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Fluch der Karibik – Calypsos treuer Fährmann Teil 1 – online

Ab 12 Jahre

Prolog

Ein grüner Blitz im Sonnenuntergang hüllte die Flying Dutchman in gleißendes Licht, dann verschwand die sterbliche Welt um das Schiff der Toten herum und die jenseitige Welt hatte die Fähre der Toten wieder. Will stand am Steuer seines Schiffs, noch ganz erfüllt vom Glück des Hochzeitstages, den er mit Elizabeth ganz allein auf der kleinen, felsigen Insel verbracht hatte, die sie beide von nun an die Hochzeitsinsel nennen wollten. Ob das Glück der unendlichen Zärtlichkeit, die sie sich geschenkt hatten, ausreichen würde, die nächsten zehn Jahre zu überstehen? Will wusste es nicht, er konnte es nur hoffen; aber diese Hoffnung wollte er keinesfalls aufgeben. Heute in zehn Jahren würde es wieder einen grünen Blitz bei Sonnenuntergang geben, und er würde für den versprochenen Landgang in die Welt der Sterblichen zurückkehren.

Ein seltsames Gefühl breitete sich in dem leeren Raum in seinem Brustkorb aus, den das entfernte Herz hinterlassen hatte. Es war als … als würde ihm jemand über das Herz streicheln, ganz sanft, liebevoll, sehnsüchtig … Er lächelte und hatte die Vermutung, dass Elizabeth – wo immer in der sterblichen Welt sie jetzt auch sein mochte – die Truhe des Toten Mannes geöffnet hatte und sein Herz, das er ihr eigentlich schon als Kind geschenkt hatte, in ihre sanften Hände genommen.

Tu das bitte öfter’, durchfuhr ihn ein Gedanke. ‚Dann ist es nicht so schwer, dass ich nicht bei dir sein kann. Aber wer streichelt dein Herz, mein Liebling? Ich kann dir das nicht so zurückgeben, wie ich gern möchte.

Die Süße der Liebkosung, die er spürte, ließ ihn die Augen schließen. Vor seinem geistigen Auge sah er Elizabeth, ihre glücklichen Augen, als sich auf der Hochzeitsinsel im warmen Sand geliebt hatten. Es war wunderschön gewesen…

„Will …“, riss ihn die Stimme seines Vaters aus seinen süßen Träumen. Erschrocken zuckte Will zusammen.

„Oh, Vater …“

Bill grinste spitzbübisch.

„Am Steuer zu schlafen hätte dich unter deinem Vorgänger mindestens zehn Hiebe mit der Katze gekostet, mein Sohn“, warnte er mit scherzhaft gehobenem Zeigefinger. Will musste ebenfalls grinsen. Das Lächeln seines Vaters war ebenso ansteckend wie sein eigenes.

„Er hätte sich selbst verhauen lassen?“

Bill schüttelte mit einem freundlichen Lächeln den Kopf.

„Nein, er schlief so gut wie nie. Jemand mit deiner Macht muss das nicht mehr unbedingt. Dass du ihn so kalt erwischt hast, war eher Zufall. Aber trotzdem … lass es dir nicht zu Gewohnheit werden, wenn du am Steuer bist. Auch in der Anderswelt kann ein Riff deinen Kahn aufschlitzen wie ein Messer einen Fischbauch.“

„Danke für die Warnung, Paps. Löst du mich bitte ab?“

Bill nickte und griff in das Steuer.

„Du bist nicht ganz bei der Sache, verstehe schon. Geh und träum von ihr. Sie ist ein feines Mädchen, mein Junge.“

Will nickte und ging mit gesenktem Kopf nach unten in die Kapitänskajüte.

Bill sah ihm nach. Es war grausam, so tief liebende Menschen wie seinen Sohn und seine Schwiegertochter zu trennen; anderseits… ohne dieses Schicksal wären sie mindestens so lange getrennt gewesen, bis Elizabeth selbst gestorben wäre … So hatten sie noch die Chance, sich alle zehn Jahre einmal zu sehen … Aber was war dann? Bill traf es wie ein Keulenschlag. Wenn Elizabeth starb, dann waren sie endgültig getrennt und würden nicht einmal mehr im Jenseits zusammenkommen …

 

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Kapitel 1

Besuch einer Göttin

 

Will betrat seine Kajüte und lehnte sich gegen die Tür, als er sie geschlossen hatte. Er schloss die Augen und fühlte wieder Elizabeths unglaublich sanftes Streicheln an seinem Herzen. Wie konnte das eigentlich sein? Sie war samt dem Symbol ihrer gegenseitigen Liebe weit, weit von ihm entfernt. Und doch spürte er ihre Berührung, als ob sie direkt in seinen Brustkorb fasste.

 

Was er spürte, war völlig real, denn Elizabeth saß ebenfalls in ihrer Kajüte auf der Empress und hatte tatsächlich die Truhe offen, Wills Herz in ihren Händen und streichelte und küsste das warme, weiterhin ruhig und stetig schlagende Herz unter Tränen des Glücks und unendlicher Trauer. Warum hatte Jack nur so lange geredet, statt zu handeln? Konnte er nicht einmal – im passenden Moment – den Mund halten und einfach handeln, wie Will es getan hatte? Nein, seufzte sie in Gedanken, das konnte Jack offensichtlich nicht … Sein Zögern hatte Will das irdische Leben gekostet und ihn selbst um den eigentlich ersehnten Posten des Captains der Flying Dutchman gebracht.

„Will, ich liebe dich – und das werde ich immer tun“, flüsterte sie, küsste das Herz noch einmal und legte es dann in die Truhe zurück. Bei näherer Betrachtung erschien es ihr grob, das wichtigste Organ ihres geliebten Will auf hartes Holz zu legen.

„Tai Huang!“, rief sie. Der Erste Maat erschien prompt.

„Ihr habt gerufen, Captain?“, fragte er mit einer Verbeugung.

„Tai, haben wir kleine Kissen an Bord?“

„Wie kleine Kissen, Captain?“

„Nun, passend für diese Truhe“, erwiderte Elizabeth. Der Chinese lächelte.

„Aber gewiss, Captain. Ich lasse Euch eine Auswahl bringen“, versprach der Maat. Er verschwand, kurz darauf erschienen die beiden Dienerinnen und brachten eine große Truhe, die randvoll mit seidenbezogenen Kissen in unterschiedlichsten Größen war. Elizabeth dankte den Mädchen und entließ sie dann. Bei dieser Wahl wollte sie nicht gestört werden. Das Bett für das Herz ihres Mannes wollte sie ganz allein herrichten. Es dauerte nicht lange und die Truhe war mit fünf kleinen Kissen ausgepolstert, die mit gelber Seide bezogen waren. Erst zögerte sie noch, das pumpende Herz auf die Kissen zu legen, schließlich war es nass von Wills Blut. Doch als ein Tropfen herunterfiel, hinterließ er keinen Fleck. Mit einem Lächeln bettete Elizabeth sein kostbares Geschenk, das kostbarste, was er machen konnte, in die weichen Kissen, küsste es noch einmal und schloss dann leise die Truhe, als wollte sie ihn in seinem Schlaf nicht stören …

 

Will spürte tiefe Entspannung. Aber … wie konnte es sein, dass er sein Herz immer noch fühlte, wenn er es nicht bei sich hatte? Das verwirrte ihn. Und dann fühlte er, dass er nicht allein war … Verstört sah er sich um und bemerkte eine Gestalt, die mit dem Rücken zu ihm in einem der bequem gepolsterten Sessel in der Ecke der großen Kapitänskajüte saß. Interessiert ging er dorthin und gab sich keine Mühe, leise zu sein. Sein Besucher sollte gern wissen, dass der Captain ihn bemerkt hatte.

„Tia …?“, wunderte sich Will, als er den Sessel umrundet hatte und in das dunkle Gesicht der Voodoo-Zauberin sah. Calypso alias Tia Dalma lächelte ihn geradezu verführerisch an.

„Willkommen an Bord“, sagte Will mit einem Lächeln.

„Danke, William Turner“, bedankte sie sich. Ihre Sprache hatte jedoch nicht mehr den harten Akzent, den sie vor ihrer Rückverwandlung gehabt hatte. Jetzt sprach sie ein schönes, reines Englisch, das gut zu seiner südenglischen Heimat passte.

„Was kann ich für dich tun?“, erkundigte sich Will.

„Ich bin gekommen, um etwas für dich zu tun, William“, entgegnete sie. „Ich werde dich in deine Aufgaben einweihen.“

„Eine Frage noch, bevor du damit beginnst: Du hast diese Gestalt gehasst. Warum hast du sie wieder angenommen?“

Calypso lächelte sanft.

„Nicht um dich zu verführen, William“, erklärte sie gleich. „Ich bin eine Göttin und kann jede Gestalt annehmen, die mir beliebt. In dieser Gestalt bin ich dir vertraut. Du warst immer freundlich zu mir, auch wenn du manchmal recht reserviert warst. Du hast mir den Namen des Verräters genannt, der der Bruderschaft den Weg zeigte, mich in dieser Gestalt einzusperren. Nachdem ich sie nun verlassen konnte, kann ich sie in deiner Gegenwart wieder annehmen, denn du wirst mich nicht enttäuschen, nicht so wie Davy.“

Wills Lächeln bekam einen melancholischen Schimmer.

„Vielleicht doch, denn ich habe mein Herz einer anderen geschenkt“, erwiderte er. Sie schüttelte den Kopf.

„Das ist auch gut so. Sie wird es hüten, dein Herz. Sie ist treu, so wie du es auch bist. William, ich brauchte einen verlässlichen Captain für die Flying Dutchman, einen der seiner Aufgabe treu nachkommt und die Seelen der auf See Verstorbenen zuverlässig in die jenseitige Welt bringt. Aber ich habe feststellen müssen, dass nur ein Mann, der eine treue Frau hat und sie seinerseits aufrichtig liebt, geeignet ist, dieser Aufgabe nachzukommen. Davy hat mich hintergangen, er hat mich bitter enttäuscht. Sein Vorgänger wäre wohl auch geeignet gewesen, das für die Ewigkeit zu tun, aber den habe ich aus meinem Dienst entlassen, als seine Frau von Verehrern umlagert war und die Gefahr bestand, dass er sie verlieren würde.

Später habe ich Davy zum Captain gemacht, einen Mann, der mir gefiel und den ich geliebt habe. Aber Götter und Menschen … nein, die Kombination ist nicht wirklich passend, wie ich durch seinen Verrat feststellen musste. Ich denke in anderen Zeitdimensionen als ihr Menschen. Zehn Jahre sind für mich nichts, für euch sehr lange. Du wirst keine Langeweile haben in dieser Zeit, das kann ich dir versprechen, und Elizabeth hat dein Herz, hat eine greifbare Erinnerung an dich und hütet es gut. Du hast sicher bemerkt, wie liebevoll sie damit umgeht.“

„Ja, ich … ich habe ein Streicheln gespürt …“, sagte Will. „Wie geht das eigentlich? Davy hatte es doch gerade deshalb aus seiner Brust gerissen, um es nicht mehr zu spüren“, bemerkte er dann.

„Es war ein großer Unterschied zwischen dem, was Davy getan hatte und was in deinem Fall geschah. Davy wollte es nicht mehr haben, er wehrte sich gegen die Gefühle. Deshalb hat er es in diese rohe Truhe gesteckt und es tief im Sand vergraben, hat dafür gesorgt, dass ich nicht herankam, um genau das zu tun, was Elizabeth mit deinem Herzen tut. Du hast dein Herz verschenkt, an die Frau, die dich aufrichtig liebt. Was immer mit dem Herzen getan wird, spürt sein Eigentümer. Davy spürte nichts, weil niemand dieses Herz berührte. Du spürst Elizabeths Liebe, weil sie es streichelt und küsst“, erklärte Calypso.

„Und wer streichelt Elizabeths Herz?“, fragte Will mit einem Anflug von Bitterkeit. Die Göttin lächelte.

„Wenn du spürst, dass sie an deinem Herzen ist, dann denk daran, was du gern mit dem ihren tun würdest – und sie wird es so spüren, wie du es spürst.“

Will nickte. Wenn das so war, konnten sie beide die zehn Jahre überstehen ohne zu verzweifeln.

„Gut. Was habe ich zu tun?“, fragte er dann.

„Deine Aufgabe ist es, jene zu finden und ins Jenseits zu bringen, die auf See gestorben sind oder kurz davor sind, zu sterben. Du wirst es fühlen, wenn jemand stirbt und du wirst ihn finden. Davy hat diesen Sinn missbraucht, indem er den Sterbenden zwar das Angebot machte, auf seinem Schiff zu dienen, sie aber geknechtet hat und sie zu Wesen verkommen ließ, die weder Wesen der See noch des Landes waren oder sie gar als Ersatzteile in sein Schiff eingebaut hat. Wenn du deinen Fahrgast gefunden und aufgenommen hast, wird dein Sinn dich dorthin führen, wo das Ziel ist. Vertraue deinem Sinn, er ist zuverlässig und wird dich nicht im Stich lassen, solange du die lautere Absicht hast, deiner Bestimmung als Charon der sieben Meere nachzukommen“, erklärte die Göttin.

„Charon?“, warf Will verblüfft ein. „Wer oder was ist das?“

Calypso lächelte.

„Charon ist dein Kamerad an Land. Er bringt die an Land Gestorbenen mit einem Nachen über den Landfluss Styx in die Unterwelt oder in den Himmel – je nach Benehmen auf Erden. Nur muss er nicht danach suchen. Sie kommen sofort zu ihm, denn auf dem Land sorgt der Gott Hermes dafür, dass die Toten an den Styx kommen. Und Charon darf noch Fahrgeld kassieren, während du den Transport ohne Gegenleistung tun musst“, gab sie Auskunft. „Dieses Schiff ist schnell und du wirst fast im gleichen Augenblick in erreichbarer Nähe deines Fahrgastes sein. Wenn er noch nicht tot ist, kannst du ihm anbieten, deine Crew zu bereichern. Sie kann so groß sein, wie du es willst, es gibt dafür keine Grenzen. Du könntest dieses Schiff aber auch alleine fahren, wenn du es willst. Du hast die Macht dazu“, fuhr sie fort. „Doch bedenke, dass deine Macht über die Sterbenden und dieses Schiff dir eine große Verantwortung überträgt. Du bist nun die See und beherrschst sie. Du kannst Stürme entfesseln oder sie beruhigen. Gib deshalb auf deine Stimmungen Acht. Liebe, die du empfindest, beschützt die Menschen auf See. Aber Zorn, den du empfindest, kann für alle gefährlich sein, die in Küstennähe leben oder auf See sind. Wer dein Herz hat, beherrscht die See, weil er über dich herrschen kann. Auch deshalb musstest du eine Frau wie Elizabeth haben, die nicht nur unendliche Liebe für dich hat, sondern die auch in der Lage ist, ihr kostbarstes Gut, dein Herz, wie eine Löwin zu verteidigen. Ich habe lange nach einer Alternative zu Davy suchen müssen, aber ich konnte nicht mehr so frei handeln, nachdem Davy und die Bruderschaft mich in den menschlichen Körper sperrten. Doch den wenigen Einfluss, den ich noch hatte, habe ich genutzt, auch wenn es sehr lange dauerte, bis ich die Richtigen gefunden hatte.“

„Elizabeth und mich?“, hakte Will nach.

„Nein, eure Eltern …“, grinste Calypso. „Davys Nachfolger brauchte bestimmte Eigenschaften – Mut, Treue, Liebe, Selbstlosigkeit, Stärke, Kampfkraft, Geschicklichkeit, List, Beschützerinstinkt. Die gleichen Eigenschaften musste aber auch der Teil haben, der das Leben des Captains hüten musste. Und das ist schwer zu finden, immer fehlte mindestens eine dieser Eigenschaften, meist war es die Selbstlosigkeit, die sehr selten unter den Menschen ist. Du und Elizabeth, ihr habt die Selbstlosigkeit von euren Müttern, du aber auch von deinem Vater, weshalb sie bei dir stärker ausgeprägt ist als bei jedem anderen Menschen auf dieser Welt.“

„Dann … hast du das alles geplant?“

„Das hast du Jack schon mal an den Kopf geworfen. Ich stelle fest, dass dein Ton jetzt eher fragend als vorwurfsvoll ist. Ja, das war alles geplant – nur hätte mir dein Vater fast einen Strich durch die Rechnung gemacht, als er dich in England ließ, weil er schon früh fürchtete, dass du im nassen Grab enden würdest.“

Will lehnte sich in seinem Sessel zurück und dachte einen Moment nach.

„Wie hängt Beckett in deinem Plan?“

„Gar nicht. Er gehörte zu den unvorhergesehenen Dingen, zu denen, die ich nicht beeinflussen konnte. Die Bruderschaft hatte Recht, dass sie mich zwar für sich selbst gezähmt hatten, aber damit auch den Weg für Leute wie Beckett frei machten.“

„Calypso … mein Vater sagte mir, Elizabeth könne nicht mit mir fahren. Warum nicht?“

„Dein Schiff bewegt sich in einer anderen Welt, in die Sterbliche nicht hineingelangen können, ohne ihr Leben zu verlieren. Du wirst die Seelen in das Jenseits bringen. Das aber dürfen Sterbliche erst nach ihrem eigenen Tod sehen.“ 

„Wie war es dann möglich, dass ich auf der Flying Dutchman sein konnte, als ich noch sterblich war? Wie konnten Becketts Soldaten hier sein?“

„Davy hätte die parallele Welt nur alle zehn Jahre verlassen dürfen. Er verstieß jedoch gegen die Regeln, die ich ihm gab. Nicht nur, dass er sich um die Toten und Sterbenden nicht so kümmerte, wie ich es von ihm erwartete; nein, er mischte sich in die Angelegenheiten der Menschen ein und kreuzte auch in der Welt der Sterblichen herum. Er begann einen Seelenhandel, bot an, mit seiner Macht Dinge zu tun und ließ sich dafür die Seele versprechen. Solange er in der Welt der Sterblichen unterwegs war, konnten sich auch Sterbliche hier befinden, ja sogar unter Wasser mitfahren, denn die Flying Dutchman hat die Fähigkeit, alle zu schützen und in dem Zustand zu erhalten, in dem sie an Bord gekommen sind. Seitdem er Jack an den Handel erinnerte und seine Seele holen wollte, war er nicht mehr in der Zwischenwelt gewesen, in der du jetzt mit dem Schiff bist. Erst, als du hier auf dem Hauptdeck in Elizabeths Armen gestorben bist und das Schiff unter der Führung deines Vaters hierher zurückkehrte, um dein Herz wieder ins Leben zurückzuholen und dich zu retten, war die Flying Dutchman wieder das, was sie sein sollte.“

„Warum kann ich tot sein und doch leben?“

„Davy hat nicht dein Herz getroffen; du bist verblutet. Deshalb konnten dein Vater und die Crew das Herz unverletzt aus deiner Brust bergen und es wieder zum Schlagen bringen. In dem Moment, als dein Herz weder schlug, lebtest du wieder – und du wirst so lange leben, wie dein Herz schlägt. Es wird nicht aufhören, das zu tun, wenn es nicht durchbohrt wird. Elizabeth wird das zu verhindern wissen.“

„Hast du die Klinge von meinem Herzen ferngehalten?“

„Ja“

„Hast du Jack gehindert, selbst Davys Herz zu durchbohren?“

„Ja, denn du solltest mein neuer Captain sein. Jack ist mir zu eigensüchtig für diese Aufgabe. Er sieht zwar die Freiheit, aber nicht die Aufgabe. Das hast du schon richtig erkannt, als du ihn darauf hingewiesen hast“, erwiderte die Göttin.

Sie erhob sich und Will stand ebenfalls höflich auf.

„Ich will dich nicht länger von deinen Pflichten abhalten, William Turner. Du hast viel zu tun. Davy hat viel Unordnung hinterlassen, und es obliegt dir, erst einmal aufzuräumen, was er über Jahrhunderte versäumt hat. Alle sieben Weltmeere sind voller Toter, die noch keinen Weg ins Jenseits gefunden haben“, sagte sie.

„Eine Frage noch …“

„Nein. Ich werde wiederkommen, wenn du aufgeräumt hast. Dann werde ich dir deine Frage beantworten.“

Damit verschwand sie.

Will blieb allein in seiner Kajüte zurück. Eine Weile sah er auf den Kartentisch. Ganz normales Navigationsbesteck lag dort – Zirkel, Winkeldreieck, Kompass, Bleistift. Will betrachtete die Karte näher. Als er mit dem Finger den Rand berührte, schob sie sich weiter und gab einen neuen Seeabschnitt frei. Er probierte das auch am oberen und unteren Rand und erreichte jeweils eine Verschiebung des Karteninhalts in die jeweilige Richtung. Er hatte mit einer einzigen Karte das gesamte Seegebiet der Welt auf diesem einen Kartentisch. Durch Berührung bestimmter Punkte ließ sich die Ansicht auch vergrößern oder verkleinern.

Es klopfte.

„Herein!“, rief Will. Die Tür schwang auf und sein Vater kam herein.

„Geht’s dir gut?“, fragt er.

„Ja, warum?“

„Ich hörte, dass du mit jemandem gesprochen hast.“

„Calypso war hier, um mir meine Aufgabe zu erklären und ein paar Fragen zu beantworten. Jetzt ist sie wieder fort“, gab Will zurück.

„Eure Befehle, Captain?“, fragte Bill.

„Wir werden zuerst die vergessenen Toten von ein paar hundert Jahren einsammeln und an ihren Bestimmungsort bringen. Ruf die Crew zusammen. Ich möchte mit ihnen reden.“

„Aye, Captain!“, bestätigte Bill mit einem Lächeln.

 

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Kapitel 2

Ein neuer Ton

 

Will kehrte auf das Achterdeck zurück. Die Crew stand erwartungsvoll vor den beiden Niedergängen und sah ihren neuen Captain gespannt an.

„Ihr habt schon bemerkt, dass ihr euch verändert habt und dass auch dieses Schiff sich verändert hat. Ihr seid keine Kreaturen mehr, die mehr oder weniger halb menschlich und halb Seegetier sind. Von heute an wird dieses Schiff wieder seiner Aufgabe nachkommen, die Toten ins Jenseits zu geleiten. Ich brauche dafür eine Crew, aber keine, die geknechtet ist und nur unter Zwang handelt, sondern Leute, die mir bei dieser Aufgabe helfen wollen. Deshalb entbinde ich euch alle von dem Eid, den ihr geleistet habt und stelle es jedem frei, zu bleiben oder die Flying Dutchman zu verlassen“, erklärte Will mit lauter und deutlicher Stimme. Die Männer sahen sich verblüfft an. Dann trat einer einen Schritt vor und hob die Hand.

„Ich bleibe bei Euch, Captain Turner“, sagte er. „Ihr habt nicht nur Euren Vater befreit, Ihr habt uns alle befreit, und dafür danke ich Euch.“

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als wie auf Kommando sämtliche Hände in die Höhe flogen und die Männer wie aus einem Munde riefen:

„Ich auch!“

Will lächelte.

