bekam Panik. Er hatte keine Chance mehr Menelaos’ Zorn – gerecht oder nicht – jetzt noch zu entwischen, wenn Hektor ihm den Schutz versagte. Das angstvolle Schluchzen von unten entging Hektor nicht. Er konnte die Todesangst und die Panik in den Augen seines Bruders nicht sehen, aber er spürte sie, so fest, wie der Jüngere sein Bein umklammert hielt. Paris hatte Angst – und die war angesichts des tobenden Menelaos berechtigt. In Hektor siegte die Bruderliebe über den schamhaften Umstand, dass Paris sich an seinem Bein festklammerte.
„Er ist mein Bruder!“, erwiderte Hektor.
Menelaos verstand die Drohung nicht, die in diesen Worten lag – und das war sein Fehler. Er stürmte mit erhobenem Schwert auf den ihm den Allerwertesten zuwendenden Paris zu und schlug zu. Hektor parierte den Hieb mit einer Leichtigkeit, die Spartas König nach dem Kampf mit Paris gewiss nicht von einem trojanischen Prinzen erwartet hatte. Noch weniger hatte er den Schwertstich erwartet, mit dem Hektor ihn durchbohrte, dass das Schwert am Rücken wieder herausdrang. Mit einem Ruck zog Hektor das Schwert zurück. Mit verblüfftem Blick registrierte Menelaos noch das blutverschmierte Schwert, dann brach sein Blick und er sackte tot zusammen.
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Kapitel 22
Die erste Schlacht vor Troja
Die Myrmidonen auf dem Tempel Apollons bemerkten eine Veränderung in ihrer unmittelbaren Umgebung. Patroklos und Eudoros drehten sich zu dem obersten Dachteil um und sahen, dass Achilles ebenfalls auf den Tempel gekommen war. Der Umstand, dass er für Agamemnon nicht kämpfen wollte, hinderte ihn nicht daran, sehen zu wollen, was sich vor Troja tat. Und was er sah, bestätigte seine Sicht von Agamemnon: Dem König von Mykene zu vertrauen, war ein großer Fehler!
Agamemnon riss in diesem Moment das Schwert hoch und brüllte auf, als er seinen Bruder durch Hektors Stich fallen sah. Seine Gefolgsleute stimmten in seinen Schrei ein und stürmten vor.
Hektor erkannte die Gefahr und zog den verletzten Paris von den anstürmenden Griechen fort. Doch Paris fiel ein, dass er etwas sehr Wichtiges verloren hatte: das Schwert Trojas, das sein Vater ihm anvertraut hatte! Paris war bereit, sich jeden Vorwurf über das anzuhören, was er heute an Schande über sich gebracht hatte – aber das Schwert Trojas durfte er nicht einfach zu Füßen der Feinde liegen lassen! Nein, diese Schande wollte er nicht auch noch über sich bringen! Er riss sich von Hektor los und humpelte, so schnell es ihm mit dem schmerzgelähmten Bein möglich war, zu dem am Kampfplatz liegen gebliebenen Schwert zurück.
„Paris!“, rief Hektor hinter ihm her. Sein jüngerer Bruder reagierte nicht und warf sich die letzten Schritte vor dem Schwert auf den Boden, schnappte das Schwert noch vor den anstürmenden Griechen und hinkte wieder zurück.
Hektor hatte inzwischen die Pferde erreicht, war aufgesprungen, hatte das Pferd seines Bruders am Zügel und jagte zu ihm hin.
„Los! Los!“, feuerte er ihn an. Paris griff in den Zügel, schwang sich gerade noch in den Sattel und machte mit Hektor zusammen kehrt. Eilig galoppierten die Brüder zu den eigenen Truppen zurück. Die Front der Soldaten öffnete sich und gewährte den Prinzen Einlass.
„Hinein, Paris!“, wies der Thronfolger seinen Bruder an, der weiter durch das Tor ritt. Hektor selbst bremste sein Pferd und drehte erneut um. Er hob den Arm.
„Bogenschützen!“, schrie er. Auf dies vereinbarte Zeichen hoben die Bogenschützen, die Hektor oben auf der Mauer postiert hatte, ihre Bogen und schossen eine Salve Pfeile ab, die die ersten vorstürmenden Griechen trafen und von den Beinen rissen.
Odysseus erkannte die Gefahr.
„Die Männer rücken zu weit vor die Mauern!“, warnte er. Doch sein Ruf verhallte ungehört.
Oben, auf dem Apollon-Tempel, bemerkte auch Achilles, dass das, was die griechische Armee dort vor Troja tat, nicht seiner Taktik entsprach.
„Zieht euch zurück, ihr Narren!“, knurrte er und wanderte ob der unglaublichen Narrheit der Heerführer unruhig auf und ab.
Hektor stand inmitten seiner Soldaten und hob das Schwert.
„Für Troja!“, rief er laut. Der Ruf wurde von seinen Leuten aufgenommen und wiederholt. Dann stürmten sie den angreifenden Griechen entgegen.
Vor den Mauern trafen die Armeen zusammen. Ein heftiges Gefecht hub an, bei dem die einzelnen Kämpfenden bald kaum noch wussten, wer Freund und wer Feind war. Am besten war dieser Umstand noch immer an den eher spitz zulaufenden Helmen der Trojaner und den meist mit Borstenkämmen versehenen Helmen der Griechen zu erkennen; doch wehe dem, der seinen Helm im Getümmel verlor … Trojas Bogenschützen leisteten ganze Arbeit. Hunderte fielen ihren gezielt abgeschossenen Pfeilen zum Opfer.
Auf der Tempelplattform wanderte Achilles immer nervöser hin und her.
„Angriffslinie bilden!“, knurrte er, als ob die Adressaten seinen Rat über die Entfernung von gut einem halben Parasang hören konnten.
Odysseus schien seine Anweisung wahrgenommen zu haben – oder er hatte ein vergleichbar gutes taktisches Geschick wie sein Freund Achilles.
„Die Männer sollen eine Angriffslinie bilden!“, brüllte er.
Hektor wollte es nicht riskieren, dass die Griechen einfach mit der Masse ihrer Menschen genügend Druck entwickelten, um die Trojaner gegen die eigenen Mauern zu drängen. Sie mussten den Griechen schnell die Stirn bieten und ihnen diese Wucht nehmen. Der Umstand, dass die Apollonische Garde eigentlich eine Reitertruppe war, nützte hier nichts. Abgesehen von der Tatsache, dass es ganze achtzig Mann waren, die diese Truppe bildeten und achtzig Mann gegen fünfzigtausend allenfalls ein Nadelstich gewesen wären, war die Entfernung zu kurz, um die notwendige Geschwindigkeit für einen berittenen Angriff zu erreichen.
„Vorderste Reihe: Rückt vor!“, ordnete er an. Die trojanischen Fußsoldaten gingen gegen die Griechen zum Angriff über. Die vordersten Reihen prallten aufeinander wie gegeneinander gerichtete Wellen.
Mitten unter den Trojanern bildete sich plötzlich ein freier Raum. Dort stand Ajax und schlug mit seinem Streithammer heftig um sich. Wo er hin traf, würde in den nächsten Jahren kein Gras mehr wachsen, dessen waren alle sicher, die seine Hiebe beobachteten, ohne unmittelbar darunter zu leiden.
Hektor sah den Telamonier wüten und stellte sich ihm in den Weg. Dem Hieb mit dem Hammer konnte der trojanische Thronfolger zunächst nur knapp ausweichen. Ajax war ein gewaltiger Kämpfer – und das bekam auch Hektor zu spüren. Ajax riss ihn vom Pferd, der Prinz stürzte und konnte gerade noch erneut dem riesigen, steinernen Streithammer entkommen. Andere traf der Hammer mit voller Wucht, zerschmetterte Helme, Rüstungen, Gliedmaßen und Köpfe. Hektor rappelte sich wieder auf und griff Ajax erneut an mit dem Erfolg, dass der Telamonier ihn mit beiden Händen packte und versuchte, ihm das Rückgrat zu brechen.
„So …“, spottete der griechische Gigant, als er der trojanischen Prinzen im Schwitzkasten hatte. „Du bist also der Beste der Trojaner!“
Mit einiger Mühe konnte Hektor sich aus dem tödlichen Klammergriff seines Gegners befreien. Von irgendwoher traf ein Pfeil Ajax in das rechte Bein. Unbeeindruckt knickte der ihn ab und warf ihn beiseite. Hektor konnte selbst viel Schmerzen aushalten, aber was Ajax augenscheinlich einfach so wegsteckte, ließ den Trojaner staunen.
Wieder schlug der Telamonier mit seinem Hammer zu und traf diesmal auch Hektor, der ein Stück fortgeschleudert wurde und einen Moment benommen liegen blieb. Ajax setzte ihm nach und schwang den Hammer über den am Boden liegenden Prinzen. Im letzten Augenblick konnte sich Hektor noch einen in seiner Reichweite liegenden Schild schnappen und sich damit decken. Der Hammer traf den Schild mit aller Gewalt und drang bis zur Hälfte hindurch. Hektor hielt den Schild krampfhaft fest. Es gelang ihm, Ajax den Hammer mithilfe des Schildes zu entwinden. Fast gleichzeitig riss er einen Speer hoch, den er Ajax in die Brust rammte. Der Grieche spuckte Blut, war aber noch immer nicht am Ende und ging erneut wie ein Stier auf Hektor los, bis der ihm das Schwert in den Leib rammte. Ajax sackte tot zusammen. Die Trojaner jubelten ihrem Prinzen zu, der einen der gefährlichsten Griechen getötet hatte.
Auf der anderen Seite forderte Agamemnon seine Leute auf, weiter vorzurücken.
„Kommt schon! Kommt schon!“, rief er befehlend. Die Griechen rangen mit ihren trojanischen Gegnern, doch die Bogenschützen auf der Stadtmauer fällten Mann um Mann. Hektor sah die Chance, die Griechen zurückzuschlagen.
„Vorwärts!“, befahl er. Ruckweise stießen die Trojaner vor, drückten die griechischen Soldaten Schritt für Schritt zurück.
„Apollonier … Jetzt!!!“, befahl Glaukos. Die ebenfalls zu Fuß vor den Mauern Trojas angetretenen Männer der Apollonischen Garde schleuderten ihre Speere, trafen mit tödlicher Präzision. Die Griechen wichen zurück, die Apollonier setzten im Sturmangriff nach. Glaukos nutzte die Gelegenheit, Hektor sein Pferd zu bringen.
„Prinz Hektor!“, rief er, das Kampfgetümmel übertönend. Hektor hörte den Ruf des Generals und schwang sich in den Sattel.
Gegenüber wollte Agamemnon die Schlacht noch nicht verloren geben.
„Looos!“, brüllte er. Fast im selben Moment sprang Odysseus auf den Streitwagen des Mykeners.
„Lass’ den Rückzug antreten!“, schrie er über den Schlachtenlärm hinweg.
„Meine Armee hat noch nie eine Schlacht verloren!“, versetzte Agamemnon.
„Du wirst keine Armee mehr haben, wenn wir uns jetzt nicht zurückziehen!“, erwiderte Odysseus gereizt. Agamemnon begriff, dass die Trojaner im Moment eindeutig in der besseren Situation waren und entschloss sich, auf Odysseus zu hören.
„Zurück zu den Schiffen!“, kommandierte er.
„Zurüüüück!“, wandte sich Odysseus an die andere Seite der Schlachtlinie.
„Zieht euch zurück!“, befahl Agamemnon.
Oben, auf der Mauer der Stadt, blieb der eilige Rückzug der Griechen nicht unbemerkt. Die königliche Familie und ihre Höflinge jubelten laut.
Die Griechen wandten sich um und rannten in heilloser Flucht zurück an die Küste, von Befehlen Agamemnons und Odysseus’ angetrieben, die immer wieder zum Rückzug riefen. Die Griechen rannten, als wäre der Götterbote Hermes persönlich hinter ihnen her, um sie bei Charons Nachen am Ufer des Styx abzuliefern. Schließlich erreichten sie nach schier endloser Flucht den Geesthang, hinter dem die griechischen Bogenschützen postiert waren. Augenblicklich hoben die Männer dort ihre Bogen.
Hektor erkannte die Gefahr und jagte quer durch die Reihen der nachsetzenden Trojaner.
„Zurück, Männer! Zurück! Halt!“, schrie er. „Zurück! Zurüüück! Haaalt!“
„Mein Prinz! Wir haben sie zurückgeschlagen!“, rief Lysander voller Begeisterung. Hektor hielt sein Pferd an.
„Wir sind in Reichweite ihrer Bogenschützen!“, warnte Hektor. „Unsere Männer sollen sich zurückziehen. Schicke einen Boten zu den Griechen. Sag ihnen, sie können ihre Toten holen“, wies er Lysander an. Der Apollonier sah den Heerführer verstört an.
„Würden sie das gleiche für uns tun?“, fragte er dann. Hektor sah ihn mit einem Blick an, der Bände sprach. Der trojanische Thronfolger war ein Ehrenmann, der einem Gegner selbstverständlich die Zeit einräumen wollte, die Gefallenen, die tapfer gekämpft hatten, würdig zu bestatten. Ob der Gegner ihm selbst dieses Recht zugestehen wollte, war für ihn zweitrangig. Er wandte sich ab.
„Los, Rückzug! Formiert und sammelt euch!“, befahl er und ritt nach Troja zurück.
ΩΩΩ
Kapitel 23
Wundenlecken
Die Abenddämmerung senkte sich über das Schlachtfeld. Griechen und Trojaner sammelten die Toten einträchtig nebeneinander ein, halfen sich gar, einige Knäule verfeindeter Toter vorsichtig zu entwirren. Die Toten wurden in die Stadt oder das griechische Lager unten an der Küste transportiert, je nach Zugehörigkeit.
Für jeden Toten wurde ein hölzernes Gestell errichtet, dessen oberste Plattform mit Holzscheiten und Reisig unterfüttert wurde. Auf einem dieser Gestelle lag Ajax, auf beiden Augen je eine Münze als Fährgeld für Charon. Nicht weit davon entfernt, versah Agamemnon seinen Bruder Menelaos ebenfalls mit den Charons-Münzen, die er bedächtig auf den geschlossenen Augen des Spartaners platzierte.
„Bevor ich aufbreche, brenne ich ihre Stadt bis auf die Grundmauern nieder, Bruder. Das verspreche ich dir“, sagte er. Dann führte er die brennende Fackel an dem blanken Holzstoß entlang, auf dem Menelaos aufgebahrt war und stieg die Leiter hinunter, während das Feuer sich zu dem Leichnam fraß und ihn schließlich in lodernden Flammen verzehrte.
Viele solcher Holzbahren brannten in dieser Nacht – in Troja und unten an der Küste.
→Hoch oben im Palast von Troja bemühte Helena sich um die tiefe Wunde in Paris’ linkem Bein. Vorsichtig und sorgfältig nähte sie die klaffende Lücke. Zornig auf sich selbst biss Paris die Zähne zusammen. Die Stiche, mit denen Helena die Verwundung schloss, waren schmerzhaft, aber nicht halb so schmerzhaft wie die Pein über sein Verhalten. Langsam konnte er seine Gedanken wieder ordnen. Es war alles so furchtbar peinlich!
„Du denkst, ich bin ein Feigling …“, murmelte er und verbiss sich den Schmerz, als der Faden durch die offene Wunde glitt. „Ich bin einer!“, bekannte er voller Scham. „Ich wusste, er würde mich umbringen. Du hast zugesehen. Und mein Vater, mein Bruder – ganz Troja! Diese Schande ist mir egal. Ich gab meinen Stolz auf, meine Ehre – nur um zu leben.“
Helena sah auf. Die Qual, die sich in Paris’ Gesicht spiegelte, hatte nur bedingt etwas mit der gewiss schmerzhaften Wunde in seinem Bein zu tun. Es war offensichtlich, dass der seelische Schmerz über sein Versagen sehr viel größer war
„Für die Liebe!“, korrigierte sie ihn sanft. „Du warst mutig, als du ihn zum Kampf herausgefordert hast.“
Warum wollten andere nicht anerkennen, dass es schon viel Mut bedeutete, einen Mann wie Menelaos zum Zweikampf herauszufordern?
„Ich habe dich verraten“, bekannte Paris schuldbewusst. Er wagte kaum, sie anzusehen. Helena schüttelte leicht den Kopf und rückte nah zu ihm, küsste ihn sanft auf den Arm. Warum meinten Männer eigentlich, dass nur der Mut hatte, der sich im Falle einer Niederlage willig abschlachten ließ? Floh der nicht eigentlich vor der Verantwortung, sich seinem Versagen zu stellen? Bedeutete es nicht zuweilen sehr viel mehr Mut, das Leben fortsetzen zu wollen, mit dem eigenen Versagen zurecht zu kommen?
„Menelaos war ein tapferer Mann“, sagte sie leise. „Er lebte nur für den Kampf. Und jeden Tag, den ich bei ihm war, wollte ich ins Meer gehen und ertrinken. Ich will keinen Helden, mein Liebster. Ich will einen Mann, mit dem ich alt werden kann.“
Das, was Paris ihr gab – seine wundervolle Zärtlichkeit, seine Wärme – das hatte Menelaos ihr nie geben können und es auch nicht gewollt. Menelaos hatte seine Frau als sein Eigentum betrachtet, ein kostbares Ding, das man ihm gestohlen hatte. Als Persönlichkeit hatte sie ihm nie etwas bedeutet, Helena wusste es nur zu gut. Bei Paris hatte sie ein anderes Gefühl, sie fühlte sich geliebt, nicht benutzt. Mit ihm wollte sie alt werden.
Er sah sie an, völlig verblüfft über dieses Bekenntnis zu ihm, das er nicht erhofft und schon gar nicht erwartet hatte. Es gab tatsächlich eine Frau, die einen Mann nicht danach beurteilte, wie tapfer er kämpfte, wie viele andere Männer er umgebracht hatte und wie viel Land er erobert hatte … Größeres Glück gab es nicht – nicht für Paris.←
♦An der Tür klopfte es.
„Tritt ein!“, rief Helena. Hektor trat herein und sah Helenas Arbeit am Bein seines Bruders. Er nickte zufrieden.
„Gut genäht“, lobte er die sorgsame Arbeit seiner Schwägerin. „Du hast eine talentierte Frau“, sagte er dann zu Paris. „Ich danke den Göttern, dass du am Leben bist, kleiner Bruder.“
Paris sah ihn schuldbewusst an.
„Ich … wollte dich stolz auf mich machen“, sagte er zögernd. Er hatte eigentlich beweisen wollen, dass auch er ein mutiger Mann war, nicht nur ein Bogenschütze … Bogenschützen wurden von Schwertkämpfern – und das waren die meisten Könige, Heerführer und sonstigen Helden Griechenlands und der Ägäis – schon deshalb verachtet, weil sie sich nicht dem Nahkampf stellten, sondern ihre Feinde aus der Distanz bekämpften, wo sie allenfalls für wirklich zielsichere Speerwerfer oder andere Bogenschützen erreichbar waren. Dieses Vorurteil galt in gewissen Grenzen sogar in Troja, obwohl gerade Troja für seine hervorragenden Bogenschützen bekannt war. Hektor nahm Paris lächelnd an den Schultern.
„Das wirst du“, sagte er.♦
Weit unten am Strand ging Agamemnon unruhig in seinem halb auf das Trockene gezogenen Schiff auf und ab. Odysseus und Nestor saßen zwei Klafter vom überdachten Thronsitz des Großkönigs entfernt einander gegenüber.
„Sie lachen über mich in Troja! Ganz … siegestrunken! Sie denken, ich würde beim ersten Tageslicht nach Hause segeln“, knurrte er, schon halb benebelt von dem Wein, den er seit seiner Rückkehr an den Strand getrunken hatte. Odysseus sah ihn offen an.
„Vielleicht sollten wir das tun …“, brummte er. Agamemnon drehte sich heftig um.
„Fliehen!“, entfuhr es ihm. „Wie ein winselnder Köter?“, fauchte er. Odysseus sah zu Nestor hinüber, der seinen Blick bestätigend erwiderte.
„Die Männer glauben, sie sind hier, um Menelaos die Frau zurückzubringen“, bemerkte der König von Ithaka. „Jetzt brauchen wir das nicht mehr …“, setzte er leise hinzu. Agamemnon fuhr erneut herum, als habe ihn eine Schlange gebissen.
„Meines Bruders Blut ist noch nicht getrocknet und du beleidigst ihn!“, fuhr er Odysseus an, der seinem vernichtenden Blick gelassen standhielt.
„Ich beleidige ihn nicht, wenn ich sage, dass er tot ist. Er ist tot“, versetzte er. Agamemnon schwieg verblüfft. Selten hatte jemand gewagt, ihm zu widersprechen – selbst Könige hielten sich darin sehr zurück. Zornig vor sich hin grummelnd stapfte Agamemnon wieder zu seinem Thronsitz zurück.
„Ziehen wir uns jetzt zurück, büßen wir unsere Glaubwürdigkeit ein“, sagte Nestor, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte. „Gelingt es den Trojanern, uns zu schlagen, dauert es nicht lange, bis die Hethiter bei uns einfallen“, warnte der weise Berater.
„Wenn wir bleiben, dann nur aus dem einzigen Grund, der es wert ist: Um Griechenland zu schützen – nicht deinen Stolz! Deine persönliche Fehde mit Achilles zerstört uns alle!“, knurrte Odysseus. Der König von Ithaka war mit seinen Männern ohnehin nur aus diesem Grund dem Aufruf von Agamemnon gefolgt, jedenfalls hatte er das als Begründung vor sich selbst und vor Achilles vorgetragen – wenngleich auch er sich gewissen Pflichten gegenüber Agamemnon nicht entziehen konnte.