„Gut, Männer. Dann werden wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Seeleute nicht mehr in Panik ausbrechen, wenn die Flying Dutchman in der Nähe ist“, sagte er. „Wer unter euch ist der Dienstälteste?“

Der alte Wyvern hob die Hand.

„Ich, Sir. Davy Jones hat mich vor über hundert Jahren geschanghait“, erklärte er.

„Gut. Ihr, Master Wyvern, seid der Altersmaat. Als solchen beauftrage ich Euch, die Wahl zum Ersten und Zweiten Maat sowie zum Bootsmann durchzuführen. Einzige Regel: Keiner darf sich selber wählen. Vorschläge kann jeder machen, auch sich selbst.“

Maccus hob die Hand. Will nickte ihm zu.

„Captain, die Posten, die Ihr neu besetzen wollt, sind besetzt und …“

Er brach ab, als Will die Hand leicht anhob.

„Das ist mir bekannt, Master Maccus. Ich weiß auch, dass mein Vorgänger hier mit eiserner Faust – besser: seiner Krabbenschere – und der neunschwänzigen Katze geherrscht hat – aber das hat ein Ende. Ich übernehme eine gute Tradition der Piraten, indem die Crewmitglieder ihre Führungskräfte selber wählen. Beim Captain ist das an Bord dieses Schiffes zu meinem Bedauern nicht möglich, sonst würde ich mich auch selbst als Captain zur Wahl stellen, um mir sicher zu sein, euer aller Vertrauen zu haben. Bewerbt Euch um den Posten des Ersten Maats und seht, ob Ihr das Vertrauen der Crew habt, Master Maccus“, sagte er. 

„Aye, Sir!“, bestätigte Maccus. Er war sich nicht sicher, ob das klappen würde, zu willig hatte er Jones’ oft grausame Befehle befolgt. Auch Jimmy Legs, der bisherige Bootsmann, sah nicht glücklich aus. Es gab wohl keinen auf diesem Schiff, den er nicht schon – auf Befehl oder aus eigener Machtvollkommenheit – entsprechend dem von Davy Jones festgelegten Strafkatalog ausgepeitscht hatte. Dennoch stellte er sich tapfer zur Wahl.

 

Will lehnte sich bequem auf die Reling des Achterdecks und verfolgte die Wahl auf dem Hauptdeck.

„Hast du an einen Navigator gedacht, mein Junge?“, fragte Stiefelriemen.

„Nun, Calypso sagte mir, ich hätte einen speziellen Sinn dafür, Tote oder Sterbende aufzufinden. Brauche ich einen Navigator?“

„Es schadet nicht. Vor allem könntest du einen brauchen, wenn wir in der Welt der Sterblichen sind.“

„Hast du einen Vorschlag?“

„Koleniko. Er hat einen besonderen Sinn dafür.“

„Sollte ich ihn wählen lassen oder Koleniko einfach fragen, ob er es machen möchte?“, fragte der Captain.

„Nun … Führungspositionen sind Vertrauenssache. Sowohl der Captain als auch die Crew sollte ihnen vertrauen können. Navigation ist abhängig von Fähigkeiten. Koleniko hat sie“, sagte Bill. Will nickte und sah wieder nach unten, wo die Crew gerade über den Ersten Maat abstimmte. Maccus gewann mit deutlichem Vorsprung zu Palafico und Greenbeard, die sich ebenfalls beworben hatten.

„Captain, Master Maccus ist vorn der Mannschaft zum Ersten Maat gewählt. Akzeptiert Ihr ihn als Ersten Maat?“, fragte Wyvern.

„Er hat das Vertrauen der Crew, dann hat er auch meines verdient. Master Maccus, Ihr seid der Erste Maat der Flying Dutchman“, erklärte Will.

„Vorschläge für den Zweiten Maat?“, rief Wyvern.

„Ich schlage William Turner sen. vor“, meldete sich Will zu Wort. Bill sah seinen Sohn verblüfft an.

„Das meinst du nicht ernst, Junge!“, keuchte er.

„Oh, doch, das meine ich“, grinste Will.

„Ich bewerbe mich ebenfalls“, erklärte Greenbeard. Auch Palafico und Clanker stellten sich zur Wahl. Wyvern ließ abstimmen – und Bill Turner wurde nahezu einstimmig zum Zweiten Maat gewählt.

„Nehmt Ihr die Wahl an, Master Turner?“, fragte Will, als Wyvern das Wahlergebnis verkündete.

„Wenn Ihr mich als Zweiten Maat akzeptiert, Captain?“, gab Stiefelriemen mit einem schüchternen Lächeln zurück.

„Wem könnte ich mehr vertrauen als meinem Vater?“, fragte Will. „Abgemacht?“, setzte er hinzu und hielt seinem Vater die Hand hin. Einen Augenblick sah Bill ungläubig auf die einladende Hand seines Sohnes, dann schlug er herzhaft ein.

„Ich akzeptiere, Captain Turner.“

„Habt Ihr auch einen Vorschlag zum Bootsmann, Captain?“, fragte Wyvern. Bislang hatte sich nur Jimmy Legs ins Gespräch gebracht.

„Wen würdet Ihr vorschlagen, Master Wyvern?“, fragte Will und hoffte, dass der alte Wyvern sich selbst melden würde. Doch Wyvern zuckte nur mit den Schultern. Will wollte nicht, dass sich die Crew nur nach seinen Vorschlägen richtete und unterließ es, den wahrhaft alten Fahrensmann von sich aus vorzuschlagen. Auch Bill Turner sagte nichts. Wyvern ließ abstimmen, und Jimmy Legs bekam als einziger Kandidat etwa die Hälfte der vorhandenen Stimmen.

„Die halbe Mannschaft stimmt für Jimmy Legs, die andere ist dagegen, Captain“, verkündete Wyvern.

„Nun, Master Legs, wie es aussieht, müsst Ihr Euch das Vertrauen der einen Mannschaftshälfte erst noch verdienen“, sagte Will. Jimmy wurde puterrot.

„Und … was werdet Ihr tun, Sir?“, fragte er vorsichtig an.

„Ich akzeptiere Euch als Bootsmann und weise Euch an, Euch das Vertrauen der Mannschaft zu erwerben.“

„Aye, Captain!“, bestätigte Legs. Will winkte ihn auf die Brücke*. Als er oben auf dem Achterdeck* war, streckte der Captain die Hand aus.

„Ihr habt noch etwas, das ich gern an mich nehmen möchte“, sagte er.

„Was meint Ihr, Captain?“

„Die neunschwänzige Katze, Master Legs“, präzisierte Will. Jimmy griff in seine zerschlissene Jacke und händigte dem Captain den Sack mit der Peitsche mit gesenktem Kopf aus. Will nahm den Sack an sich, zog das schreckliche das Strafinstrument heraus und hielt es hoch, dass es jeder sehen konnte.

„Die Katze ist aus dem Sack! Auf diesem Schiff gibt es von heute an keinen Zwang und keine Knechtschaft mehr. Damit erübrigt sich ein Instrument der Knechtschaft“, rief er, steckte sie wieder in den Sack und warf ihn im hohen Bogen über Bord.

„Ein Hoch auf den Captain! Hoch, Captain Turner!“, rief Wyvern laut. Sein Ruf wurde von der Crew aufgenommen und oft wiederholt.

Will brauchte eine Weile, um seine jubelnde Crew wieder zur Ruhe zu bringen.

„Gut, Männer. Eines noch: Master Koleniko: Kommt bitte auf die Brücke!“

Koleniko stieg auf das Achterdeck.

„Master Koleniko, der Zweite Maat hat mir gesagt, dass Ihr ein guter Navigator seid. Ist das so?“

„Aye, Captain“, antwortete Koleniko.

„Dann seid Ihr der Steuermann, wenn ich nicht selbst am Ruder* stehe oder der Zweite Maat. Seid Ihr einverstanden?“

„Aye, Captain!“, bestätigte der neue Steuermann strahlend.

„Gut, dann bleibt gleich hier und übernehmt das Steuer“, sagte Will und wandte sich dann an die Mannschaft:

„Auf eure Posten, Männer! Wir haben viel zu tun, das in Ordnung zu bringen, was euer letzter Captain an unerledigten Aufgaben hinterlassen hat. Bootsmann, lasst alle Segel setzen! Master Koleniko, bestimmt den Kurs!“, befahl Will.

„Aye, Captain!“, dröhnte es vielstimmig über die Decks.

Der Captain trat in den Hintergrund an die Heckreling des Schiffs und sah mit freundlichem Blick, wie seine Männer die Wanten enterten und die Segel lösten. Sie fielen strahlend weiß und blähten sich im aufkommenden Wind. Die Flying Dutchman gewann rasch an Fahrt und schob bald eine schäumende Bugwelle vor sich her. Koleniko schloss kurz die Augen, sah dann auf den Kompass vor dem Steuer und warf es hart Backbord. Er hatte das erste Ziel ausgemacht und führte das Schiff auf den richtigen Kurs.  

Bill trat neben seinen Sohn und bemerkte das warme Leuchten in dessen Augen.

„Mit dir hat hier ein anderer Ton Einzug gehalten, mein Sohn. Ich habe einige Captains in meinem Seefahrerleben gehabt, aber so einen wie dich noch nie. Warum wollte ich bloß nicht, dass du zur See fährst?“

Will grinste.

„Du wolltest nicht, dass ich Pirat werde. Ich bin einer geworden, um ein guter Seemann zu werden. Und ich bin froh, dich an meiner Seite zu haben, Vater“, sagte er sanft. „Bitte, hilf mir bei dem, was ich zu tun habe.“

„Das werde ich, mein Sohn, das werde ich“, versprach Bill.

 

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Kapitel 3

Eine neue Welt

 

Koleniko hatte mit seinen besonderen Navigationsfähigkeiten die ersten Fahrgäste ins Jenseits schnell gefunden, und die Flying Dutchman bewies ihre besondere Fähigkeit, blitzschnell dort zu sein, wo sie gebraucht wurde.

Es waren die Boote und treibenden Leichen mit den unnatürlich langen Hälsen, die an der Black Pearl vorbeigetrieben waren, als sie nach Jacks Rettung in der Flaute der Anderswelt gedümpelt war. Aber es waren auch Leute in Uniformen der East India Trading Company dabei, ebenso Piraten aus aller Herren Länder; Leute, die erst im Kampf zwischen der Black Pearl und der Flying Dutchman während des von Calypso entfesselten Sturms gestorben waren.

„Captain, wir haben die Fahrgäste erreicht“, meldete Koleniko. „Eure Befehle?“

„Nehmt die Boote in Schlepp und helft den Treibenden an Bord. Dann Kurs Jenseits, Master Koleniko.“

„Aye, Captain!“, bestätigte der Steuermann und gab einen entsprechenden Befehl an den Bootsmann, der sich beeilte, der Anweisung nachzukommen und die geeigneten Leute dafür aussuchte.

Will trat an das Fallreep*, um die Fahrgäste in Empfang zu nehmen. Die meisten sahen ihn zunächst ängstlich an. Selbst unter Toten hatte die Flying Dutchman einen ausgesprochen schlechten Ruf …

„Willkommen an Bord“, begrüßte Will die Seelen. „Wir sind gekommen, um euch an den Ort zu bringen, den Gott für euch bestimmt hat.“

Ängstlich sahen die toten Seelen sich an.

„Habt keine Angst“, beruhigte Will sie, als er die Angst erkannte, die diese armen Seelen hatten. „Es wird alles gut werden. Die Ungerechtigkeit ist für euch vorbei. Jedem wird Gerechtigkeit widerfahren.“

Einer der Toten, dem Äußeren nach ein abgerissen aussehender Bettler, fiel vor Will auf die Knie.

„Erspart mir das Gericht. Ich will Euch dienen in Ewigkeit“, flehte er mit bebender Stimme. Will half ihm vorsichtig auf.

„Du bist tot, ich kann dich nicht in meine Crew aufnehmen. Aber sei zuversichtlich. Gott ist gerecht. Wenn du etwas falsch gemacht hast in deinem Leben, dann bereue deine Sünden“; sagte er.

„Meint Ihr, dass ER mir vergeben wird?“

„Die Bibel sagt das, mein Freund“, erwiderte Will sanft. Der Tote sah das warme Leuchten in Wills braunen Augen.

„Der Herr hat einen Engel gesandt!“, entfuhr es ihm. „Danke, Herr!“

Alle Angst war von ihm abgefallen, und er sprang voller Freude den anderen Seelen hinterher, die in langem Zug in die Räume unter Deck gingen.

Interessiert ging Will ebenfalls unter Deck und sah sich an, wohin sich seine Fahrgäste begaben. Es schien ihm eigentlich unmöglich, dass diese ungeheure Masse von Toten, die sie gerade aufnahmen, Platz auf dem Schiff fand, mochte es auch für eine Fleute* eine ungeheure Größe haben. Doch Seelen brauchen nicht viel Platz. Wie von selbst sortierten sich die toten Seelen, schrumpften zusammen, bis sie alle genug Raum hatten. Der Zug der Seelen dauerte Stunden, doch schließlich waren alle im Wasser treibenden Seelen geborgen und die in den Booten befindlichen Seelen in Schlepp genommen. Will spürte die Erleichterung der Seelen, als sie bemerkten, dass sie nicht im Fegefeuer oder gleich in der Hölle gelandet waren. Sie hatten nun die Hoffnung, dass es für sie doch noch eine Rettung gab. Die Freundlichkeit des Captains, die Wärme, die er ausstrahlte, gab ihnen diese Hoffnung.

 

Der Captain kehrte auf das Achterdeck zurück und überzeugte sich, dass die in Schlepp genommenen Boote gut gesichert waren und sich nicht gegenseitig behinderten.

„William!“, hörte er die Stimme seines Schwiegervaters. Will trat an die Reling.

„Ich grüße Euch, Governor Swann, und überbringe Euch Grüße von Elizabeth“, sagte er. Weatherby Swann strahlte.

„Geht es ihr gut?“

„Ja“, bestätigte Will lächelnd. „Sie wartet in Schiffbruch Bay darauf, dass ich in zehn Jahren zu ihr zurückkehre. Sie vermisst Euch sehr und wünscht Euch alles Gute.“ 

„Ich bitte um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen, Captain Turner“, bat der Gouverneur. Will sah zu seinem Vater, der nickte.

„Kommt an Bord, Sir!“, winkte Will ihm. Auf sein Winken wurde das Boot des Gouverneurs schneller und legte von selbst am Fallreep an. Will half seinem Schwiegervater an Bord.

„Willkommen an Bord, Schwiegerpapa“, begrüßte er ihn.

„Du hast es also wahr gemacht, William. Du bist ihre große Liebe. Aber … warum bist du nicht bei ihr geblieben? Liebst du sie nicht?“

„Ich bin für sie gestorben, Sir“, erwiderte Will. „Davy Jones war kurz davor, sie zu töten. Ich habe ihn von ihr abgelenkt, auch um den Preis meines eigenen irdischen Lebens. Es war Jacks Idee, mir die sterbende Hand zu führen, um Jones’ Herz zu durchbohren. Ich habe seinen Platz einnehmen müssen, aber dadurch hat Elizabeth mich nicht gänzlich verloren. Alle zehn Jahre darf ich für einen Tag zu ihr zurück. Hätte Jack das nicht getan, wäre ich jetzt Teil der armen Seelen, die wir gerade an Bord genommen haben und hätte sie nie wiedergesehen“, erklärte Will leise. Swann sah sich verblüfft um.

„Das ist die Flying Dutchman? Ich dachte, sie wäre ein Geisterschiff“, wunderte er sich. Will lächelte auf seine unnachahmliche Art.

„Sie ist ein Geisterschiff – aber seit heute ein gutes“, erwiderte er. „Niemand muss dieses Schiff noch fürchten. Wir werden treulich der Aufgabe nachkommen, die Calypso uns gestellt hat.“

Swann nahm seinen Schwiegersohn in die Arme.

„Vergib mir, dass ich an dir gezweifelt habe, William.“

„Es ist vergeben, Schwiegerpapa“, erwiderte Will und drückte seinen Schwiegervater an sich.

 

Jimmy Legs signalisierte, dass alle an Bord und die Boote gesichert waren. Will wandte sich an den Steuermann:

„Master Koleniko, Kurs Jenseits!“, befahl er.

„Aye, Captain!“, kam es vom Achterdeck. Koleniko brachte die Flying Dutchman wieder auf Kurs und bald schoss das Totenschiff mit den strahlend weißen Segeln durch die Wasser der Anderswelt gen Jenseits.

Sie fuhren auf eine dichte, weiße Nebelwand zu. Will war darauf gefasst, dass es wieder über das Ende der Welt hinausgehen würde, doch plötzlich teilte sich der Nebel wie ein Vorhang aus silbernem Glas, als der Klüverbaum* der Flying Dutchman ihn berührte. Dahinter kam ein wunderschönes grünes Land mit einem weißen Strand in tiefblauer See zum Vorschein. Die Flying Dutchman verlor an Geschwindigkeit, ohne dass jemand die Segel gerefft* oder die Rahen gebrasst* hatte, um den Wind aus den Segeln zu nehmen. Eine warme, helle und doch sehr milde Sonne beschien einen Landesteg, der wie aus dem Nichts erschien. Ebenso wie aus dem Nichts waren Wesen von schöner Gestalt und schönem Angesicht in strahlend weißen Gewändern dort.

Engel’, durchzuckte es Will. ‚Das können nur Engel sein.’

„Deine Mutter hat mir geschrieben, du hättest das Gesicht eines Engels, mein Sohn. Ich finde ihre Einschätzung bestätigt“, hörte Will die Stimme seines Vaters neben sich. Will sah genauer hin. Einer der Engel, die am Landesteg standen und die Seelen in Empfang nahmen, sah hoch zu Will und winkte ihm lächelnd zu. Will hatte das Gefühl in den Spiegel zu sehen, nur hatte der Engel blondes, langes Haar und blaue Augen … Will erwiderte freundlich den Gruß und sah dem Aussteigen seiner Fahrgäste zu.

 

Eine Weile zog der Strom der armen Seelen vom Schiff auf den Steg unbehindert, dann plötzlich stoppte einer der Engel einen der Toten und zog ihn beiseite. Will sah genauer hin und stellte fest, dass es Mercer war, den der Engel aussortiert hatte.

„Sieh an“, murmelte er. Gleich darauf pickte der andere Engel Beckett aus der Menge.

„Ich glaube, wir werden noch einen Abstecher an einen Ort machen müssen, den keiner freiwillig sehen möchte“, seufzte Bill.

„Du meinst die Hölle?“, fragte Will. Stiefelriemen nickte.

„Wenn du diesen Ort einmal gesehen hast, wirst du wissen, was man wirklich fürchten muss. Ich verstehe, dass viele Angst vor dem Tod haben, wenn man sich nicht sicher sein kann, wirklich hier aussteigen zu dürfen …“

Ein Seitenblick traf seinen Sohn. Bill sah ihm an, dass er mit sich kämpfte.

„Du bist ihretwegen hier“, erinnerte Bill. „Der Lump hat dich und Elizabeth grundlos verhaften lassen, hat sich Davys Herz unter den Nagel gerissen, um die Meere nach seiner Fasson beherrschen zu wollen – ohne jede Rücksicht auf Verluste oder Gefühle anderer Menschen. Erinnere dich, dass die meisten der vielen Toten, die wir gerade abgegeben haben, auf seinen Befehl umgebracht wurden. Das sind die Mörder deines Schwiegervaters“, mahnte er.

„Ja, stimmt. Bis hierher hätte ich ihnen auch gegönnt, in der Hölle zu schmoren, aber wenn es jetzt wirklich soweit sein sollte, habe ich doch Mitleid mit ihnen. Jeder verdient, dass er bereuen kann. Ich habe mich schon in der Welt dagegen gewehrt, dass Reue nicht anerkannt wurde. Hier sollte sie wirklich etwas bewirken.“

„Deine Mutter hatte Recht, mein Sohn: An dir ist ein Engel verloren gegangen, wenn du fähig bist, diesen Oberlumpen zu vergeben.“

Will fühlte die Hand seines Vaters auf der Schulter.

„Ich habe selbst einiges auf dem Kerbholz und wäre dankbar, wenn jene, denen ich Unrecht getan habe oder die durch mich aus dem irdischen Leben gerissen wurden, mir vergeben würden“, sagte er leise.

 

Der ganze lange Strom der armen Seelen war versiegt, das Schiff und die geschleppten Boote leer. Abgesehen von Mercer und Beckett waren alle in das Paradies eingelassen worden. Die beiden Engel nahmen die Verdammten am Arm und brachten sie auf das Schiff zurück.

„Captain, Ihr seid angewiesen, diese Seelen an den anderen Ort zu bringen“, sagte der Engel, der Will so unendlich ähnlich sah.

„Gibt es keine Rettung für diese Seelen?“, fragte Will.

„Du weißt, was sie getan haben“, erwiderte der Engel. „Sie hatten genug Gelegenheit, ihre Taten zu bereuen, doch sie haben es nicht getan. Jetzt werden sie die Konsequenzen tragen müssen.“

Will wollte etwas einwenden, doch der Engel ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Du bist nur für den Transport verantwortlich, die Entscheidung, wo deine Fahrgäste aufgenommen werden, liegt nicht bei dir. Es steht dir nicht zu, die Entscheidungen in Zweifel zu ziehen“, stellte der Engel klar.

„Ich habe einmal gelernt, dass Gebete für andere zu Erbarmen führen können. Sollte mein Glaube so falsch sein?“, fragte Will bitter. „Ich bin selbst nicht frei von Schuld, das will ich gestehen, doch ich wage es, für diese Seelen zu bitten. Bedenke, dass ihre Handlungen auch gegen mich gerichtet waren. Ich vergebe ihnen, was sie mir zugefügt haben“, erklärte Will entschlossen. Der Engel lächelte.

„Dein Eintreten für andere ist hier bekannt, William Turner. Dein Mut und deine Bereitschaft, dich für andere einzusetzen, ehren dich. Doch für diese beiden bittest du vergeblich. Nicht allein dich haben sie verfolgt. Sie haben Tausende von Seelen auf dem Gewissen – zum eigenen weltlichen Vorteil, aus blindem Gehorsam, aus Freude daran, anderen Schmerzen und Leid zuzufügen. Nein, die kommen hier nicht herein. Aber wenn sie auf dem Weg noch rechtzeitig Reue zeigen, kannst du sie an einen Ort bringen, an dem sie weitere Gelegenheit haben, über ihre Taten nachzudenken und endgültig zu bereuen. Denn das haben sie bisher nicht getan“, erklärte der Engel.

„Aye“, seufzte Will.

„Du bist nicht einverstanden?“

„Nein, aber wenn es mir nicht zusteht, die Entscheidungen des Allmächtigen in Zweifel zu ziehen, kann ich das nur zähneknirschend akzeptieren. Doch erwarte nicht von mir, dass ich darüber in Jubel ausbreche“, versetzte er. Der Engel sah ihn sanftmütig an.

„Du hast viel Mut. Aber hier ist nicht die Welt, in der auch ein einfacher Mann mit mutigem Herzen den Mächtigen trotzen kann. Glaub mir nur so viel, dass ER dich kennt und weiß, wer du bist – und wie viel Überwindung es dich gekostet hat, für diese um Vergebung zu bitten. Friede sei mit dir und deinem Schiff“, erwiderte er und war im nächsten Moment wieder auf dem Steg.

„Bis bald“, sagte Will und winkte dem Engel nach. Dann ging er ans Steuer.

„Ich löse Euch ab, Master Koleniko“, sagte er zu dem Steuermann.

„Aye, Captain!“

„Leinen los! Männer an die Brassen*! Bringt sie in den Wind!“, befahl Will.

 

Die Flying Dutchman löste sich vom Steg, der im Nichts verschwand, sobald das Schiff mehr als einen Klafter Abstand dazu gewonnen hatte. Will warf das Ruder hart Steuerbord* und ließ das Schiff laufen.

„Was hast du vor?“, fragte Bill leise.

„Calypso sagte mir, dass das Schiff seinen Weg zu dem Ort selbst findet, der für die beförderten Seelen bestimmt ist. Wenn sie in der Hölle schmoren sollen und ich das durch meine Vergebung nicht verhindern kann, dann ist es so. Ich widersetze mich nicht Gott selbst“, erwiderte der Captain. Bill lächelte sanft und schweigend.

„Wie … oft warst du schon hier?“, erkundigte sich Will.

„Einige Male, aber auch einige Male an dem anderen Ort. Davy war nicht immer völlig abgeneigt, seine Aufgabe zu erfüllen, aber er tat es nach eigenem Gutdünken und nicht nach Notwendigkeit.“

Schweigen legte sich über das Totenschiff, als es den Nebel vor der Küste des Jenseits wiederum durchbrach und auf die freie See der Anderswelt glitt. Jeder an Bord wusste, wo der nächste Hafen war. Will stand schweigsam am Steuer. Es bedrückte ihn, dass nicht einmal die Vergebung, zu der er sich durchgerungen hatte, etwas bewirken konnte. Schließlich hielt er das Schweigen nicht mehr aus.

„Master Turner, übernehmt bitte das Steuer!“, sagte er.

„Aye, Captain!“, bestätigte Bill und trat ans Ruder.

 

 

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Kapitel 4

Die Pforte der Hölle

 

Will stieg eilig vom Achterdeck in das Unterdeck, wo die Räume der Fahrgäste waren. Mercer und Beckett hockten zusammengesunken auf den Pritschen, zitterten am ganzen Leib.

„Könnt ihr euch denken, wohin diese Fahrt geht?“, fragte Will. Beckett sah hoch.

„Warum konnten wir dort nicht bleiben?“, fragte er.

„Denk mal nach, Cutler“, forderte Will ihn auf.

„Für Euch Lord Beckett!“, fuhr Beckett den Captain an. Will seufzte, nahm sein Kopftuch ab und setzte sich gegenüber dem Verdammten auf die andere Pritsche.

„Du bist tot, Cutler, und ich habe daran einen gewissen Anteil, da meine Kanonen die eine Hälfte der Vernichtung deiner Endeavour waren. Die andere kam von der Black Pearl. In dieser Welt gibt es solche Standesunterschiede nicht, wie sie in der Welt der Sterblichen konstruiert werden. Darum werde ich dich als meinesgleichen behandeln. Ihr beide, du und Mercer, seid dazu bestimmt, dem Herrn der Hölle nicht nur ‚Guten Tag’ zu sagen, sondern den Rest der Ewigkeit bei ihm zu verbringen. Ihr habt noch eine Chance, dem zu entgehen. Bereut, was ihr angestellt habt, dann kann ich euch wenigstens im Fegefeuer abgeben und ihr könntet es doch noch ins Paradies schaffen, wo man euch heute abgewiesen hat“, erklärte Will.

„Wir haben auf Anweisung von oben gehandelt. Das kann man uns doch nicht so auslegen!“, protestierte Beckett.

„Es gibt Grenzen der Loyalität, Cutler. Und die sind dort, wo das Gewissen ist. Du hast mich verhaften lassen, obwohl Governor Swann mir in seiner Eigenschaft als Stellvertreter des Königs von England Gnade gewährt hatte …“

„Das hatte er nur für deine Piraterie vor der Verurteilung Sparrows getan!“, keifte Beckett. Will sah ihn mitleidig an.

„Du bist ein Haarspalter; abgesehen davon hat der Gouverneur mir auch dafür Gnade gewährt. Es war alles Mögliche, aber gewiss keine Gerechtigkeit, die du gegen Elizabeth und mich üben wolltest. Ich habe dir das vergeben, weil jeder bereuen kann. Geh in dich und denk nach. Noch hast du Zeit dazu“, sagte er.

„Warum fährst du uns nicht gleich dorthin? Du bist doch der Captain hier?“, wunderte sich Mercer.

„Ja, aber über den Abgabeort der Fahrgäste dieses Schiffes entscheidet nicht der Captain, sondern Gott selbst. Es sucht sich seinen Kurs nach dem Bestimmungsort durch seine Macht selbst. Meine Macht besteht nur darin, die Seelen zu finden, die auf eine Passage ins Jenseits warten.“

„Du bist die See!“, konterte Beckett. „Beherrsche sie!“

Will schüttelte den Kopf.

„Bei mir bist du mit solchen Vorschlägen an der falschen Adresse, Cutler. Ich habe ein Gewissen – und das verbietet mir, meine Macht zu meinem eigenen Vorteil zu missbrauchen.“

„Du bist ein Pirat!“

„Ja, weil du mich meiner bürgerlichen Existenz beraubt hast, mich dazu gezwungen hast, einen Weg zu gehen, den ich eigentlich nicht gehen wollte. Ich hatte bis zu meinem geplanten Hochzeitstag, den du mir und Elizabeth so gründlich vermasselt hast, nie die Absicht, Pirat zu werden. Ich bin meinem Gewissen gefolgt, als ich Jack befreit habe. Was er für Elizabeth und mich getan hatte, rechtfertigte den Galgen nicht, sondern hätte ihm vielmehr Anerkennung einbringen sollen. Er hatte damit nach unserer Überzeugung genug Gutes getan, dass ihm auch Vater Staat hätte verzeihen sollen. Frei von Schuld bin ich nicht, sicher nicht, aber wann immer ich gegen das Gesetz rebelliert habe, dann widersprach das Gesetz der Gerechtigkeit.“

„Du erhebst dich über den König?“, stieß Beckett hervor.

„Über einen weltlichen König, ja. Der ist ein Mensch wie ich und kann sich irren. Ich erhebe mich nicht über den des Himmels. Und der verdonnert euch zur Höllenstrafe, wenn ihr euch nicht besinnt und bereut. Also geht in euch, denkt nach und trefft eine Entscheidung, bevor wir die Gestade der Hölle erreichen!“, knurrte Will.

 

Er stand auf und verließ den Passagierraum. Er hatte es versucht, aber beide waren offenbar nicht bereit, zu bereuen, was sie getan hatten. Oben an Deck blieb Will stehen und sah über die weite See, durch die die Flying Dutchman pflügte. Ringsumher war nichts als wogendes Meer, nicht die Spur von Land in Sicht. Wie lange die Fahrt dauern würde, wusste er nicht, aber er wollte die Hoffnung nicht gänzlich aufgeben, dass die Verdammten sich doch noch besannen.

Bill Turner trat beiseite, als sein Sohn auf das Achterdeck stieg.

„Willst du wieder ans Steuer?“, fragte er. Schweigend nickte Will und übernahm das Ruder wieder.

„Du hast versucht, sie zur Umkehr zu überreden?“, fragte Bill. Will nickte.

„Ernsthaft, du verschwendest deine Zeit. Bei denen ist alles zu spät.“

Auf Wills Gesicht zeigte sich ein schiefes Grinsen.

„Ich habe zu viel Zeit für solche Dinge, wenn ich mir vorstelle, dass ich in alle Ewigkeit den Fährmann für Calypso mache und nur alle zehn Jahre einmal Landluft schnuppern darf“, erwiderte er. Bill musste lachen.

„Ja, das ist wahr“, sagte er dann. 

„Weißt du, ich glaube, niemand hat es verdient, für die wenigen Jahre, in denen er sich auf Erden danebenbenehmen konnte, wirklich den Rest der Ewigkeit in der Hölle zu verbringen. Das steht einfach in keinem angemessenen Verhältnis“, sagte Will leise.

„Meinst du, andere hätten es verdient, für die wenigen guten Taten, die sie tun, ewig im Paradies leben zu dürfen? Ist das nicht auch ein grobes Missverhältnis?“, schmunzelte Bill.

„Wenn ich den Pfarrern glaube, ist es ja Gottes Absicht, alle seine Geschöpfe im Paradies zu versammeln. Also sehe ich das nicht so.“

Bill nickte und legte seinem Sohn verständnisvoll eine Hand auf die Schulter.

Will behielt den Kompass im Auge, aber die Nadel wich keinen Strich vom bisherigen Kurs ab.

„Wann werden wir dort sein?“, fragte er.

„Drei bis vier Tage Seereise haben wir vor uns, wenn nicht noch ein bisschen mehr. Mach dir jetzt keine Gedanken um sie. Wenn sie sich doch noch durchringen, wirst du es merken, Junge.“

 

Der Tag senkte sich langsam dem Ende zu, die Sonne nahm einen orangeroten Schimmer an und berührte dann den Horizont. Will sah nachdenklich und ein wenig verträumt in die untergehende Sonne. Als er sie das letzte Mal am Horizont gesehen hatte, war er nach dem wunderschönen Tag mit Elizabeth unbeschreiblich glücklich gewesen. Jetzt war ihm nicht mehr so leicht und selig zumute, wenn er an das Ziel dieser Fahrt dachte. Die Sonne versank und binnen Augenblicken war es stockfinster, sah man von den Sternen ab.

Direkt voraus, über dem Klüverbaum, nahm Will einem tiefroten Schein wahr. Reste des Tageslichtes konnten es nicht sein, die Sonne war an Steuerbord im Meer versunken … Er sah seinen Vater an, der neben ihm stand.

„Ja, das ist die Hölle, mein Sohn – aber sie ist noch weit entfernt.“

„Hol die beiden Verdammten an Deck. Vielleicht überzeugt sie das“, sagte Will.

„Aye, Captain“, bestätigte Bill Turner und verschwand unter Deck.

„Master Koleniko – bitte übernehmt“, wies Will den Steuermann an.

„Aye, Captain!“

 

Will verließ das Achterdeck und ging zum Bug. Nur Augenblicke später kam sein Vater mit den beiden Verdammten.

„Für was würdet ihr das dort am Horizont halten, meine Herren?“, fragte Will. Beckett und Mercer sahen in die Richtung, in die Will wies.

„Keine Ahnung“, sagte Mercer.

„Das, Mercer, ist die Hölle – und wir haben noch drei bis vier Tage Fahrt vor uns. Ihr kennt die Flying Dutchman und wisst, dass sie gegen den Wind schneller ist als jedes andere Schiff mit dem Wind. Wir fahren gegen den Wind … Wenn also jetzt schon ein solcher Schimmer zu sehen ist, was mag dann wohl in drei Tagen vor unserem Bug sein?“, fuhr Will fort. Beckett und Mercer wich das Blut aus dem Gesicht.

„In den nächsten zwei Tagen sollte euch klar sein, was ihr wollt. Danach kann ich es nicht mehr stoppen, klar soweit?“

Beide nickten verstört.

„Bringt sie wieder unter Deck, Master Turner!“, befahl Will. „Sie sollen in Ruhe nachdenken können.“

„Aye, Captain!“, grinste Bill und schubste die armen Seelen wieder in Richtung Decksluke.

„Master Turner?“, rief Will. Sein Vater drehte sich um.

„Aye?“

„Bitte, geht sanft mit ihnen um. Es scheint, als wären es die letzten halbwegs guten Tage für sie“, lächelte Will. Bill grinste.

„Aye, Captain!“, flötete er. „Darf ich bitten, Mylords?“, griente er den Verdammten zu und wies mit ausgesuchter Höflichkeit gen Niedergang.

 

Der junge Captain fand, dass es Zeit war, einen Moment Ruhe zu finden und ging in seine Kajüte unter dem Achterdeck. Es war still dort. Will sah auf die Seekarte, die auf dem Tisch ausgebreitet war. In der Mitte der Karte war die Silhouette der Flying Dutchman, die auf einer leicht gebogenen Linie stand – nein, langsam fuhr, bemerkte Will. Eine Weile beobachtete er die sich immer wieder verschiebende Karte.

Die magische Seekarte hatte stets das Schiff selbst im Zentrum, sofern er sie nicht am Rand berührte und damit selbst die Verschiebung in die eine oder andere Richtung auslöste, und bewegte sich langsam mit dem Kurs der Flying Dutchman. Gleichwohl war sie genordet, Norden also stets am oberen Rand der Karte. Der gegenwärtige Kurs der Flying Dutchman führte nach Süden, in eine Richtung, deren Seegebiete den Menschen auf der Erde noch unbekannt waren. Will vergrößerte den Maßstab der Karte und konnte so einen deutlich größeren Kartenausschnitt sehen. Am südlichen Rand erschien eine riesige Insel, die tiefrot leuchtete. Hölle stand dort quer auf der Insel, in ebenfalls leuchtenden Buchstaben. Der Captain suchte am Kartenrand nach dem Punkt, mit dem er den Maßstab wieder verkleinern konnte und fand den Hafen der Hölle. Augenscheinlich war er es eine ähnliche Kraterdurchfahrt wie der Teufelsschlund bei Schiffbruch-Bay. Von seinem Vater wusste Will, dass Schiffbruch-Bay in einem erloschenen Vulkan lag – und dass dieser nie wieder ausbrechen würde.

Sollte es etwa so sein, dass Elizabeth auf dem Dach der Hölle ihr kleines Paradies gefunden hat?’, dachte Will. ‚Dann schützt wirklich der Teufel selbst die Zuflucht der Piraten?

„Das solltest du nicht denken“, hörte Will eine weibliche Stimme, die unzweifelhaft zu Calypso gehörte. Er sah sich um und bemerkte dort, wo sonst ein Spiegel war, ein Bild der schönen Göttin. Sie lächelte.

„Er wohnt darunter, ja, aber er beschützt niemanden. Dennoch steht Schiffbruch-Bay unter einem besonderen Schutz – unter meinem“, sagte sie.

„Die Seeleute meinen, du wärst ihr Feind“, gab Will zu bedenken. Calypsos Lächeln wurde breiter.

„Ich bin dessen Feind, der der Feind der See ist. Von Leuten, die die Meere missbrauchen, sie ausbeuten und das Leben in ihnen vernichten. Auch Piraten haben die See missbraucht, für ihren eigenen Profit. Wer mit meinem Element Böses tut, der muss mich fürchten“, erklärte sie.

„Wen schützt du in Schiffbruch-Bay?“

„Kannst du es dir nicht denken?“

„Ich würde es gern aus deinem Mund hören“, lächelte Will.

„Deine Frau – und deinen Sohn“, gab sie zurück. Will bekam einen verblüfften Ausdruck.

„Noch ist er nicht geboren, aber in neun Monaten wird es soweit sein.“

Der verblüffte Ausdruck im Gesicht des Captains wich einem seligen Lächeln.

„Danke“, sagte er und bemühte sich, den Kloß in seinem Hals loszuwerden.

„Ist es so, wie ich glaube? Dass Schiffbruch-Bay auf dem Dach der Hölle ist?“

„Nein, es ist auf der Pforte zur Hölle. Der Vulkan unter Schiffbruch-Bay ist seit langem von den Feuerflüssen der Unterwelt abgeschnitten und wird auch nie wieder davon bedroht werden. Deiner Frau und deinem Sohn droht keine Gefahr. Sie sind dort sicher“, sagte Calypso. „Ich habe mitbekommen, dass du deine Verdammten zur Umkehr überreden wolltest“, fuhr sie dann fort. Will nickte.

„Lass es. Sie haben nicht verdient, dass du dich für sie einsetzt. Das haben auch viele andere versucht, auch dein Schwiegervater. Sie bereuen nicht, nicht einmal jetzt, nachdem du ihnen den Feuerschein gezeigt hast. Es ist für sie zu spät.“

„Dann ist es so“, seufzte Will.

„Dein Landeplatz ist an der Pforte. In die Hölle selbst wirst du nicht fahren. Boote sie eine Meile davor aus, sonst gerätst du selbst in Gefahr. Der Teufel nimmt was er kriegen kann …“

„… und gibt nichts wieder zurück“, grinste Will schief. Calypso nickte lächelnd, dann verblasste ihr Bild im Spiegel und Will sah sich selbst darin.

 

Ein Ruck ging durch das Schiff und ließ Will die Absicht vergessen, zu schlafen. Er verließ die Kajüte und kehrte eilig auf das Achterdeck zurück.

„Was ist, Master Maccus?“, fragte er, als er den Ersten Maat am Ruder bemerkte.

„Der Teufel hat Sehnsucht nach ihnen, Sir. Wir nehmen Geschwindigkeit auf. Er schiebt uns“, erklärte der Maat. „Sir – es hat keinen Zweck, sich dagegen zu sträuben. Das sind Mächte, denen Ihr nichts entgegenzusetzen habt“, warnte Maccus, als Will den Befehl geben wollte, die Rahen zu brassen, um die Geschwindigkeit zu drosseln.

„Ich habe mich mit dem Teufel selbst noch nicht angelegt, aber es ist immer einmal das erste Mal“, erwiderte er entschlossen.

„Will! Nein, tu das nicht!“, warnte Bill.

„Wie weit ist es noch?“, fragte Will. Koleniko schloss die Augen und konzentrierte sich.

„Vierhundert Meilen, Sir. Sie läuft mit einem Tempo, wie ich es noch nie erlebt habe. Ehrlich, wir können nicht mehr wenden“, sagte er.

„Master Maccus, lasst mich bitte ans Steuer“, bat Will. Maccus sah ihn verstört an, trat aber beiseite.

„Aye, Captain“, sagte er.

„Gott in deiner Güte: Sie hätten noch Zeit zum Überlegen gehabt. Bitte, eine letzte Chance für sie!“, flüsterte Will – und doch schien es ihnen allen, als habe er laut gebrüllt. Gleichzeitig drehte er das Steuerrad hart Backbord. Das Schiff bockte wie ein Wildesel, drehte sich aber langsam nach links. Will hielt das Steuer eisern fest, als es sich wieder zurückdrehen wollte.

Am Großmast* erschien ein Elmsfeuer, das um die Toppflagge tanzte, dann folgte ein gewaltiger Donnerschlag, der absolut eindeutig nach

„NEIN!!!“, klang. Damit nicht genug, schossen gleißende Blitze in rascher Folge an der Backbordseite in die See, dass sich dort Kreuzseen* aufbauten, die die Flying Dutchman wieder zurückwarfen.

„Deutlicher geht’s nicht mehr, Captain“, bemerkte Stiefelriemen leise. Will senkte den Kopf.

„Vergib mir, oh Herr“, flüsterte er und ließ das Steuer los, das sich wieder zurück zum Höllenkurs drehte. Tief enttäuscht sank Will über dem Ruder zusammen. Es hatte alles nichts genützt.

„Holt sie an Deck!“, befahl Will. „Letzte Chance vertan.“

„Aye, Captain!“, bestätigte Bill und verschwand mit einigen Männern, um die Verdammten zu holen.

 

Die Flying Dutchman schoss unaufhaltsam durch die Wellen. In der Ferne wurde die Pforte der Hölle sichtbar: Ein riesiges Felsentor, durch das der Feuerschein der unendlich vielen Brände loderte, die dort ewig wüteten. Dichter, blutrot beleuchteter Rauch nebelte das dahinter befindliche Land der Hölle ein. Nur hin und wieder ließ sich ein gezackter, glühender Fels sehen.

Mit beängstigender Geschwindigkeit wurde die Pforte größer.

„Macht das Boot klar!“ befahl Will mit einem steinernen Blick.

„Aye, Captain!“, meldete Wyvern und beeilte sich, mit dem Bootsmann das Beiboot loszumachen. Die Davits, die Halterungen, in denen das Boot hing, schwangen über die Reling. Im selben Moment kamen Bill, Clanker und Greenbeard mit Mercer und Beckett an Deck.

„Ins Boot mit ihnen!“, wies Will seine Männer an, die zugriffen und die Verdammten ins Boot setzten.

„Aber Ihr sagtet doch …“, keuchte Beckett erschrocken.

„Der Teufel hat gemerkt, dass ihr nicht zu verbessern seid und hat uns etwas angeschoben. Ich wünsche bei seiner Teeparty viel Vergnügen“, grollte Will. „An die Brassen! Holt sie aus dem Wind!“

Die Männer gehorchten ohne Bestätigung. Will warf das Ruder hart Steuerbord, das ihm nun auch wieder gehorchte. Die Flying Dutchman drehte sich rasch nach rechts und an der Höllenpforte erschien ein ähnlicher Steg wie an der Himmelsinsel – nur war es hier eine Planke.

„Boot fieren*!“, befahl der Captain. Das Boot sank nach unten, löste sich wie von selbst aus den Halterungen und trieb zügig auf die Planke zu, auf der ungestalte Monster erschienen, die mit anscheinend glühenden Haken nach dem Boot angelten und es durch die Pforte in Richtung Hölle schoben.

Die Verdammten schrien markerschütternd, als der feurig-rote Nebel hinter der Pforte sie umschloss und sie den Blicken der Männer auf der Flying Dutchman entzog. Es waren Schreie, die niemand an Bord je vergessen würde …

„Gott sei ihnen gnädig“, flüsterte Will, dem das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand. Sein Vater schüttelte traurig den Kopf.

„Nein, denen ist er es nicht mehr“, flüsterte er ebenso betroffen. 

 

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Kapitel 5

 

Momente der Ruhe

 

 

1 „An die Brassen, Männer! Bringt sie wieder in den Wind“, wies Will seine Crew an.

„Bloß weg hier!“, setzte er keuchend hinzu. Gehorsam drehte sich die Flying Dutchman mit dem Ruderdruck weiter nach Steuerbord und nahm Fahrt in die entgegengesetzte Richtung auf. Der Höllensteg verschwand samt den verwachsenen Kreaturen, die die Verdammten eingefangen hatten.

 

Eine Stunde mochte vergangen sein, in der auf dem Schiff nicht ein einziges Wort gesprochen worden war.

„Kurs, Captain?“, fragte Maccus. Will schloss die Augen und ließ den besonderen Sinn, den Calypso ihm verliehen hatten, nach weiteren Fahrgästen suchen.

„Nordost, Master Maccus. Wir haben jetzt wirklich einige Tage Reise vor uns. Master Koleniko, Ihr löst den Ersten Maat zur nächsten Wache ab“, wies er die Männer an.