„Achilles ist nur ein Mann!“, widersprach Agamemnon grantig. Odysseus sah ihn scharf an.
„Hektor ist auch nur ein Mann!“, versetzte er. „Und sieh, was er uns heute angetan hat!“
Agamemnon ließ das nicht gelten. Schnaufend zog er sich auf den Thron, da ihm die Beine ob des vertilgten Weins langsam den Dienst versagen wollten.
„Hektor kämpft für sein Land!“, schnauzte er. „Achilles kämpft nur für sich selbst!“
„Für was oder wen er kämpft, ist mir gleich!“, grollte Odysseus. „Interessant ist für uns nur, dass er Schlachten zu unseren Gunsten entscheiden kann!“, fuhr er Agamemnon zornig an. Eher hilflos sah Agamemnon zu Nestor.
„Er hat Recht“, bestätigte der alte Berater, der König von Pylos. „Der Kampfgeist unserer Männer ist schwach.“
„Schwach?“, entfuhr es Odysseus. „Die würden nach Hause schwimmen!“
Mit einer schon resignierenden Geste hob Agamemnon die Arme, verschüttete beinahe seinen Wein.
„Selbst wenn ich mich mit Achilles versöhnen könnte – er würde niemals auf mich hören!“, wehrte er ab und zog sich erschöpft auf seinen Thronsitz. „Ich wüsste nie, ob er mich aufspießt oder mit mir spricht“, setzte er anklagend hinzu.
Odysseus strich sich nachdenklich durch den Bart.
„Ich rede mit ihm“, versprach er.
„Er will das Mädchen wiederhaben“, bemerkte Nestor.
„Das Mädchen kann er kriegen!“, schnaufte der König von Mykene. „Ich hab’s nicht angerührt.“
Nestor und Odysseus wechselten bedeutsame Blicke. Warum, beim Hades, hatte Agamemnon diesen unnützen Streit mit Achilles überhaupt vom Zaun gebrochen? Eine solche Machtprobe diente allenfalls den Trojanern, aber gewiss nicht der unbedingt erforderlichen Einheit der griechischen Kämpfer. Angesichts der Kampfkraft der Trojaner, die ihre zahlenmäßige Unterlegenheit ohne weiteres wettmachte, war Einigkeit untereinander, ein gemeinsames Ziel, das Einzige, was den Griechen gegen diese Trojaner helfen konnte.
„Wo ist sie?“, fragte Odysseus mit einem Anflug von Ungeduld.
„Ich hab’ sie den Männern überlassen. Nach der Schlacht sollen sie wenigstens… ein bisschen Spaß haben“, erklärte Agamemnon. Odysseus begann sich zu fragen, ob Agamemnon eigentlich den Tod herbeisehnte. Er war nahe daran, Agamemnon in ähnlicher Art anzufahren wie Hektor seinen Bruder Paris, nachdem der ihm Helena als Fahrgast präsentiert hatte …
ΩΩΩ
Kapitel 24
Briseis und Achilles
Draußen, auf dem dunklen Strand brannten die Feuer, um die sich die griechischen Soldaten scharten. An einem der Feuer in der Nähe von Agamemnons Schiff schubste eine rohe Truppe von etwa zehn Männern aus Agamemnons mykenischer Armee die übel zugerichtete Briseis zwischen sich hin und her. Mit jedem Schubs rissen sie ihr ein Stück Stoff aus ihrer Robe, die schon fast völlig zerlumpt war. Ihr Gesicht war blutverschmiert und verschwollen, sie blutete aus mehreren Platzwunden an Stirn, Nase und Mund.
„Ich will sie zuerst!“, stieß Aphareos lästernd hervor. „Komm her!“
„Her damit! Gib mir die Metze!“, meldete Echepolos seine Ansprüche an. Briseis schluchzte nur noch; sie war kaum noch fähig, sich koordiniert zu bewegen, geschweige denn, sich wirksam gegen die körperlich erheblich stärkeren Männer zu wehren, die ihren Schlachtenfrust an ihr ausließen.
„Trojanische Hure!“, stieß Aphareos hervor und riss ihr den über die Schulter bis auf den halben Arm fallenden Chiton auf. „Was ist das? Das Gewand einer Jungfrau?“
„Das wirst du nicht länger brauchen!“, lachte Haemon. „Los, bringt sie runter!“
„Neeeiin!“, schrie Briseis verzweifelt. Die Männer stießen sie weiterhin zwischen sich hin und her, packten sie schließlich, um sie zu Boden zu zwingen. Aphareos kam dabei noch eine weitere Idee: Bevor er und seine Kameraden über sie herfielen, um ihre Gier zu stillen, wollte er die Sklavin zuallererst mit einem Brandstempel zeichnen, damit sie garantiert nicht vergaß, wo ihr Platz war. Haemon und Echepolos hielten die junge Frau fest, die sich aus Leibeskräften wehrte, als Aphareos mit dem Brandeisen kam, und noch dem einen oder anderen massive Fußtritte versetzen konnte, bis die übrigen Männer sie auch dort festhielten.
Nur zwei Fingerbreiten war das hellrot glühende Eisen noch von ihrem Arm entfernt, als eine harte Hand Aphareos von Briseis wegriss. Völlig verblüfft sah Aphareos in Achilles’ zorniges Gesicht. Ehe er auch nur noch ein Wort herausbrachte, entriss Achilles ihm das Brandeisen und stach Aphareos den Stempel gleich an die Kehle, der mit einem würgenden Laut zu Boden ging. Entsetzt wichen die anderen zunächst zurück, dann griff Echepolos den Kriegerfürsten an und bekam das Brandeisen mit solcher Wucht über den ungeschützten Kopf gezogen, dass er umfiel wie ein gefällter Baum. Obwohl Achilles abgesehen von dem Brandeisen nicht bewaffnet war, lagen die Männer Agamemnons innerhalb von Augenblicken bewusstlos am Boden oder suchten ihr Heil in eiliger Flucht. Achilles warf das Brandeisen beiseite und hob die halb ohnmächtige Briseis mit unerwarteter Sanftheit auf seine kräftigen Arme und trug sie fort. Niemand wagte, ihm auch nur einen Schritt zu folgen.
Achilles brachte Briseis zu seinem Zelt. Dort setzte er sie auf den Bettfellen vorsichtig ab. Die junge Trojanerin wusste nicht, was sie davon halten sollte. Einerseits hatte sie schreckliche Angst vor ihm und den übrigen Griechen, andererseits hatte er sie gerade gerettet – doch weshalb er ihr geholfen hatte, das konnte sie noch nicht genau erkennen. Ein scheuer Blick traf den blonden Krieger. Er sah besorgt aus, so wie er sie ansah – jedenfalls hatte er einen gänzlich anderen Ausdruck im Gesicht als die Männer, die sie gerade geschlagen und gerupft hatten.
Er holte eine Schüssel mit Wasser heran, griff sich ein sauberes Tuch und setzte sich zu ihr. Prüfend betrachtete er sie im Halbdunkel der nur von dem Zeltfeuer erleuchteten Jurte.
„Bist du verletzt?“, fragte er. Sie wusste nicht recht, ob sie ihm darauf antworten sollte. Das Blut, das sie im Gesicht hatte, war ihr eigenes. Nahm er etwa an, sie hätte sich in fremdem Blut gebadet?
„Gut gekämpft“, hörte sie seine dunkle Stimme. „Du bist mutig“, setzte er anerkennend hinzu. Sie wusste nicht wohin mit ihren Blicken, die einerseits von dem gut aussehenden Mann neben ihr geradezu magisch angezogen wurden, die andererseits aber auch ein Mauseloch suchten, in dem sie sich vor dem Griechen verstecken konnte.
„Man wehrt sich eben, wenn man angegriffen wird“, versetzte sie. „So viel Mut hat selbst ein Hund.“
Er tauchte das Tuch in die Schüssel, drückte es gut aus und wollte ihr das Blut vom Gesicht waschen, doch sie wehrte sich heftig gegen seinen Versuch ihr zu helfen. Schließlich erwischte sie das Tuch, entriss es ihm mit unerwarteter Heftigkeit und warf es ihm direkt ins Gesicht, von wo aus es auf den sandigen Boden fiel. Mit einem geduldigen, leichten Lächeln auf den Lippen fischte er das Leintuch wieder auf, tauchte es ins Wasser, wusch es kurz durch, um den Sand zu entfernen und warf es ihr dann seinerseits zu. Zögernd nahm sie das Tuch und fing an, sich selbst damit zu bereinigen.
Er griff hinter sich und zog eine Schale mit Weintrauben heran, die er ihr gleichfalls hinhielt.
„Iss“, sagte er sanft und bediente sich auch gleich selbst davon. Sie ging auf sein Angebot noch nicht ein, obwohl ihr Magen hungrig knurrte. Seit dem Frühstück vor dem Angriff der Griechen und ihrer daraus folgenden Gefangennahme hatte sie nichts mehr gegessen.
„Männer wie dich hab’ ich schon oft getroffen“, brummte sie. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, hast du nicht“, widersprach er mit einem sanften Grinsen. Diese Frau gefiel ihm immer mehr.
„Denkst du, du bist anders als tausend andere?“, zischte sie verächtlich. „Soldaten verstehen nur etwas vom Krieg. Der Frieden verwirrt sie.“
Sein Lächeln ging in ein amüsiertes Grinsen über.
„Und dafür hasst du sie“, stellte er fest.
„Ich bemitleide sie“, stellte Briseis klar. Achilles schüttelte den Kopf.
„Soldaten sind gestorben, um dich zu verteidigen“, entgegnete er. „Sie verdienen mehr als nur dein Mitleid.“
Der Stich saß, das musste auch sie zugeben. Doch so schnell gab sie nicht auf.
„Wie kann man sich für solch ein Leben entscheiden?“, fragte sie mit leicht ätzendem Unterton.
„Welches Leben?“, fragte er interessiert.
„Das Leben eines großen Kriegers?“, präzisierte sie.
„Das war keine Entscheidung. Ich wurde geboren und ich bin der, der ich bin“, versetzte er. War es so schwer zu begreifen, dass sein Leben, so wie es war, der Wille der Götter war?
„Und du?“, fragte er dann. „Warum hast du dich entschieden, einen Gott zu lieben? Recht einseitig, die Liebe, könnt’ ich mir denken …“
Er schob sich noch eine Weintraube in den Mund und sah sie kauend an. Sein interessierter Blick, sein schief gelegter Kopf und seine Worte waren pure Herausforderung für Briseis. Sie ließ den Lappen sinken.
„Macht es dir eigentlich Spaß, mich zu ärgern?“, fuhr sie ihn an. Das Lächeln wich aus seinen Zügen, doch es war keine Ungeduld, kein Ärger in seinem Gesicht; es war geduldiger Ernst.
„Du hast dein Leben den Göttern gewidmet“, resümierte er dann. „Zeus, Gott des Donners; Athene, Göttin der Weisheit. Denen dienst du doch, oder?“
„Ja“, bestätigte die junge Frau, verwirrt über diese Frage.
„Und Ares, der Kriegsgott, der auf den Häuten der Männer schläft, die er getötet hat?“, fuhr Achilles fort. Briseis sah ihn beschämt an. Er hatte sie erwischt!
„Nun“, räumte sie leise ein, „wir müssen alle Götter achten und fürchten.“
Er rückte näher zu ihr heran.
„Soll ich dir etwas verraten, was man dir in deinem Tempel nicht beibringt?“, fragte er mit leisem Verschwörerton. „Die Götter … beneiden uns!“, flüsterte er. „Sie beneiden uns, weil wir sterblich sind; weil jeder Augenblick unser letzter sein könnte. Alles ist so viel schöner – weil wir irgendwann sterben. Nie wirst du bezaubernder sein, als in diesem Moment. Nie wieder werden wir hier sein.“
Seine leisen Worte, verbunden mit einem sanften, fast zärtlichen Tonfall, berührten Briseis tief. Noch niemals hatte ein Mann so zu ihr gesprochen. Sie griff nun doch in die Obstschale, nahm sich eine von den blauen Weintrauben und aß sie bedächtig.
„Ich dachte, du wärst nur brutal … Einem brutalen Menschen könnt’ ich vergeben“, erwiderte sie nach beredtem Schweigen. Sie ließ offen, ob sie ihm nicht verzeihen wollte, dass er als Feind in ihr Land eingedrungen war und ihre Landsleute getötet hatte, oder ob sie bereits weit über Vergebung hinaus zu einem sehr viel tieferen Gefühl gekommen war.
Sehr viel später in dieser Nacht schlief Achilles tief und ruhig – im Gegensatz zu Briseis, die immer noch mit sich kämpfte, was sie tun sollte und die immer noch nicht wusste, ob sie sich zu dem gut aussehenden Griechen hingezogen fühlen sollte oder ob sie ihn hassen sollte. Schließlich traf sie ihre Entscheidung und griff zu seinem Dolch. Leise und vorsichtig näherte sie sich ihm, setzte ihm die scharfe Klinge an die Kehle.
„Tu es“, sagte er leise und schlug die Augen auf. „Nichts ist leichter.“
Sie sah ihn verstört an.
„Hast du keine Angst?“, fragte sie verblüfft ohne den Dolch von seiner Kehle zu nehmen. Er sah sie ruhig an.
„Sterben müssen wir alle – ob heute oder in fünfzig Jahren. Was macht das schon?“
Er hob die Arme und nahm sie an den Schultern, wehrte sich nicht gegen die ihn bedrohende Klinge.
„Tu es!“, forderte er. Sie hatte ein Problem damit, ihm in die Augen zu sehen und ihm die Kehle durchzuschneiden.
„Du wirst noch mehr töten, wenn ich dich nicht töte“, begründete sie ihre Absicht.
„Viele“, bestätigte er. Erwartete sie von einem Krieger etwas anderes? Briseis zögerte. Sie konnte es nicht tun.
Immer noch den Dolch an der Kehle, kam Achilles hoch, wogegen sie sich nicht wehrte. Er drehte sie auf den Rücken und schob sich über sie. Erst jetzt wurde sie gewahr, dass er absolut nichts anhatte. Seine Lippen suchten die ihren und verschlossen sie mit einem warmen, leidenschaftlichen Kuss. Hingerissen ließ die junge Frau das Messer fallen und umarmte den Krieger. Seine warme Hand ging auf eine zielsichere Suche, fand ihre Hüfte und schob ihre zerlumpte Robe hoch, bis sie Haut an Haut lagen. Briseis gab jeden Widerstand auf, ließ es geschehen und kam ihm entgegen bis sie eins waren und sich voller Zärtlichkeit und Leidenschaft liebten.
ΩΩΩ
Kapitel 25
Achilles’ Entscheidung
Obwohl er erst spät wirklich geschlafen hatte, erwachte Achilles am folgenden Morgen ungewöhnlich früh. Leise erhob er sich von dem mit Briseis in dieser Nacht geteilten Lager, kleidete sich an, blieb dann einen halben Klafter von ihr entfernt sitzen und sah sie einfach an. Sie schlief ruhig und entspannt, von Morpheus, dem Gott des Traumes, weit fort getragen in sein Reich, das Land der Träume. Ihr Gesicht drückte reine Unschuld aus. Achilles saß still da und schaute sie gedankenverloren an. Was hatte seine Mutter Thetis gesagt?
‚Wenn du nach Troja gehst, wirst du Ruhm ernten. Viele tausend Jahre lang wird man Geschichten über deine Siege schreiben. Die Welt wird sich an deinen Namen erinnern. Aber wenn du nach Troja gehst, kehrst du nie wieder heim. Denn dein Ruhm geht Hand in Hand mit deinem Untergang – und ich werde dich nie wieder sehen’, erinnerte er sich an ihre Worte am Tag vor seiner Abreise aus Larissa.
Gewiss, seine Mutter war eine Göttin, hatte die Gabe der Vorhersicht. Aber musste denn alles eintreffen, was sie vorhersah, selbst wenn sie meinte, es wirklich sicher zu wissen? Und wenn er auf den unsterblichen Ruhm jetzt verzichtete? Es gab immer einen anderen Krieg, in dem man sich Ruhm erwerben konnte – auch unsterblichen Ruhm, durchzuckte es ihn. Er hatte sich in die Trojanerin verliebt – von ihrem ersten Gespräch an hatte sie ihn mit ihrem Mut beeindruckt. Seine Liebe zu Briseis warf ein Problem für ihn auf: Er konnte die Trojaner nicht mehr als Feinde betrachten. Gleich darauf stellte er sich die Frage, ob er das überhaupt je getan hatte …
Ein Geräusch störte den in der Betrachtung seiner Geliebten und seinen Gedanken versunkenen Kriegerfürsten auf. Es war das unverwechselbare, wenn auch sehr leise Geräusch, das entstand, wenn der Filzstreifenvorhang beiseite gezogen wurde. Gestört sah er zum Zeltausgang. Eudoros steckte den Kopf durch den Vorhang.
„Mein Herr!“, sprach er ihn an „Draußen …“
Eudoros stockte ob der abwehrend erhobenen Hand seines Herrn.
„Schhh“, bedeutete der ihm zu schweigen. Eudoros nickte und zog sich wieder zurück.
Achilles warf einen letzten Blick auf die immer noch schlafende Briseis, erhob sich und verließ leise das Zelt. Es gab nur einen Weg … Draußen fing er Eudoros ab.
„Sag’ den Männern, sie sollen das Schiff beladen. Wir fahren nach Hause“, wies er ihn an. Eudoros nickte und drehte sich um.
„Packt alles zusammen! Wir fahren nach Hause“, rief Eudoros.
Achilles sah sich um und entdeckte Odysseus, der auf ihn einige Klafter vom Zelt entfernt wartete. Er begrüßte den König von Ithaka mit einem Becher Wein und setzte sich zu ihm an den Rand der Düne, in deren Windschatten sein Zelt aufgestellt war.
„Agamemnon ist ein stolzer Mann, doch er weiß auch, wann er einen Fehler begangen hat“, eröffnete Odysseus. Achilles grinste freudlos.
„Hat er dich geschickt, um sich zu entschuldigen?“, fragte er bissig. „Was hast du im Übrigen mit diesem Schwein zu schaffen?“
Odysseus rutschte unbehaglich auf dem Stein herum, auf dem er saß.
„Die Welt kommt dir so einfach vor, mein Freund. Aber wenn man König ist, sind nur sehr wenige Entscheidungen so einfach. Ithaka kann es sich nicht leisten, Agamemnon zum Feind zu haben“, erklärte er sichtlich nervös. Achilles grinste vor sich hin und trank einen Schluck Wein.
„Sollen wir etwa Angst vor ihm haben?“, fragte er mit leisem Spott. Odysseus sah ihn von der Seite an.
„Du hast vor niemandem Angst, das ist dein Problem. Angst … ist etwas Nützliches“, versetzte er. „Wir brauchen dich! Griechenland braucht dich!“, beschwor er ihn dann. Der Kriegerfürst schüttelte den Kopf.
„Griechenland ist gut ohne mich zurechtgekommen – und das wird es auch tun, wenn ich längst tot bin“, entgegnete er.
„Ich rede nicht von dem Land“, entgegnete Odysseus. „Die Männer – sie brauchen dich. Geh’ nicht, Achilles! Du wurdest für diesen Krieg geboren“, beschwor er Achilles. Der Pelide schüttelte den Kopf.
„Das ist jetzt nicht mehr so einfach“, sagte er leise. Nein, er konnte nicht gegen Briseis’ Volk kämpfen. Der Umstand, dass die Trojaner nicht mehr taten, als ihre Heimat gegen einen gierigen Eroberer zu verteidigen, war ihm durchaus sympathisch. Menelaos’ gekränkte Ehre hatte er als passablen Kriegsgrund ohnehin nie ernst genommen.
„Durch Frauen wird immer alles … nur noch schwieriger“, erwiderte Odysseus mit deutlichem Seufzen. Wegen einer Frau waren sie hier, wegen einer anderen Frau drohte das ganze Unternehmen nun zu scheitern; Odysseus selbst sehnte sich nach seiner Frau Penelope – es war zum Verzweifeln.
„Von allen Königen Griechenlands acht’ ich dich am meisten“, riss Achilles den König von Ithaka aus seinen Gedanken. „Aber in diesem Krieg bist du ein Diener“, hielt der Kriegerfürst ihm dann vor. Odysseus konnte und wollte diesen Umstand nicht bestreiten. Es war eine schlichte Tatsache.
„Manchmal muss man dienen, wenn man führen will. Ich hoffe, du wirst das eines Tages verstehen“, versetzte er. Hätte er sich nicht dereinst Agamemnons Willen unterworfen und ihn als Großkönig der Griechen anerkannt, wäre Ithaka längst wirklich versklavt. So hatte er wenigstens noch den Anschein von Selbstständigkeit wahren können und damit vor seinem Volk nicht das Gesicht verloren.
Odysseus erhob sich und verließ das Lager der Myrmidonen. Patroklos sah ihn fortgehen. Der junge Mann nutzte die Gelegenheit, seinen Vetter auf die bevorstehende Abreise anzusprechen.
„Segeln wir nach Hause?“, fragte er mit deutlicher Ablehnung in der Stimme. Achilles blieb sitzen und blinzelte in die Sonne hinauf. Fast schien es, als wollte er Apollon um Vergebung bitten für das, was er dessen Abbild angetan hatte.
„Ja, morgen früh“, erwiderte er knapp.
„Man hat Griechen abgeschlachtet!“, empörte sich Patroklos. „Da können wir nicht einfach fortgehen!“, versuchte er seinen Vetter umzustimmen. Achilles drehte den Pokal in der Hand, aus dem er eben den letzten Schluck Wein ausgetrunken hatte und sah seinen jungen Vetter direkt an.