„Aye, Captain!“, bestätigten beide.

„Ich bin in der Kajüte. Wenn etwas ist, gebt mir Bescheid.“

„Aye!“

Langsam ging Will in die Kajüte hinunter und ließ sich müde in seine Koje fallen. In diesem Moment kam es ihm seltsam vor, dass er völlig erschöpft war, obwohl er eigentlich nicht schlafen musste, wie sein Vater ihm gesagt hatte. Aber auch Davy Jones hatte hin und wieder geschlafen, sonst hätte er, Will, ihm nicht den Schlüssel zur Truhe des Toten Mannes stehlen können.

Vielleicht muss ich mich erst daran gewöhnen, kein sterblicher Mensch mehr zu sein und die Gewohnheiten ändern. Warum eigentlich? Vielleicht sollte ich den bisherigen Bordalltag ändern. Jeder hat das Recht, zu verschnaufen – auch unsterbliche Fährleute …’, durchzuckte es ihn. ‚Kein guter erster Tag’, dachte er weiter. ‚Gleich zwei Leute an der Hölle abliefern müssen – nein, das ist nicht das, was ich mir wünsche.’

Er nickte ein. Ein sanftes Streicheln weckte ihn.

Elizabeth? Bist du das?’, fragte er in Gedanken. Es schien ihm, als lächle seine Frau ihn liebevoll an, wenn er die Augen schloss und es einfach genoss. Will ließ seine Gedanken zu ihr nach Schiffbruch-Bay wandern und stellte sich vor, dass er ihr Herz – und den Rest ihres Körpers – so sanft liebkoste, wie sie es mit dem seinen tat.

 

Elizabeth lag in ihrem Bett, die Truhe mit Wills Herzen neben sich. Voller Liebe strich sie darüber – und spürte selbst etwas, was sich nach Wills streichelnder Hand anfühlte. Ganz sanft glitt sie über ihren Körper – genauso wie am Tag ihrer Hochzeit auf der Insel … Verzückt schloss Elizabeth die Augen und sah Wills zärtliches Lächeln vor sich. Mit einem leisen Seufzen überließ sie sich diesen unendlichen Zärtlichkeiten.

 

Während zwei junge Menschen, die von ihrer Ehe gerade einen einzigen Tag gehabt hatten, sich im Geiste einander hingaben, verstrich die Zeit. Koleniko löste Maccus ab, Greenbeard dann Koleniko, der schließlich wurde von Stiefelriemen ersetzt. Als Bill Turner seine Wache an Wyvern übergab, schlich er leise in die Kapitänskajüte. Mit einem Lächeln bemerkte Bill, dass sein Sohn tief und ruhig schlief – und offensichtlich glücklich träumte, wie der selige Ausdruck in seinem Gesicht verriet. Bill setzte sich in einen der Sessel und freute sich am Anblick seines friedlich schlafenden Sohnes. Während der Zeit, als Will und er gemeinsam Jones’ Sklaven gewesen waren, hatte er mit ihm eine Kajüte geteilt, aber die Situation war nicht angetan gewesen, wirklich in Ruhe zu schlafen. Kaum zwei zusammenhängende Stunden hatten die Crewmitglieder für sich gehabt, an Schlaf war nicht zu denken gewesen. Stiefelriemen wollte Will darauf ansprechen, aber er wollte ihn nicht wecken.

Leise erhob sich der Zweite Maat, um wieder an Deck zu gehen, aber sein Sohn hinderte ihn.

„Vater?“

Bill drehte sich um.

„Entschuldige bitte, wenn ich dich gestört habe, mein Junge.“

Will setzte sich auf und rieb sich die Augen.

„Nein, du brauchst nicht um Entschuldigung zu bitten. Ich bin von allein aufgewacht. Aaah, hab’ ich gut geschlafen!“, gähnte Will, streckte sich genüsslich und stand dann auf.

„William, darf ich dir einen Vorschlag machen?“

„Immer“, grinste Will und umarmte seinen Vater.

„Was hältst du von einem Wachplan, damit alle etwas Ruhe finden?“

„Gab es so etwas nicht?“, erkundigte sich Will verblüfft.

„Nein. Solange Jones der Captain war, hatte jeder zu jeder Zeit Dienst zu tun, wenn er es verlangte. Wir hatten alle nur wenig Gelegenheit, mal zu verschnaufen.“

Will nickte. Er legte seinem Vater eine Hand auf die Schulter.

„Das hat ein Ende. Solange ich der Captain bin, wird das nicht wieder vorkommen, das verspreche ich dir.“

Bill grinste schief.

„Vorsicht mit solchen Versprechen, Junge. Es hat dich schon mal das Leben gekostet“, warnte er. Will lächelte sanft.

„Und was hast du mir darauf gesagt, als ich dir versprochen habe, dich zu befreien? ‚Was soll mir denn jetzt noch passieren?’ Ich schätze, das ist etwas, wovon du mich um nichts in der Welt abhalten kannst – und ich halte meine Versprechen, auf Biegen und Brechen.“

Bill lachte herzlich.

„Das ist mir nicht entgangen, Sohn!“, prustete er. Dann wurde er wieder ernst. „Du weißt, was du ihr damit angetan hast, oder?“

Will nickte ernst.

„Ja, aber es war nicht meine Absicht. Eigentlich war ich mir mit Jack einig, dass er sich um Jones’ Posten bemühen wollte und ich mit Elizabeth irgendwo in den Weiten der sieben Meere verschwinden wollte“, erwiderte er. Dann fand er sein Lächeln wieder.

„Der Plan funktionierte so lange, bis Davy Elizabeth bedrohte. Das war der Punkt, wo ich mich nicht mehr zurückhalten konnte und ihr um jeden Preis helfen wollte. Ich hatte ihr mal versprochen, notfalls für sie zu sterben – und ich halte meine Versprechen, koste es, was es wolle“, grinste er. Bill schüttelte grinsend den Kopf.

„Die Sturheit hast du eindeutig von deiner Mutter.“

„Nein, die habe ich von euch beiden. Du bist auch nicht besser – oder was war das mit dem Würfelspiel? Komm, gehen wir an Deck.“

 

Vater und Sohn kamen auf ein sonnenbeschienenes Deck, auf dem alles ruhig und friedlich war. Wyvern stand am Steuer, im Vormars* stand David, ein Matrose, den Will zuerst gesehen hatte, als Jack ihn auf das havarierte Schiff bei den Krebsinseln geschickt hatte. Völlig verstört hatte der arme Kerl versucht, den Klüver* zu hissen und hatte sich – zitternd und bebend – Davy Jones angeschlossen, um nicht sterben zu müssen.

Vom Zwischendeck dröhnte Gelächter und das Knallen der Würfelbecher. Will trat an die Luke und setzte sich auf die oberste Stufe des Niedergangs und sah still zu, was sich unten tat. Seine Männer waren in ihrem Würfelspiel völlig vertieft.

„Ich biete drei Vieren!“, sagte Clanker. Greenbeard peilte unter seinen Becher, überlegte eine Weile, dann sagte er:

„Vier Sechsen!“

Hadras griente breit.

„Acht Sechsen!“

„Du Schwindler!“, lachte Clanker. Hadras deckte seinen Becher auf, ebenso die anderen beiden Spieler, und volle acht Sechsen kamen zum Vorschein: drei von Greenbeard, drei von Hadras, zwei von Clanker, sonst nur Zweien und Dreien. Triumphierend zuckte der Chinese mit den Schultern.

„Das Jahl geht an mich, Clankel!“

Brummelnd stimmte Clanker zu.

„Um was spielt ihr, Jungs?“, fragte Will interessiert. Die Köpfe der Crew unter Deck zuckten wie auf Kommando zu ihrem Captain herum. Allesamt wurden puterrot.

„Äh, um … um Dienstjahle, Sir“, presste Haito Hadras heraus. Will grinste breit.

„Ich meine mich zu erinnern, euch gesagt zu haben, jeder könnte die Flying Dutchman verlassen, wenn er die Nase voll hat“, griente er. Hadras wurde noch roter, was seiner herkunftsbedingt gelblichen Haut einen leuchtenden Orangeton gab.

„Nein, nein, Sir. Wil spielen um die Ehle, bleiben zu dülfen“, erwiderte er. Will lachte laut und heiter.

„Nicht zu fassen! Ihr reißt euch tatsächlich darum, diesem Schiff zu dienen?“

„Aber ja, Sir!“, gab Clanker zurück. „In der kurzen Zeit, die Ihr jetzt unser Captain seid, hat sich hier alles radikal verändert. Ihr seid ein guter Captain.“

„Danke, Clanker. Und ich danke euch allen, dass ihr geblieben seid und euch darum auch noch streitet, wer länger bleiben darf. Es ist mir eine Ehre, euer Captain zu sein. Das wird es mir erleichtern, nur alle zehn Jahre für einen Tag meine Frau an Land besuchen zu können.“

Clanker erhob sich. Sein breites Gesicht zeigte einen Schimmer von Furcht.

„Sir, wenn … wenn ich ehrlich bin, dann wünschen wir uns, dass Eure Frau nicht treu ist.“

Auf Wills Gesicht zeigte sich echter Schrecken.

„Und … warum?“, fragte er und bemühte sich, den Kloß im Hals loszuwerden, der sich dort breit machte.

„Weil … weil … Seht, wenn sie Euch treu ist, dann …“

„… seid Ihr nach zehn Jahren dieser Pflicht ledig“, schaltete sich Maccus ein.

„Wer sagt das?“, fragte Will.

„Jones erwähnte es einmal, kurz bevor er das erste Mal an Land ging, um Calypso zu besuchen. Als sie nicht dort war, ist er wie der Teufel selbst über die Decks getobt. Tagelang hat er nur geschrien vor Verzweiflung, dass er erst in zehn Jahren wieder die Gelegenheit haben würde, sich dieses Fluchs zu entledigen – vorausgesetzt, sie wäre dann dort. Aber … als sie dann auch beim zweiten Mal nicht dort war, da riss er sich das Herz aus dem Leibe. Den Rest kennt Ihr, Sir.“

Will stand von der Treppenstufe auf und stieg den Niedergang ganz hinunter.

„Nehmen wir mal an, das sei so … Könnte ich denn freiwillig euer Captain bleiben?“

„Das … das wissen wir nicht, Sir“, gab Clanker zurück. Will sah einen Moment zu Boden. Er wollte diese Männer nicht enttäuschen und sie vielleicht wieder einem Captain überlassen müssen, der sie ebenso knechtete, wie Davy Jones es getan hatte – aber wenn er tatsächlich nach zehn Jahren frei war, dann wollte er endlich mit Elizabeth das Leben teilen …

Er spürte eine Hand auf der Schulter und sah wieder hoch. Sein Vater war neben ihn getreten.

„William, wenn es so sein sollte, dann werden wir dich nicht dazu nötigen wollen, zu bleiben. Du hast – wenn die zehn Jahre um sind – deine Pflicht erfüllt und hast auch das Anrecht auf die Belohnung. Sollte sie wirklich darin bestehen, dass dieser Fluch von dir genommen wird, dann werden wir das respektieren – gerade, weil du ein guter Captain bist“, sagte er. Will wollte etwas einwenden, aber sein Vater ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Nein, mein Sohn, du wirst jetzt kein Versprechen abgeben. Ich möchte nicht, dass du länger als unbedingt nötig auf dein Familienglück verzichten musst.“

Will sah seine Crew an.

„Seht ihr das alle so?“, fragte er. Die Männer nickten schweigend, aber es war unübersehbar, dass besonders die altgedienten Matrosen Tränen in den Augen hatten. Will spürte ihre nagende Angst vor einem neuen Sklaventreiber. Er wollte in der Hölle schmoren, wenn er das zuließ, sofern es vermeidbar war und es sich mit einem glücklichen Familienleben vereinbaren ließ. Schließlich hatte auch Elizabeth dann ein Anrecht auf ihn – und weiß Gott genug Geduld bewiesen …

„Männer, ich gebe euch allen ein Versprechen: Sollte es so sein, dass ich nach zehn Jahren nicht mehr der Captain der Flying Dutchman sein muss, und sollte es eine Möglichkeit geben, dass ich es bleiben kann, ohne meine Frau zu vernachlässigen, dann werde ich das tun. Ich werde euch nicht im Stich lassen.“

Bill Turner schüttelte nur noch den Kopf. Sein Sohn und dessen riskante Versprechen! Aber er hätte gelogen, hätte er behauptet, seinen Sohn nicht insbesondere für seine kühnen Versprechen und deren zuverlässige Einhaltung zu lieben.

 

 

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Kapitel 6

Seelenpanik

 

Matrose David im Vormars winkte hektisch, als Will vom Zwischendeck wieder auf das Hauptdeck kam.

„Seelen voraus, Captain!“, meldete er.

„Haltet darauf zu, Master Wyvern!“, wies Will den Wachhabenden an.

„Aye, Captain!“

„Beim Klabautermann – das sind ja meine Schiffskameraden!“, keuchte David.

„Dann komm aus dem Krähennest und nimm sie in Empfang, David!“, rief Will.

„Ich gehe für ihn nach oben, Sir“, bot Bill an. Will nickte und trat ans Fallreep.

„Drei Strich Backbord, Master Wyvern!“

„Kurs liegt an, Captain!“

 

Schnell hatten sie die ziellos treibenden Seelen erreicht und die Segel aus dem Wind genommen. Mit nur ganz wenig Vortrieb war die Flying Dutchman nun ebenso langsam wie die Seelen. David und Will schnappten sich Bootshaken und holten die treibenden Seelen damit an das Schiff heran. David stieg das Fallreep hinunter und half den Seelen an Bord.

„David?“, keuchte der Kaplan, der Davy Jones’ Angebot ausgeschlagen hatte und dafür umgebracht worden war. „Also hat er dich doch schanghait! Und ich dachte, ich hätte dich doch noch bekehren können.“

David lächelte sanft.

„Macht Euch keine Gedanken, Hochwürden. Die Flying Dutchman hat inzwischen einen neuen Captain, der nicht mehr auf solche Gemeinheiten wie schanghaien und abmurksen kommt. Kommt, ich helfe Euch.

„Nein, ich gehe nicht auf dieses Schiff der Verdammten!“

„Wir bringen Euch dorthin, wohin es Euch bestimmt ist. Habt keine Angst“, sagte Will und hielt dem Kaplan die Hand hin.

„Ich habe keine Angst – weder vor Euch noch vor dem Tod!“

„Tot seid Ihr bereits, Hochwürden. Und vor mir müsst Ihr wahrhaftig keine Angst haben. Nun kommt schon. Eure Kameraden drängeln schon“, versetzte Will. Unschlüssig sah der Kaplan auf die sich ihm einladend entgegenstreckende Hand des Captains, aber er stieß sich von der Bordwand wieder ab und ließ den anderen Seelen den Vortritt.

Die anderen ließen sich nicht zweimal bitten und stiegen mithilfe ihres früheren Schiffskameraden und des jungen Captains an Bord.

„Nun kommt schon. Ich beiße nicht“, rief Will dem als Letzten immer noch treibenden Kaplan zu. Doch der schüttelte den Kopf.

„Wenn Ihr nicht kommt, wird Euer Auftraggeber mit der Erfüllung meiner Aufgabe unzufrieden sein. Ich möchte mich nicht dem Vorwurf aussetzen, unzuverlässig zu sein. Allein findet Ihr den Weg nicht, mein Schiff schon.“

Doch der Kaplan blieb stur und schwamm vom Schiff fort.

„Komm, David, den müssen wir einfangen!“, befahl Will dem Matrosen. Wortlos warf sich David mit dem Captain ins Wasser, um den Kaplan zurückzuholen.

Sie hatten ihn schnell erreicht.

„Nein!“, schrie er verzweifelt. In panischer Angst griff er zu dem Takelmesser, das er im Gürtel hatte und rammte es Will in die Brust. Zum Entsetzen des Kaplans ging der Captain, der ihn fest im Griff hatte, aber nicht todwund unter.

„Das ist das erste Mal, dass ich dafür dankbar bin, dass Davy Jones mich durch seinen Sonderfluch gezwungen hat, mein Herz außerhalb des Körpers zu lagern“, seufzte Will und zog das Messer aus der Wunde. Die Seele des Kaplans verdrehte die Augen und sackte ihm im Arm zusammen.

„Holla, können Seelen auch noch ohnmächtig werden?“, wunderte sich Will. David grinste schief.

„Sieht so aus, Captain.“

„Na komm, bringen wir ihn an Bord“, erwiderte Will. Gemeinsam schleppten sie die Seele des Kaplans ab und beförderten ihn mithilfe von Wyvern und Jimmy Legs an Bord. Will stieg als Letzter über das Fallreep. Kaum hatte er die festen Planken unter den Füßen, als sich die Welt um ihn zu drehen begann und er wie ein gefällter Baum auf das Deck stürzte.

Seine Männer waren starr vor Schreck. Das konnte doch nicht sein! Bill Turner war der Erste, der reagierte und seinen Sohn zunächst auf den Rücken drehte. Die Wunde, die der Stich hinterlassen hatte, blutete stark.

„Will, was ist mit dir?“, keuchte er. Mit Mühe schlug Will die Augen auf.

„Wieso hat mich der Stich überhaupt verletzt? Ich bin doch schon tot …“, murmelte er.

„Nein, bist du nicht“, kam eine Stimme vom Achterdeck. Wie ein geisterhafter Schatten stand Calypso selbst am Steuer. „Dein Leben wird durch meine Macht erhalten. Aber hier bist du in der Anderswelt, William Turner. So, wie die Seelen, die du an Bord nimmst, ebenso körperlich erscheinen, wie sie es vor ihrem Tod in der Welt der Lebenden waren, so seid ihr alle, die ihr der Flying Dutchman euren Eid geschworen habt, in dieser Welt verletzlich, auch wenn ihr hier nicht sterben könnt. Du wirst dich also vorsehen müssen und solltest hinkünftig nicht mehr unbewaffnet sein, William“, erklärte sie. Calypso schwebte auf das Hauptdeck hinunter, streckte die Hand nach der seinen aus. Will ergriff die sich ihm entgegenstreckende Hand der Meeresgöttin und ließ sich von ihr aufhelfen.

„Du wirst jetzt etwas Ruhe brauchen, wie jeder, der verwundet ist. Der Schmerz wird bald vergehen und deine Kraft zurückkehren. Das hier wirst du brauchen“, sagte sie und überreichte ihm einen geraden Marinedegen in einer sorgsam gearbeiteten Scheide. Will erkannte das Schwert als jenes Ehrenschwert, das er in John Browns Schmiede in Port Royal selbst geschmiedet hatte – dasselbe Schwert, mit dem Davy Jones ihn beinahe auf das Deck genagelt hatte …

„Du hast es erkannt, nicht wahr?“, schmunzelte Calypso, als sie sein Zusammenzucken bemerkte. „Ich weiß, dass es aus deiner Hand kommt und dass dieses Schwert dein irdisches Leben beendete. Aber gerade weil das so ist, wirst du es tragen, denn es ist die einzige Waffe, die dich sogar hier töten könnte. Wenn du es bei dir trägst, wird das unmöglich sein. Es ist gesegnet“, setzte sie hinzu. Will verbeugte sich leicht, wenn auch mit gewisser Mühe.

„Danke“, sagte er und nahm das kostbare Schwert aus den Händen der Göttin entgegen.

„Noch etwas, William: Es ist nicht gesund, wenn du dich mit dem Teufel selbst anlegst …“

„Was meinst du?“, fragte er verblüfft. Calypso grinste breit.

„Die Blitze, die dein Schiff vor der Höllenpforte zurückgeworfen haben … das war der Teufel höchstselbst. Nimm dich in Acht vor ihm, er kann dir gefährlich werden. Wenn er sich eine Seele ausgesucht hat, wird er sie um jeden Preis haben wollen.“

Will lächelte leicht, und sein Vater bekam einen Schrecken. Den Ausdruck in Wills Gesicht kannte er … Mit einem schnellen Griff packte er seinen Sohn und hielt ihm einfach den Mund zu, damit er nicht wieder lebensgefährliche Versprechen gab.

„Er wird sich in Acht nehmen, keine Sorge“, versprach er. Calypso sah den älteren Turner nachsichtig an.

„Du bist in Sorge um deinen Sohn, William, aber du wirst ihn nie daran hindern können, seiner Bestimmung zu folgen. Er ist dein Sohn, vergiss das nicht. Er hat es von dir, sich stets für andere einzusetzen, ungeachtet der Konsequenzen für die eigene Gesundheit. Lass ihn diesen Weg gehen“, sagte sie. Damit verblasste die Erscheinung, und die Göttin war wieder fort.

Stiefelriemen hielt seinen Sohn fest umarmt.

„Du bist wirklich was Besonderes, mein Junge. Aber jetzt verbinden wir dich erst mal, damit du uns nicht wieder ausläufst … Ohne dich gibt es keinen Captain – und ohne den Captain kein lebendes Herz.“

Zusammen mit Wyvern brachte er Will in dessen Kajüte, wo sie die Stichwunde versorgten. Will ließ es geschehen und rief innerlich nach Elizabeth.

 

Elizabeth war in Schiffbruch-Bay unterwegs, um einige Dinge einzukaufen, die sie für ihr neues Haus benötigte. Mitten auf der Straße griff sie sich an die Brust und japste vernehmlich. Tai Huang, ihr Erster Maat, der ihr nicht von der Seite wich, konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie stürzte.

„Danke, Huang“, keuchte sie.

„Was habt Ihr, Captain?“

„Ich weiß nicht … ein furchtbarer Schmerz in der Brust. Fast als ob … Will!“, stieß sie hervor und rannte zurück zu ihrem Haus, als ob Davy Jones’ Kraken persönlich sie jagte. Vor Panik bekam sie die Tür beinahe nicht auf. Huang half ihr schließlich, als er sie endlich eingeholt hatte. Zitternd vor Angst öffnete sie die Truhe des Toten Mannes. Das Herz schlug langsamer als sonst, schwächer. Um Elizabeths eigenes Herz legte sich eine eisige Klammer, die gleiche, die ihr Herz gequält hatte, als Davy Will niedergestochen hatte und er in ihren Armen verblutet war.

Mit bitteren Tränen in den Augen hob sie sein Herz aus der Truhe, nahm das mittlere Kissen ebenfalls heraus, legte es sich in den Schoß und bettete das Herz darauf. Als sie es mit beiden Händen umfasste, sah sie anstelle des Herzens Wills Gesicht. Schmerz stand darin wie in einem offenen Buch.

„Was ist mit dir, mein Liebling?“, flüsterte sie weinend und streichelte über das Herz in ihrem Schoß – und fühlte ganz deutlich seine Bartstoppeln an der Hand. Der Schmerz wich aus seinem Gesicht und wurde von Entspannung ersetzt. Dann schlug er die Augen auf, diese sanften, warmen, braunen Augen, die sie so liebte.

„Danke“, flüsterte er. „Du bist da.“

„Das bin ich. Was ist mit dir?“

„Eine widerspenstige Seele hat mich niedergestochen. Halt mich für eine Weile fest, bitte“, flehte er.

„Das werde ich“, versprach sie und küsste ihn sanft auf die Stirn. Will schloss die Augen wieder und überließ sich mit einem Seufzen ganz den liebevollen Händen seiner Frau.

 

Tai Huang hatte Wills Worte nicht gehört, aber er war im Ahnenkult soweit verwurzelt, dass er keinen Augenblick daran zweifelte, dass seiner Herrin der geliebte Mann so nahe war, als würde sie nicht sein Herz, sondern seinen Kopf im Schoß haben. Er meinte sogar, die schwache Aura eines sechs Fuß großen Mannes in den Armen seiner Herrin wahrzunehmen.

Wyvern und Bill Turner hatten auch nur die Worte Wills gehört, aber auch sie nahmen einen schwachen Schein wahr, der Elizabeth verflixt ähnlich sah, auf der Koje saß und den Kopf des Captains im Schoß hatte und ihn liebevoll streichelte.

„Komm“, sagte Bill leise. „Lassen wir die Turteltauben allein.“

Leise schlichen sie aus der Kajüte an Deck.

 

Unter Deck tobte ein heftiger Streit. Eilig sprangen Bill und Wyvern nach unten. Jimmy Legs wollte David in die Brig sperren, aber die halbe Mannschaft schützte David vor Jimmy und Maccus, der ihm Unterstützung geben wollte.

„Was geht hier vor?“, rief Bill.

„Haltet Ihr Euch da ’raus, Master Turner!“, zischte Maccus. „Jimmy wird daran gehindert, seine Pflicht zu tun.“

„Welche Pflicht?“, fragte Bill ungerührt.

„David hat die Seele des Kaplans angegriffen. Dafür soll er bestraft werden.“

„So? Ich erinnere mich nicht, dass Captain Turner einen Strafkatalog erlassen hat“, versetzte Bill.

„Nein, hat er nicht. Aber der alte von Captain Jones wurde auch nicht ausgesetzt“, entgegnete Jimmy Legs.

„Nach dem alten Strafkatalog bekäme David wegen Ungehorsam Hiebe mit der neunschwänzigen Katze“, erwiderte Bill. „Geht nur schlecht, weil der Captain die über Bord geworfen hat“, setzte er grinsend hinzu. „Du denkst besser gar nicht erst daran, dir eine neue aus Tauwerk zu basteln“, warnte er dann. „Und komm ja nicht auf die Idee, dir selbst einen Strafkatalog zurechtzulegen. Ich weiß nicht, wie der Captain darauf reagiert. Du solltest ihm die Entscheidung überlassen, ob und in welcher Weise David zu bestrafen ist. Und dann vergiss bitte nicht, dass Will dich ausdrücklich aufgefordert hat, dir das Vertrauen der Crew zu erwerben, Jimmy. Ich glaube nicht, dass du es mit solchen Maßnahmen erreichst.“

„Aye, Sir!“, presste Jimmy hervor. „Es tut mir Leid.“

„Sag das David, Jimmy“, erwiderte Bill freundlich mahnend. Jimmy nickte und bat den Matrosen um Entschuldigung für sein übereiltes Handeln. David nahm sich ein Bespiel an seinem Captain und vergab Jimmy.

„Was ist mit dem Captain?“, fragte Maccus.

„Er schläft, seine Frau ist im Geiste bei ihm“, antwortete Bill.

„Bill … ich … ich würde es begrüßen, wenn du auf ihn Acht gibst. Wenn er durch eine solche Attacke sterben kann, dann ist das unser aller Ende. An ihm allein hängt es, ob wir uns dem Gericht stellen müssen.“

„Musst du es fürchten?“

Maccus nickte schweigend.

„Wir haben Piraten an der Himmelsinsel abgegeben, Maccus“, erinnerte Bill mit einem Lächeln. Maccus knetete nervös seine großen Hände.

„Nein, mich würde der Teufel holen. Ich war kein guter Mensch.“

Bill legte ihm verständnisvoll eine Hand auf die Schulter.

„Verlass’ dich auf meinen Sohn. Er wird für dich tun, was er kann. Ich habe seine Reaktion gesehen, als Calypso ihn davor gewarnt hat, sich mit dem Teufel anzulegen. Maccus, ich schwöre dir: Wer meinen Sohn William zum Freund hat, der braucht Tod und Teufel nicht zu fürchten, denn der rauft für die, die ihm nahe stehen, mit Beelzebub persönlich.“

„Nun, für seine Frau – aber für einen von uns?“

Bill nickte überzeugt.

„Aye! Für jeden von uns“, sagte er.

 

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Kapitel 7

Des Teufels Admiral

 

Es dauerte einen Tag, dann war Will wieder auf dem Posten. Unter dem Jubel seiner Crew übernahm der Captain wieder das Steuer.

„Sie läuft zur Himmelsinsel, Sir“, meldete Koleniko, als er das Steuer übergab.

„Schön. Hoffentlich können dort alle Fahrgäste aussteigen“, lächelte Will. Das glückliche Lächeln, das er im Gesicht hatte, bewies zweierlei: Erstens ging es ihm wieder gut, zweitens war die wenigstens geistige Verbindung mit Elizabeth sehr genussvoll gewesen. Das Strahlen im Gesicht des Captains wirkte ansteckend. Auf der Flying Dutchman herrschte eine gute Laune wie noch nie zuvor.

 

Es mochte Mittag sein, als Will das Steuer an Greenbeard übergab, um unter Deck einen Happen zu essen. Genau genommen musste niemand von der Crew an Bord der Flying Dutchman essen, trinken oder schlafen – sie brauchten die lebenserhaltenden Funktionen von Nahrung und Ruhe nicht, aber sie schadeten keineswegs und förderten Wohlbefinden und Zusammenhalt. Der Captain traf eine fröhlich schwatzende und lachende Crew unter Deck an.

„Kommt, Captain, setzt Euch dazu“, lud Ogilvey ihn ein, der Kombüsendienst hatte.

„Danke. Was gibt’s denn Feines?“

Ogilvey grinste, dass beide Ohren Besuch bekamen.

„Tintenfisch, Sir! Allerfeinste Calamari! Hab’ ich gestern selbst gefangen.“

Eine Lachsalve dröhnte durch das Deck, weil sich nahezu jeder daran erinnerte, wie Ogilvey mit den kleinen Tentakelträgern gekämpft hatte – um sie von seinen Fingern zu kriegen, wo sie sich festgesogen hatten … Der Smutje* teilte die lecker gebratenen Tintenfische aus, die Männer sprachen ein kurzes Tischgebet und ließen es sich dann schmecken.

„Lecker, Maschter Ogilvey“, lobte Will kauend. „Die schind rischtisch gut.“

„Sollten sie auch. Schließlich habe ich mal für feine Herrschaften gekocht, bevor ich Jones über den Weg schwamm und gleich an den Planken seines Kahns kleben blieb“, erklärte der Koch. Ein Schatten huschte über sein Gesicht.

„Wo habt Ihr das gelernt?“, erkundigte sich Will. Ogilvey druckste eine Weile.

„Seht, ich war der Koch eines englischen Lords, der nach Irland übersiedeln wollte, nachdem Irland von den Truppen König James’ erobert worden war. Er nahm nur die besten Dienstboten, die sich finden ließen. Und ich hatte bei einem der besten Köche Frankreichs gelernt, der sogar den König von Frankreich bekochte. Ich war seine erste Wahl, als er einen Küchenchef suchte. Zwei Jahre, nachdem ich meinen Dienst bei ihm angetreten hatte, ging der Lord mit Familie und Gesinde an Bord eines Schiffes. Kennt Ihr die Irische See, Captain?“

„Ich erinnere mich an einen fürchterlichen Sturm bei der Überfahrt nach Jamaica – ich hab’ nur noch schlapp über der Reling gehangen und die Fische gefüttert“, grinste Will. Ogilvey nickte.

„Von uns kam keiner mehr dazu, über der Reling zu hängen. Der Kahn soff mit Mann und Maus ab. Und ehe ich mich recht versah, schoss neben mir die Flying Dutchman aus den Fluten. Davy machte mir das übliche Angebot, und ich nahm es an. Seit achtzig Jahren bin ich jetzt hier. Und fast so lange koche ich auch schon für die Crew – sofern er mich gelassen hat. Ich hatte oft Gelegenheit, meine Entscheidung zu bereuen, wie jeder von uns“, erklärte der Koch. Er stand wieder auf.

„Aber das hat ein Ende, seit Ihr der Captain seid. Ich hol’ noch Nachschub.“

Ogilvey verschwand in der Kombüse und kam mit einer neuen Schüssel Tintenfische zurück, die schneller aus der Schüssel verschwanden, als Will bis drei zählen konnte.

 

Nach und nach erfuhr er von den Anwesenden, wie sie in Jones’ Dienst gekommen waren, was sie vorher gemacht hatten, wie lange sie schon an Bord waren. Von Wyvern bekam Will zu wissen, dass seine überlange Dienstzeit von mehr als hundert Jahren darauf beruhte, dass er die Finger nicht von den Würfelbechern lassen konnte und so er so oft im Spiel verloren hatte, dass er wohl die Jahre von einem ganzen Dutzend Crewmitglieder auf sich vereinigt hatte …

„Und du, Vater?“, fragte Will. Bill lächelte schief.

„Eigentlich weißt du das doch, oder?“

„Warum bist du an Bord gegangen, wenn du es nicht musstest?“, fragte sein Sohn. Bill bekam einen bedrückten Zug um die Nase.

„Ich saß da unten fest und konnte mich nicht von der verdammten Kanone befreien. Barbossa hatte mich so übel in Ketten gelegt, dass ich die Hände nicht freibekam, um die Riemen aufzuschnüren. Ich hatte keine Geduld zu warten, bis die Ketten durchgerostet waren. Zwar hatte ich dir ein Stück von dem verfluchten Schatz geschickt, aber ich hatte trotzdem Angst, dass der Schatz zusammengebracht und der Fluch gebrochen werden konnte, bevor ich wieder Luft vor der Nase hatte. Davy Jones hatte ein besonderes Gespür für Menschen in Angst – und dafür, sie zu verstärken. Er wusste auch, dass ich alles getan hätte, um vom Meeresboden wegzukommen und das hat er ausgenutzt – wie bei jedem von uns. Also habe ich mich der Crew angeschlossen“, sagte er.

Will sah nachdenklich in die Runde.

„Eins wundert mich doch: Bevor ich Jack vor dem Galgen rettete, hatte ich schon zwei Schiffbrüche hinter mir: Mit dem Schiff, mit dem ich nach Jamaica segelte und mit der HMS Interceptor. Warum ist die Flying Dutchman dort nicht aufgetaucht?“, fragte er. Bill lächelte.

„Ich schätze, Calypso hat was dagegen gehabt, dass der, den sie für den Kapitänsposten vorgesehen hatte, hier als Sklave schuften musste. Ich bin sicher, sie hat dich geschützt und dein Leben in die Bahnen gelenkt, die dich hergeführt haben“, sagte er. Will wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment ging ein heftiger Ruck durch das Schiff, dass die Teller vom Tisch flogen und einige zu Bruch gingen.

„Was war das?“, fragte Will. „Gibt es noch einen Kraken?“

Eilig sprang er auf und war binnen Augenblicken an Deck.

„Was ist los, Master Greenbeard?“

„Ich weiß nicht, Sir. Sie ist mir plötzlich aus dem Ruder gelaufen“, erwiderte der kreidebleiche Greenbeard.

„Sucht die Planken ab, ob wir mit einem Riff kollidiert sind!“, befahl Will.

„Hier gibt’s keine Riffe in der Gegend, Captain“, bemerkte Wyvern. Will sprang auf das Achterdeck und kontrollierte den Kurs.

„Sie läuft mit Kurs Hölleninsel!“, keuchte er. „Nein, kommt nicht in Frage. Erst Himmelsinsel und dann sehen wir weiter“, grollte er. „Lasst mich ans Steuer, Master Greenbeard.“

„Aye, Captain!“

„An die Brassen! Brasst die Segel! Kurs Himmelsinsel!“, rief Will. Mit einigem Kraftaufwand brachte er die Flying Dutchman wieder auf Kurs. Doch immer wieder wollte das Schiff aus dem Ruder laufen und den Kurs Richtung Hölle wechseln.

„Nein! Du fährst brav dahin, wo ich es will!“, knurrte der Captain.

„Wer von unseren Fahrgästen kann so böse sein, dass der Teufel ihn gleich haben will?“, murmelte Greenbeard. David schüttelte den Kopf.

„Unmöglich. Wir haben nur meine Schiffskameraden an Bord. Von denen war keiner so wie Mercer oder Beckett. Das kann nicht sein“, sagte er.

„David, geh wieder in den Vormars. Halt Ausschau nach Riffen!“, wies Will ihn an.

„Aye, Captain!“

Das Schiff bockte wie toll, aber Will ließ nicht zu, dass es den Kurs selbstständig wechselte.

„Nein, nein, meine Hübsche, schön nach Westen!“, brummte er. Widerstrebend gehorchte ihm das Steuer und nach zwei Stunden harter Arbeit hatte der Captain sein Schiff endlich widerspruchslos auf Kurs.

„Masten an der Kimm*! Im Süden!“, brüllte David aus dem Vormars. Will sah nach Backbord und fand ein schnell aufkommendes Segelschiff mit drei Masten, an denen blutrote Segel vom Wind aufgebläht wurden.

„Allmächtiger!“, entfuhr es Wyvern. „Die Scylla!“, keuchte er. „Weg von hier! Schnell!“, beschwor er den Captain.

„Was hat es damit auf sich, Master Wyvern?“, fragte Will.

„Das ist eines der Schiffe des Teufels persönlich!“, schrie Wyvern panisch. Er wollte fliehen, aber Will bekam ihn am Schlafittchen zu fassen.

„Hier geblieben!“, kommandierte er. Wyvern zitterte am ganzen Leib, aber er blieb auf dem Achterdeck.

„Wovor hast du Angst?“, fragte Will.

„Vor dem Teufel, Sir“, bibberte Wyvern. „Er kommt, um mich zu holen!“

„Du hast Davy Jones überlebt, dann überlebst du das auch“, erwiderte Will mit einer Miene, die dem ängstlichen Wyvern wieder Zuversicht einflößte.

„An die Kanonen, Männer! Macht sie klar!“, rief er.

„Junge, du kannst gegen den Teufel nicht gewinnen“, warnte Bill eindringlich. Will sah ihn an. In dessen Augen war unbändige Kampfeslust – und Siegeszuversicht. Stiefelriemen hatte diesen Ausdruck an seinem Sohn erst einmal gesehen: An dem Tag, an dem er auf dem Deck dieses Schiffes mit Davy Jones gefochten hatte. Er hatte seinen Sohn kämpfen sehen, hatte selbst gegen ihn keine Chance gehabt und beglückwünschte sich erneut dazu, dass er erstens nicht hatte getötet werden können und zweitens nur von Will mit dem Ärmel an der Reling festgenagelt worden war. Davy war seinem Schicksal nur durch die Tatsache entgangen, dass er ein buchstäblich herzloses Ungeheuer gewesen war …

„Er hat mich einmal genarrt. Das passiert mir kein zweites Mal. Für die Seelen hier an Bord und deren Ankunft an ihrem Bestimmungsort trage ich die Verantwortung – und dafür werde ich nötigenfalls kämpfen“, entgegnete Will entschlossen. „An die Waffen!“, rief er dann.

Das fremde Schiff kam rasch näher. Bald wurde sichtbar, dass im Großtopp eine blutrote Flagge wehte, in deren Zentrum zwei gelbe, mit den Spitzen aneinander gesetzte Dreiecke zu erkennen waren – eine stilisierte Sanduhr. Rechts und links neben der Sanduhr fanden sich ebenso gelbe Hörner, darunter zeigte sich ein weißer Dreizack …

„Steh’ uns bei!“, flüsterte Wyvern entsetzt. „Des Leibhaftigen Admiral!“

Will nahm das Fernrohr und peilte nach dem Steuermann des anderen Schiffes. Am Ruder stand eine schwarz verhüllte Gestalt, die sogar eine große schwarze Kapuze übergezogen hatte – und in der Kapuze schien nichts zu sein … einfach nur Luft, so sah es aus der Entfernung aus. Der Steuermann des Höllenschiffes lenkte seine Galeone hart Backbord, dass die Steuerbordseite der Flying Dutchman zugewandt war. Zwei Reihen Geschützpforten öffneten sich, gefährlich aussehende Kanonen kamen zum Vorschein. Der Steuermann hob die Hand und nahezu gleichzeitig spien die Kanonen eine vernichtende Salve auf die Flying Dutchman.

„Zielen kann er jedenfalls nicht“, brummte Will, als die Salve wenigstens drei Kabellängen* vor der Flying Dutchman ins Wasser klatschte und eine weißgrüne Wasserwand auftürmte.

„Wenn Ihr mir einen Rat erlaubt, Captain: Nutzen wir diese Tarnung, um zu entwischen“, sagte Bill. „Nach Steuerbord fahren wir gegen den Wind. Du weißt, dass dieses Schiff gegen den Wind das schnellste ist.“

„Ich glaube nicht, dass er aufgibt“, widersprach Will. Dann sah er den Blick seines Vaters, der unendliche Angst um seinen Sohn verriet. Will kam eine Idee. Was hatte Calypso ihm von der Macht über die Stürme gesagt?

„Geh ans Steuer, Vater. Ich muss mich konzentrieren“; sagte er. Bill nahm ihm das Steuer ab.

„Hart Steuerbord!“ kommandierte Will. Sein Vater folgte der Anweisung und Will dachte an einen aufkommenden Sturm, einen richtigen Hurrikan, wie er ihn in der Karibik oft erlebt hatte.

Vor seinem inneren Auge entwickelten sich Wolken, die dunkler wurden, die sich zu einem Wirbel vereinigten, immer höher wurden, sich im Kreis zu drehen begannen und auf das fremde Schiff zuliefen. Der Flying Dutchman blies eine steife Brise entgegen – und damit wurde sie immer schneller.

„Was macht der Captain da?“, flüsterte Greenbeard verblüfft. Wyvern sah hinter dem Teufelsschiff eine rabenschwarze Wolkenwand, die sich rasch der Höllenfregatte näherte.

„Sie hat ihm die Macht gegeben, Stürme zu entfesseln. Seht euch das an!“, keuchte der alte Fahrensmann. Als Will die Augen öffnete, war die schwarze Wand, die er sich vorgestellt hatte, direkt über dem Höllenschiff, das wie ein Spielzeug hin- und hergeworfen wurde. Es war offensichtlich, dass der Steuermann alle Hände voll zu tun hatte, sein Schiff überhaupt noch kontrollieren zu können. Schließlich verschwand das teuflische Segelschiff in dem ungeheuren Wirbelsturm, den Will darüber toben ließ.

 

Die Flying Dutchman schoss gegen den Wind durch die Wellen, dass sie sie teilweise regelrecht durchbrach. Will hielt sich an der Reling fest und beschwor innerlich den Wind, sich wieder zu beruhigen. Kaum eine halbe Stunde später war der Himmel wieder fast makellos blau, von einigen dekorativen Wattewölkchen abgesehen.

„Lass mal den Kurs sehen“, sagte der Captain, als er an das Steuerrad trat.

„Wir kommen zu weit nach Norden ab. Hart Backbord!“, sagte er dann. Bill drehte das Steuerrad in seinen großen Händen und die Flying Dutchman folgte dem Ruderdruck ohne Widerspruch.

„Ob der wiederkommt?“, fragte Koleniko nachdenklich. Will zuckte mit den Schultern.

„Ich hoffe, er hat einstweilen genug. Besetzt den Ausguck. Falls der Teufelssegler wieder auftaucht, sollten wir es am besten rechtzeitig wissen.“

„Aye, Captain!“, bestätigte Greenbeard und war im nächsten Augenblick schon auf dem Weg in das Krähennest des Großmastes.

„Strudel voraus!“, schrie er, kaum dass er den Mastkorb erreicht hatte. Will nahm wieder das Fernrohr und peilte nach dem Strudel – im selben Moment schoss ein Segelschiff unter Höllenflagge heraus und nahm direkten Kurs auf die Flying Dutchman.

„Die Charybdis!“, japste Wyvern.

„Bugkanone besetzen!“, befahl Will. Die eingeübten Kanoniere rannten zum Bug, die beiden Drillingskanonen wurden ausgefahren.

„Feuer!“, befahl der Captain. Binnen Augenblicken bekam das entgegenkommende Schiff die volle Wucht der schweren Geschütze zu spüren. Der Fockmast wurde glatt weggefegt, ebenso das Schanzkleid des Vorschiffs, doch das Teufelsschiff blieb unbeeindruckt auf dem Kurs.

„Feuer!“, befahl Will erneut. Wieder spien die Bugkanonen Feuer und Vernichtung, die massiven Kugeln räumten das Deck bis zur Hauptluke ab, zwei durchschlugen die Beplankung knapp oberhalb der Wasserlinie.   

Die Charybdis drehte nun doch nach Steuerbord ab, geriet dadurch aber direkt vor den Bug der Flying Dutchman, die nicht mehr ausweichen konnte, weil sich die Schiffe schon zu nahe waren. Der Speerfischbug der Flying Dutchman bohrte sich mit der ganzen Gewalt ihrer Masse in die Charybdis. Das Teufelsschiff barst unter der Wucht der Kollision bis weit unter die Wasserlinie – und sank, wobei sie die verkeilte Flying Dutchman mitzuziehen drohte.

„Macht sie frei!“, befahl Will. „Klar bei Bootshaken!“

Mit den meisten Männern der Wache sprang der Captain zum Bug, wo sie mit aller Kraft ihr Schiff aus dem Riss des Gegners drückten.

„Hau Ruck!“, tönte es vielstimmig über das Deck, dann schwamm die Flying Dutchman frei und die Charybdis gluckerte mit dem Bug zuerst in die Tiefe. Der Mann am Steuer, der ebenso in viele Schichten schwarzen Stoffes gehüllt war wie der Steuermann der Scylla, ging grüßend mit seinem Kahn unter – um im nächsten Moment wieder einen gewaltigen Wirbel zu erzeugen, aus dem dunkler Rauch aufstieg und sich in Richtung Hölle verzog.

Dann war alles still, kein Lüftchen regte sich. Dennoch trieb die Flying Dutchman langsam in Richtung Himmelsinsel. Will atmete sichtlich auf. Die Gefahr war offenbar einstweilen gebannt.

„Master Koleniko, geht bitte ans Steuer. Ich sehe mal nach, wohin es uns genau verschlagen hat“, sagte Will. Koleniko nickte nur und ging ans Steuer, während Will in seine Kajüte ging, um die Seekarte auf den gegenwärtigen Standort zu prüfen. Sie waren nur wenige Meilen vom Kurs abgekommen und segelten nun mit direktem Kurs auf die Himmelsinsel.