„Du kommst noch zu deinem Kampf. Es gibt immer einen nächsten Krieg. Das versprech’ ich dir“, erwiderte er.
„Aber das sind unsere Landsmänner!“, ereiferte sich Patroklos. „Ich aß und lachte mit Ihnen! Aber dich zog es in dein Zelt! Du verrätst Griechenland, weil du willst, dass Agamemnon verliert!“, warf er dem Vetter vor. Achilles blieb unbeeindruckt, erhob sich und ging zu seinem Zelt zurück.
„Irgendeiner muss verlieren“, versetzte er kühl. Wenn es Agamemnon war, war ihm das nur recht. Es war an der Zeit, dass jemand den König von Mykene wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte und ihm zeigte, dass nicht alles nach seinem Willen ging.
„Und lebte ich auch noch so lange, mein Herz wird nie so schwarz wie deins!“, keifte Patroklos schrill. Achilles drehte sich am Zelteingang noch einmal um.
„Wir segeln am Morgen!“, stellte er in aller Schärfe klar.
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Kapitel 26
Priamos’ Anordnung
Hoch oben, im Thronsaal der Burg von Troja tagte der Rat. Abgesehen von Paris war der königliche Rat vollzählig versammelt. Der jüngere Prinz wollte sich mit seinem verwundeten Bein Helenas liebevoller Pflege überlassen und schämte sich wegen seines Verhaltens vom Vortag zu sehr, um an der Ratssitzung teilzunehmen, Es war Nachmittag, die Hitze lag brütend über dem Land; doch der Thronsaal mit seiner offenen Säulenseite war kühl und luftig. Der Tag war ruhig geblieben, und es sah im Moment nicht danach aus, als wollten die Griechen in der heißen Nachmittagssonne noch etwas unternehmen.
„Die Omen werden zahlreicher und ihre Weisung ist klar“, eröffnete Hohepriester Archeptolemos.
„Kämpft für das Land!“, unterbrach Hektor ihn vorlaut. „Eine andere Weisung gibt es nicht!“
Priamos sah seinen ältesten Sohn indigniert an. Einen Hohepriester unterbrach man nicht. Das war nicht nur unhöflich, das war lebensgefährlich …
„Als der Hohepriester das letzte Mal zu uns sprach, prophezeite er einen großen Sieg für Troja. Und wir haben einen großen Sieg errungen. Lass ihn sprechen!“, wies er Hektor zurecht.
„Was empfiehlst du?“, wandte er sich dann an Archeptolemos. „Wie sollen wir vorgehen?“
„Die Götter sind uns wohlgesonnen“, erklärte Hohepriester Archeptolemos, nachdem er im Laufe des Tages Opfer gebracht und Orakel befragt hatte. „Die Zeit ist gekommen, die Armee der Griechen zu zerschlagen.“
Die Mitglieder des königlichen Rates jubelten ob dieser Verkündigung.
„Glaukos!“, rief Priamos seinen Heerführer auf, um dessen Meinung zu hören. Der alte General, der Archeptolemos gegenüber saß, erhob sich.
„Ihre Kampfeslust ist erloschen“, fasste er die Informationen seiner Untergebenen zusammen, die er während des Tages zum Bericht bestellt hatte. „Schlagen wir jetzt zu, treffen wir sie hart! Dann werden sie fliehen“, schätzte er dann die Lage ein. Velior erhob sich.
„Ich muss zugeben, ich habe die Griechen überschätzt. Es fehlt ihnen an Disziplin und Mut“, räumte er seine Fehleinschätzung ein.
Priamos nahm die Berichte mit sichtbarer Zufriedenheit entgegen. Das Kopfschütteln seines älteren Sohnes an seiner rechten Seite hatte er nicht gesehen. Hektor stand auf und ging nach vorn zum Beckenrand.
„Die Myrmidonen haben gestern nicht gekämpft“, stellte er klar. „Es scheint Uneinigkeit zu herrschen unter den Griechen. Aber wenn wir ihre Schiffe angreifen, wird sie das wieder vereinen“, warnte der Prinz. „Wenn sie uns angreifen wollen, sollen sie es tun. Unsere Mauern sind unüberwindbar – und wir schlagen sie erneut.“
Er drehte sich zu seinem Vater um.
„Gestern haben die Griechen uns unterschätzt“, sagte er eindringlich. „Jetzt sollten wir sie nicht unterschätzen!“
Priamos sah seinen Sohn einen Moment an. Zögern war er von ihm nicht gewohnt. Der König erhob sich und trat ebenfalls an den Beckenrand. Respektvoll standen die Höflinge unten am Becken gleichfalls auf und verneigten sich vor ihm. Dessen Blick fiel auf den Hohepriester.
„Bist du dir sicher bezüglich der Omen?“, fragte er Archeptolemos. Der Priester straffte sich.
„Die Schändung seines Tempels hat Apollon erzürnt. Die Götter haben die Griechen verflucht! Zwei ihrer Könige sind schon dahingegangen“, erklärte er überzeugt. Priamos nickte. Seine Entscheidung stand mit Archeptolemos’ Erklärung fest.
„Seid bereit zum Kampf! Wir greifen bei Tagesanbruch an!“, befahl er an Hektor gewandt. Der Thronfolger sah seinen Vater mit blankem Entsetzen an.
„Vater!“, beschwor er den König. „Wir machen einen Fehler!“
Priamos versteifte sich. Derart hartnäckigen Widerspruch war er von seinem sonst so gehorsamen Sohn nicht gewohnt. Es war wohl an der Zeit, Hektor klarzumachen, wer der Herr Trojas war …
„Macht die Armee bereit!“, versetzte er bestimmt. Hektor sah ihn fast verzweifelt an, überlegte, wie er seinen Vater von der ihm falsch erscheinenden Entscheidung abbringen konnte, während die Höflinge sich mit mehr oder minder zustimmendem Gemurmel zerstreuten. Doch er wusste auch, dass sein Vater eine einmal getroffene Entscheidung nicht zurücknehmen konnte, wollte er nicht das Gesicht verlieren … Resigniert senkte er den Blick. Hätte er geahnt, was sich unten am Strand tat, hätte er Olymp und Hades in Bewegung gesetzt, um seinen Vater dazu zu bringen, die Entscheidung rückgängig zu machen …
Unten am Strand beluden die Myrmidonen ihr Schiff, um gemäß dem Befehl ihres Anführers mit der Flut am folgenden Morgen die Gestade Trojas zu verlassen. Nur ihre Zelte standen noch, damit die Männer die Nacht dort noch verbringen konnten …
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Kapitel 27
Griechische Tragödie
Die Nacht war hereingebrochen. In Achilles’ Zelt war es ebenso dunkel wie draußen auf dem Strand. Das Feuer im Zelt gab weiches Licht, als Achilles Briseis nahe an sich zog und ihr den rechten Arm zärtlich um die Schulter legte. Sie lagen Haut an Haut nebeneinander in den Fellen seines bequemen Ruhelagers, nur zur Hälfte bedeckt von einer mehrlagigen Decke aus weichem Leinen. Die junge Tempeldienerin schmiegte sich dicht an den warmen, muskulösen Körper ihres geliebten Kriegerfürsten. Ihre Augen suchten im Halbdunkel seine blauen Augen, fanden sie und versanken beinahe in dem liebevollen Blick, den ihr der Pelide unter den fast geschlossenen Lidern schenkte. Seine linke Hand umschloss ihre Rechte sanft, zärtlich liebkosten sich ihre Finger.
„Bin ich noch immer deine Gefangene?“, fragte sie leise. Ein leichtes Lächeln zuckte um Achilles’ Mundwinkel.
„Du bist mein Gast“, erwiderte er ebenso leise.
„In Troja dürfen Gäste gehen, wann immer sie wollen“, erwiderte sie. Gleichzeitig kuschelte sie sich noch dichter an ihn. Sein Lächeln wurde breiter.
„Dann solltest du gehen“, empfahl er mit zärtlichem Flüstern. Sie war nicht sicher, ob er das ernst meinte. Im Moment wollte sie auch nirgendwo anders sein als hier – in diesem Zelt, in seinen Armen. Doch, einen anderen Ort konnte sie sich noch vorstellen: Es wäre gewiss ebenso schön, könnte sie mit Achilles in Troja leben und lieben.
„Würdest du all’ das zurücklassen?“, fragte sie ihn vorsichtig. Er grinste leicht. Er hatte den gleichen Gedanken gehabt – nur wollte er seine Briseis lieber in Larissa sehen.
„Würdest du Troja zurücklassen?“, erkundigte er sich. Sie wusste nicht, was sie mit dieser Gegenfrage anfangen sollte. War das eine Einladung seinerseits, ihm in seine Heimat zu folgen oder war es eine Aufforderung, die Seiten zu wechseln? Letzteres war jedenfalls ihr Gedanke gewesen, als sie ihn gefragt hatte. Wortlos streichelte sie seine kräftige Schulter und schloss genussvoll die Augen, als er sie zärtlich küsste.
Es war noch dunkel, als er von einem ungewöhnlichen Geräusch aus dem liebesseligen Schlaf an Briseis’ Seite erwachte. Im Schlaf hatte er sie umarmt, sie kehrte ihm den Rücken zu und schlief noch tief und ruhig. Er hob den Kopf und lauschte, doch er hörte nichts mehr und schob das ungewöhnliche Geräusch auf den Traum, den er eben noch gehabt hatte. Beruhigt legte er sich wieder hin und schlief wieder ein. Sollte das Geräusch auf die Vorbereitungen der Griechen zum Angriff auf Troja zurückzuführen sein, ging es ihn und seine Myrmidonen ohnehin nichts an. Er hatte Eudoros den unmissverständlichen Befehl gegeben, dass die Myrmidonen sich nicht am Kampf beteiligen sollten.
Doch das ungewöhnliche Geräusch entsprang weder einem Traum des Achilles noch hatte es seinen Ursprung in Angriffsvorbereitungen der Griechen. Hektor hatte den größten Teil der trojanischen Armee im Schutz der Dunkelheit nahe an den Dünenkamm am Strand geführt. Ein kleines Vorkommando seiner Apollonier eilte zu Fuß an die Kante des Dünenkammes. Hinter sich schleppten sie an langen Leinen große Bälle – halb so hoch wie ein erwachsener Mann – die aus dürrem Gestrüpp zusammengerollt und mit Erdharz verklebt waren.
Hinter den Apolloniern mit den großen Bällen gingen die Bogenschützen in Stellung. Auf ein Zeichen schossen sie eine Salve Brandpfeile nach der anderen ab. Die Brandpfeile regneten wie Sternschnuppen auf den Strand, weit von den griechischen Behelfspalisaden entfernt. Die Griechen, die auf Wache standen, sahen sich verblüfft an und konnten sich keinen Reim auf die seltsamen Flammen machen, die jenseits ihrer Befestigungen auf nahezu der ganzen Breite des griechisch besetzten Strandstreifens niedergingen. Nur vor dem von den übrigen Griechen etwas abgesetzten Myrmidonenlager waren die Sternschnuppen nicht gefallen.
Die trojanischen Vorbereitungen gingen nicht geräuschlos vonstatten. Wer noch nicht durch die Trojaner selbst geweckt wurde, wachte spätestens auf, als die Hornisten warnend Alarm bliesen. Agamemnon, Triopas und Odysseus kamen aus ihren Zelten und wussten auch nicht recht, was der Flammenteppich bewirken sollte.
Die Antwort kam schneller, als es den Griechen lieb sein konnte: Die Apollonier hatten gewartet, bis der Brandpfeilteppich für ihr Vorhaben dicht genug war; dann zogen sie die großen Gestrüppkugeln an den Seilen nach vorn und schleuderten sie über die Dünenkante. Die Kugeln rollten auf das griechische Lager zu, überquerten dabei den Brandteppich – und entzündeten sich zu lodernden Flammenbällen.
Die vordersten Wachen wichen vor den heran schießenden Feuerbällen zurück, in der Hoffnung, dass diese sich in den Behelfspalisaden verfangen würden. Doch die nur leicht zusammengefügten Kugeln zerrissen an den Palisaden, zerstoben, als ob Zeus mit seinen Donnerkeilen warf. Die explodierenden Feuerbälle verteilten sich im Umkreis, entzündeten Zelte, Schiffe und Palisaden. Wer nicht ins Wasser floh, verbrannte durch die explosiv verteilten Flammen. Nicht einmal hinter dem eroberten Tempel Apollons und einer weiteren Strandmauer fanden die Griechen Deckung, weil die Apollonier sogar über das Dach des Tempels und die Strandmauer ihre Feuerbälle schleuderten.
Während sich die Griechen noch verzweifelt bemühten, ihr Lager zu retten und den höllenheißen Flammen zu entkommen, graute der Tag. Mit dem Morgengrauen wurde sichtbar, dass entlang der griechischen Front eine ebenso lange Angriffslinie der Trojaner aufmarschiert war. Hektor stand in der Mitte der unendlich scheinenden Linie der Trojaner. Im ersten Morgenlicht hob er seinen Speer und schlug gegen seinen Schild. Die Männer in seiner Umgebung taten es ebenfalls und binnen Augenblicken schlug die ganze trojanische Armee rhythmisch die Speere oder Schwerter gegen die Schilde. Es klang wie drohende Trommeln. Auf Hektors Zeichen setzten sich die Trojaner den Dünenwall abwärts in Bewegung.
Auf der anderen Seite hatte Odysseus das Kommando für die Verteidigung der Strandbefestigungen und hatte die Männer schon durch seine Unterführer eingewiesen.
„Haltet die Barrikaden!“, kommandierte Agamemnon, der ebenfalls hinzukam.
„Bogenschützen nach hinten!“, befahl Hektor, als er an der Spitze seiner Soldaten zum Strand hinunterging.
Von der Seite her nahm Odysseus eine rasche Bewegung wahr. Zu seiner großen Verblüffung liefen die Myrmidonen eilig über den Strand in Richtung Front.
„Achilles?!“, entfuhr es dem König von Ithaka ebenso fragend wie erleichtert. Seine mahnenden Worte hatten bei dem Peliden anscheinend Gehör gefunden. Die Männer nahmen die heraneilenden Myrmidonen ebenfalls wahr und skandierten jubelnd Achilles’ Namen.
Weiter oben, auf halber Höhe der Dünen, hörte auch Hektor die Griechen Achilles’ Namen rufen. Sein Blick fand den Mann, den er schon im Tempel gesehen hatte – zusammen mit den skandierenden Rufen erkannte Hektor, dass er Recht gehabt hatte mit seiner Vermutung: Es war tatsächlich Achilles gewesen, den er im Tempel getroffen hatte.
„Achilles!“, flüsterte er. In Hektor wuchs der Wunsch, ihm den verdienten Lohn für die Schändung des Apollon-Tempels zu geben. Vielleicht hatte der Sonnengott ja keine anderen Hände, als die der Menschen, um diesen Frevel zu rächen. Wenn das so war, wollte Hektor gern das Werkzeug Apollons sein …
„Jeeeetzt!“, befahl er dann den Sturm auf die griechischen Linien. Mit Kampfgeschrei stürmten die Trojaner unter Hektors Führung vor.
„Vorwärts!“, kommandierte auch Odysseus. Die Griechen verließen unter ebenso lautem Kampfgeschrei ihre halbzerstörten Palisaden, allen voran Achilles und seine Myrmidonen. Die Armeen prallten heftig zusammen, ein hartes Ringen entspann sich zwischen Griechen und Trojanern. Im Zentrum des harten Kampfes waren die Apollonische Garde und die Myrmidonen, Gegner, die sich gesucht und gefunden hatten, die einander nichts schenkten.
Mitten im Brennpunkt des heftigsten Kampfes befanden sich Hektor und Achilles, denen kein Gegner widerstehen konnte. Wo sie waren, fielen die Gegner reihenweise. Einige Zeit nach dem Aufeinanderprallen der Armeen standen sich Hektor und Achilles mitten im Kampfgetümmel gegenüber. Hektor griff Achilles an und focht mit ihm einen wilden Kampf.
Die Soldaten, die den Zweikampf dieser beiden herausragenden Krieger sahen, hielten im eigenen Kampf inne. Um die beiden Heerführer bildete sich ein Kreis, in dem eine Stille war wie im Auge eines Zyklons. Odysseus und Eudoros hielten ebenfalls in ihren Kämpfen ein und beobachteten den Kampf zwischen Hektor und Achilles. Beide sahen sich betroffen an, als sie bemerkten, dass Achilles nicht wirklich in seiner gewohnten Form war. Hatte ihm die kleine Trojanerin so den Kopf verdreht, dass er längst nicht so effektiv und kraftvoll kämpfte wie sonst?
Er wehrte sich, aber der trojanische Prinz war in diesem Fall offensichtlich der bessere Kämpfer. Eudoros sah das Verhängnis kommen, ohne es verhindern zu können. Zu weit war er von seinem Herrn entfernt, um ihm zu Hilfe zu eilen. Hektor riss mit einem geschickten Hieb die Deckung des Peliden auf, ein weiterer Hieb traf Achilles direkt über dem Panzerrand – und schlitzte ihm die Kehle auf. Als wäre er gegen eine Wand gelaufen, stockte die Bewegung des Myrmidonenfürsten. Einige Augenblicke stand er noch, den Körper weit nach hinten gebogen, gurgelte unverständlich, dann brach er zusammen und stürzte flach auf den Rücken.
Odysseus und Eudoros sahen völlig geschockt, wie Achilles tödlich getroffen hintenüber fiel. Die übrigen Griechen waren wie gelähmt vor Schreck, dass ihr bester Krieger todwund am Boden lag. Die Trojaner hingegen jubelten über Hektors großartigen Sieg über ihren gefährlichsten Feind Achilles.
Er wand sich im Todeskampf, japste verzweifelt nach Luft, die nicht mehr in die Lunge gelangte, weil die Luftröhre durchschnitten war. Hektor sank keuchend neben dem gefällten Gegner zu Boden. Er hasste es, töten zu müssen, er hasste es einfach. Ihm war klar, dass der Mann im Höchstfall noch einige Momente zu leben hatte, aber diese Momente waren schrecklich. Er wollte dem Mann, den er tötete, aber wenigstens respektvoll ins Gesicht sehen, wenn er das schon tun musste. Vorsichtig nahm er dem Sterbenden den Helm ab – und erstarrte. Das war nicht Achilles!
Odysseus und Eudoros packte der zweite Schock an diesem Tag. Vor Hektor lag der sterbende Patroklos!
Er versuchte sich aufzurichten, schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Hektor krampfte sich das Herz zusammen. Der Junge, dem er die Kehle aufgeschlitzt hatte, war deutlich jünger als sein kleiner Bruder Paris. Helfen konnte diesem Jungen keiner mehr. Mit vor Schmerz und Widerwillen verzerrtem Gesicht riss der Prinz sein Schwert hoch und stieß es Patroklos in die Brust, gab ihm den Gnadenstoß. Es war das Einzige, was er für den todgeweihten Jungen noch tun konnte. Über dem Schwert sank er entsetzt zusammen. Das konnte er nicht wieder gutmachen! In Gedanken sah er den Zorn der Götter, der sich wie eine düstere Wolke über seinem Kopf zusammenbraute.
Nach einigen Momenten des Schocks rappelte er sich vom Boden auf. Sein Blick fand den des nicht weniger entsetzten Odysseus.
„Genug für einen Tag“, sagte er leise und keuchend zu dem griechischen Heerführer. Noch immer sprachlos vor Entsetzen nickte Odysseus. Nur langsam fand er wieder zu sich.
„Zurück zu den Schiffen!“, befahl er dann an die griechischen Soldaten gewandt. Dann drehte er sich wieder zu Hektor um.
„Er war sein Vetter“, flüsterte er immer noch völlig fassungslos.
Glaukos, nicht weniger betroffen als Hektor über den tragischen Tod des Jungen, winkte den Trojanern.
„Nach Troja! Zurück in die Stadt!“, befahl er. Die Trojaner rückten zu der einen Seite ab, die Griechen zur anderen.
Eudoros und Odysseus sanken neben dem toten Patroklos auf die Knie. Liebevoll streichelte Eudoros dem blutüberströmten Toten über das blonde Haupt.
„Wir wollten heute nach Hause segeln“, sagte er leise. Odysseus sah den Myrmidonenhauptmann einen Moment an.
„Ich glaube nicht, dass jetzt jemand nach Hause will.“
Der König von Ithaka ließ offen, ob er mit jemand einen ganz bestimmten Jemand meinte …
Zutiefst erschüttert stolperten die Myrmidonen in ihr abgelegenes und unversehrtes Lager. Eudoros wusste nicht, wie er Achilles den Verlust beibringen sollte. Achilles und Patroklos waren Vettern, doch war Eudoros klar, dass sein Herr Patroklos eher wie einen kleinen Bruder, wenn nicht gar wie einen Sohn liebte. Immerhin war Achilles mit seinen dreißig Jahren fast doppelt so alt wie sein siebzehnjähriger Vetter.
„Achilles!“, rief Eudoros mit schwacher Stimme. Es dauerte eine Weile, bis sein Herr aus dem Zelt trat. Offenbar war er eben erst aufgestanden und hatte sich nur ein leichtes Morgengewand übergeworfen. Er wirkte noch etwas verschlafen, so wie er sich am Hinterkopf kratzte, als er die müden Krieger sah, die sich erschöpft in den Sand fallen ließen. Der Zustand der Männer bewies, dass sie gekämpft hatten …
„Du hast meinen Befehl missachtet“, brummte er, als er seinen Heerführer ebenfalls deutlich vom Kampf gezeichnet in respektvoller Entfernung zu seinem Zelt stehen sah.
„Nein, mein Herr! Das war ein Missverständnis“, widersprach Eudoros. Achilles sah ihn mit verhaltenem Zorn an. Er war es weder gewohnt, dass Eudoros ihm nicht gehorchte noch, dass der treue Hauptmann ihm widersprach.