 

 

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Kapitel 8

Routine und ihre Folgen

 

Der Abend dämmerte, als die Flying Dutchman sich der Himmelsinsel näherte und den Nebel durchstieß. Eine ganze Schar von Engeln wartete schon als Empfangskomitee für die Fahrgäste. Will steuerte sein Schiff mit der Backbordseite an den kleinen Kai und legte vorsichtig an.

Die Seelen kamen aus dem Fahrgastbereich und gingen über die Gangway hinunter auf den Steg. Nur der Kaplan blieb kurz hinter dem Niedergang stehen. Will seufzte leise. Glaubte der etwa immer noch nicht, dass er an dem Ort gelandet war, auf den er sein ganzes Leben lang gehofft hatte und von dem er seinen Schäfchen erzählt hatte? Der Kaplan sah ihn mit großen Augen an, dann fiel er auf die Knie.

„Das … das ist …“

„… der Himmel“, sagte Will, stieg vom Achterdeck und half dem Mann auf. „Gekniet wird nur vor Gott selbst. Ich bin hier nur der Fährmann. Geht, er erwartet Euch sicher.“

„Vergebt mir meine Zweifel, Captain“, bat der Kaplan. Will nickte.

„Es ist gut. Nichts weiter passiert“, beruhigte Will den Kaplan.

„Bitte, Sir, nehmt dies als kleine Aufmerksamkeit“, sagte der Kaplan und überreichte Will seinen Rosenkranz.

„Verzeiht, aber ich darf kein Fahrgeld kassieren“, wehrte der Captain vorsichtig ab.

„Es ist ein Geschenk, das ich Euch aus Dankbarkeit mache“, entgegnete der Kaplan. Will verbeugte sich leicht.

„Dann danke ich Euch und werde es in der Messe* aufhängen. Soviel ich weiß, kommen alle meine Männer aus der christlichen Seefahrt. Lebt wohl.“

Der Kaplan lächelte Will noch einmal an, dann stieg er beschwingt die Gangway hinunter und wurde von einem der Engel mit einer Umarmung begrüßt.

„Ich wusste doch, dass niemand von meinen Schiffskameraden so böse war, dass ihn der Teufel holen konnte“, grinste David. Lachend schlug Will ihm auf die Schulter und ging dann auf die Brücke, um wieder abzulegen. Die Leinen wurden losgemacht, das Schiff drehte sich mit dem Ruderdruck gehorsam nach Steuerbord und gewann Abstand zur Himmelspier. Die Flying Dutchman durchstieß den Nebel um die Himmelinsel und setzte ihre Fahrt fort.

 

Will fand die in Jahrhunderten angesammelten Toten im Meer mit unbestechlicher Sicherheit und brachte sie zuverlässig dorthin, wo es der Herr der Welt vorgesehen hatte. Doch bei nahezu jeder Tour in Richtung Himmelsinsel musste sich die Crew der Flying Dutchman mit den Teufelsschiffen Scylla und Charybdis herumschlagen. Die seltenen Fahrten Richtung Hölle waren die einzigen Fahrten, die des Teufels Admiral nicht attackierte. Die eingespielte Crew konnte zusammen mit den besonderen Fähigkeiten ihres Captains die Höllenhunde jeweils vertreiben, meist sogar eines der beiden Höllenschiffe versenken – aber vernichtet waren sie damit keinesfalls, und an die Nerven ging das dauernde Geplänkel schon. Dennoch gewöhnten sie sich daran und brachten es schließlich fertig, stets zuerst die Himmelsinsel anzulaufen. Der Umstand, dass der Captain der Flying Dutchman Stürme auslösen konnte, war ihnen eine große Hilfe dabei. Was an der Himmelsinsel nicht an Land gelassen wurde, war buchstäblich des Teufels und wurde letzten Endes am Höllentor abgegeben. Doch die Fahrten, die planmäßig an das Höllentor führten, waren sehr selten. 

Auf diese Weise vergingen die Monate in zunehmender Routine. Der Wachplan, den Wyvern entworfen hatte, der alle Crewmitglieder am besten kannte, funktionierte hervorragend. Ebenso stellte sich auch eine Routine in der geistigen Verbindung zwischen Will und Elizabeth ein. Es war für beide inzwischen Gewohnheit, dass sie sich miteinander verbanden, sofern sie sich zur Ruhe begaben.

 

Die Routine in Liebesdingen förderte bei Elizabeth allerdings zunehmende Unruhe zutage. Schiffbruch-Bay war ein wahrhaft idyllischer Ort, ganz anders als Tortuga. Unzweifelhaft wohnten in Schiffbruch-Bay ausschließlich Piraten, aber sie benahmen sich hier anders. Hier war es normal, dass einer seine Freiheit durch jene der anderen Bewohner als begrenzt akzeptierte. Es gab weder Diebstahl noch Raub untereinander, keine ständigen Raufereien, wie es in Tortuga an der Tagesordnung war. Das Eigentum der anderen wurde respektiert, obwohl es keinerlei beaufsichtigende Behörden gab. Es gab nicht einmal Schlösser an den Türen …

Wer Abenteuer suchte, suchte sie außerhalb des friedlichen Fleckchens. Dafür gab es genug Piratenschiffe, die Schiffbruch-Bay als ständigen Ankerplatz nutzten und von hier ausschwärmten. Nur die Empress lag vor Anker, seit Elizabeth sich mit Wills Herzen hierher zurückgezogen hatte. Die stillen Monate hatten sie überzeugt, dass der Truhe und der größten Kostbarkeit, die sie besaß, hier nichts geschehen konnte. Sie wollte endlich wieder auf See, solange es noch möglich war.

Schon bald nach dem wundervollen Hochzeitstag mit Will auf der Hochzeitsinsel war ihr klar geworden, dass dieser Tag und das ungestörte Zusammensein mit Will prompt Folgen gehabt hatte. Wunderschöne Folgen, denn Elizabeth erwartete ihr erstes Kind, gezeugt in zärtlicher Liebe und hinreißender Leidenschaft. Bisher war ihre Schwangerschaft unproblematisch gewesen, aber ihr Bauch wuchs nun doch und bald würde es unmöglich sein, für längere Zeit in See zu gehen*. Spätestens, wenn das Kind geboren war, war sie für lange Zeit hier gebunden; denn das Kind allein zu lassen, egal in wessen Obhut, das kam für Elizabeth nicht in Frage. Sie selbst hatte eine glückliche und behütete Kindheit gehabt. Und weniger als das wollte sie für ihr eigenes Kind auch nicht, mochte es seinen Vater auch nur äußerst selten sehen können.

Ganz ohne Rat wollte Elizabeth aber nicht einfach auf Reisen gehen. Sie suchte Captain Edward Teague auf, den Hüter des Kodexes, und erzählte ihm von ihren Plänen. Teague klimperte leise auf seiner Laute und hörte der jungen Frau geduldig zu.

„Dir is’ langweilig, was?“, schmunzelte er schließlich.

„Könnte man so sehen“, gab sie zurück.

„Hab mich eh schon gewunnert, dass du immer noch am gleichen Fleck klebst, Mä’chen“, nuschelte Teague. Sein von Wetter und Rum gegerbtes Gesicht verzog sich zu einer spöttischen Grimasse.

„Du bist die Königin der Piraten“, fuhr er dann deutlicher fort. „Es ist deine Aufgabe, diesen elenden Haufen zusammenzuhalten und ihnen zu zeigen, wo’s langgeht. Mach, dass du auf See kommst, Mä’chen!“

„Captain Teague, ich mache mir nur Sorgen, was aus dem Herzen meines Mannes wird, wenn ich fort bin. Ist es hier wirklich sicher?“

„Das isses!“, versetzte Teague im Brustton der Überzeugung. „In Schiffbruch-Bay wird nich’ geklaut, das weißte doch, oder?“

„Schon, aber … Captain Teague, es ist nun mal so, dass die Herrschaft über Wills Herz die Herrschaft über die Meere bedeutet“, sagte sie.

„Das weiß hier jeder. Un’ ich schwör dir, Mä’chen: Wenn einer deine Haustür auch nur schräge anguckt, dann is’ halb Schiffbruch-Bay der Schutz deines Will. Hier wird keiner zulassen, dass euch beiden was passiert. Ihr seid die Garanten für unsere Sicherheit hier – du Piratenkönigin und dein liebster Herrscher der Meere“, grinste der alte Teague. Sein Grinsen war spöttisch, aber keinesfalls böse gemeint.

Jack hatte immer gesagt, Will sei seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Nun, nachdem Elizabeth Stiefelriemen kannte, fand sie, dass Edward Teague und Jack Sparrow erheblich mehr äußere Ähnlichkeit miteinander hatten als die Turners. Dafür waren sich Vater und Sohn Turner im Inneren deutlich ähnlicher als Vater Teague und Sohn Sparrow. Beide waren jederzeit bereit, für Menschen, die ihnen nahe standen das Leben zu riskieren, taten nie etwas zum eigenen Vorteil und auf Kosten anderer, sondern zunächst zum Vorteil ihrer Umgebung – und meist auf eigene Kosten. Jack war zuweilen einfach ein Tunichtgut, der außer den Regeln, die er sich selbst machte, keine akzeptierte. Teague war seit undenklich langer Zeit der Hüter des Kodexes – und verschaffte ihm als Gesetz der Piraten auch sehr rabiat Geltung, wenn es sein musste.

„Die Company macht sich wieder mausig“, fuhr Teague fort. „Wird Zeit, dass du dem ’nen Riegel vorschiebst. Ich werd’ schon auf deinen Will sein Herz aufpassen, Mä’chen.“

„Danke, Captain Teague. Ich werde sehen, dass wir in den nächsten Tagen auslaufen.“

Damit eilte Elizabeth aus dem Versammlungsschiff der Bruderschaft und benachrichtigte Huang, dass die Empress so bald wie möglich wieder in See gehen würde. Der Chinese strahlte breit.

„Aye, Captain! Ich werde alles Nötige veranlassen“, erwiderte er.

 

Zur selben Zeit nahm die Flying Dutchman die ungeheure Opferzahl eines fehlgeschlagenen Angriffs der mongolisch-koreanischen Flotte auf Japan auf, der knapp fünfhundert Jahre zuvor etwa zehntausend mongolische und koreanische Soldaten das Leben gekostet hatte. Die Schiffe waren in zwei schreckliche Taifune geraten, die die Japaner seither Kamikaze nannten, was in ihrer Sprache Götterwind bedeutete. Diese Masse von Seelen konnte nicht einmal die Flying Dutchman auf einmal mitnehmen, so klein sich Seelen auch machen konnten. Also mussten sie mehrmals in diese Region fahren, um nach und nach alle im Jenseits abliefern zu können. Der Teufel ließ nichts unversucht, sich mehr als seinen Teil zu holen und war mit denen, die von der Himmelsinsel abgewiesen wurden, überhaupt nicht zufrieden. Das bewährte Rezept mit den von Will Turner entfesselten Stürmen funktionierte gleichwohl erstklassig, aber diese Methode kostete den jungen Captain doch einiges an Kraft, und er hatte keine Ahnung, wo sich die Hurrikans, die er zur Abwehr der Höllenschiffe auslöste, noch austobten …   

 

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Kapitel 9

Taifun

 

Elizabeth begab sich mit ihrer Empress auf eine erfolgreiche Kapertour durch das Südchinesische Meer. Die unendlich vielen Inseln vor der Küste Annams* boten fantastische Versteckmöglichkeiten. Die Dschunke, die Elizabeth von Sao Feng, dem Piratenfürsten von Singapur, buchstäblich geerbt hatte, war gefürchtet für ihre schnellen Angriffe aus dem Hinterhalt. Ihr Status als König der Piraten garantierte der jungen Frau Unterstützung jedweden Piratenschiffs, das sich in ihrer Nähe befand. Die East India Trading Company bekam hier kein Bein mehr an den Boden und schon gar nicht aufs Meer.

Einen Monat, nachdem Elizabeth sich entschlossen hatte, wieder in See zu gehen, waren die Laderäume der Empress zum Bersten voll mit Beute. Oft, sehr oft, war ihnen ein Taifun zu Hilfe gekommen, so dass sie manchmal nur noch hatten einsammeln müssen. Die Empress war aber stets davon verschont geblieben, mitten in den Taifun zu segeln.

Es war ein strahlend schöner Morgen, als Elizabeth von ihrem Ersten Maat Tai Huang den Hinweis bekam, dass in die Laderäume auch nicht mehr der kleinste Jadebrocken hineinpasste.

„Gut, Huang. Fahren wir nach Hause“, entschied Elizabeth. „Kurs Ost nach Schiffbruch-Bay!“

„Aye, Captain!“ bestätigte der Erste Maat. Dann sah er sie sorgenvoll an.

„Captain …“, setzte er an.

„Ja?“

„Die vielen Taifune in letzter Zeit machen mir etwas Sorge. Ich bin mir nicht sicher, ob die Götter uns immer so gewogen sind“, sagte er besorgt. Elizabeth lächelte zuversichtlich.

„Bis jetzt haben sie uns immer geholfen. Da werden sie uns doch nicht gerade auf dem Heimweg eine Falle stellen“, erwiderte sie.

Ihr Blick ging auf die offene See hinaus. Zu Hause in Schiffbruch-Bay war ihr die Decke auf den Kopf gefallen, sie hatte Abwechslung gesucht. Es waren aufregende Wochen gewesen, die jetzt hinter ihr lagen, sie waren überaus erfolgreich gewesen, hatten der EITC schwer zugesetzt, sie weit zurückgedrängt und das Südchinesische Meer unzweifelhaft zu einem freien Seegebiet gemacht – aber es war dennoch nicht das, was sie gesucht hatte. Eine Bewegung in ihrem Leib erinnerte sie an das Kind, das sie erwartete und ließ Elizabeth klar werden, was ihr tatsächlich fehlte, und was sie gegenwärtig auf dieser Welt nicht finden würde – und das war Will. Er fehlte ihr, sie vermisste ihn täglich mehr; seine sanfte Stimme, seine warmen Augen, seine zärtlichen Hände, die alles andere als raue Schmiedhände waren, seinen untrüglichen Beschützerinstinkt, seine Liebe.

Aber ihr fehlte noch etwas und das ließ sie vor Beschämung rot werden. Seit sie Schiffbruch-Bay verlassen hatte und die Truhe mit seinem Herzen in der Obhut von Edward Teague zurückgelassen hatte, hatte sie keine Verbindung mehr zu Will gehabt. Sie hatte an ihn gedacht, oh ja, hatte ihn in Gedanken so gestreichelt, wie sonst auch, aber sie fühlte selbst nichts. Sie hatte geglaubt, es sei pure Einbildung, dass sie seine Liebkosungen spürte, wenn sie sich seinem Herzen liebevoll widmete. Jetzt kam ihr der Verdacht, dass es eben doch eine persönliche Verbindung zwischen ihnen gab, wenn sie sein Herz in die Hände nahm. Elizabeth erwischte sich dabei, dass sie jetzt so schnell wie möglich heim nach Schiffbruch-Bay wollte, um ihren geliebten Will um Verzeihung für die Vernachlässigung der letzten Wochen zu bitten. Sie liebte ihn mit allem, was in ihr war. Umso mehr schmerzte es sie, dass sie ihm das in den letzten Wochen nicht deutlich gemacht hatte.

 

Will hatte ebenfalls bemerkt, dass sich etwas verändert hatte. Sonst hatte er abends stets die Verbindung zu Elizabeth gehabt, aber seit er das Trümmerfeld des Kamikaze bearbeitete und nun schon wochenlang zwischen den japanischen Inseln, der Himmelsinsel und der Hölleninsel pendelte, um das aufzuräumen, was Davy Jones an Unordnung hinterlassen hatte, war die Verbindung anscheinend gerissen. Will schob es darauf, dass er gegenwärtig seine ganze Kraft brauchte, die unendlich vielen Seelen einzusammeln und sich gleichzeitig gegen die chronischen Angriffe der Höllenschiffe Scylla und Charybdis zu wehren. Nicht nur ihm selbst ging es so, auch seine Crew war am Rande der Erschöpfung.

Der Teufel hatte seine Schiffe inzwischen besser bemannt, so dass sie mit den Stürmen besser zurechtkamen als vorher. Obendrein griffen die Höllenschiffe inzwischen schon dann an, wenn die Crew der Flying Dutchman gerade beim Einschiffen der Seelen war, eine Situation, in der ein Sturm die Flying Dutchman und ihre Crew selbst massiv gefährdet hätte – von den armen Seelen mal ganz abgesehen … In der Situation halfen nur noch Kanonen, um die sprichwörtlichen Satansbraten auf Abstand zu halten. Dennoch waren ihnen viele Seelen verloren gegangen, was Will zunehmend ärgerte. Sein Zorn auf die Höllenschiffer wuchs – und damit die Wucht der Stürme, die er ihnen entgegen schleuderte.   

 

Dieses Mal hatten die Höllenhunde die Flying Dutchman schon fast bis an die Himmelsinsel verfolgt. Nur der Nebel hatte sie gehindert, ihr auch dorthin zu folgen. Die Engel, die die Seelen in Empfang nahmen, bemerkten, dass die letzte Zeit der Flying Dutchman und ihrer Crew schwer zugesetzt hatte.

„Du solltest eine Pause machen, William“, empfahl der Engel, der Wills blondes und blauäugiges Ebenbild war, sah man von den spitzen Ohren ab. Der junge Captain schüttelte den Kopf.

„Nein, Legolas. Es sind immer noch verlorene Seelen dort. Wenn wir jetzt aufgeben, wird der Höllenfürst sie sich direkt dort abholen. Das kann ich nicht zulassen“, widersprach Will.

„Ich weiß, wie es dir geht. Ich bin selbst einmal in deiner Position gewesen“, erwiderte Legolas mitfühlend.

„Was hast du dagegen getan?“, fragte Will.

„Die Situation, die du beschreibst, ist neu. Ich werde Calypso bitten, den Rat der Captains einzuberufen. Wir sollten uns gemeinsam beraten, wie du und deine Crew weiter verfahren können. Stürme sind auf Dauer keine Lösung.“

Will nickte.

„Tu das. Wir fahren noch einmal hin und sehen, was wir noch finden können“, erwiderte Will. Der Engel verabschiedete sich und ging von Bord.

„Leinen los!“, befahl Will. „Eine letzte Tour zur Kamikaze-Bucht.“

„Geben wir sie auf, Captain?“, fragte Maccus.

„Nein, das nicht. Aber ich werde nach der nächsten Passage mit dem Rat der früheren Captains beraten, wie es weitergehen soll“, erwiderte Will mit einem Seufzen „Ab in die Wanten, Jungs! Diese Fahrt wird uns alles abverlangen.“

„Aye, Captain!“, dröhnte es vielstimmig zurück.

Die Flying Dutchman lief aus dem Himmelsnebel aus, aufmerksam verfolgt von Engel Legolas und Engel Balian.

„Eigentlich wundert es mich, dass Calypso sich mal darauf eingelassen hat, Leute auf diesen Kapitänsposten zu berufen, die nicht aus der Familie sind“, lächelte Legolas.

„Hätte sie vielleicht nicht, wenn ich nicht an Land geblieben wäre und dort an Altersschwäche gestorben wäre. Sie hatte mich ja schon fast gepackt, als mein Schiff vor der Küste Jerusalems unterging. Ich konnte nur zu gut schwimmen und hatte mir die Rüstung gespart …“, grinste Balian.

„Den Willen, die Wehrlosen zu schützen, hat er auf jeden Fall von dir“, lächelte Legolas. Balian lächelte zurück.

„Die ganze Familie hätte den nicht ohne den elbischen Ahnherrn, mein lieber Ahn.“

 

Die Flying Dutchman erreichte rasch das Seegebiet, in dem die noch verbliebenen verlorenen Seelen der Mongolen und Koreaner auf sie warteten. Greenbeard und Ogilvey hatten gerade das Fallreep heruntergelassen, als Bill aus dem Vormars Alarm gab, dass die Höllenschiffe schon wieder aufkamen.

„Jetzt reicht es mir mit diesen Satansbraten!“, knurrte Will wütend. Er trat an die Reling und schleuderte Scylla und Charybdis seinen ganzen Zorn entgegen. Ein entsetzlicher Hurrikan braute sich innerhalb von wenigen Augenblicken über den Teufelsseglern zusammen, wuchs immer höher, wurde immer dunkler. Grelle Blitze schossen auf die beiden Fregatten herab, die dann doch eilig abdrehten und ihr Heil in der Flucht suchten, aber der Hurrikan verfolgte sie hartnäckig.

„Captain …“, meldete Maccus. Will nickte müde.

„Hier … hier ist keine einzige Seele mehr …“, fuhr der Erste Maat fort.

„Piraten!“, entfuhr es Will. „Die klauen sogar Seelen!“

„Sag mir nichts gegen Piraten, mein Junge!“, schmunzelte Stiefelriemen. Will rang sich ein mühsames Lächeln ab.

„Du bist nicht gemeint, Vater. Es gibt mehrere Sorten von Piraten – solche wie dich und solche wie den Teufel persönlich, solche wie Jack und solche wie Barbossa – und dann noch solche wie Elizabeth“, sagte er. Stiefelriemen grinste breit.

„Und dann noch solche wie dich, mein Sohn. Die meiner bescheidenen Meinung nach beste Sorte …“

Wills Lächeln verbreiterte sich.

„Jack hatte Recht, dass ich mich eines Tages wohl doch damit abfinden würde, Piratenblut zu haben. Na gut, lasst uns zurücksegeln. Master Koleniko!“

„Aye, Captain?“

„Findet Ihr noch weitere Seelen? Ich spüre im Augenblick nichts“, sagte Will.

„Kein Wunder, Sir“, erwiderte der Steuermann. „Ihr braucht eine Pause, so wie Ihr in den letzten Wochen das Meer abgesucht habt.“

„Gut, ab nach Hause!“

Koleniko ging ans Steuer und schlug den Kurs auf die Himmelsinsel ein. Will schlich müde in seine Kajüte und fiel mehr in seine Koje als dass er sich niederlegte. Im nächsten Moment war er in den tiefen Schlaf der Erschöpfung gefallen. Und der von ihm entfesselte Hurrikan jagte noch immer die beiden Höllenschiffe …

 

Tai Huang stand am Bug der Empress und sah mit zunehmender Sorge auf die immer dunkler werdenden Wolken. Er hatte es noch nie erlebt, dass sich ein Unwetter so rasch zusammenbraute wie dieses. Vorsichtig sah er zum Achterdeck, aber Elizabeth Turner hielt eisern den Kurs auf Schiffbruch-Bay ohne auch nur den Versuch zu machen, dem Taifun auszuweichen, der sich dort vor ihnen entwickelte. Der Erste Maat sah es als seine Pflicht an, den Captain auf die Gefahr hinzuweisen und eilte zum Achterdeck.

„Captain! Das Wetter verschlechtert sich! Eure Befehle?“, rief er durch die heftiger werdenden Böen.