„Die Myrmidonen sollten diesmal nicht kämpfen!“, grollte er. „Wer hat sie in die Schlacht geführt?“
Eudoros sank vor seinem Herrn in die Knie. Hinter Achilles kam Briseis aus dem Zelt und sah verstört auf die sich ihr bietende Szene.
„Ich war’s nicht, mein Herr. Wir dachten, Ihr seid es“, flehte er um Gnade.
Achilles sah sich um. Ein schrecklicher Verdacht keimte in ihm auf. Eudoros hätte sich ihm nie widersetzt, das war ihm klar – aber es gab da einen jungen Heißsporn, der mit seiner Entscheidung, die Myrmidonen nicht für Agamemnon kämpfen zu lassen, überhaupt nicht einverstanden gewesen war … Doch sein suchender Blick fand genau ihn nicht.
„Wo ist Patroklos?“, flüsterte er. „Patroklos!“, rief er dann. Keine Antwort. Und vor ihm wand sich Eudoros wie ein Aal, wusste nicht, wie er seinem Herrn das Ungeheuerliche erklären sollte.
„Wir … wir haben ihn für Euch gehalten, mein Herr. Er trug Eure Rüstung, Euren Schild, Eure Beinschienen, Euren Helm. Er bewegte sich sogar wie Ihr.“
Achilles hörte nur halb zu, wollte nicht wirklich hören, was Eudoros ihm erklärte. Er holte aus und schlug den entsetzten Eudoros zu Boden.
„Wo ist er?“, fauchte er wutschnaubend. Briseis Schreckensruf nahm er ebenso wenig wahr, wie das Ächzen seines Hauptmanns.
„Wo?“
„Er ist tot, mein Herr … Hektor durchschnitt seine Kehle“, stammelte Eudoros, als er sich sandverklebt halb aufrichtete. Achilles wusste nicht wohin mit seiner Wut und Verzweiflung über diese furchtbare Nachricht. Im ersten Zorn warf er Eudoros wieder zu Boden und trat ihm auf die Kehle, dass der Mann schon fast erstickte.
„Nicht!“, schrie Briseis und warf sich ihm entgegen. Doch der Kriegerfürst fing sie mit der Linken an der Kehle ab. Wut verzerrte seine noch vor kurzem so zärtlich lächelnden Züge. Achilles drückte zu, warf die junge Frau zurück, die benommen in den Sand fiel. Brüsk wandte er sich ab, drängte sich durch seine schockierten Männer hindurch und ging ins Wasser, um sich abzukühlen – und wohl auch, um im ureigenen Element seiner Mutter Thetis Trost zu finden …
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Kapitel 28
Trauer und Vorahnung
Erneut war die Dunkelheit hereingebrochen. Seit dem Kampf im Morgengrauen war es auf beiden Seiten ruhig geblieben – allerdings nur äußerlich. Insbesondere Hektor und Achilles waren alles andere als ruhig.
Mit einer Fackel stürmte Hektor so eilig durch den Palast in Troja, dass seine Frau Andromache ihm kaum zu folgen vermochte. Er führte sie durch ein Labyrinth von Gängen immer tiefer hinunter in den Fels, auf dem die Akropolis von Troja gebaut war. Es waren geheime Gänge, deren Existenz Andromache bis zu diesem Moment nicht einmal geahnt hatte.
„Wohin führst du mich?“, fragte sie, als sie einen sehr tief liegenden Gang erreicht hatten. Kühl war es hier. Kühl, dunkel und feucht. Nicht umsonst lagerten hier große Amphoren, in denen Wein, Wasser und Oliven für Notfälle aufbewahrt wurden und durch die Kühle hier unten nahezu unbegrenzt haltbar waren. Leises Plätschern war ganz entfernt zu hören.
„Hast du dir den Weg gemerkt?“, fragte er, ohne auf die Frage seiner Frau einzugehen.
„Ja“, erwiderte sie. Er blieb an einer Holztür stehen, die mit Bronzebeschlägen zusammengefügt war. Die Tür wirkte ausgesprochen massiv. Er öffnete die Tür, dahinter wurde ein weiterer Gang sichtbar, der sich aber schon dadurch von den bisherigen Gängen unterschied, dass der Fels jenseits der Tür nur noch grob behauen war und nicht mehr so fein bearbeitet war wie die Gänge, die hier herunter führten. Diesseits der Tür waren aus dem blanken Fels Säulen herausgearbeitet, Bilder in die glatt geschliffenen Wände gemeißelt. Der Gang, der sich nun auftat, sah eher nach einer gewöhnlichen Höhle aus, in die nur einige trennende Mauern eingefügt worden waren, die aus glatt behauenen Quadern bestanden. Das Plätschern wurde lauter, kühler Wind strich durch den Gang.
„Wenn du das nächste Mal hierher kommst, folge dem Tunnel. Du wirst dich nicht verirren. Du musst einfach immer nur weiter gehen“, erklärte er.
„Wieso?“, fragte sie verwirrt. Ihr Mann ging auf ihre Frage nicht ein.
„Wenn du an sein Ende gelangst, bist du am Fluss. Du folgst dem Fluss bis hin zum Berg Ida. Die Griechen wagen sich nicht so weit ins Innere“, sagte er.
„Hektor!“, mahnte sie ihn, ihr zuzuhören, doch er hörte sie nicht. Er wollte ihr den besten und vielleicht einzigen Fluchtweg nahebringen, den es aus einem belagerten Troja noch geben konnte. Der Skamander, der vom Berg Ida herab floss, war der beste Wegweiser in die Sicherheit der Berge. Er war überzeugt, dass die Griechen am Hafen Trojas und an dem Handelsweg interessiert waren, weniger an den wenigen Schafen und Ziegen, die im Idagebirge unter der Obhut von Hirten lebten. Andromache verstand nicht, weshalb er sie in dieses Geheimnis einweihte. Wollte er denn nicht mitkommen?
„Warum sagst du mir das alles?“, erkundigte sie sich. Er kam aus dem Höhlengang zurück in den Burgkeller. Er wirkte jetzt sehr viel ruhiger als den Rest des vergangenen Tages, fand Andromache.
„Wenn ich sterbe …“, setzte er an.
„Nein!“, flüsterte sie entsetzt.
„… wenn es so sein sollte …“, fuhr er unbeirrt fort, „weiß ich nicht, wie lange die Stadt noch standhält. Wenn die Griechen die Mauern überwinden, ist es vorbei. Dann töten sie alle Männer, werfen die Babys von der Stadtmauer …“, fuhr er unbeirrt fort.
„Bitte!“, versuchte sie ihn zu unterbrechen, weil der Gedanke, Astyanax auf diese Weise zu verlieren, einfach unerträglich für die junge Frau war; aber er sprach weiter:
„… und nehmen die Frauen als Sklavinnen. Und für dich … wäre das schlimmer als der Tod“, vollendete er seine düstere Prophezeiung, die weit eher nach Kassandra denn nach Hektor klang.
„Warum redest du von solchen Sachen?“, fragte Andromache verstört.
„Ich will, dass du vorbereitet bist“, erwiderte er. „Ich möchte, dass du unseren Sohn holst und ihn hierher bringst. Rette so viele, wie du kannst, aber du kommst hierher und du fliehst!“, wies er sie an. „Hast du verstanden?“, fragte er hartnäckig nach. Zögernd nickte sie. Hektor senkte den Kopf, als ob er eine unendliche Last schleppte. Nach einer Pause sah er wieder hoch und sie bemerkte die schwere Last, die sich in seinen warmen, braunen Augen spiegelte.
„Ich … habe heute jemanden getötet – und er war jung. Viel zu jung“, gab er seine Last preis. Sie begriff, dass er glaubte, sich durch diese Tat den Zorn der Götter zugezogen zu haben. Tröstend streichelte sie sein Gesicht, das so voller Trauer war, wie sie es noch nie an ihrem Mann gesehen hatte.
Zur gleichen Zeit wurde für Patroklos eine feierliche Bestattungszeremonie gehalten. Achilles hatte der Tradition entsprechend als nächster Verwandter den Leichnam des jungen Mannes gewaschen, die Halswunde mit einem reinen Leintuch verbunden und den Toten in ein seinem Stand angemessenes, edles Gewand gekleidet. Jetzt lag Patroklos mit den Charons-Münzen auf den Augen auf der oberen Plattform eines zweistöckigen Holzgestells, die mit Erdharz präpariert war. Auf der Plattform darunter waren Holzbohlen und Reisig aufgeschichtet. Mit einem Blick, der seine ganze brüderliche und zugleich väterliche Liebe zu dem Gefallenen ausdrückte, nahm Achilles vorsichtig die Kette aus silbrig glänzenden Muscheln und Schneckenhäusern von Patroklos’ Hals. Fast schien es, als sei er besorgt, seinem Vetter im Tode noch Schmerzen zuzufügen, wenn er den Verband um dessen Halswunde auch nur berührte. Sorgsam steckte er die Kette ein – jene Kette, die seine Mutter eigentlich für ihn selbst gefertigt hatte, die Achilles aber Patroklos geschenkt hatte.
Er bewegte sich langsam. Jeder, der ihn kannte, wusste um seine Beweglichkeit und seine legendäre Schnelligkeit. Jetzt war davon nichts zu spüren, vielmehr wirkte er, als flösse kein Blut durch seine Adern, sondern zähes Pech. Odysseus und Briseis, die mit den Myrmidonen und Hunderten anderer Trauergäste unten an dem kleinen Hügel standen, der für den Scheiterhaufen aufgeworfen worden war, spürten, wie schwer es ihm fiel, von seinem geliebten Vetter Abschied zu nehmen. Er hatte gehofft, Patroklos würde sein Erbe als freier Fürst der Myrmidonen sein, wenn er selbst vor Troja fallen sollte. Achilles hatte nie damit gerechnet, dass Patroklos vor ihm selbst sterben würde.
Etwas abseits stand Agamemnon neben Nestor und Triopas und sah Achilles bei den feierlichen Vorbereitungen für die Bestattung zu.
„Dieser Junge hat in der Tat den Krieg für uns gerettet“, bemerkte der Mykener. Was er nicht bemerkte, waren die strafenden Blicke Nestors und Triopas’, die solche Bemerkungen bei einer Bestattungszeremonie für völlig fehl am Platze hielten.
Schweren Herzens stieg Achilles auf die Plattform darunter. Eudoros reichte ihm eine Fackel, die er nach kurzem Zögern in den Scheiterhaufen warf, der schnell aufflammte und wie ein Fanal die halbe Küste beleuchtete. Dann verließ er das brennende Gestell und gesellte sich zu den Trauergästen am Fuß des Sandhaufens.
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Kapitel 29
Racheschwur
Während Achilles mit versteinertem Blick zusah, wie der lichterloh brennende Scheiterhaufen in Asche versank, konnte Hektor oben in der Akropolis von Troja nicht schlafen. Ruhelos durchstreifte er seine Gemächer, immer bedacht, seine Frau und seinen Sohn nicht zu stören. Kurz vor dem Morgengrauen stand er vor der Wiege seines Söhnchens Astyanax. Der Kleine schlief zufrieden und ruhig in dem Bettchen, hatte den rechten Daumen in den Mund gesteckt und wäre durch nichts zu stören gewesen, wie der Vater erkannte. Sein Blick war voller Sorge um die Zukunft des kleinen Prinzen. Er selbst, so meinte Hektor bei sich, würde diese Zukunft nicht mehr mitgestalten können. Zu schwer wog der Umstand, dass er mit jemandem gekämpft hatte, der noch lange nicht reif gewesen war, in eine Schlacht mit einem so kampfstarken Krieger wie ihm zu gehen. Hektor fühlte sich schuldig und wusste nicht, wie er diese Schuld wieder gutmachen konnte.
Helena vermisste ihren geliebten Paris. In seinen Gemächern war er nicht. Zischende Geräusche vor der großen Loggia zum Hofgarten machten die junge Frau aufmerksam. Unten im Garten stand er und trainierte im Licht einer einzigen Kohlepfanne mit seinem Bogen. Er hatte ihn länger nicht benutzt – eigentlich kaum noch, seit er aus dem Idagebirge von den Hirten zurückgekehrt war. Doch er durfte feststellen, dass er nicht verlernt hatte, mit seiner Spezialwaffe umzugehen. Pfeil um Pfeil schoss er auf die im leichten Abendwind hängende und schwankende Strohpuppe ab – sie trafen alle auf der Fläche einer Hand in dem Bereich, in dem bei einem Menschen das Herz war.
Als er aus dem Idagebirge nach Troja heimgekommen war, hatte er dem Bogen eigentlich schon abgeschworen, obwohl er ihm gerade dort gute Dienste geleistet hatte und ihm den Ruf eines tapferen Beschützers der Hirten eingetragen hatte. Alexander hatten sie ihn genannt, Männerhilf*. Doch bei seiner Rückkehr hatten Vater und Bruder ihm klargemacht, dass er ein Prinz war und für einen Prinzen geziemte sich der Gebrauch einer Distanzwaffe nicht. Ein Prinz benutzte einen Speer oder kämpfte mannhaft mit dem Schwert. Doch aller Unterricht mit dem Schwert – sei es durch den Waffenmeister oder seinen Bruder Hektor persönlich – hatte bei Paris nichts gefruchtet. Nein, ein Schwertkämpfer war der jüngere Prinz Trojas nicht, das hatte er wirklich bitter begreifen müssen – und es war eine buchstäblich schmerzhafte Lektion gewesen, die Menelaos ihm erteilt hatte. Aber Paris war und blieb ein Bogenschütze, der sich durchaus mit den berühmten Bogenschützen seiner Heimatstadt messen konnte. Es war an der Zeit, fand er, dass er sich von diesem falsch verstandenen Ehrenkodex löste und selbst seinen Teil dazu beitrug, wenn es um Trojas Sicherheit ging – mit dem Bogen, der Waffe, die er wirklich beherrschte. Sobald seine Wunde verheilt war, würde er ebenso wie Hektor für Troja kämpfen, und er würde nie wieder rückwärts robben …
Im ersten Morgenlicht war der Scheiterhaufen verloschen. Nur noch leichte Rauchschwaden stiegen aus den verbrannten Überresten auf. Wieder hielt Achilles nachdenklich die Muschelkette seines gefallenen Vetters in der Hand. Er schwor bittere Rache für Patroklos’ Tod. Das würde Hektor büßen …
Noch bevor die Sonne über den Horizont stieg, wandte er sich von dem niedergebrannten Scheiterhaufen ab und kehrte zu seinem Zelt zurück. Eudoros saß davor, hatte offensichtlich auf seinen Herrn gewartet.
„Eudoros – ich brauche meine Rüstung!“, wies er den treuen Hauptmann an. Eudoros sprang auf und folgte seinem Herrn in dessen Zelt. Er hatte die Rüstung bereits repariert, gereinigt und auf einem Ständer bereitgelegt. Schweigend nahm Achilles Stück für Stück von dem Stummen Diener, legte den Panzer an, der im Brust- und Schulterbereich mit geschmiedeter, geschwärzter Bronze verstärkt war und ab dem Oberbauch aus zähem, schwarzem Leder bestand.
Zur gleichen Zeit legte auch Hektor oben in der Akropolis von Troja seine Rüstung an. Es war verblüffend, mit welchem Gleichklang die erfahrenen und großartigen Kämpfer die einzelnen Teile der Kampfrüstung anzogen – Beinschienen, Armschienen, Brustpanzer, Helm. Als letztes nahmen beide Speer und Schild.
Das ersten Strahlen von Apollons Sonnenwagen erreichten zuerst die hoch gelegene Akropolis von Troja. Hektor stand noch immer an der Wiege seines Sohnes. Er hatte Tränen in den Augen, als er die Sonne aufgehen sah und sie die sanfte Röte des ersten Lichtes in sein Gesicht zauberte. Der Thronfolger hatte zwar nicht die Gabe der Vorhersicht wie seine Schwester Kassandra, doch er war sicher, dass er die Sonne zum letzten Mal in seinem Leben im Diesseits aufgehen sah. Noch bevor sie unterging, so ahnte er, würde er am Styx stehen und auf den Fährmann warten. Schließlich riss er sich von dem friedlichen Bild seiner schlafenden Familie los, warf noch einen letzten Blick auf Frau und Sohn, dann ging er fort. Doch kaum hatte er das Gemach verlassen, als Andromache so weit erwachte, um aufzusehen, aber Hektor war bereits außer Sicht.
Achilles war ebenfalls fertig gerüstet. Eudoros brachte ihm den zweispännigen Streitwagen, ein Gefährt, das sein Herr eher selten benutzte. Zwei Rappen waren eingeschirrt und erwarteten die Befehle ihres Herrn. Der Kriegerfürst stieg auf den Wagen, Eudoros gesellte sich wie selbstverständlich hinzu. Achilles sah sich nur kurz um.
„Nein“, sagte er. Was er vorhatte, ging nur ihn selbst und Hektor von Troja etwas an. Achselzuckend stieg der treue Eudoros wieder vom Wagen herunter. Briseis kam aus dem Zelt und sah Achilles auf dem Streitwagen stehen. Seit er Patroklos die Bestattung ausgerichtet hatte, hatte er kein Wort mit ihr gewechselt. Sie lief eilig zu dem Wagen hin.
„Geh nicht!“, flehte sie. Er schien sie nicht zu hören.
„Seil!“, befahl er. Einer seiner Männer gab ihm das verlangte Seil, das der Kriegerfürst in seinem Streitwagen deponierte.
Sie sah eine kleine Chance, Hektor zu retten, wenn sie Achilles sagte, wer er war.
„Hektor ist mein Vetter! Er ist ein guter Mensch!“, beschwor sie den Mann, den sie liebte. „Kämpfe nicht gegen ihn! Bitte, tu es nicht! Bitte!“
Ihr flehentliches Bitten war vergebens. Achilles sperrte seine Ohren gegen ihr Flehen zu, schnalzte mit den Zügeln und fuhr an.
Wie jeden Morgen seit der Landung der Griechen versammelte sich der Hofstaat auf der Turmplattform neben dem Skäischen Tor. Glaukos, der alte General, war in Rüstung; die Priester in die üblichen, mit blauen Batikmustern geschmückten Himatia gekleidet. Velior, Priamos’ Ratgeber, der angenommen hatte, dass ein Grieche für zwei Trojaner zählte, kam langsam auf die Turmterrasse. Paris folgte ihm, ebenfalls in den blauen Chiton und den Himation mit Batikmustern gekleidet, die auf seinen Schultern jeweils nur mit einem einzigen Band geschlossen waren. Um den Hals trug der junge Prinz eine Kette, an der drei quadratische Anhänger aus gehämmertem Silber in knapp handbreiten Abständen befestigt waren. Solche Ketten waren die Amtszeichen der königlichen Räte Trojas. Auch die zum Rat gehörenden anderen Adligen und die in den Rat berufenen Priester trugen sie. Paris’ besorgter Blick, der das freie Feld absuchte, auf dem er sich drei Tage zuvor so fürchterlich blamiert hatte, fand einen einsamen Streitwagen mit zwei davor eingeschirrten dunklen Pferden, der eilig gen Troja fuhr. Er sah zu Hektor hinüber, der in voller Rüstung auf der anderen Seite des überdachten Thronsitzes neben seinem Vater stand.
Der Streitwagen hielt eineinhalb Stadia vor dem Skäischen Tor an. Der ältere Prinz sah nur Helm und Rüstung und wusste, dass Achilles gekommen war, um für seinen Vetter Rache zu nehmen.
Über ihm knarrten die ledernen Armschienenverschlüsse der Bogenschützen, als sie ihre Bogen spannten. Er hob den Arm.
„Nein!“, sagte er entschieden. Die Männer entspannten die Bogen und warteten achtsam, welche Befehle ihre Führer für sie hatten.
Achilles stieg von seinem Wagen und ging ein Stück von dem Wagen weg. Dort blieb er stehen, holte Luft und schrie:
„Hektoooor!“
Kurze Pause.
„Hektoooor!“
Wieder kurze Pause.
„Hektoooor!“
Er schnaufte tief durch, weil er zunächst nach Luft schnappen musste.
„Hektoooor!“
Hektor gab sich einen Ruck und drehte sich um. Langsam ging er zum Thronsitz seines Vaters auf der Turmterrasse und kniete vor dem König nieder.
„Vater … vergib mir meine … Fehler“, bat er mit gesenktem Kopf. „Ich habe dir gedient, so gut ich konnte.“
Priamos nickte, zog seinen Sohn an sich und küsste ihn auf die Stirn.
„Mögen die Götter mit dir sein“, sagte er. Hektor erhob sich und wollte gehen. Doch sein Vater stand von seinem Sitz auf und hielt ihn sanft am Arm fest.
„Hektor …“
Der Prinz blieb stehen und wandte sich wieder seinem Vater zu, der ihn an beiden Armen nahm und ihn mit einem väterlich-stolzen Blick bedachte.
„Kein Vater hatte je einen besseren Sohn!“, sagte der König. Rührung schwang in der Stimme des alten Mannes. Mit einem dicken Kloß im Hals wandte Hektor sich ab und ging langsam zum Abgang der Turmterrasse, vorbei an den dort versammelten Höflingen. Glaukos, der alte General, straffte sich, als Hektor vor ihm stehen blieb.
„Apollon schütze Euch, mein Prinz!“, sagte er. Hektor legte Glaukos eine Hand auf die Schulter, als sei es der alte General, der in den Kampf ging und nicht er selbst. Er nickte und ging weiter zu Paris, der dem Treppenhaus am nächsten war, und blieb vor seinem Bruder stehen. Paris sah zu ihm hoch.