„Was würdet Ihr mir empfehlen, Huang?“, rief Elizabeth zurück. Huang bedeutete ihr, in die Kajüte zu kommen. Elizabeth übergab die große Ruderpinne* an Ziang und folgte dem Ersten Maat an die Seekarte.

„Seht, Captain, hier – kaum zwanzig Meilen entfernt – gibt es eine Felsinsel. Dort ist eine geschützte Bucht, in der wir den Taifun abwarten können“, schlug er vor.

„Meint Ihr, dass das ein Taifun wird? Das, was wir in der Karibik Hurrikan nannten?“, fragte sie.

„Ihr kennt die Wetterzeichen doch von dort, Captain. Das wird ein Taifun – der schlimmste, den ich je gesehen habe. Und ich habe unter Sao Fengs Kommando viele Taifune erlebt“, erwiderte er. Elizabeth nickte.

„Ihr habt Recht. Übernehmt das Ruder und nehmt Kurs darauf, Huang“, sagte sie.

„Aye, Captain!“, bestätigte der Maat und eilte sofort an Deck. Es war einer der Momente, in denen Elizabeth sich zu einem Ersten Maat wie Tai Huang beglückwünschte, der nicht nur die Gewässer ihrer neuen Heimat wie seine Hosentasche kannte, sondern auch die Wetterzeichen exakt zu deuten wusste.

Huang nahm Ziang die Pinne ab und drehte es einige Strich nach Backbord, wo der Wirbel des Taifuns endete und steuerte einen etwas nördlicheren Kurs, um die Insel zu erreichen, so schnell es ging. Doch die Empress verlor zusehends an Fahrt, als der Taifun die Richtung wechselte und ebenfalls in nördliche Richtung zog. Viel zu schnell wurde es dunkler, dann regelrecht finster. Als Elizabeth aus der Kajüte kam, hatte sie den Eindruck, Calypso schütte ihren ganzen Zorn über diesem Flecken See aus, auf dem die Empress schwamm. Der Sturm blohte immer heftiger auf, Brecher türmten sich um das Schiff auf und krachten auf das Deck.

„Der Wind hat gedreht, Captain!“, brüllte Huang durch das Brausen des Sturmes. „Er kommt jetzt direkt von vorn!“

„Kreuzt* dagegen, Huang!“, befahl Elizabeth.

„Das können wir nicht mehr! Der Taifun würde uns kentern lassen“, brüllte Huang zurück.

Im selben Moment türmte sich ein fürchterlicher Brecher vor dem Bug der Empress auf, dann brach die Welle und zerschmetterte mit ungeheurer Wucht den Fockmast und das Schanzkleid.

„Wasser im Schiff!“, kam ein Alarmruf auf den unteren Decks.

„Lenzt*, Leute!“, befahl Elizabeth. Sie selbst half Huang, die Pinne zu halten, um das Schiff auf Kurs zu halten, alle anderen rannten wild durcheinander, aber jeder wusste, was er zu tun hatte. Eilige Hände schippten Wasser aus dem Schiff. Das Problem bestand nur darin, dass mehr hereinkam, als sie lenzen konnten …

„Beim Barte des Konfuzius!“, keuchte Ziang, der ebenfalls mit an die Pinne gegangen war, damit die Crew die Empress unter Kontrolle behalten konnte. Er wies nach oben in den Großmast. Elmsfeuer* in allen Farben tanzten um die Toppen von Großmast und Besanmast*. Ziang sah sich um und wurde kreidebleich, als er nur ein paar Kabellängen achteraus* in der sich zunehmend verschlechternden Sicht Masten wahrnahm; drei Masten, um die grüne Elmsfeuer tanzten wie Irrlichter in Sümpfen. Und diese Masten kamen mit rasender Geschwindigkeit näher … gegen den Wind …

Angstvolle Schreie gellten über das Deck der Empress, als sich nahezu zeitgleich wieder ein ungeheurer Brecher aufbaute. Eine schwere Kreuzsee rettete die Dschunke zwar als sie den Brecher ablaufen ließ, aber an Deck der Empress blieb nichts stehen.

Elizabeth sah sich nach dem anderen Schiff um, sah die grünen Blitze, die um die Masten der sich schnell nähernden Fleute tanzten.

„Will!“, flüsterte sie mit einer Mischung aus panischer Angst und vorsichtiger Hoffnung, dass es tatsächlich die Flying Dutchman sein möge, die sich aus der Gischt schälte.

Nur einen Augenblick achtete sie nicht auf die Eigensicherung. Die nächste Welle spülte sie und einige ihrer Männer vom Achterdeck in die kochende See. Das Wasser war kalt, viel zu kalt, um einen solch furiosen Taifun zuzulassen, wie er die Empress attackierte. Verzweifelt kämpften die Schiffbrüchigen ums Überleben, klammerten sich an Holzteile, die im Wasser trieben, während die Dschunke selbst noch immer diesem Wahnsinn von Taifun standhielt. 

 

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Kapitel 10

Die wahre Bestimmung

 

Will Turner fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren und sich zu erinnern, dass er völlig erschöpft in seine Kajüte geschlichen war, nachdem er den Höllenschiffen mit einem Hurrikan aus seinem ganzen Zorn Beine gemacht hatte. Noch immer fühlte er sich müde und ausgelaugt, fragte sich, weshalb er überhaupt aufgewacht war. Nur langsam meldete sich die Erinnerung an den Umstand, dass er einen besonderen Sinn verliehen bekommen hatte, einen Sinn, der ihn auf Gefahren für Leib und Leben von Menschen in der Welt der Lebenden aufmerksam machte. War das so ein Notruf, der ihn geweckt hatte?

Will stand auf und trat an den Kartentisch. Die Flying Dutchman war in der Mitte der Karte und lief mit nordwestlichem Kurs in Richtung Himmelsinsel. Die Karte der Unterwelt entsprach nicht überall der Welt der Lebenden. Ein großer Teil der ungeheuren Landmasse Asiens war in der Unterwelt ein weites Meer, denn die Unterwelt bestand zu noch größeren Teilen aus Ozeanen als die Welt der Lebenden. Genau genommen gab es nur zwei riesige Inseln von schier kontinentalen Ausmaßen, von denen Himmelsinsel hauptsächlich den nördlichen Polbereich einnahm und die Hölleninsel entsprechend im Süden den Polbereich umschloss. Zahlreiche Halbinseln, die von den Hauptinseln weit ins Meer reichten, gestalteten die unendlich langen Küstenlinien abwechslungsreich. An Punkten, an denen sich Vulkane befanden, waren die Welten der Lebenden und der Toten miteinander verknüpft – so bei Schiffbruch-Bay, bei den griechischen und italienischen Inseln, in der Karibik und in den Weiten des Pazifischen Ozeans. Die weltumspannende Seekarte, die der Flying Dutchman als stets ortskundiger Führer diente, zeigte jedoch beide Welten, wobei die Umrisse der fünf Kontinente der Lebenden als transparentes Bild über jene der Unterwelt gelegt waren.

Einige Zeit studierte er die sich bewegende Karte und fand in einem Seegebiet, das in der Welt der Lebenden etwa zweihundert Seemeilen südwestlich von Schiffbruch-Bay war, einen gewaltigen Taifun. Das war in der Unterwelt doch die Gegend, in der er die Höllenschiffe buchstäblich zum Teufel gejagt hatte! Dann fiel ihm auch noch ein, dass Calypso ihn vor Zorn gewarnt hatte, da sein Zorn den Menschen in Küstennähe schaden konnte. Will bekam einen eisigen Schreck. Er rannte eilig an Deck und hinauf das Achterdeck.

„Master Maccus, ich übernehme!“, rief er. „Alle Mann an Deck! An die Brassen! Bringt sie in den Wind!“, befahl er.

„Aye, Captain!“, bestätigte Maccus. „Notfall?“, fragte er dann.

„Taifun in der Welt der Lebenden!“, gab Will zurück. „Beeilen wir uns!“

„Aye, Captain!“

 

Die Flying Dutchman drehte mit Will am Steuer gegen den Wind und nahm Fahrt auf. Im Taifun starben Menschen – und das war ein Fall für den Seelentransporter der Unterwelt. Wie ein Pfeil schoss die Fleute durch die Meere der Unterwelt, näherte sich mit rasender Geschwindigkeit dem in Finsternis versunkenen Seegebiet der Welt der Lebenden. Mitten im Donnergetöse, das auch in die parallele Welt hinüber drang, zuckte ein gewaltiger, grüner Blitz und beförderte die Flying Dutchman in die Welt der Lebenden. Ein furioser Wirbelsturm tobte in der Luft, ließ die See schier kochen.

„Direkt vor uns Dschunke in Seenot, Captain!“, brüllte Stiefelriemen, der in den Vormars aufgeentert war. „Es ist die Empress!“; schrie er. Will hatte das Gefühl, als ob sich eine eiskalte Hand um sein Herz legte – völlig unmöglich, schließlich war die Truhe des Toten Mannes wasserdicht. Selbst, wenn Elizabeth die Truhe mit seinem Herzen mitgenommen haben sollte, hätte sich ihm diese Katastrophe nicht so nah mitgeteilt.

In einer Eingebung riss der Captain das Ruder nach Backbord. Die trotz ihrer Größe wendige Fleute drehte rasch nach links und verfehlte nur knapp ein treibendes Wrackteil. Die Flying Dutchman gehorchte nicht den normalen Elementen, sondern hauptsächlich dem Willen ihres Captains, sah man davon ab, dass sie mit dem Wind nur der Black Pearl unterlegen war. Ein achtsamer Captain mit gutem Willen und funktionierenden Sinnen konnte dieses riesige Schiff wie eine kleine Landkutsche manövrieren. Will nutzte alle ihm gegebenen Sinne, um die Trümmerteile zu umschiffen und gleich zu wenden, um eventuelle Schiffbrüchige auszumachen. Die Flying Dutchman beschrieb einen Vollkreis.

„Großsegel einholen! Brasst die Segel aus dem Wind!“ befahl Will.

„Aye, Captain!“, donnerte es vielstimmig über das Deck.

Augenblicke später zog die Flying Dutchman ganz vorsichtig durch die Wrackteile.

„Ein Dutzend Schiffbrüchige, Captain!“, meldete Maccus

„Alle an Bord hieven!“, wies Will die Crew an, die den Befehl bestätigte und gleichzeitig handelte. Die eingespielte Crew – Maccus, Clanker, Palafico, Greenbeard und Hadras – fischten eilig die Schiffbrüchigen aus dem tobenden Meer.

„Acht leben noch, vier sind bereits gestorben und warten auf die Passage ins Jenseits“, meldete der Erste Maat.

„Bringt die Toten in das Seelendeck, die Überlebenden ins erste Deck. Stiefelriemen soll sich vorläufig um sie kümmern“, erwiderte Will. „Segel wieder in den Wind, damit wir das Schiff noch retten können.“

„Aye, Captain!“

Die Flying Dutchman nahm wieder Fahrt auf und verfolgte eilig die im Taifun abtreibende Empress.  

 

Dort kämpfte Elizabeths verbliebene Crew verzweifelt um das nackte Leben. Fock- und Besanmast* waren gebrochen, das Schiff manövrierunfähig und leckgeschlagen. Ziang sah die zwischenzeitlich zurückgebliebenen drei Masten des verfolgenden Schiffes aus der Gischt wieder näher kommen.

„Die Götter seien uns gnädig – das ist die Flying Dutchman!“, keuchte der Matrose entsetzt. Tai Huang sah sich ebenfalls um. Auch er hing nur noch mit knapper Not an einem Tau, das auch noch zu reißen drohte. Elizabeths Erster Maat erkannte das Schiff ebenfalls, doch er wusste etwas mehr über den gegenwärtigen Schiffsführer und hatte – im Gegensatz zu allen anderen, die während des Kampfes zwischen den Piraten und der East India Trading Company noch nicht an Bord gewesen waren – eine sehr viel größere Hoffnung als die anderen.

„Sie sind uns gnädig“, japste er. „Das ist Captain Turner!“

 

Die Flying Dutchman erreichte die immer mehr in Schräglage geratende Empress. Auf Wills Kommando flogen die Enterhaken und griffen in die Takelage der Dschunke. Angstvolle Schreie der Crew machten dem jungen Captain deutlich, dass es nicht nur der lebensgefährliche Taifun war, der sie in Angst und Schrecken versetzte, sondern auch sein Schiff, das nach wie vor einen bösen Ruf hatte. Aber zunächst musste das Schiff stabilisiert werden – und das ging nur in ruhigerer See. Will erinnerte sich seiner Fähigkeit, den Sturm zu beruhigen, schalt sich innerlich einen Esel, das nicht gleich getan zu haben und machte davon erstmalig Gebrauch. Der Taifun flaute so schnell ab, wie er aufgekommen war, beruhigt durch sanftmütige Sorge des Captains der Flying Dutchman.

Die Enterhaken der Flying Dutchman stabilisierten die bedrohte Dschunke rasch.

„Ahoi, Tai Huang!“, schrie Will hinüber. „Ich bitte um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen!“

„Euch schickt der Himmel, Captain Turner!“, erwiderte der Chinese matt und zog sich an dem Tampen, an dem er hing, wieder auf das schräge Deck der Empress. „Erlaubnis erteilt!“, setzte er dann hinzu. Will griff sich einen Entertampen und schwang auf die übel angeschlagene Dschunke hinüber.

„Gibt es Tote auf dem Schiff, Tai Huang?“, fragte er, seiner Fährmannspflicht als Erstes nachkommend.

„Ich weiß es noch nicht“, gab Huang zurück. „Eure Frau … habt Ihr sie gefunden, Captain Turner?“, fragte der Maat dann. Will wurde bleich.

„Was?“

„Sie ist über Bord gegangen, Sir“, erwiderte Huang. „Ich hoffe, Eure Leute konnten sie schon bergen.“

Die eisige Hand krallte sich noch tiefer in Wills imaginäres Herz.

„Mein Gott, nein!“, entfuhr es ihm mit blankem Entsetzen. Er drehte sich zur Flying Dutchman um.

„Vater!“, brüllte er hinüber.

Stiefelriemens Kopf kam aus der Decksluke.

„Ahoi, Captain! Wo steckst du, Sohn? Deine Frau ist hier!“, schrie er zurück. Will erwischte sich beim Aufatmen, obwohl er noch nicht wusste, in welchem Deck Elizabeth nun untergebracht war … Er winkte hinüber und wandte sich dann wieder an Tai Huang.

„Welche Hilfe braucht Ihr?“, fragte er.

„Jede, die Ihr geben könnt, Captain Turner. Es wurde vieles beschädigt, außerdem haben wir Wasser im Schiff.“

„Ich werde meine Leute herüberschicken“, versprach Will, nahm den Entertampen und schwang wieder zurück auf sein Schiff. Dort wies er den Bootsmann an, geeignete Leute für eine Reparatur der Empress auszusuchen und sie auf die Dschunke zu bringen, dann stieg der Captain in das Zwischendeck hinunter.

„Verluste?“, fragte er seinen Vater. Bill wies mit dem Kopf auf sieben Männer in orientalischer Kleidung.

„Die dort leben noch, vier weitere sind bereits tot und liegen im Seelendeck.“

„Elizabeth?“, fragte Will. Stiefelriemen sah die Angst seines Sohnes in dessen Augen. Er schüttelte lächelnd den Kopf.

„Sie ist nicht im Seelendeck, wenn es dich beruhigt.“

Will atmete sichtlich auf. Er nickte und ging dann hinüber zu den Überlebenden. Alle sieben bebten vor Angst wie die Zitterpappeln.

„Fürchtet Ihr den Tod?“, stellte Will zum ersten Mal die Frage, die Davy Jones so viele Jahrhunderte gestellt hatte – aber sie klang bei ihm nicht nach einer Drohung. Dennoch wagte keiner der Männer, ihm direkt ins Gesicht zu sehen.

„Wa…wa…was pa… pa…passiert … wwwwenn …?“, stotterte einer kreidebleich. Will hockte sich zu ihm und hob das Kinn des Mannes sanft an, damit er ihm in die Augen sehen konnte. Panische Angst stand in den Augen des Matrosen.

„Hab’ keine Angst“, beruhigte der Captain den Matrosen. Der Mann sah die Wärme in Wills braunen Augen und erlaubte sich, vorsichtig aufzuatmen. Dieser Captain sah nun wirklich nicht wie der Teufel der See persönlich aus!

„Wenn Ihr das Angebot, an Bord zu bleiben, solange Ihr selbst es wollt, nicht annehmen mögt, dann werden wir feststellen, wer in der Welt der Lebenden genesen kann. Wer genesen kann, der geht zurück auf die Empress, wer nicht genesen kann, wird hier in Frieden einschlafen, ohne Schmerzen sterben und ins Jenseits gebracht. Niemandem wird etwas zuleide getan. Überlegt es Euch, ich lasse Euch Zeit.“

„Ihr seid gütig, Captain. Gebt mir bitte einen Moment“, bat der Matrose, den Will angesprochen hatte. Der Captain nickte lächelnd.

„Den habt Ihr. Euer Schiff muss erst einmal seetüchtig gemacht werden“, erwiderte er und ließ die nun deutlich ruhigeren Matrosen seiner Frau einstweilen mit ihren Gedanken allein.   

 

„Wo ist Elizabeth?“, fragte er seinen Vater, der ihn mit einem zufriedenen Lächeln im Umgang mit den Überlebenden beobachtet hatte.

„Wo soll deine Frau wohl sein? In deiner Kajüte natürlich, wo sie hingehört!“, grinste Bill.

„Natürlich!“, grinste Will zurück und sprang eilig den Niedergang hinauf, um in seine Kajüte unter dem Achterdeck zu gehen. Bill sah ihm einen Moment nach. Mit Will als Captain hatte die Flying Dutchman ihre wahre Bestimmung gefunden: Als Schiff der Retter in der Not. So war es ursprünglich geplant gewesen, aber erst jetzt, nach schier unendlich langer Zeit wurde der Plan umgesetzt. Bill Turner wurde bewusst, dass es für dieses Schiff keinen besseren Captain geben konnte als gerade seinen Sohn, der für jeden, der in Not geriet, tun würde, was immer in seiner Macht stand – und das war inzwischen eine ganze Menge …

 

 

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Kapitel 11

Begegnung auf See

 

Leise betrat Will die große Kajüte, die gegenüber Davys Zeiten deutlich verändert aussah. Sie war im Prinzip zweistöckig, insgesamt fast sieben Yards hoch, ebenso lang und nahm den gesamten Heckraum unter dem hohen Achterdeck ein. Zwei geschwungene Treppen an der Backbord- und der Steuerbordseite führten hinauf auf die Empore. Diese Grundstruktur der wahrhaft riesigen Kajüte war geblieben.

Die gewaltige Orgel ganz hinten am Heck war jedoch mit einem größeren Anteil im unteren Bereich abgetrennt worden und diente als gesonderter Raum nun als Bordkapelle für alle Glaubensrichtungen. Zwar befanden sich gegenwärtig ausschließlich Christen unter den Matrosen der Flying Dutchman, aber auf der Himmelsinsel hatte Will schon eine Menge Engel gesehen, die gewiss nicht ursprünglich Christen gewesen waren. Man konnte also nie wissen, was die See noch so alles an Bord spülen würde …

Der verbleibende Raum im vorderen Untergeschoss der Kapitänskajüte war ein eher öffentlicher Raum und diente der Navigation und als Besprechungsraum der Führungsmannschaft. Der Bereich in der Empore oben am Spiegel* des Schiffs war als privater Ruheraum des Captains hinter den Zugangstreppen abgetrennt worden. Es verstand sich von selbst, dass diesen Raum niemand ohne anzuklopfen und ohne Wills Einverständnis betrat. Der Einzige, der hier ohne entsprechende Ankündigung Zutritt hatte, war Bill Turner; aber auch er klopfte an, seit Will den Raum umgebaut hatte.

 

Will ging die Treppe zur Empore hinauf und öffnete die Tür zum privaten Bereich. Ein erleichtertes, sanftes Lächeln breitete sich auf seinen ebenmäßigen Zügen aus, als er Elizabeth in der breiten Koje liegen sah, die für zwei Personen ohne weiteres breit genug war. Sie hatte die Augen geschlossen, reagierte nicht auf sein Eintreten, aber sie atmete regelmäßig, woraus Will schloss, dass sie schlief. Vorsichtig setzte er sich an die rechte Seite der Koje, wo sie lag, streichelte ihr sanft über das blasse Gesicht, beugte sich über sie und küsste sie zärtlich. Es dauerte einen Moment, dann zuckte Elizabeth erschrocken zusammen und ehe Will sich versah, hatte sie ihm eine saftige Ohrfeige verpasst.

„Schuft!“, grollte sie wütend, als sie die Augen aufschlug, gewärtig, dass einer ihrer Matrosen sich zu viel Freiheit ihr gegenüber erlaubte.

„Autsch!“, protestierte Will und hielt sich die schmerzende Wange. Elizabeths Augen weiteten sich erschrocken, als sie erkannte, wem sie gerade die flache Hand ins Gesicht gefeuert hatte.

„Die hab’ ich nicht verdient!“, griente Will, als er ihr Erschrecken wahrnahm.

„Will …! Aber …! Was …?“, stotterte sie. „Bin ich tot?“, fragte sie, als ihr Verstand wieder zu arbeiten begann und ihr klar wurde, dass sie an Bord der Flying Dutchman und in Gegenwart des Fährmanns der Unterwelt war. Will schüttelte lächelnd den Kopf, auch wenn seine linke Wange wie Feuer brannte.

„Nein …“, sagte er. „Ui, hast du einen Schlag am Leib! Mal sehen, ob noch alles in der Reihe ist“, setzte er mit einem Grinsen hinzu und prüfte mit der Zunge nach, ob er nicht doch einen Zahn eingebüßt hatte. Er fand alle Zähne am vorgesehenen Ort und unbeschädigt vor.

„Nein, tot bist du ganz sicher nicht. Tote hauen nicht um sich, jedenfalls nicht in dieser Welt“, grinste mit einem schelmischen Zucken um die Mundwinkel, das die dekorativen Grübchen daneben vertiefte.

„Oh, Will, es tut mir Leid!“, bat sie um Entschuldigung. „Ich …“

„Schon gut. Ich habe dich erschreckt – und das tut mir Leid“, wiegelte er ab und beugte sich wieder über sie. Elizabeth ließ sich beruhigt in das Kissen sinken und streichelte sacht die misshandelte Wange ihres geliebten Mannes. Will schloss die Augen und genoss es einfach. Er hatte ihre Berührung vermisst. Nichts konnte die leibhaftige Berührung seiner Frau ersetzen. Die geistige Verbindung mit ihr war wunderschön, aber dieser sanften Berührung kam nichts gleich. Seine Hand glitt sanft durch ihr immer noch feuchtes Haar.

„Wie geht es dir?“, fragte er schließlich besorgt, als er spürte, dass sie zitterte.