„Es gibt keinen besseren Menschen als dich“, sagte der junge Mann mit sichtbarer Nervosität. Hektor rang sich ein trübes Lächeln ab.
„Du bist ein Prinz Trojas“, sagte er bestimmt und umarmte den Jüngeren. „Ich weiß, du wirst mich stolz machen“, setzte er mit einer Zuversicht hinzu, die Paris noch nicht teilen mochte. Hektor nahm das Gesicht seines Bruders in die Hände und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann schob er sich an ihm vorbei ins Treppenhaus. Der Jüngere sah ihm kurz nach. Unsicherheit spiegelte sich in seinen ebenmäßigen Zügen, Nervosität, Schuldbewusstsein und auch Angst. Angst vor der ungeheuren Verantwortung, die Hektor ihm gerade übertragen hatte. Paris war nicht sicher, ob er den Platz seines Bruders überhaupt einnehmen konnte – ausfüllen konnte er ihn nie, dessen war er sich bewusst. Diese Sandalen waren eindeutig zu groß für ihn …
Hektor ging die Stufen hinab, über die hölzerne Brücke zu der Treppe, die zum Tor hinunter führte. Andromache kam mit Astyanax auf dem Arm die Treppe in diesem Moment hoch. Er umarmte beide.
„Du vergisst nicht, was ich dir gesagt habe!“, mahnte er. Sie schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Du musst nicht gehen! Geh nicht!“, flehte sie ihn an. Er wehrte sich gegen das Flehen seiner Frau.
„Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe!“, wiederholte er lauter. Dann nahm er sein Söhnchen auf den Arm, küsste den Kleinen zärtlich auf die Stirn und umarmte seine schluchzende Frau.
„Hektoooor!“, brüllte Achilles erneut.
Der trojanische Prinz wandte sich ab und sprang eilig die Treppe hinunter, um nicht in Versuchung zu geraten, doch zu bleiben. Astyanax fing an zu weinen, so dass Andromache Mühe hatte, ihn wieder zu beruhigen.
„Hektoooor!“
Hektor trat aus dem Treppenhaus. Die Soldaten, die am Tor wachten, hoben den schweren Sperrbalken aus den Widerlagern. Er sah sich um und bemerkte Helena, die ganz allein auf der Straße stand. Er sah sie schweigend an. Helena erfasste ein ähnlich greifbares Schuldgefühl wie Paris oben auf der Terrasse.
ΩΩΩ
Kapitel 30
Kampf der Giganten
Das Tor öffnete sich, als etwa zehn kräftige Männer an den Seilen zogen, mit denen die Tormechanik bedient wurde. Hektor setzte den Helm auf und trat hinaus. Er hatte kaum die Stadtgrenze passiert, als die Männer das Tor wieder schlossen. Hektor war mit seinem Kontrahenten allein. Er konnte es nicht sehen, doch er spürte instinktiv, dass seine Familie an die Zinnenbrüstung getreten war, um zu sehen, was dort unten vor dem Tor geschah.
„Diesen Augenblick habe ich in meinen Träumen gesehen …“, sagte Hektor. Er hatte es gesehen – und jetzt war es Realität. Er erkannte, dass nur einer von beiden diesen Kampf lebend überstehen würde. Doch er wollte eine Feindschaft über den Tod hinaus vermeiden. Er selbst hätte nie daran gedacht, den Toten nicht zu ehren, aber wie Achilles darüber dachte, dem die Wut aus den Augen schaute, war eine andere Frage.
„Ich schließe einen Pakt mit dir: Mögen die Götter unsere Zeugen sein, wenn wir geloben, dass der Gewinner dem Verlierer alle Bestattungsrituale gewährt“, sagte er. Achilles schnaubte verächtlich.
„Es gibt keinen Pakt zwischen Löwen und Menschen!“, fauchte er und rammte den Speer mit der Spitze in die Erde. Dann nahm er den Helm ab und schüttelte die schulterlangen, blonden Haare aus.
„Jetzt weißt du, gegen wen du kämpfst!“, knurrte der Pelide und wies mit dem Helm zu Hektor, bevor er ihn beiseite warf. Hektor nahm gleichfalls den Helm ab und warf ihn weg. Er fand es nicht passend, einen besseren Schutz zu haben als sein Gegner.
„Ich dachte gestern, du wärst es, gegen den ich kämpfte – und ich wünschte, du wärst es gewesen“, erwiderte der Trojaner. „Doch ich erwies dem toten Jungen die letzte Ehre“, versetzte er.
„Du hast ihm die Ehre deines Schwertes erwiesen!“, fuhr Achilles ihn an. „Deine Augen reiß’ ich dir ‘raus, deine Ohren, deine Zunge! Du wirst blind, taub und stumm durch die Unterwelt wandeln und alle Toten werden wissen: Das ist Hektor, der Narr, der glaubte, er hätte Achilles getötet!“
Hektor fühlte sich wegen des Todes dieses Jungen schuldig. Er konnte nicht wissen, was Achilles einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte: Dass Achilles’ eigene Leute Patroklos für ihren Fürsten gehalten hatten! Wenn schon seine eigenen Männer so genarrt worden waren, wie sollte es nicht jemand sein, der ihn nur wenig kannte? Doch diesen Gedanken ließ Achilles in seiner bitteren Trauer um den gefallenen Vetter und seinem unbändigen Rachedurst nicht zu. Er wusste nur, dass Hektor seinen jungen Vetter getötet hatte – alles andere zählte nicht für ihn. Er riss den Speer wieder aus dem Boden und lief auf Hektor zu, der ihm entgegen kam.
Kurz bevor sie zusammenprallten, tänzelten die Kämpfer, versuchten, den Gegner zu täuschen und wichen doch zur richtigen Seite hin aus. Achilles zielte mit dem Speer auf Hektors rechte Seite, aber der Trojaner konnte ausweichen. Achilles’ sofort folgenden Hieb mit dem Schild konnte Hektor abfangen und geriet nur kurz ins Straucheln.
Paris sah sich um. Sein Blick fand Helena, die dicht neben ihm stand. Die jungen Leute tauschten einen viel sagenden Blick voller Sorge. Paris war sicher, dass er nicht auf den Beinen geblieben wäre, hätte Achilles ihm den Schild derart um die Ohren geschlagen wie eben seinem Bruder. Seine Besorgnis über den Ausgang des Kampfes stieg. Dabei hatten die Kämpfer sich eben nur abgetastet …
Achilles drehte sich geschickt vor einem Hieb Hektors weg und sprang ihn an wie eine Wildkatze – doch seinen gefürchteten Sprungstich fing Hektor elegant mit dem Schild ab. Andromaches Züge versteinerten sich, als sie sah, mit welchen Mitteln die beiden Kämpfer zehn Klafter tiefer auf dem Boden vor dem Tor rangen.
Achilles griff wieder im Vorwärtsgang an und zielte mit dem Speer diesmal auf Hektors linke Seite, scheiterte aber an dessen geschickter Abwehr. Der trojanische Prinz verfolgte durchaus jene Strategie, die er Paris empfohlen hatte: Er wollte Achilles sich müde toben lassen. Doch Achilles war nicht Menelaos; er kannte diesen Trick und neutralisierte ihn mit einer Serie von Drehungen, denen Hektor aber standhalten konnte. Sie fochten in wirbelnden Drehungen, denen die Zuschauer oben auf der trojanischen Stadtmauer kaum folgen konnten. Sie fochten heftig mit den Speeren. Achilles konnte sich vor einem Hieb Hektors gerade noch ducken, kam aber schnell wieder hoch und schlug seinerseits mit dem Schild zu.
Hektor tauchte ebenfalls weg und schlug Achilles im Hochkommen fast den Speer aus der Hand. Achilles konnte ihn mit Mühe halten, hatte ihn aber hinter dem Kopf. Jeder andere hätte damit ein echtes Problem gehabt – aber nicht Achilles. Mit dem Speer quer hinter dem Kopf, stabilisiert in der halbrunden Ausbuchtung seines Schildes, stach er erneut zu. Hektor konnte den Stich parieren und den Speer einklemmen. Doch Achilles schlug mit der scharfen Kante seines Schildes zu und zerbrach damit Hektors Speer.
Für den Moment war der Thronfolger Trojas waffenlos. Doch so wie Achilles seinen Schild auch als Waffe einsetzen konnte, vermochte auch Hektor, dies zu tun. Mit dem beidhändig gehaltenen Schild wehrte er geschickt Achilles’ Speerhiebe damit ab, klemmte schließlich dessen Speer am Boden fest und konnte ihn ebenfalls zerbrechen. Mit einer fließenden Bewegung zog er gleichzeitig sein Schwert und schlug noch aus dem Zug heraus zu. Achilles konnte gerade noch ausweichen, sein eigenes Schwert ziehen und den nächsten Hieb des Trojaners parieren. Ein wilder Schlagwechsel folgte, bei dem beide Kämpfer ihre ganze Beweglichkeit und Geschicklichkeit ausspielten. Immer eines Angriffs gegen den Rücken gewärtig, deckte Achilles sich dort mit dem Schild.
Hektor taumelte nach einem heftigen Angriff des Peliden zurück, Achilles erstarrte kurz wie eine lauernde Katze in einer tiefen Angriffsposition. Dann griff Hektor wieder mit einer wirbelnden Drehung an, die Schwerter prallten klirrend an den Schilden ab. Achilles gelang es, Hektor mit dem Ellenbogen einen gezielten Kinnhaken zu verpassen, dass dieser zurücktaumelte. Erneut setzte Achilles zu seinem legendären Stichsprung an, doch Hektor hatte sich rechtzeitig gefangen und konnte den von oben her geführten Stich wiederum mit dem Schild abwehren.
Paris’ Sorge um seinen älteren Bruder wuchs von Augenblick zu Augenblick. Dem Jüngeren war völlig klar, dass sein großer Bruder dort unten nur deshalb um sein Leben kämpfte, weil er, Paris, einen buchstäblich folgenschweren Fehler begangen hatte, als er Helena zur Reise nach Troja überredet hatte. Schuldbewusstsein stand in seinem Gesicht wie in einer offenen Schriftrolle. Die Schrammen an der Nase und über dem rechten Jochbein, die er aus dem Kampf mit Menelaos im Gesicht davongetragen hatte, unterstrichen diesen Eindruck nur.
Hektor und Achilles lieferten sich weiterhin einen nahezu ausgeglichenen Kampf, bei dem keiner einen wirklichen Vorteil erzielen konnte. Dann gelang es Hektor, die Deckung des Griechen aufzureißen und einen mächtigen Hieb seines Schwertes ins Ziel zu bringen. Achilles konnte sich in diesem Augenblick nur zu seinem handwerklich erstklassigen Harnisch beglückwünschen, der zwar nur Schultern und die Brust deckte, dafür aber aus einem durchgehenden Stück gefertigt war. Hektors harter Schlag hinterließ bei diesem Massivharnisch nur eine tiefe Schramme quer über die Herzgegend – einen aus Plättchen hergestellten Harnisch, wie Hektor selbst einen trug, hätte dieser Hieb gnadenlos aufgerissen und den Träger tödlich verwundet. Beide Kämpfer keuchten vor Anstrengung und machten eine kurze Pause, in der sie sich eher lauernd umkreisten. Dieser Kampf forderte ihnen wirklich alles ab. Dann griff Hektor erneut an, stach zu; doch Achilles konnte den Stich abwehren und das Schwert seines Gegners einklemmen.
Oben auf der Terrasse wurde auch der Blick des Königs von Troja immer besorgter. So, wie es von dort aussah, hatte Achilles die größeren Reserven, während Hektors Bewegungen langsamer wurden.
Achilles verdrehte Hektor den Schwertarm, doch gelang es Hektor, sich aus der Verdrehung heraus zu winden. Dabei übersah er einen unscheinbaren Stein, über den er der Länge nach hinschlug.
Andromache konnte nicht mehr hinsehen. Sie sank an der Zinne herunter und blieb auf dem Boden der Turmterrasse sitzen. Auch Helena konnte dem tödlichen Ringen unten vor dem Tor nicht mehr zusehen und wandte sich schaudernd ab. Sie sah, dass ihre Schwägerin zusammengesunken an der Zinnenmauer hockte und ging zu ihr. Nur zu gut konnte sie nachempfinden, wie es Andromache gehen musste, wenn sie den von ihr geliebten Mann in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt sah.
„Steh’ auf, Prinz von Troja!“, grollte Achilles. „Ich lasse mir meinen Ruhm nicht von einem Stein stehlen!“
Mit einer Verachtung ausdrückenden Geste warf er den Schild in unerreichbare Entfernung. Hektor robbte zu seinem Schwert, das er verloren hatte und kam sich im Augenblick auch nicht besser vor als Paris, als der drei Tage zuvor am Boden gelegen hatte. Hektor hatte allerdings den Vorteil, noch unverletzt zu sein. Er erreichte das Schwert, fand gleich daneben noch den Stumpf seines Speers und sprang, beide Waffen in den Händen, wieder auf.
Der Kampf ging weiter, aber Hektor keuchte jetzt heftig und machte einen erschöpften Eindruck, während Achilles nicht mal zu schwitzen schien. Achilles stieß Hektor mit der freien Linken von sich weg, Hektor taumelte benommen, fing sich aber und griff erneut an. In dem wirbelnden Schlagwechsel gelang es Achilles, Hektors Deckung aufzureißen – und ihm den Speer in die linke Brustseite zu rammen. Hektor sank keuchend und um Atem ringend in die Knie.
Oben auf der Turmterrasse waren alle Anwesenden wie erstarrt. Priamos hatte einen Ausdruck im Gesicht, als ob der Speer ihn selbst getroffen hatte. Jegliche Farbe wich aus den Gesichtern des Königs und seines jüngeren Sohnes, der nicht weniger geschockt war.
Hektors Wunde war tödlich, das wusste der Getroffene selbst. Nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen hob er mühsam den Kopf und sah Achilles an, der in diesem Moment sein Schwert mit beiden Händen packte, Maß nahm und es Hektor mitten durch den Harnisch in die Brust stieß. Die Bronzeplättchen, die Rand an Rand befestigt den eigentlichen, ledernen Harnisch verstärken sollten, waren nicht stark genug, einen solchen Stich abzufangen. Der Stich traf Hektor ins Herz, zerfetzte es. Der Prinz war auf der Stelle tot und kippte um wie ein gefällter Baum, als Achilles die Klinge zurückriss.
Die plötzliche Stille nach dem metallischen Knirschen bewirkte bei Andromache die grausame Gewissheit, dass ihr geliebter Mann, der Vater ihres Sohnes, tot war. In diesem Moment wollte sie auch nicht mehr leben und stieß mit dem Hinterkopf immer wieder gegen die Mauer, an der sie lehnte. Helena umarmte die Schwägerin tröstend, aber Andromache schien es nicht wahrzunehmen.
Starr vor Entsetzen sahen die Trojaner oben auf der Mauer, dass Achilles zu seinem Streitwagen ging, ein Seil nahm, es am Wagen befestigte, es Hektor um die Fußgelenke schlang, in den Wagen stieg und mit herausforderndem Blick zu den schockierten Trojanern davonfuhr, den toten Hektor hinter sich her schleifend. Priamos verzog schmerzvoll das Gesicht und sackte Glaukos ohnmächtig in die Arme.
Niemand, der auf der Mauer von Troja Zeuge dieses Aktes von Leichenschändung wurde, konnte sich erinnern, dass jemals ein siegreicher Krieger seinem besiegten Kontrahenten so etwas angetan hatte. Dennoch wagte niemand, Achilles aufzuhalten oder den Bogenschützen den Befehl zu geben, den Thronfolger auf der Stelle zu rächen. Die Trojaner achteten die Regeln des Zweikampfes – und danach hatte der Sieger freies Geleit. Doch selbst, wenn dies nicht so gewesen wäre: Fast alle standen derart unter Schock, dass keiner auf die Idee kam, den Bogenschützen einen entsprechenden Befehl zu geben. Paris, der sich noch am schnellsten fing, sah hilflos zu Glaukos. Er hätte gern den Befehl gegeben, aber er traute sich nicht. Zu viel Unheil war schon geschehen, weil er spontan und ohne nachzudenken gehandelt hatte …
Aber dass die Trojaner Achilles nicht daran hinderten, wegzufahren, bedeutete nicht, dass sie nicht Rache für diese Untat wollten. Paris’ Blick verfinsterte sich, als er wieder hinunter sah. Achilles sollte ihm nicht wieder über den Weg laufen – der Pelide würde eine Begegnung mit ihm nicht überleben, schwor er schweigend und nahm Apollon, den Schutzpatron der Bogenschützen, zum Zeugen für seinen Schwur…
ΩΩΩ
Kapitel 31
Väterliche Liebe
Unbehindert erreichte Achilles wenig später das Lager der Myrmidonen. Die Männer waren grimmige Krieger, aber auch sie hatten noch nie gesehen, dass einer aus ihren Reihen – und schon gar nicht Achilles selbst – so mit einem gefallenen Gegner umgegangen war. Entsetzt gingen sie beiseite, mieden ihren Fürsten, als ob sie fürchteten, dem Fluch der Götter zu verfallen, wenn sie auch nur in der Nähe standen.
Achilles kam zu seinem Zelt, sprang vom Wagen, knüpfte Hektors Leichnam ab und schleifte ihn in den Schatten hinter seiner Jurte, ließ ihn dort einfach fallen. Dann trat er in das Zelt. Briseis sah ihn kommen und brach in bittere Tränen aus. Wenn Achilles den Kampf lebend überstanden hatte, musste Hektor tot sein. Er sagte kein Wort, wusch sich schweigend den Schweiß vom Körper.
Sehr viel später – es war bereits wieder dunkel – hatte Briseis sich die Augen leer geweint. Sie hatte keine Tränen mehr. Noch immer saß sie in Achilles’ Zelt, versunken in ihrer Trauer. Er schliff schweigend sein Schwert nach, das bei dem Kampf mit Hektor einige Scharten bekommen hatte.
„Du hast deinen Vetter verloren – jetzt hast du mir meinen genommen“, brach sie schließlich das bittere Schweigen. „Wann endet das alles?“
Er hielt in seinem Schleifen nicht inne, doch es schien, als schliffe er nicht sein Schwert, sondern sei mit seinen Gedanken ganz woanders, vielleicht am Styx, wo Patroklos möglicherweise schon übersetzte, während Hektor noch auf sein Fahrgeld wartete.
„Es endet nie“, sagte er bitter. Ihm wurde langsam klar, dass Hektors Tod am Tod Patroklos’ gar nichts geändert hatte. Sein Vetter war immer noch tot. Die Trauer um seinen jungen Schüler war auch nicht geringer geworden dadurch, dass er den Mann getötet hatte, der Patroklos getötet hatte. Briseis bemerkte seine Gedankenverlorenheit nicht und verließ das Zelt. Draußen, auf dem Strand ließ sie sich am Meeressaum nieder und sah hinaus auf das mondbeschienene Meer. Artemis, Apollons Schwester, wachte als Mondgöttin über die Nacht und verlieh Poseidons Reich einen silbernen Glanz – doch Briseis nahm die Schönheit der mondhellen Nacht nicht wahr.
Achilles hatte sein Schwert fertig geschliffen und beiseite gelegt. Nun saß er einsam und verlassen in seinem Zelt und grübelte über die Geschehnisse der letzten beiden Tage nach. Ein Geräusch störte ihn aus seinen Gedanken auf. Am Zelteingang erschien die vermummte Gestalt eines Mannes. Er trat in das Zelt und schlug die Kapuze zurück. Er war ein alter Mann mit weißem Haar, weißem Bart und dürren Händen. Zu Achilles’ Verblüffung warf sich der alte Mann ihm zu Füßen, nahm seine Hände und küsste sie bedächtig.
„Wer bist du?“, fragte der Myrmidonenfürst verstört. Der Alte sah ihn aus müden, blauen Augen an. Trüb und voll tiefer, bitterer Trauer waren diese Augen.
„Ich … habe erduldet, was noch kein Mensch auf Erden vor mir erdulden musste. Ich küsse die Hände des Mannes, der meinen Sohn getötet hat“, sagte er mit brüchiger Stimme.
„Priamos?“, stieß Achilles hervor. Wäre Zeus’ Donnerkeil vor ihm in das Zelt gefahren, der Pelide hätte nicht erschrockener sein können.
„Wie kamst du hier herein?“, fragte Achilles erschrocken.
„Ich glaube, ich kenne mich in meinem eigenen Land besser aus als die Griechen“, erwiderte der König mit dem Anflug eines Schmunzelns.
„Du bist ein mutiger Mann“, räumte Achilles bewundernd ein. „Ich könnte dir jetzt im Handumdrehen den Kopf abschlagen, wenn ich wollte.“
Priamos rappelte sich aus seiner unterwürfigen Haltung auf und setzte sich mithilfe des Hausherrn auf einen Hocker.
„Glaubst du wirklich, dass der Tod mir jetzt noch Angst macht? Ich habe meinen ältesten Sohn sterben sehen. Ich sah, wie du seinen Leichnam hinter deinem Wagen her geschleift hast. Gib ihn mir zurück, meinen Sohn“, flehte Priamos. „Er hat eine angemessene Bestattung verdient. Du weißt das. Gib ihn mir zurück.“
Achilles fuhr herum, als habe ihn die Schlange des Asklepios gebissen.
„Er hat meinen Vetter getötet!“, entgegnete er scharf. Nein, Hektor hatte seiner Ansicht nach ganz bestimmt keine angemessene Bestattung verdient!
„Er hat gedacht, du wärst es“, stellte Priamos klar. „Sag’ mir: Wie viele Vetter hast du getötet? Wie viele Söhne und Väter, Brüder und Ehemänner? Wie viele, tapferer Achilles?“, konterte er dann. Der Stich saß tiefer, als der Pelide sich im Augenblick eingestehen wollte.
„Ich kannte deinen Vater“, fuhr der Trojaner fort. „Er starb vor seiner Zeit, doch hatte er Glück, nicht lange genug zu leben, um den Tod seines eigenen Sohnes mit anzusehen …“
Priamos rückte näher zu Achilles, der sich geradezu angewidert und peinlich berührt wieder von dem alten Mann absetzte.
„Du hast mir alles genommen: meinen ältesten Sohn, den Erben meines Thrones, den Beschützer meines Reiches. Was geschehen ist, kann ich nicht ändern. Es ist der Wille der Götter. Aber gewähre mir diese kleine Gnade“, bettelte Priamos. „Ich habe ihn geliebt von dem Moment, in dem er seine Augen öffnete, bis zu dem Augenblick, da du sie geschlossen hast … Gestatte mir, seinen Leichnam zu waschen, die Gebete für ihn zu sprechen. Lass mich zwei Münzen auf seine Augen legen für den Fährmann.“
Achilles wurde nachdenklich. In seinem rasenden Zorn hatte er die Drohung wahrgemacht, Hektor Augen und Zunge herauszureißen und ihm die Ohren abzuschneiden. Jetzt bereute er, dies getan zu haben.
‚Warum?‘, begann er sich nun zu fragen. Die Antwort, die er sich gab, erschreckte ihn: Hektor hatte ihm mit diesem Kampf viel Respekt abgenötigt, sehr viel mehr, als er sich bis jetzt hatte eingestehen wollen. Er ließ langsam die Erkenntnis zu, dass Priamos Recht hatte.
„Wenn ich dich hier fortlasse und du ihn mitnimmst, ändert das nicht das Geringste. Morgen früh wirst du immer noch mein Feind sein“, versuchte er eine letzte Abwehr des Ansinnens. Priamos lächelte sanft.
„Du bist heute Abend noch mein Feind“, erinnerte er. „Aber auch Feinde können Respekt voreinander haben.
Achilles hatte dem nichts mehr entgegenzusetzen oder hinzuzufügen. Er erhob sich.
„Ich bewundere deinen Mut“, sagte er leise und anerkennend. Sein unbändiger Zorn auf die Trojaner allgemein, der sich aber ausschließlich auf den unglücklichen Hektor konzentriert hatte, war mit einem Schlag wieder verflogen. Er stand wieder dort, wo er nach der ersten Nacht mit Briseis gestanden hatte: schon halb auf der Seite der Trojaner. Nein, er konnte sie endgültig nicht mehr wirklich als Feinde betrachten.
„Warte einen Moment, dann folge mir“, bat er Priamos und ging mit schweren Schritten hinaus.
Draußen kniete er neben Hektors sorgsam verpacktem Leichnam nieder, wickelte ihn aus der schützenden Decke aus und betrachtete den Toten im hellen Mondlicht. Hektors Gesicht war von Sand und Blut verkrustet, Folgen des wahnsinnigen Blutrausches von Achilles nach dessen Rückkehr in sein Lager; dennoch strahlte selbst der tote und derart geschändete Hektor Frieden aus – und die Gewissheit, für die richtige Sache gekämpft zu haben: Für sein Land und seine Familie. Achilles wurde schmerzhaft bewusst, dass er nicht einmal ahnte, welches Glück er mit seiner bitteren Rache zerstört hatte. Hektor lag da, als ob er schlief, die Lider über den leeren Augenhöhlen geschlossen. Nur die Tatsache, dass getrocknetes Blut das schlafende Gesicht befleckte, zeugte davon, mit welcher Gewalt das Leben aus diesem toten Körper gerissen worden war. Achilles war es, als sähe er den Leichnam zum ersten Mal. Und was er sah, ließ ihn tiefe Trauer empfinden. Er verfluchte seinen Blutrausch, der Hektor letztlich das Leben gekostet hatte. Nichts wäre ihm lieber gewesen, als den Tod Hektors rückgängig machen zu können – doch Hektor würde genauso tot bleiben wie Patroklos … Achilles brach in bittere Tränen aus und beweinte Hektor mit ehrlicher Trauer.
„Wir sehen uns wieder, mein Bruder“, schluchzte er. Ja, Hektor würde ihn am Styx erwarten, aber nicht, weil Achilles ihm die ihm zustehende Bestattung verweigert hatte. Hektor würde als Bruder im Geiste auf ihn warten … Und er würde Achilles als Führer in der Unterwelt brauchen – taub, stumm und blind durch Achilles’ Raserei. Achilles würde dafür sorgen, dass Hektor in der Unterwelt nicht noch mehr Unrecht geschah, als er ihm schon in der Welt der Lebenden angetan hatte.
Er raffte sich auf und winkte einige seiner Männer zu sich, die ihm halfen, den Leichnam zu verpacken und in Würde auf einem Streitwagen zu befestigen, damit Priamos seinen toten Sohn heimbringen konnte. Es war der Wagen, mit dem Achilles Hektor so roh in sein Lager geschleift hatte.
Priamos hatte eine Weile gewartet und war dem Peliden dann hinaus auf den Strand gefolgt. Gerade packten Achilles und Eudoros Hektors Leichnam auf den Wagen. Der Kriegerfürst bemerkte den alten König und kam zu ihm.
„Dein Sohn war der Beste, gegen den ich je kämpfte …“, sagte er langsam. Beinahe hätte er hinzugesetzt, dass es ihm Leid tat, Hektor getötet zu haben. Rückgängig zu machen war dieser Umstand nicht, aber er konnte wenigstens eine würdige Totenzeremonie zulassen.
„In meinem Land dauern die Totenfeiern zwölf Tage“, sagte er schließlich. Priamos lächelte sanft.
„In meinem Land ebenfalls“, erwiderte er. Innerlich schüttelte Achilles nur noch den Kopf. Trojaner und Griechen waren sich nicht fremd – sie hatten dieselben kulturellen Wurzeln, sie verehrten dieselben Götter, sie sprachen dieselbe Sprache. Warum nur war er Agamemnons Ruf gefolgt?
„Diese Ehre wird dem Prinzen gewährt“, sprach der Myrmidonenfürst weiter. „Kein Grieche wird Troja für zwölf Tage angreifen“, sagte er dann zu.
Im selben Moment kam Briseis zwischen den Zelten hervor und sah ihren Onkel bei Achilles stehen. Priamos hörte den leisen Schritt und wandte sich ihr zu.
„Briseis!“, entfuhr es ihm ebenso erleichtert wie verwundert. Die junge Frau lief zu ihm und fiel ihm in die Arme. Priamos herzte die verloren geglaubte Nichte, drückte sie fest an sich.
„Wir glaubten, du wärst tot!“, schluchzte er mit nur mühsam unterdrückten Tränen. Briseis’ Blick fiel auf Achilles.
„Du bist frei“, sagte der Pelide leise. Sie befreite sich vorsichtig aus der Umarmung ihres Onkels und ging schweigend zu Achilles, hin und her gerissen von ihren eigenen Gefühlen, die zwischen der Liebe zu dem Myrmidonenfürsten und der Liebe zu ihrem Land heftig schwankten. Es wäre ihr am liebsten gewesen, wäre Achilles jetzt mit nach Troja gekommen. Er lächelte sie sanft an.
„Hab’ ich dir wehgetan … dann tut es mir Leid“, bat er sie um Verzeihung. Er holte die Muschelkette hervor, die er dem toten Patroklos abgenommen hatte und legte sie ihr als Abschiedsgeschenk in die Hand. Wie zur Bestätigung eines Bundes zwischen ihnen verschloss er ihre kleine Hand mit seinen beiden Händen, Briseis tat es ihm gleich und legte ihre freie Hand auf die seinen. Es war ihr schweigendes Versprechen, einander zu gehören, wenn die Götter es wollten und einen Frieden zuließen, den sie beide erleben konnten.
„Geh!“, flüsterte Achilles vertraulich, sehr versucht, sie zu küssen. Lauter setzte er hinzu:
„Niemand hält euch auf. Ihr habt mein Wort.“
Priamos stieg in den Wagen und hielt Briseis seine Hand hin.
„Komm, mein Kind“, sagte er. Noch zögernd, den Blick nicht von Achilles wendend, stieg Briseis zu ihrem Onkel auf den Wagen.
„Du bist ein weit besserer König als der, der diese Armee anführt“, sagte Achilles dann an Priamos gewandt. Er war sehr nahe daran, dem König von Troja samt seinen Myrmidonen zu folgen …
Priamos schnalzte mit der Zunge und trieb das Pferd an. Der Wagen verschwand in der Dunkelheit. Niemand hielt ihn auf, niemand folgte ihm.
ΩΩΩ
Kapitel 32
Listenreicher Odysseus
Agamemnon stampfte durch sein Schiffszelt wie ein zorniger Bär durch den Bergwald.
„Achilles … schmiedet einen Pakt!“, fauchte er wie ein wütender Löwe. „Und ich soll mich daran halten!? Hochverrat ist das! Mit dem feindlichen König zu paktieren, ihm zwölf Tage Frieden zu gewähren! Frieden! Frieden! Ihr Prinz ist tot, ihre Armee ist führerlos! Das ist der Zeitpunkt anzugreifen!“, schnaubte er.
„Selbst, wenn Hektor tot ist, ist es für uns unmöglich, ihre Mauern zu durchbrechen. Sie würden zehn Jahre warten können, bis wir gehen“, gab Nestor zu bedenken, in der Hoffnung, den Zorn des Großkönigs damit zu besänftigen. Doch Agamemnon war so in Fahrt, dass er die weise Bemerkung nicht einmal wahrnahm.
„Ich mache ihre Mauern dem Erdboden gleich!“, schrie er. „Und wenn es mich vierzigtausend Griechen kostet!“, drohte er dann. „Hör’ mich an, Zeus: Ich werde ihre Mauern bis auf die Grundfesten niederreißen!“, schwor er beim Göttervater.
Nestor, Triopas und Odysseus sahen sich betroffen an. Letztlich waren es ihre Leute, die den Blutzoll entrichten sollten, den Agamemnon gerade gefordert hatte – ganz abgesehen davon, dass vierzigtausend Griechen mit einiger Sicherheit die gesamte noch vorhandene Armee Agamemnons ausmachten. Agamemnon hatte gegenüber Hektor selbst erwähnt, dass er sämtliche Krieger Griechenlands an Trojas Küste geführt hatte. Anscheinend hatte er das inzwischen vergessen. Wer sollte Griechenland vor äußeren Feinden schützen, wenn es keine kampffähigen Männer mehr gab? Nein, mit Belagerung und wildem Anrennen waren diese Mauern nicht einzunehmen. Hier half nur noch List. Und wenn es jemanden gab, der mit List umzugehen verstand, dann war es Odysseus. Unausgesprochen verständigten sich die drei Männer, dass Odysseus einen Plan entwerfen sollte, wie sie Troja einnehmen konnten, ohne dass Griechenland danach keine kampffähigen Männer mehr hatte … Immerhin gelang es ihnen, Agamemnon klarzumachen, dass es besser war, die Zeit des von Achilles gewährten Friedens zu nutzen, um einen weniger kräftezehrenden Plan zu schmieden.
Grübelnd ging Odysseus zu seinen Leuten und ließ sich dort am Feuer nieder. Während er noch überlegte, wie man es am klügsten anstellte, mit möglichst geringen Verlusten nach Troja hineinzukommen, fiel sein Blick auf ein kleines Holzpferd, das einer seiner Männer schnitzte.
„Das ist gut“, lobte Odysseus die kunstvolle Arbeit. Der Mann lächelte versonnen.
„Für meinen kleinen Sohn zu Hause“, erwiderte er. Ihm war anzusehen, dass er sich sehr danach sehnte, den Kleinen bald wieder in seinen Armen zu halten. Odysseus verstand ihn gut. Auch er hatte einen kleinen Sohn, Telemachos, der bei seiner Frau Penelope auf seinen Vater wartete, den er noch kaum kannte. Der Junge war erst kurz vor Odysseus’ Abreise nach Larissa geboren worden. Auch Odysseus hatte Sehnsucht nach Frau und Kind.
‚Ein Pferd …’, dachte Odysseus bei sich. ‚Ideales Transportmittel … Dem Poseidon heilig – er schützt jeden braven See- und Reitersmann … Das ist es!’, durchzuckte es den klugen König.
In Troja erreichten die Feiern zu Ehren des gefallenen Prinzen Hektor ihren Höhepunkt mit der Bestattung des Toten. Auf der Agora vor dem Tempel Poseidons war das Holzgestell für die Verbrennung aufgebaut. Wie Priamos es gegenüber Achilles gesagt hatte, hatte er den Toten gewaschen und von den Spuren des tödlichen Kampfes bereinigt. Sein ältester Sohn trug eine seinem edlen Stand angemessene Robe, auf den geschlossenen Augen lagen die Münzen für den Fährmann Charon. Trotz des gewaltsamen Todes, der Hektor mitten aus dem Leben gerissen hatte, strahlte das Gesicht des Toten nach wie vor Frieden aus. Priamos und sein jüngerer Sohn Paris, die die Totenzeremonie als nächste Verwandte des Toten zu vollziehen hatten, verständigten sich mit einem kurzen Blick, Priamos küsste seinen ältesten Sohn zum Abschied auf die Stirn, dann führten sie die Fackeln, die sie hielten, an der mit Öl getränkten Totenbahre entlang und verließen dann das doppelstöckige Gestell gemessenen Schrittes. Paris ging hinter seinem Vater, wie um sicherzustellen, dass der alte König die Plattform tatsächlich verließ und nicht etwa in seiner bodenlosen Trauer mit seinem älteren Sohn in den Tod ging. Am Fuß der Plattform blieben Vater und Sohn in der ersten Reihe der Trauergäste stehen.
Andromache hatte auf dem zentralen Sitz unter den Arkaden des Stadtpalastes gegenüber dem Poseidon-Tempel Platz genommen, rechts neben ihr saß Helena als Gattin des jüngeren Prinzen, links von der Kronprinzessin verfolgte Briseis die Zeremonie. Alle drei Frauen waren zum Zeichen der Trauer ganz in Schwarz gekleidet. Andromache hielt in ihren Armen den vergoldeten Lorbeer, der Hektors Schmuck in seiner Eigenschaft als Kronprinz gewesen war. Auch war der Lorbeerbaum dem Apollon heilig, dem Schutzpatron Trojas. Daraus hatte sich der Schmuck für den Verteidiger der Stadt ergeben.
Als die Flammen den toten Körper Hektors erreichten und zu verzehren begannen, schluchzte Andromache in untröstlicher Trauer auf, doch sie versuchte Haltung zu bewahren und nicht völlig zusammenzubrechen. Das offizielle Wehklagen um ihren geliebten Gatten überließ sie den professionellen Klageweibern. Hätte sie selbst um Hektor geklagt, hätte sie es nicht überlebt.
Während die Prinzessin mit ihren Gefühlen kämpfte, schaukelte Helena sanft Andromaches und Hektors Söhnchen Astyanax in ihren Armen und lenkte den Kleinen liebevoll von der Trauerfeier für seinen Vater ab. In diesem Moment konnte sie sich gut vorstellen, bald selbst so ein Söhnchen zu haben – vorausgesetzt, Paris war der Vater. In den letzten Tagen war der junge Mann sehr in sich gekehrt gewesen, hatte versucht, sich auf die nun auf ihm lastende Verantwortung als nunmehriger Thronfolger vorzubereiten.
Inzwischen zimmerten die Männer aus Ithaka aus den Teilen, die Odysseus aus den Trümmern der beim Angriff der Trojaner weitgehend zerstörten Schiffe ausgesucht hatte, ein riesiges Pferd zusammen. Es war groß wie ein Schiff und hohl und bot etwa einem Dutzend Männer Platz. Agamemnon sah die Vorbereitungen der Ithaker und kam hinzu.
„Nun, Odysseus … du hast einen Weg gefunden, die Schafe dazu zu bringen, die Wölfe einzuladen“, sagte er, schlug dem eher hilflos lächelnden Odysseus kräftig auf die Schulter und ging mit einem meckernden Lachen fort.
Odysseus hatte die Führung der griechischen Armee in seinen Plan eingeweiht – also auch Achilles, mochte es Agamemnon passen oder nicht. Sowohl in seiner Eigenschaft als persönlicher Freund Odysseus’ als auch als Fürst der Myrmidonen hatte Achilles ein Recht darauf. Der Pelide hatte sich gegenüber den anderen Heerführern nicht dazu geäußert und ging nun nachdenklich zu den Zelten des Myrmidonenlagers zurück. Das, was Odysseus plante, würde mit der Zerstörung Trojas enden, wenn sein Plan aufging. Das war Achilles klar. Nein, er wollte sich nicht daran beteiligen, wollte sich nicht schuldig machen, an dem Unrecht gegen Troja mitzuwirken – doch offen gegen Agamemnon und den Rest des griechischen Heeres konnte er sich auch nicht stellen. Dazu war seine Streitmacht denn doch zu klein und hatte zu schlimme Verluste hinnehmen müssen, als dass die Myrmidonen bei offenem Widerstand gegen die übrigen Griechen bestehen konnten. Es musste einen anderen Weg geben, die Myrmidonen aus dem Unrecht herauszuhalten und doch wenigstens Briseis zu retten …
Vor seinem Zelt fand er den treuen Eudoros, der auf seinen Herrn gewartet hatte. Er ließ sich neben dem Myrmidonenhauptmann nieder.
„Vergib mir, Eudoros. Ich hätte dir nichts antun dürfen“, bat er den langjährigen Getreuen um Vergebung. „Du warst mir immer ein treuer Freund, dein Leben lang.“
„Ich hoffe, ich enttäusche Euch nie wieder“, erwiderte Eudoros, der seinem Herrn niemals Vorwürfe gemacht hätte. Dafür machte Achilles sie sich selbst:
„Ich bin es, der enttäuscht hat“, gab der Pelide zurück. Er war ungerecht gewesen, als er Eudoros für die Teilnahme am Kampf und für Patroklos’ Tod verantwortlich gemacht hatte. Der Umstand, dass Achilles willens und fähig war, Fehler zuzugeben, unterschied ihn deutlich von anderen griechischen Fürsten und Königen. Die weitaus meisten hätten sich eher die Zunge abgebissen, als einen Fehler einzuräumen – oder sie schickten jemand anderen, um sich zu entschuldigen.
„Weck’ die Männer. Du führst sie nach Hause“, wies er dann Eudoros an. Der Hauptmann sah ihn betroffen an.
„Kommt Ihr nicht mit uns?“, fragte er verblüfft. Achilles schüttelte den Kopf. Es gab nur einen Weg, das Unrecht, das er schon angerichtet hatte, wieder gutzumachen … Er musste nach Troja, aber nicht so, wie Agamemnon es sich vorstellte.
„Ich habe meine eigene Schlacht zu schlagen“, sagte er geheimnisvoll.
„Aber … ich könnte mit Euch gehen“, schlug der treue Eudoros vor. Achilles schüttelte den Kopf.
„Nein! Ich will unsere Männer nicht dabei haben“, entschied er. Dann sah er nach oben zum Vollmond. „Die Nacht ist wunderschön.“
Er stand auf und klopfte Eudoros auf die Schulter.
„Geh, Eudoros! Das ist der letzte Befehl, den ich dir erteile“, sagte er. Dann nahm er Eudoros’ Kopf in seine Hände und küsste ihn wie einen Bruder auf die Stirn und ging fort. Völlig verblüfft sah Eudoros ihm nach.
„Es war mir immer eine Ehre, für Euch zu kämpfen, mein Herr“, rief er Achilles nach. Achilles blieb kurz stehen und verbeugte sich leicht zu Eudoros.
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Kapitel 33
Das hölzerne Pferd
Die Zeit der offiziellen Trauer um Hektor, jene zwölf Tage, die Achilles eigenmächtig zum Waffenstillstand erklärt hatte, gingen vorüber und tatsächlich hielten die Griechen das von Achilles gegebene Versprechen. Kein Grieche griff Troja an. Die Trojaner ihrerseits hatten sich völlig auf die Trauerfeiern für Hektor konzentriert und sich nicht um das gekümmert, was sich außerhalb ihrer Mauern getan hatte.
Nun, am zwölften Tag nach Hektors Tod, jagte ein einzelner Reiter auf das Stadttor zu und winkte schon von weitem.
„Öffnet das Tor!“, schrie er schon vier Stadia vor dem Tor. Er sprengte gleich bis zur Burg weiter und wenig später war der komplette Hofstaat Trojas am Strand, um sich von der Botschaft zu überzeugen, dass die Griechen abgezogen waren. Glaukos als Befehlshaber der Truppen führte den König und dessen Räte.
„Hier“, sagte er und wies auf verstreut herumliegende Tote. Die Männer waren noch nicht lange tot, aber alle trugen schwarze Pestbeulen. Offenbar waren die Griechen geradezu fluchtartig abgesegelt, hatten einige hundert Tote unbestattet und einiges an noch brauchbarem Material zurückgelassen.
„Die Pest!“, erkannte Priamos. Archeptolemos nickte zustimmend.
„Kommt nicht zu nahe, mein König“, mahnte Glaukos besorgt.
„Das ist der Wille der Götter“, sagte Archeptolemos. „Sie haben den Tempel Apollons geschändet, nun rächt Apollon sich an ihrem Fleisch!“
„Sie dachten, sie könnten herkommen und innerhalb eines Tages unsere Stadt einnehmen. Wie vermessen! Und nun fliehen sie über die Ägäis!“, setzte Glaukos halb spottend hinzu. Priamos nahm Archeptolemos’ und Glaukos’ Erklärungen zur Kenntnis. Dann fiel sein Blick auf ein riesiges, hölzernes Pferd, das einsam mitten auf dem von den Griechen so fluchtartig verlassenen Strand stand.
„Was ist das?“, fragte er und ging langsam zu dem aus Schiffsteilen erbauten Pferd hin. Es war einfach riesig, wenigstens vierzig Fuß hoch, wenn nicht noch mehr. Doch so roh es auch zusammengezimmert war, die Gestalt eines Pferdes war unübersehbar. Selbst die Verbindung der Holzteile am Kopf mit Schiffstampen war so geschickt gemacht, dass es wie Zaumzeug aussah.
„Ein Opfer für Poseidon“, erklärte Velior. „Die Griechen erbitten eine sichere Heimfahrt.
„Ich hoffe, der Gott des Meeres spuckt auf ihr Opfer!“, grollte Glaukos. „Mögen sie alle auf dem Meeresgrund ertrinken!“, setzte er hinzu. Calypso würde dann zwar eine Menge Arbeit haben, die Seelen ins Jenseits zu bringen, wie Charon es zu Land am Styx tat, aber es war schließlich ihre Aufgabe – oder die Aufgabe dessen, den sie damit betraute.
„Es ist ein Geschenk. Wir sollten es in Poseidons Tempel bringen“, schlug Archeptolemos vor.
Paris hatte das aus Resten gebaute Standbild skeptisch betrachtet. Es war aus Schiffsholz, es war groß wie ein Schiff, es war – vermutlich – hohl. Der Körper des Pferdes wirkte wie zwei kopfüber aufeinander gestellte Boote. Paris kam der Verdacht, dass mit diesem Opfer etwas nicht stimmte. Wenn es ein Opfer für Poseidon war – weshalb kehrte es dem Gott dann den Allerwertesten zu? Das passte nicht. Selbst wenn die Griechen in der Eile einfach einen Fehler gemacht haben sollten, weshalb sollte man ihnen die Möglichkeit geben, sicher heimzukehren? Wenn Poseidon das Opfer nicht bekam, würde er die griechische Flotte versenken.
„Wir sollten es verbrennen“, empfahl Paris, ohne seine Gedanken dazu auszusprechen.
„Verbrennen?“, empörte sich Velior. „Mein Prinz, es ist ein Geschenk an die Götter!“, wies er Paris zurecht. Velior befürchtete, Poseidon könnte sich an den Trojanern rächen, wenn sie sein Opfer zerstörten.
„Der Prinz hat Recht!“, pflichtete Glaukos dem jungen Mann bei. „Ich würde ganz Griechenland niederbrennen, hätte ich nur eine Fackel, die groß genug ist!“
„Ich warne dich, guter Mann: Gib Acht, wen du beleidigst!“, warnte Archeptolemos den alten General. „Unser geliebter Prinz Hektor fand harsche Worte für die Götter – und tags darauf hat ihn Achilles’ Schwert getötet!“
„Vater! Verbrenne es!“, wandte Paris sich nachdrücklich direkt an Priamos, doch sprach er weiterhin nicht die Gründe aus, die ihn zu diesem Rat bewogen.
„Vergebt, mein König. Glaubt nicht, ich sei respektlos. Doch ich möchte nicht, dass noch mehr Söhne Trojas den Zorn der Götter auf sich ziehen“, warnte der Hohepriester den König eindringlich. Priamos sah sich unter seinen Räten um, dann wieder zu dem Pferd hinauf, wog die Vorschläge ab.
„Ich werde nicht zusehen, wie noch ein Sohn stirbt“, entschied er dann.
Unter dem Jubel des Volkes schleppten zahlreiche Männer das Geschenk der Danaer, wie die Griechen auch genannt wurden, auf Holzstämmen rollend nach Troja hinein. Es passte eben gerade durch den großen Bogen des Skäischen Tores. Tanzende Mädchen streuten Blumen, Rosenblätter fielen in ebensolcher Dichte wie bei der Rückkehr der Prinzen aus Sparta auf die fröhliche Prozession. Auf der Agora vor dem Poseidon-Tempel wurde das Götteropfer schließlich abgestellt. Eine Abteilung der Apollonischen Garde sperrte die Agora ab, damit die Priester und Tempeldienerinnen sowie ausgewählte Bürger das Opfer mit Tanz und akrobatischen Einlagen angemessen in Troja begrüßen konnten.
Helena und Paris saßen unter den Arkaden des Stadtpalastes im warmen Sonnenschein auf den Plätzen, die bei solchen Festen der königlichen Familie Trojas vorbehalten waren. Paris verstand die fröhliche Geschäftigkeit nicht – vor allem verstand er nicht, weshalb sein Vater seinen Rat so einfach in den Wind geschlagen hatte. Von diesem angeblichen Opfer ging Gefahr aus, Paris spürte es. Warum wollten sie es alle nicht erkennen, was so offensichtlich war?
„Sieh’ sie dir an“, brummte er missmutig zu Helena. „Man könnte meinen, ihr Prinz sei gar nicht tot.“
Helena lächelte ihn sanft an und nahm zärtlich seine Hand.
„Du bist jetzt ihr Prinz. Hektor wäre stolz auf dich“, versuchte sie, Paris aufzumuntern. Er antwortete nicht, aber seine Augenbrauen zuckten in sichtlichem Zweifel. Nein, Hektor wäre gewiss nicht stolz auf ihn. Er hatte die drohende Gefahr für Troja nicht verhindert. Hektor wäre bestimmt nicht damit einverstanden gewesen, dieses Monstrum ungeprüft in die Mauern Trojas zu lassen. In Gedanken schalt Paris sich, dass er seine Bedenken nicht deutlicher zum Ausdruck gebracht hatte Es reichte offensichtlich nicht, eine bestimmte Meinung zu haben – man musste sie auch begründen … Er nahm sich vor, das künftig zu tun. Dann bezeichnete er sich innerlich selbst als Narren, dass er erst jetzt auf die Idee kam, dieses seltsame Opfer wenigstens untersuchen zu lassen, bevor man es in die Stadt schaffte. Eine andere innere Stimme sagte ihm aber im nächsten Moment, dass die Priester und die anderen Räte es vermutlich nicht zugelassen hätten, das Geschenk an die Götter von Sterblichen untersuchen zu lassen. War ein Opfer erst einmal den Göttern geweiht, durfte es – wenn überhaupt – nur noch von den zuständigen Priestern berührt werden.
Der junge Prinz betrachtete das seltsame Geschenk nachdenklich. Das Pferd selbst konnte er jetzt nicht mehr untersuchen lassen, das war Paris klar. Die Priester hätten ein solches Vorhaben als Sakrileg betrachtet. Aber vielleicht gab es noch eine andere Möglichkeit, nachzuprüfen, ob die Griechen tatsächlich so lautlos verschwunden waren, wie sie offenbar glauben machen wollten. Er musste er Späher aussenden, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Paris verlor keine weitere Zeit. Und er nahm sich vor, seinen Bogen in dieser Nacht in Griffweite zu behalten.
Noch während Paris seine Überlegungen anstellte und die übrigen Trojaner den Abzug der Griechen feierten, kam bei dem ehemaligen Lager der Griechen unten an der Küste ein Hund herbeigelaufen, der seinen Herrn vermisste. Er fand ihn unter den leblos daliegenden Männern am Strand. Nach dem Streicheln seines Herrn lechzend, schleckte der Hund ihm das Gesicht ab – und ein Pestfleck verschwand unter der leckenden Zunge des Hundes … Es waren meisterhafte Masken, die aus getrocknetem Blut und Tinte von Kalmaren bestanden – jenen kleinen Tintenfischen, die die Griechen geröstet besonders schätzten …
Es war kurz vor Sonnenuntergang, als einer der Späher, die im Auftrag des Prinzen die weitere Umgebung Trojas nach Spuren der Griechen absuchten, an eine recht versteckte Bucht kam, die im Hellespont nicht weit von Troja entfernt war. Der Späher parierte sein Pferd erschrocken durch. Was der Mann sah, zeigte in aller Deutlichkeit, wie Recht Prinz Paris hatte, wenn er dem Abzug der Griechen gründlich misstraute: In dieser Bucht lagen sämtliche noch intakten Schiffe der Griechen! Er wollte wenden, um Troja zu warnen, doch aus der fallenden Dunkelheit zischten drei Pfeile heran, die den Späher tödlich verwundet aus dem Sattel warfen. Sein Wissen um die weiter drohende Gefahr nahm er mit zum Fährmann an den Styx, aber Trojas Verteidiger erfuhren davon nichts.
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Kapitel 34
Geschenk des Todes
Es war dunkel, die Nacht schon weit fortgeschritten, Trojas Bevölkerung schlief – zum großen Teil trunken und müde von Wein und Fröhlichkeit, zum kleineren Teil, weil es der Normalität entsprach, zwei Stunden nach Mitternacht müde zu sein.
Auf dem Platz vor dem Poseidon-Tempel entstand leise Bewegung. Das hölzerne Pferd schien zum Leben zu erwachen und gleichzeitig sterben zu wollen, als sich mehrere Luken an ihm öffneten und wenigstens zwanzig bewaffnete Männer unter Führung von Odysseus heraus krochen, die sich über Seile hinab ließen und eilig in Richtung des Skäischen Tores und der dortigen Wachttürme liefen. Keiner von ihnen trug die übliche, schimmernde Bronzerüstung. Alle waren in dunkle Lederharnische gekleidet, die sie in der Dunkelheit besser tarnten als die im Mondlicht leuchtende Bronze. Selbst Schwerter und Speere hatten sie in Felle gehüllt, um unnötigen Lärm zu vermeiden. Als Letzter verließ Achilles das hölzerne Pferd, doch lief er nicht zum Tor, sondern in die andere Richtung, zum königlichen Palast. Er kam auch nicht, um zu töten; er war hier, um zu retten.
Odysseus und seine Männer töteten auf ihrem Weg zum Tor jeden Trojaner, der das Pech hatte, seinen Rausch mitten auf der Straße oder in offenen Arkadengängen ausschlafen zu wollen. Einen der wenigen noch durch die Straßen patrouillierenden Wächter schlug einer der Männer Odysseus’ mit einer brennenden Fackel nieder. Odysseus stieg zum Wehrgang über dem Tor hinauf und schwenkte seine Fackel. Es war für die inzwischen im Schutz der Dunkelheit an den Strand vorgedrungenen Griechen das Zeichen zum Sturm auf die Stadt. Odysseus und seine Männer öffneten das Skäische Tor und die griechische Armee – fast vierzigtausend Mann – stürmte ohne Behinderung, aber schweigend wie der Fährmann Charon am Styx, in die schlafende Stadt. Es war, als ob ein Damm gebrochen war und sich das Wasser ungehindert in eine dem Untergang geweihte Stadt ergoss. Sie schlachteten jeden Mann, jede Frau, jedes Kind ab, das ihnen in den Weg kam. Es gab für niemand Gnade, der das Unglück hatte, sich in Troja aufzuhalten. Was brennbar war, wurde in Brand gesetzt – Häuser, Scheunen, Läden, Ställe. Die wenigen Soldaten, die in der Unterstadt Wache hatten, hatten gegen die ungeheure Übermacht der Griechen keine Chance.
Schnell herrschte in der Stadt heilloses Chaos. Die vorsätzlich gelegten Brände gerieten rasch außer Kontrolle. Schreie von Menschen in Todesangst oder Todeskampf gellten durch die Stadt – beginnend am Skäischen Tor, sich fortsetzend über die Agora in die Unterstadt und dann hinauf in Richtung Burg, wie eine Welle, die von Zerstörung und Vernichtung kündete.
Mitten in dem Chaos aus brennenden Häusern, vergeblichen Fluchtversuchen der Trojaner und sterbenden Menschen stand Agamemnon auf der Agora und drehte sich mit ausgebreiteten Armen um sich selbst.
„Lasst es brennen!“, schrie er wie von Sinnen. „Lasst es brennen! Für Menelaos! Brennt es nieder! Brennt Troja nieder! Ich hab’s dir versprochen, Bruder! Brennt es nieder! Brennt es nieder für Menelaos!“
Endlich bekamen die Trojaner nach Agamemnons Meinung die gerechte Strafe dafür, dass ihr jüngerer Prinz seinem Bruder die Frau geraubt hatte; dafür dass der ältere Prinz Agamemnons Bruder in seinem ungerechten Eingreifen in den von Menelaos gewonnenen Zweikampf umgebracht hatte; dafür, dass so viele tausend Griechen schon ihr Leben gelassen hatten.
Achilles hatte sich zunächst eher im Schatten durch die Straßen geschlichen. Jetzt rannte er im Wortsinne gegen den Strom durch panisch fliehende Menschen hinauf zur Akropolis. Schließlich wurde das Gedränge so dicht, dass er trotz seiner legendären Beweglichkeit nicht mehr durchkam. Schließlich entschied er sich für einen Weg zur Akropolis, den ihm so schnell keiner nachmachen würde: Er kletterte außen an den Mauern des Königspalastes hinauf. Er musste Briseis schnell finden, bevor der Palast gestürmt wurde. Viel Zeit hatte er nicht, das hatte Odysseus ihm gesagt.
„Briseis!“, schrie er, aber seine Geliebte antwortete nicht. Achilles stürmte weiter.
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Kapitel 35
Vergebliche Tapferkeit
Oben in der Akropolis war die Attacke nicht unbemerkt geblieben. Priamos sah entsetzt, verzweifelt und fassungslos, dass die Unterstadt bereits an vielen Stellen lichterloh brannte. Er sah sein Lebenswerk in Vernichtung versinken und war viel zu geschockt, um Gegenmaßnahmen zu befehlen.
Auch Helena und Paris wurden durch den Lärm und die heller werdenden Brände in der Unterstadt aufmerksam. Der junge Prinz entschloss sich, zu retten, was zu retten war.
Weiter unten in der Stadt hatten sich doch einige Soldaten organisieren können, doch sie waren noch unvorbereitet und unbewaffnet, lagerten die Waffen doch in den Zeughäusern, die in Troja verteilt waren. Einige von ihnen konnten gerade noch eine der bereits in Flammen stehenden Stallungen der Apollonischen Garde erreichen, die Tore aufreißen und die darin untergestellten Pferde befreien, die in heller Panik durch die Stadt stoben.
Vier der Männer kamen zu einem der ebenfalls schon lichterloh brennenden Zeughäuser. Als sie die Tür öffneten, schoss eine Stichflamme heraus und verbrannte einen der Männer auf der Stelle. Die anderen prallten entsetzt zurück, als sie sahen, dass die gierigen Flammen die brennbaren Teile der Waffen fraßen und eine solche Hitze entwickelten, dass die Bronzeschwerter, Speerspitzen und Schildränder schmolzen wie Butter in der Sonne. Vergeblich versuchten die Männer, ihren bei lebendigem Leib brennenden Kameraden zu retten.
Briseis hatte bereits bemerkt, dass Troja von innen heraus angegriffen wurde und bemühte sich verzweifelt, in den Palast durchzukommen, um Paris und Andromache zu suchen. Andromache war jedenfalls nicht da, wo Briseis sie vermutet hatte.
„Paris!“, rief sie. „Andromache!“
Ihr Ruf blieb ohne Antwort.
Andromache hatte von ihrer Wohnung aus ebenfalls gesehen, was unten in der Stadt geschah und hatte keine Zeit verloren, Hektors letzte Anweisung auszuführen. Mit Astyanax auf dem Arm rannte sie zu Paris’ Gemächern, um ihre Schwägerin zu warnen. Ohne zu klopfen, stürmte sie herein.
„Helena, wir müssen fliehen!“, rief sie.
„Wohin?“, fragte Helena atemlos. Eben hatte sie noch Paris in die Rüstung geholfen.
„Ich zeig’ es euch, schnell! Beeil’ dich!“
„Bitte!“, keuchte Helena. „Bitte komm mit uns!“, flehte Helena Paris an. Er schnappte sich seinen Bogen und den Pfeilköcher und schob Helena aus den Gemächern.
„Es ist ein weiter Weg! Schnell, schnell, beeilt euch!“, trieb Andromache die jungen Leute an. Eilig rannten sie mit ihr und diversen anderen, die Andromache gefolgt waren, den Weg entlang, den Hektor seiner Frau als letzte Fluchtmöglichkeit gezeigt hatte.
Achilles suchte immer noch nach Briseis und immer noch hatte er sie nicht gefunden.
„Briseis!“, schrie er erneut.
Die Gesuchte rannte durch den Stallungsbezirk der Akropolis.
„Paris!“, schrie sie verzweifelt. Nur ihr geliebter Cousin konnte ihr jetzt noch helfen, aber sie fand ihn nicht.
Odysseus focht sich mit seinen Ithakern die Straße weiter hinauf in Richtung Akropolis. Er und seine Männer kämpften dabei gegen eine Truppe nur halb gerüsteter Trojaner, die ihnen nur wenig Widerstand leisten konnten und Mann für Mann niedergemacht wurden.
Andromache hatte mit ihren Flüchtlingen den Zugang zu dem Tunnel in Richtung Skamander erreicht. Sie ließ dennoch nicht in ihrem Antreiben nach.
„Der Weg ist lang! Schnell, beeilt euch!“, mahnte sie immer wieder. Paris blieb zurück.
„Komm!“, rief Helena. Der junge Prinz schüttelte den Kopf.
„Ich bleibe hier!“, erklärte er entschieden.
„Nein!“, wehrte Helena erschrocken ab.
„Mein Vater wird die Stadt niemals aufgeben. Ich kann ihn nicht im Stich lassen“, entgegnete er.
„Die Stadt ist verloren!“, erinnerte Helena ihn verzweifelt. „Sie brennen alles bis auf den Grund nieder!“
Paris zog sie am Arm vorwärts.
„Komm!“, mahnte er. Einen Moment glaubte Helena, er habe es sich anders überlegt, doch Paris strebte mit ihr auf einen Jungen zu, der einen alten Mann stützte.
„Wie heißt du?“, sprach er den Jungen an, der wohl siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein mochte. Außer ihm selbst war der Junge der einzige Flüchtling, der so aussah, als wäre er ein halbwegs passabler Kämpfer. Alle anderen waren Frauen, Kinder oder alte Männer.
„Äneas“, antwortete der Junge.
„Kannst du mit einem Schwert umgehen?“, frage der Prinz weiter.
„Ja.“
Paris zog das Schwert, das sein Vater ihm gegeben hatte und überreichte es Äneas.
„Das Schwert Trojas. Solange das Schwert in der Hand eines Trojaners ist, hat unser Volk eine Zukunft“, sagte er, als Äneas es mit leuchtenden Augen entgegennahm. „Beschütze sie, Äneas. Finde eine neue Heimat für sie“, wies er den Jungen an.
„Das werde ich“, versprach Äneas mit einem stolzen Lächeln.
„Schnell, beeilt euch!“, trieb Andromache die Flüchtlinge wieder an. Paris nahm seine Waffen und verabschiedete sich von seiner Schwägerin und seinem Neffen, den er liebevoll auf die Stirn küsste. Äneas würde das Erbe des kleinen Astyanax verwalten und sie in eine neue Heimat führen.
„Paris, Briseis war nicht auf ihrem Zimmer“, sagte Andromache drängend zu ihm.
„Ich finde sie“, versprach der junge Mann. „Geh!“, wandte er sich dann an Helena.
„Nein, ich bleib’ bei dir“, wehrte sie ab.
„Geh!“, wiederholte er bestimmt.
„Bitte, verlass’ mich nicht!“, flehte sie. Paris seufzte.
„Wie könntest du mich lieben, wenn ich jetzt davonlaufe?“
„Bitte!“
„Wir werden zusammen sein. In dieser Welt oder der nächsten!“, versprach er. „Wir werden zusammen sein!“, bekräftigte er und küsste sie heftig, bevor er sie in den Gang schob und wieder nach oben stürmte.
Briseis rannte einen langen Korridor entlang. In ihren Ohren klangen die Schreie, die das Massaker an den Trojanern verkündeten.
„Paris! Andromache!“, schrie sie verzweifelt, doch sie bekam weiterhin keine Antwort. Ein reiterloses weißes Pferd jagte durch den Gang, direkt auf sie zu. Sie konnte sich gerade noch an eine Säule an der Seite quetschen, um nicht niedergetrampelt zu werden. Das panische Pferd jagte an ihr vorbei.
Auch im unteren Teil der Akropolis waren bereits Menschen in heller Angst, doch die Wächter waren hier noch nicht so hoffnungslos unterlegen wie in der Unterstadt. Achilles schwang sich über die Mauerkrone, zwei Wächter entdeckten ihn und wollten ihm den Weg abschneiden. Doch Achilles hatte die Männer ebenfalls gesehen und konnte sich rechtzeitig hinter einem Mauervorsprung in Sicherheit bringen. Den ersten Wächter musste er töten, den zweiten setzte er mit einem gezielten Hieb außer Gefecht. Der Mann rollte auf den Boden.
„Wo ist Briseis? Wo ist sie?“, fragte Achilles ungeduldig. Als der Mann in seiner Angst nicht sofort antwortete, setzte er scharf:
„WO?“, hinzu.
„Ich … weiß es nicht“, erwiderte der Wächter angstvoll. „Bitte … ich hab’ einen Sohn!“, flehte er um sein Leben.
„Schaff’ ihn fort aus Troja!“, mahnte Achilles und wandte sich von dem verblüfften Wächter ab, der kaum glauben konnte, immer noch am Leben zu sein, und rannte weiter durch die in Panik durcheinander laufenden Menschen oben in der Akropolis.
Odysseus und seine Männer hatten die Unterstadt durchquert und waren nun im Begriff, den Palast zu erobern.
„Zu den Toren! Vorwärts! Stürmt den Palast! Folgt mir!“, befahl Odysseus. Seine Ithaker und die übrigen mit eingedrungenen Griechen folgten ihm.
„Nicht einen!“, brüllte Agamemnon. „Verschont keinen einzigen!“
Glaukos, der alte General, hatte gerade noch fünfzig seiner Soldaten am Tor des Palastes versammelt. Es war praktisch das letzte Aufgebot, das Troja noch den Griechen entgegenstellen konnte. Doch so wenige sie auch waren: Sie gedachten, ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen, um möglichst vielen noch Gelegenheit zur Flucht zu geben.
„Soldaten Trojas!“, sprach er die Männer an. „Ihr Männer, ihr Krieger! Euch anzuführen erfüllte mein Herz mit Stolz!“
Paris kam herein gelaufen, Glaukos bemerkte den jungen Prinzen.
„Mein Prinz!“, begrüßte er ihn und tauschte einen herzhaften Handschlag mit Paris.
„Der Fährmann erwartet uns. Doch ich sage: Wir lassen ihn noch ein wenig warten!“, rief Glaukos und zog sein Schwert.
„Aaaah!“, brüllte er, womit er das Zeichen zum Angriff auf die eindringenden Griechen gab. Seine Männer rissen ebenfalls ihre Schwerter heraus und fochten mit den Griechen, Paris schoss gezielt und tödlich präzise Pfeil um Pfeil auf die Eindringlinge.
Es war ein wilder Kampf, der keine Regeln kannte. Allein das eigene Überleben und der Tod des Gegners zählten. Der erfahrene General erkannte bald, dass der Kampf für die letzten Trojaner aussichtlos war.
„Paris! Bringt Euch in Sicherheit!“, befahl er dem Prinzen. Troja brauchte wenigstens einen, der dem kleinen Prinzen Astyanax zur Seite stehen und ihn vor den Griechen beschützen konnte. Paris setzte sich nur zögernd ab. Er war gekommen, um Troja mit seinem Leben zu verteidigen, wie Hektor es sein Leben lang getan hatte. Hektor war durch seine Schuld nicht mehr da, also musste er, Paris, tun, was Hektor nicht mehr tun konnte. Doch er erkannte, dass Glaukos Recht hatte und fügte sich dem Befehl. Er war der Letzte, dem die Flucht noch gelang. Odysseus und seine Männer machten die Soldaten des Generals Glaukos Mann für Mann nieder. Odysseus rang mit Glaukos selbst und stieß ihm schließlich das Schwert durch den Leib.
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Kapitel 36
Achilles’ Ferse
Briseis rannte noch immer panisch durch die Akropolis und erreichte die Gärten des Palastes. Auch Achilles war im Palast, doch hatte er die Geliebte bisher vergeblich gesucht.
„Briseis!“, rief er ein ums andere Mal.
Die Soldaten Odysseus’ räumten den Weg zum Palast frei, Dutzende von Agamemnons Soldaten folgten ihnen und verwüsteten das Pantheon oben in der Burg. Jede Götterstatue, jeder Schmuck wurde von Sockel gerissen und zerstört. Archeptolemos suchte Schutz bei der Zeusstatue im Thronsaal von Troja.
„Hütet Euch, meine Freunde!“, warnte er. „Ich bin ein Diener der Götter!“
Doch die Griechen ignorierten seinen Ruf. Drei von ihnen packten den Priester und warfen ihn aus der Loggia. Mit einem gellenden Schrei fiel Archeptolemos in die Tiefe.
Priamos versuchte verzweifelt, dem frevlerischen Treiben Einhalt zu gebieten.
„Kennt ihr keine Ehre?“, rief er. „Kennt ihr keine Ehre?“
Es war für ihn unbegreiflich, dass die Griechen die Statuen der Götter zerstörten, die sie selbst anbeteten. In Glaube und Kultur bestand zwischen Trojanern und Griechen kein Unterschied. Priamos erhob die Schwerthand, als ihn eine harte Hand von hinten ergriff. Agamemnon hatte ihn gepackt und rammte dem König von Troja ohne jede Nachsicht seinen Speer in den Rücken, ließ den Sterbenden fallen und erkannte erst dann, als der Mann sich im Fallen umdrehte, dass er den Falschen aufgespießt hatte.
„Ich wollte dich lebend, alter Mann“, sagte er fast bedauernd. „Ich wollte, dass du deine Stadt brennen siehst.
„Bitte!“, flehte Priamos. „Agamemnon! Verschone … die Unschuldigen!“
„Niemand ist unschuldig! Niemand!“, knurrte Agamemnon und wandte sich ab. Priamos hauchte sein Leben auf dem harten Steinboden mitten im Chaos seiner ebenfalls sterbenden Akropolis aus.
Agamemnons Soldaten stürmten unter Führung ihres Königs weiter. Sie hatten als Ziel die Gärten des Palastes. Dorthin hatte sich Briseis geflüchtet in der Hoffnung, dass die Griechen wenigstens den dortigen Apollon-Tempel ungeschoren lassen würden oder dass Paris sie rechtzeitig finden würde. Er wusste schließlich, dass sie eine Tempeldienerin war und würde sie hier wohl suchen, nahm sie an. Hoffend und betend kniete sie vor dem Altar.
Ihre Hoffnung wurde betrogen, als Agamemnon und seine Männer hereinstürmten. Der König packte sie am Schopf und zerrte sie hoch.
„Für Gebete ist es jetzt zu spät, Priesterin!“, raunte er. Sie stöhnte auf, weil er sie schmerzhaft am Haar zog. Aus dem Augenwinkel sah sie Achilles von der anderen Seite durch den Garten in Richtung des Tempels laufen.
„Wegen deiner kleinen Liebschaft hätt’ ich beinah diesen Krieg verloren“, grollte der Mykener. „Ich will haben, was Achilles hatte!“, forderte er dann.
Achilles rannte durch den Palast und hatte den oberen Garten erreicht. Von dort sah er, dass Agamemnon sich Briseis gegriffen hatte und wohl nahe daran war, sie zu vergewaltigen. Mit einem eleganten Sprung überwand er die Brüstung an der Treppe und sprintete auf den Gartentempel zu.
Agamemnon weidete sich inzwischen an dem Anblick, den die verzweifelte Briseis bot. Achilles hatte er noch nicht bemerkt
„Du wirst meine Sklavin sein in Mykene … Eine trojanische Priesterin, die auf den Knien meine Böden schrubbt …“ griente er. „Und in der Nacht …“
Weiter kam er nicht. Sie hatte sich einen Zeremoniendolch eingesteckt, den sie langsam in die richtige Position gleiten ließ; dann stach sie ohne jede Rücksicht zu, traf Agamemnon an der linken Halsseite, zerfetzte ihm die Halsschlagader. Aufstöhnend ging der tödlich getroffene König von Mykene zu Boden, verblüfft auf die entgegen seiner Annahme sehr wehrhafte Dienerin Apollons schauend.
Achilles war heran, riss einen der Begleiter des mykenischen Königs weg und köpfte ihn, als er Anstalten machte, sich zu wehren. Den zweiten spießte er glatt auf und nahm Briseis am Arm. Endlich hatte er sie gefunden. Sie hatte ihm zudem noch die Arbeit mit Agamemnon gleich abgenommen. Hätte Briseis ihn nicht getötet, hätte Achilles es getan. Nie hätte er sie erneut dem Mykener überlassen!
„Komm mit mir!“, rief er. Sie stolperte, aber er fing sie auf und trug sie hinaus in den Hofgarten. Dabei sah sie hinter den geliebten Kriegerfürsten und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.
Paris konnte nur hoffen, dass sie Briseis es geschafft hatte, bis zum Apollon-Tempel oben in der Akropolis durchzukommen. Auf dem Weg dorthin sah er Achilles. Der Pelide lief schnurstracks zum Apollon-Heiligtum in der Akropolis. Paris ahnte, dass der Grieche sich nun an Briseis vergreifen wollte, die er selbst ebenfalls dort im Tempel vermutete. Paris beschleunigte seine ohnehin eiligen Schritte, um seine Cousine vor dem Griechen zu retten und dabei gleich die Rechnung für Hektor einzufordern. Er würde Achilles nicht lebend davonkommen lassen!
Ers erreichte die Mauerbrüstung oberhalb des Hofgartens und fand seine Vermutung bestätigt: Achilles schleppte Briseis ab! Ihre entsetzten Augen zeugten von ihrer Panik.
„Neein!“, schrie sie. Er nahm das als Bestätigung seiner Vermutung.
‚Du entwischst mir nicht!’, durchzuckte es den Prinzen. Er blieb an der Brüstung stehen, riss einen Pfeil heraus, legte ihn in die Sehne, zielte und schoss.
Der Pfeil traf Achilles in die linke Ferse. Aufstöhnend ging der Kriegerfürst zu Boden.
„Nein! Paris!“, schrie Briseis. Der trojanische Prinz erkannte ihren Schrei abermals als Hilferuf, dem er nur zu gerne nachkam. Er jagte den nächsten Pfeil hinterher, der Achilles’ Lederpanzer knapp unterhalb des linken Rippenbogens traf und ihn durchschlug.
„Nein!“, schrie sie erneut.
Zu Paris’ Entsetzen brach der Grieche nicht tot zusammen, obwohl er ihn absolut tödlich getroffen hatte, nein, er riss den Pfeile sogar heraus! Sollten die Gerüchte etwa wahr sein, dass er unverwundbar war? Paris schoss zum dritten Mal. Der ebenso wohlgezielte Pfeil durchschlug den Lederpanzer nur einen Zoll neben dem Loch des ersten Pfeils, der Achilles in den Leib getroffen hatte. Achilles stand immer noch aufrecht, kam sogar mit erhobenem Schwert auf ihn zu.
„Nicht! Bitte!“, schrie Briseis wie von Sinnen. Was tat Paris nur? Warum hörte er nicht auf sie?
Paris war kurz vor der Panik. Ein vierter Pfeil flog von seiner Bogensehne und traf Achilles im gleichen Bereich wie vorher.
„Paris! Nicht!“, schrie die junge Frau erneut. Er schoss einen fünften Pfeil ab. Jetzt geriet Achilles leicht aus dem Gleichgewicht. Briseis drehte sich zu Paris um, der einen weiteren Pfeil auf die Sehne legte. Achilles ging in die Knie und stützte sich gerade noch mit dem Schwert ab. Briseis stürzte zu ihm und fing ihn auf.
Erst jetzt wurde Paris klar, dass sie ihn davon hatte abhalten wollen, Achilles zu töten. Zu seiner Verblüffung kniete sie neben dem sterbenden Peliden nieder und streichelte ihn unter Tränen. Achilles kniete keuchend im Hofgarten und riss die tödlichen Pfeile aus seinem Leib. Liebevoll streichelte er Briseis’ verweintes Gesicht.
„Alles gut! Alles gut!“, flüsterte er vertraulich. „Du … gabst mir Frieden nach all den Jahren des Krieges“, dankte er der weinenden jungen Frau. Seine Mutter hatte mit ihrer Prophezeiung Recht behalten: Sein möglicher Ruhm in Troja ging Hand in Hand mit seinem Untergang. Achilles empfand keinen Groll gegen Paris. Der junge Prinz hatte nur getan, was ihm richtig erschien. Er hatte seinen Bruder gerächt, hatte ihn als Feind betrachtet.
Paris steckte seinen letzten Pfeil ein und ging die Treppe hinunter. Er musste Briseis unbedingt hier wegbringen. Achilles hielt Briseis in seinen Armen, genoss das Glück der tiefen Liebe, die ihn mit ihr verband.
Paris hatte seinen Irrtum erkannt, aber es war längst zu spät.
‚Beim Zeus, warum hat sie darüber nicht gesprochen?’, durchzuckte es ihn. Es war offensichtlich, dass Briseis Achilles von Herzen liebte und dass er ihre Liebe erwiderte. Er hatte sie retten wollen, nicht entführen, nicht schänden. Doch jetzt war es nur eine Frage von Augenblicken, bis er tot war. Paris hörte den Lärm der anderen Griechen, jener Griechen, die tatsächlich seine und Briseis’ Feinde waren.
„Briseis, komm!“, sagte er leise und kam die Treppe zum Hofgarten ein Stück herunter.
„Geh!“, forderte Achilles die Geliebte auf, die aber nur schluchzend an seinem Hals hing und ihn weltvergessen küsste.
„Du musst!“, sagte der Sterbende nachdrücklich. „Troja fällt. Geh!“
„Wir müssen gehen!“, sprach Paris sie erneut an. „Ich kenne einen Weg hier ‘raus.“
Besorgt sah er sich um, als der Lärm stärker wurde
„Es ist gut so“, flüsterte Achilles vertraulich und streichelte Briseis. „Geh!“, forderte er sie erneut auf.
„Briseis, komm!“
„Geh!“, befahl Achilles. Paris kam die Treppe herunter und streckte die Hand nach der Cousine aus. Widerstrebend folgte sie dem Prinzen, der sie die Treppe hinauf beförderte und mit ihr in dem Geheimgang verschwand, kurz bevor die Griechen auftauchten.
Achilles sah Briseis und Paris in einem Nebengang verschwinden. Es war das Letzte, was er sah, bevor Hermes ihn fasste, um ihn zum Styx zu geleiten. Mit einem Seufzen ließ er sich fallen und starb, den ersten Pfeil des trojanischen Prinzen noch in seiner Ferse. Die Griechen, die in den Hofgarten stürmten, waren Odysseus und seine Ithaker. Odysseus sah gerade noch, wie sein Freund umkippte. Als er und seine Männer heran waren, war Achilles tot und die einzige in der Dunkelheit erkennbare Verletzung war der Pfeil, der in seiner Ferse steckte, während viele andere Pfeile um ihn verstreut lagen. Für die Griechen war klar: Nur dort, an der Ferse, war der große Achilles überhaupt tödlich verwundbar gewesen. Nur Apollon selbst konnte diesen Pfeil gelenkt haben!
ΩΩΩ
Epilog
Als der neue Morgen anbrach, hatten Odysseus und seine Ithaker für Achilles die Totenbahre gezimmert. Eudoros und die Myrmidonen waren befehlsgemäß abgesegelt und konnten ihrem Herrn diese letzte Ehre nicht mehr erweisen. So hatte Odysseus als dessen bester Freund unter den überlebenden Griechen diese Aufgabe übernommen.
Der tote Kriegerfürst lag in seiner Rüstung – so wie sie ihn in der Nacht aus dem Hofgarten in die zerstörte, ausgebrannte Stadt hinunter getragen hatten – auf dem Scheiterhaufen. Odysseus versah ihn mit den Charons-Münzen, die er bedächtig auf die Augen seines toten Freundes legte. Dann hob er die Fackel.
„Finde Frieden … mein Bruder“, flüsterte er und führte eine Fackel an den Scheiterhaufen.
Fern davon, im Idagebirge, ging ein langer Zug aus den Flüchtlingen, die Andromache durch den Geheimgang hatte retten können. Die Prinzessin hatte ihr Söhnchen auf dem Arm. Nur ein paar Schritte hinter ihr gingen Paris und Helena Arm in Arm. Der junge Prinz kannte den geheimen Fluchtweg ins Gebirge ebenfalls und hatte mit seiner Cousine den Flüchtlingszug noch erreicht.
Briseis blieb ein wenig zurück und sah immer wieder nach Troja zurück. Schließlich nahm sie eine schwarze Rauchwolke wahr, die aus der Stadt aufstieg, etwa von dort, wo die Agora war. Der Rauch stieg hinauf, wo die Krähen kreisten und sich auf ein Festmahl an den unbestatteten Trojanern freuten. Briseis wusste, es war Achilles, dessen Leichnam dort zu Asche verbrannte.
Odysseus sah in der zerstörten Stadt auf das lodernde Feuer, in dem Griechenlands größter Krieger zu Asche verbrannte, womit sich seine Seele zu den Wartenden am Styx gesellen konnte. Er würde nicht lange auf den Fährmann warten müssen, sagte sich Odysseus.
Erzählt man je meine Geschichte, soll man sagen: Ich ging meinen Weg mit Giganten.
Menschen vergehen wie des Winters Weizen, doch diese Namen vergehen nie.
Man soll sagen: Ich lebte zu Zeiten Hektors, des Pferdebezwingers.
Man soll sagen: ich lebte zu Zeiten Achilles
Odysseus, König von Ithaka
Ende
ΩΩΩ
Glossar
Agora: Größter Platz in den antiken Städten Griechenlands und im antiken Kleinasien. Die Agora war öffentlichen Angelegenheiten, wie Festen zu Ehren der Götter, Siegesfeiern, in der klassischen Antike Griechenlands insbesondere der Volksversammlung, gewidmet. Sie ist das besondere Kennzeichen der griechischen Polis, der Stadt.
Alipten: Trainer im antiken Griechenland
Astyanax: Nach der Ilias heißt der Sohn von Hektor und Andromache Astyanax. In der Besetzungsliste des Films erscheint der Sohn als Skamandrius. Skamandrius ist ein etwas anderer Name für den Flussgott Skamander, dessen Name auch für den Fluss verwendet wurde, der außer dem Simoeis Troja umfließt. Ich halte mich da namenstechnisch an die Ilias, es sei denn, der Kleine hat wie Paris noch einen zweiten Namen …
Chiton: der; altgriechisches Gewand, das direkt am Leib getragen wurde. Es wurde aus einem rechteckigen Stück Leinenstoff gefaltet. Der Chiton ist an der linken Seite geschlossen, bleibt an der rechten Seite offen und wird durch Fibeln auf der Schulter zusammengehalten. Als Frauengewand war der Chiton lang und reichte bis fast auf den Boden, als Männergewand reichte er etwa bis zum Knie. In der Regel bestand er aus einem leichten Leinengewebe. Die schwere Variante aus Wollstoff (und eigentlich ein reines Frauengewand) wurde als Peplos bezeichnet.
Himation: das, altgriechisches Gewand, das als Obergewand zum Chiton↑ getragen wurde und – ähnlich wie die römische Toga – über eine Schulter drapiert wurde. Frauen benutzten es gern als Stola, die als eine Art Schleier über den Kopf gezogen wurde.
Hopliten: Schwerbewaffnete griechische Fußsoldaten
Kalibos: Nach der Perseus-Sage ist er ebenfalls ein Sohn der Meeresgöttin Thetis, dem Andromeda, die Tochter der phönizischen Königin Kassiopeia versprochen ist. Kalibos ist jedoch boshaft. Nachdem diverse Ermahnungen nicht reichen, verwandelt Zeus ihn und kehrt sein widerwärtiges Inneres nach außen. Andromeda verweigert daraufhin die Erfüllung des Heiratsversprechens. Thetis bestimmt, dass neue Bewerber um Andromedas Hand ein Rätsel lösen oder sterben müssen. Perseus, Sohn des Zeus und der sterblichen Danaë, gelingt es, dieses Rätsel zu lösen, und er erhält schließlich Andromeda zur Frau – aber zunächst muss er noch allerhand Fallen von Kalibos umgehen. 1980 verfilmt unter dem Titel Kampf der Titanen mit Harry Hamlin als Perseus und Judy Bowker als Andromeda.
Klafter: altes Längenmaß, ca. 1,80 m
Männerhilf: Die wörtliche Übersetzung ins Griechische dafür ist Alexander. Der nach wie vorbeliebte Vorname ist also ein richtiger Ehrenname. (Quelle: Gustav Schwab, Die Sagen des klassischen Altertums, Kapitel „Priamos, Hekabe und Paris“.) Ich halte Paris für einen recht unterschätzten Mann. Sicher, das Schwert und der Nahkampf sind nicht seine Sache; aber er ist ein Bogenschütze, mit dem (außer Robin Hood) eigentlich nur noch einer konkurrieren kann – Legolas Thranduilion, der Königssohn vom Düsterwald.
Der Umstand, dass Paris von Homer als Feigling dargestellt wird, beruht meiner Ansicht nach auf zwei Dingen:
- Bogenschützen galten den Kämpfern mit Schwert oder Nahkampfspeer seit je her als zu feige für den Nahkampf. Das gilt natürlich besonders für die Helden des trojanischen Krieges, die sich gern im Nahkampf maßen, aber auch für Griechen allgemein, weil im antiken Griechenland Schwert und Nahkampfspeer die Hauptwaffen der Soldaten waren.
- Man kann es auch griechische Propaganda nennen. Wer einem griechischen König die Frau wegnimmt, kann nur ein Lump sein – und Lumpen sind auch Feiglinge … Ich habe da eine etwas andere Betrachtungsweise, die durch den sonstigen trojanischen Sagenkreis durchaus gestützt wird.
Parasang: antikes Längenmaß, ca. 5,6 km. Es wurde bereits in Mesopotamien verwendet und kam über Ägypten auch nach Griechenland und Kleinasien.
Poseidons Tritt: Poseidon ist nicht nur der Gott des Meeres und Beschützer der Pferde, er ist in der griechischen Mythologie auch für Erdbeben zuständig.
Riemen: binnenländisch – falsch – „Ruder“, Rundholz mit Blatt und Handgriff zum Fortbewegen eines Ruderbootes.
Schildkröte: Eigentlich ein Begriff aus der römischen Legion (also in gewissem Sinne „trojanisch“, denn die Römer betrachteten sich als Nachfahren der Trojaner …). Die Soldaten halten die Schilde so zusammen, dass sie wie ein durchgehender Panzer wirken. Weil diese „Figur“ sowohl zu den Seiten als auch nach oben durch die Schilde geschützt ist, sieht es aus wie eine überdimensionale Schildkröte.
Spanne: Altes Längenmaß, ca. 15 cm
Stadion: (Pl. Stadia), antikes Längenmaß. 1 Stadion ~ 180 m, 60 Stadia = 1 Parasang
Steven: Vor-, Achtersteven, Verlängerung des Kiels nach oben und Begrenzung des Schiffes vorn und achtern.
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