„Mir ist kalt, sonst geht es mir gut. Ich bin nicht verletzt“, erwiderte sie leise. „Ist … ist das die Flying Dutchman?“, vergewisserte sie sich dann. Er nickte und küsste sie erneut. Elizabeth erwiderte den Kuss mit wachsendem Verlangen, umarmte ihn fest, wie um sich zu vergewissern, dass es kein Fiebertraum war, der ihr seine Gegenwart vorgaukelte.

„Will!“, flüsterte sie. Er erwiderte ihre Umarmung und drückte sie ebenso fest an sich. Es tat gut, sie wieder in den Armen zu halten.

„Elizabeth!“, wisperte er nah an ihrem Ohr. Ein halbes Jahr war vergangen, seit sie auf der Hochzeitsinsel zum ersten Mal überhaupt ungestört miteinander Zeit verbracht hatten, doch war der Hochzeitstag schon von der Tatsache überschattet gewesen, dass Will bei Sonnenuntergang die Welt der Lebenden verlassen musste und sie sich zehn Jahre nicht sehen würden. Dass sie sich nun, nach einem halben Jahr, mitten auf See trafen, war für sie beide ein unvorhergesehenes Geschenk… Und sie gedachten, es zu nutzen …

„Wärmst du mich wieder auf?“, fragte Elizabeth mit einem glückseligen Lächeln. Will erwiderte ihr Lächeln, nickte schweigend und hatte nichts dagegen, dass sie ihm das Hemd gleich über den Kopf zog und nebenbei auch sein Kopftuch abnahm. Sein schulterlanges Haar fiel herunter und bildete gleich einen schützenden Vorhang um ihrer beider Gesichter und entzog den unendlich zärtlichen Kuss, den sie tauschten, selbst dem Rest des Ruheraums.

 

Als sie nebeneinander lagen, wünschten sie sich beide nichts mehr, als die Zeit zu dehnen, die ihnen so unverhofft geschenkt war. Sie gaben sich einander hin mit aller Zärtlichkeit und Leidenschaft, zu der sie fähig waren – und das war reichlich … Elizabeth ahnte nicht im Geringsten, dass ihr geliebter Will tatsächlich die Fähigkeit hatte, Zeit zu dehnen und aus den Stunden, die seine Leute benötigten, um die Empress wieder seetüchtig zu machen, glatt die doppelte Zeit machte, ohne dass dies außerhalb der Kapitänskajüte zu bemerken war.

Der Liebesgenuss der geschenkten Zeit ließ sie beide schweben. Als sie schließlich atemlos zur Ruhe kamen, fror Elizabeth absolut nicht mehr, so hatte Will sie mit seiner glühenden Leidenschaft aufgeheizt.

„Mein Herz rast vielleicht“, keuchte sie, als sie sich ruhe- und schutzsuchend an ihn kuschelte. „Die Stille bei dir ist beinahe unheimlich“, setzte sie hinzu und fuhr mit der Hand sanft über die große Narbe auf seiner Brust, die knapp unter dem linken Schlüsselbein begann und sich bis an die Bauchdecke in einem zackigen Halbkreis um den linken Brustmuskel zog.

„Das rast genauso wie deins – nur in seiner Truhe“, flüsterte er und küsste sie sacht auf das Haar.

„Du keuchst nicht mal, während ich fast keine Luft mehr kriege“, fuhr sie schwer atmend fort. Sie konnte Wills Grinsen nicht sehen, weil ihr Kopf auf seiner rechten Schulter lag und er sie zärtlich umarmt hielt, aber sie hörte es an seinem Tonfall, als er sagte:

„Na ja, zwei Fäuste mehr Platz für die Lunge kommt eben auch dabei heraus, wenn man das Herz hergeben muss.“

Sie lachten leise.

„Will …“, setzte Elizabeth nach einer Weile beredten Schweigens an.

„Aye?“

„Machst du eigentlich das gleiche Angebot, das Davy Jones machte? Hundert Jahre vor deinem Mast, um dem Gericht zu entgehen?“

„Nein. Ich biete an, meine Crew zu bereichern, so lange jemand es möchte. Wer des Dienstes hier überdrüssig ist, kann beim nächsten Aufenthalt im Jenseits abmustern.“

„Hat das schon jemand gemacht?“

„Nein, noch sind sie alle an Bord.“

„Ich … ich … würde gern …“, weiter kam sie nicht, weil er ihr den Mund zuhielt. Erschrocken fuhr sie hoch. Als sie ihn ansah, bemerkte sie den tiefen Ernst, der sich in seinen braunen Augen spiegelte.

„Nein, mach keine solchen leichtfertigen Aussagen, Liebling“, bremste er. „Du trägst unser Kind.“

„Woher weißt du das?“, fragte sie verblüfft. Er lächelte schelmisch.

„Erstens habe ich eine ausgesprochen gute Quelle, nämlich Calypso selbst, und zweitens ist es auch kaum noch zu übersehen“, sagte er und ließ seine Hand sanft über ihren rundlichen Bauch gleiten.

„Was weißt du noch?“

„Dass ich eine wunderbare Frau habe, für die ich mein irdisches Leben zu Recht gegeben habe.“

Sie richtete sich halb auf und strich ihm sacht über das Gesicht.

„Du wusstest es?“, fragte sie. Er nickte.

„Es gab nur die Möglichkeit du oder ich. Davy hätte dich getötet, hätte ich ihn nicht abgelenkt. Ich musste Jack irgendwie Zeit verschaffen, an sein Herz zu kommen. Dass ich Davy nicht töten konnte, war mir klar, aber ich konnte nicht zulassen, dass er dich tötet. Ich hatte dir versprochen, für dich zu sterben – und ich halte meine Versprechen“, sagte er. Elizabeth sah ihn lange an.

„Wirst du zu mir zurückkehren?“, fragte sie nach einer Weile.

„Aye, das werde ich. Wirst du dort sein, wenn ich komme?“

„Aye, das werde ich“, versprach sie. „Will, wenn unser Kind groß genug ist, wenn es erwachsen ist, dann werde ich dir folgen“, setzte sie hinzu.

Er überlegte einen Moment, ob er ihr sagen sollte, dass das vielleicht nicht nötig sein würde, weil er – wenn sie tatsächlich auf ihn wartete und an Ort und Stelle war, wenn er zurückkehrte – nicht mehr dazu verpflichtet war, zehn Jahre die Seelen zu transportieren und nur einen einzigen Tag an Land verbringen durfte. Er entschied sich dagegen. Zum einen wollte er erst die Gewissheit haben, dass es so war, bevor er ihr Hoffnungen machte, die sich möglicherweise nicht bestätigten. Zum anderen war er sich nicht sicher, ob sie darüber informiert sein durfte.

„Warten wir mal ab“, sagte er stattdessen. „Ich muss erst einmal wissen, ob mein Herz die Welt der Lebenden verlassen darf. Das weiß ich noch nicht.“

„Werden wir uns inzwischen wieder sehen?“, fragte sie. Er lächelte.

„Ich habe die Möglichkeit, Menschen, die nach einem Schiffsuntergang noch leben, den Eintritt in meine Crew anzubieten. Das geht nur in der Welt der Lebenden. Folglich kann ich in solchen Fällen in diese Welt kommen“, erwiderte er. „Aber das heißt bitte nicht, dass du dein Schiff wissentlich in Gefahr bringst oder es gleich versenkst, damit ich zu deiner Rettung eilen kann“, setzte er mit einem schalkhaften Grinsen hinzu.

„Möchtest du, dass ich in Schiffbruch-Bay bleibe?“

„Wenn ich eines begriffen habe, dann den Umstand, dass du dir von niemandem Vorschriften machen lässt“, entgegnete er. „Du bist die Frau die ich liebe, und vielleicht liebe ich dich gerade deshalb so sehr, weil du deinen eigenen Kopf hast.“

Elizabeth lächelte ihn liebevoll an.

„Und genau deshalb werde ich dort bleiben, wenn du es willst“, versprach sie. „Ich liebe dich, weil du mir meine Freiheit lässt. Ich werde dein Herz bewahren und unser Kind großziehen.“

„Bevor ich es vergesse: Deine Eltern haben mich gebeten, dir Grüße auszurichten, falls ich dich sehen sollte. Ich richte sie dir hiermit aus, mein Liebling“, sagte Will. Elizabeth wurde klar, dass er eine gänzlich andere Verbindung zu jener anderen Welt hatte. Sie hatte es fast vergessen, so nah, wie sie sich in den letzten Stunden gewesen waren.

„Sie … sie sind zusammen?“

„Aye, das sind sie. Als ich das letzte Mal dort war, waren sie beide am Kai und nahmen die Seelen in Empfang.“

„Wie … ist es dort?“

„Es ist schön. Ein weites, grünes Land mit weißen Stränden unter einer rasch aufgehenden, milden Sonne. Ein Traum, sage ich dir.“

„Wem ist es vergönnt, dort dein Schiff zu verlassen?“

„Nach meinen bisherigen Erfahrungen muss man sich schon so danebenbenommen haben wie Beckett und Mercer, um dort abgewiesen zu werden“, erwiderte er sanft und streichelte zärtlich Elizabeths Gesicht. Ihr Lächeln verstärkte sich, sie legte den Kopf wieder auf seine Schulter und genoss seine Wärme. Es war einfach wundervoll.

„Will?“

„Aye?“

„Wenn ich dein Herz am Abend aus der Truhe genommen habe und es gestreichelt habe, hatte ich das Gefühl, du erwiderst mein Streicheln. Seltsam, was einem die Einbildung so vorgaukeln kann“, sagte sie.

„Das ist keine Einbildung, Elizabeth, das ist Tatsache“, erwiderte er leise. Sie zuckte erneut hoch.

„Was?“

„Auch das weiß ich von Calypso. In der letzten Zeit habe ich es allerdings vermisst“, sagte er. Sie spürte, dass sie rot wurde, als ihr bewusst wurde, dass er gar nichts hatte spüren können, weil sie die Truhe in Schiffbruch-Bay gelassen hatte.

„Au weia!“, entfuhr es ihr leise.

„Was ist?“

„Ich glaube, ich habe eine bösen Fehler begangen“, seufzte sie.

„Welchen?“

„Die Truhe ist in Schiffbruch-Bay geblieben – unter Edward Teagues Obhut!“

Will erwischte sich dabei, nach Luft zu schnappen – trotz deutlich mehr Platz für seine Lunge. Im ersten Impuls wollte er aufbrausen, hielt sich aber gerade noch im Zaun, wollte er das glückliche und überaus liebevolle Wiedersehen mit Elizabeth doch nicht im Streit enden lassen. Außerdem hatte sie wohl selbst gerade bemerkt, wie leichtfertig sie gehandelt hatte.

„Ich muss dringend zurück! Sofort!“, keuchte sie und sprang aus der Koje, womit sie seine Annahme bestätigte.

„Sofern deine Dschunke wieder seetüchtig ist …“, grinste Will und erhob sich ebenfalls. Er spürte ihre Panik und nahm sie in die Arme.

„Du wirst nach Hause segeln, aber ohne Hast, versprich mir das“, bat er eindringlich. Sie nickte, allerdings höchst zögerlich.

„Wenn Teague treulos gehandelt hat, verhinderst du es jetzt ohnehin nicht mehr“, fuhr er fort. „Sollte es so sein, werde ich um Erlaubnis bitten, dich unterstützen zu können, um es zu sichern. Sollte er es bewahrt haben, wie du ihn gebeten hast, kannst du ihm auch künftig vertrauen, wenn es notwendig ist. Ich hätte nur die Bitte, dass du es nicht übertreibst.“

„Oh, Will, was hab’ ich nur getan?“

„Das werden wir herausfinden – und zwar wir beide.“

„Heißt das, du …?“

„Aye, ich werde dich begleiten“, versprach er. „Ich lasse dich in deiner Not nicht allein.“

Elizabeth fiel ihm erneut um den Hals, voller Dankbarkeit, dass er da war – und voller Vorfreude auf die kommenden Tage …     

 

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Kapitel 12

In sicherer Hut

 

Will und Elizabeth verließen die Kajüte sichtlich gut gelaunt, der junge Mann hatte seiner Frau einen Arm um die Schulter gelegt und drückte sie sanft an sich. Elizabeth genoss seine so deutlich gezeigte Zuneigung vollkommen.

„Nach Euch, Captain Turner“, grinste er und hielt ihr die Kajütentür mit einer höflichen Verbeugung auf.

„Danke, Captain Turner. Ihr seid galant“, gab sie strahlend zurück und trat auf das sonnenbeschienene Deck hinaus.

„Captain, die Reparatur ist fertig“, meldete Maccus, an Will gewandt. „Euer Schiff ist wieder seetüchtig, Captain Turner“, sagte er dann zu Elizabeth.

„Danke, Master …“

„Maccus, Captain.“

„Danke, Master Maccus. Ihr und Eure Leute waren fleißig. Ich bin Euch zu Dank verpflichtet“, dankte Elizabeth dem Ersten Maat der Flying Dutchman.

„Wir … haben erst einmal unseren Reservegroßmast eingesetzt und ihn mit Rahen getakelt. Entspricht nicht Eurer sonstigen Takelung, aber bis Schiffbruch-Bay müsste es gehen“, erklärte Maccus weiter. „Es ist wieder wasserdicht. Wir haben die Planken zusätzlich kalfatert*.“

„Gute Arbeit, Master Maccus“, lobte Will. Der Erste Maat strahlte über das ganze Gesicht. Er war jetzt schon Jahrzehnte an Bord der Flying Dutchman, aber Lob hatte er noch nie gehört.

„Setzt Kurs nach Schiffbruch-Bay, wir begleiten die Empress“, setzte Will hinzu.

„Aye, Captain!“, bestätigte der Erste Maat und ging ans Steuer. Elizabeth sah ihm nach.

„Welches von den Ungeheuern ist er gewesen?“, fragte sie leise.

„Unser Hammerhai“, grinste Will. Elizabeth sah sich vorsichtig um. Dann beschloss sie, lieber nicht weiter wissen zu wollen, in welcher Gestalt ihr die Crew der Flying Dutchman schon begegnet war. Was immer sie gewesen waren, jetzt waren sie wieder Menschen und Will offensichtlich treu ergeben. Sie hatte es schon unmittelbar nach dem Auftauchen der Flying Dutchman in der Seeschlacht gesehen, wie das Schiff und die Mannschaft sich verändert hatten.

„Will, warum sind sie jetzt Menschen?“, fragte sie leise, so dass nur er es hören konnte.

„Klingt überheblich, aber es liegt am Captain“, erwiderte er. „Der Captain bestimmt die Gestalt, besser die Verwandlung der Crewmitglieder.“

Elizabeth lächelte ihn warm an.

„Wenn ich es bis jetzt noch nicht genau gewusst hätte, was für einen guten Charakter du hast, dann wüsste ich es spätestens jetzt. Einen deutlicheren Nachweis gibt’s wohl kaum“, sagte sie. Er grinste lausbubenhaft und verliebt zugleich.

„Nun, hin und wieder nennst du mich Pirat …“, griente er. „Möchtest du auf dein Schiff, Captain?“

„Eigentlich auf jeden Fall und uneigentlich auf keinen Fall. Wir werden uns lange nicht sehen …“, gab sie zurück. Er nickte verstehend.

„Dann bist du mein Gast an Bord, bis wir den Teufelsschlund erreichen – wobei ich zuversichtlich hoffe, dass wir nicht wieder so einen Notruf bekommen, wie von euch. Dann müsste ich dich auf dein Schiff übersetzen, denn auf den Wegen, auf denen wir fahren, kannst du leider nicht mitkommen, so gern ich es auch hätte“, sagte er. Sie nickte und folgte ihm auf das Achterdeck.

„Master Maccus, signalisiert der Empress, dass wir sie nach Schiffbruch-Bay begleiten und dass Captain Turner als Gast hier an Bord bleibt, bis wir dort sind“, wies er den Ersten Maat an.

„Aye, Captain!“, strahlte Maccus. Die Freude, die Will über das Wiedersehen mit seiner Frau ausstrahlte, wirkte ansteckend auf seine ganze Crew. Lauthals singend machte die Crew sich daran, die Segel zu setzen und das Schiff in den Wind zu bringen, um dann mit der Empress im Konvoi nach Schiffbruch-Bay zu segeln. Beide Schiffe nahmen Kurs auf die geheime Piratenzuflucht, diese schier uneinnehmbare Festung mitten im Pazifik, die letztlich auch nur von Leuten gefunden wurde, die deren Lage kannten – und das waren die Piratenfürsten und jene, die sie kannten.

Die Empress war ein schnelles Schiff, das unter normalen Umständen deutlich mehr als zehn Knoten* laufen konnte, aber in dem angeschlagenen Zustand und mit dem rahgetakelten Notmast brachte sie es auf knapp fünf Knoten. Durch den Taifun war die Empress weit vom Kurs abgekommen, so dass die Entfernung nach Schiffbruch-Bay etwa dreihundert Seemeilen betrug. Für diese Stecke würde sie wenigstens drei Tage benötigen.

Die Flying Dutchman war durch ihre übernatürliche Beschaffenheit nicht an normale physikalische Gegebenheiten gebunden, auch nicht in der Welt der Lebenden, und segelte so schnell, wie ihr Captain es wollte. Die einzige Ausnahme bildete die Tatsache, dass sie mit dem Wind der Black Pearl unterlegen war – aber auch die Black Pearl war, seit Davy Jones sie für Jack aus der Tiefe zurückgeholt hatte, kein wirklich natürliches Schiff mehr … Will sah es in diesem Moment als seine Aufgabe an, die Empress sicher heimzubringen und wollte schon deshalb nicht schneller segeln, als die nach wie vor schutzbedürftige Empress.

 

Elizabeth genoss die Zeit in Wills Nähe, die sie so lange vermisst hatte. Nur ganz selten in diesen drei Tagen sahen die Crews das Ehepaar Turner nicht ganz nah zusammen, gleich, ob der Captain selbst am Steuer stand oder einer seine Steuerleute. Die Abenddämmerung fand Elizabeth und Will in enger Umarmung am Bug der Flying Dutchman, dann zogen sie sich nach Sonnenuntergang in die Kajüte zurück, in deren oberem Teil bald das Licht gelöscht wurde.

Bill Turner schmunzelte vergnügt vor sich hin, aus eigener Erfahrung wohl wissend, was Sohn und Schwiegertochter dort oben machten. Er gönnte ihnen von Herzen die Stunden, die sie miteinander verbringen konnten – wie jeder an Bord. An dem Glück ihres jungen Captains freuten sie sich alle. Zu lange hatten sie die schlechte Laune und die Bosheit seines Vorgängers ertragen müssen und sich davon selbst vergiften lassen müssen.

„Ja, ja, die Liebe …“, grinste Bill schließlich. Clanker hatte einen seligen Ausdruck im Gesicht.

„Vielleicht sollten wir sie überreden, auch den Eid auf die Dutchman zu schwören. Dem Captain kann’s doch nur recht sein, sie immer bei sich zu haben“, schlug er vor. Doch Bill schüttelte den Kopf.

„Jemand muss das Herz schützen“, sagte er. Clanker bekam ein triumphierendes, breites Grinsen.

„Davy Jones ist doch auch mit lebendem Herzen in seiner Brust mit der Dutchman gefahren, stimmt’s, Wyvern?“

Der alte Wyvern nickte bestätigend.

„Ja, er wollte sein Herz ja nicht mehr an Bord haben. Nur deshalb hat er’s ja auf der Isla Cruces vergraben …“

„Jones’ Extrafluch nötigt Will, sein Herz in der Truhe aufzubewahren. William würde sein Herz nur mitnehmen, wenn er ganz sicher sein könnte, dass dadurch weder uns noch dem Schiff Unheil droht – und wenn Elizabeth einverstanden wäre. Er würde es ihr niemals wieder wegnehmen, das ist nicht seine Art“, wehrte Bill ab.

„Nö, sie soll doch gleich mitkommen“, beharrte Clanker grinsend.

„Jungs, glaubt ihr ernsthaft, dass Elizabeth ihr Kind allein in der Welt zurücklassen würde oder dass Will das zulassen würde? Sie ist schwanger! Schlagt euch das aus dem Kopf, mindestens bis das Kind alt genug ist, um für sich selbst zu sorgen und seine Eltern nicht mehr braucht.“

„Bill, hältst du mich für eigensüchtig, wenn ich dir sage, dass wir so einen Captain nie nich’ wieder kriegen und dass ich ihn deshalb nie nich’ endgültig von Bord gehen lasse?“, fragte Clanker.

„Er hat’s versprochen, uns nicht im Stich zu lassen, Jungs. William hält seine Versprechen. Dem fällt was ein, das garantier’ ich euch“, entgegnete Bill. Die Männer der Crew sahen sich an. Betroffenheit und Hoffnung hielten sich etwa die Waage. Sie wollten ihrem Captain vertrauen, der sie mit seinem noblen Wesen aus der schrecklichen Gestalt befreit hatte – aber hergeben wollten sie ihn ganz sicher nicht …

 

Drei wundervolle Tage vergingen für Elizabeth und Will wie im Fluge. Sie hatten sie genossen, ausgekostet, gedehnt, soweit es sich irgendwie machen ließ. Aber so wie bittere Tage uns länger scheinen, als sie tatsächlich sind, so viel schneller vergehen glückliche Tage … Für die Liebenden war der Teufelsschlund, die Durchfahrt nach Schiffbruch-Bay, viel zu schnell erreicht. Beide Schiffe liefen in den Hafen ein, bestaunt von den Menschen, die dort lebten. Einer, der eher gleichmütig die Ankunft der Empress und der Flying Dutchman hinnahm, war Captain Teague.

„Da bist du ja wieder, Mä’chen!“, brummte er, als er Elizabeth sah. „Warst erfolgreich, hm?“, setzte er hinzu, als ihm auffiel, dass die Dschunke sehr tief im Wasser lag. Er winkte seinen Helfern, die sonst den Kodex für ihn schleppten. Sie brachten die Truhe des Toten Mannes herbei, schleppten sie, als ob sie ein Zentnergewicht trugen.

„Da isses“, brummelte Teague und ließ die Truhe an Elizabeth aushändigen und gab ihr den Schlüssel dazu, den der Schlüsselhund an seinem Schlüsselbund im Maul hatte. Sie nahm den Schlüssel, öffnete die Truhe und fand das sorgsam auf weiche Kissen gebettete Herz ihres Mannes unversehrt und treu bewahrt vor,

„Danke, Captain Teague“, sagte sie und konnte es sich nicht verkneifen, dem zerfurchten alten Captain einen geradezu töchterlichen Kuss auf die Wange zu geben. Dennoch wehrte Teague vorsichtig ab, was Elizabeth in Erstaunen versetzte.

„Nee, nee, lass man, Mä’chen. Jackie hat mich vor deinen tödlichen Küssen ausdrücklich gewarnt“, grinste er. Teague sah hoch und sah Will lächelnd an der Reling stehen.

„Wenn Jackie hier wär’ hätt’ste anders reagiert, Jungchen“, kicherte er. „Aber auf Edward Teague ist Verlass. Der hütet, was man ihm zur Aufbewahrung gibt.“

„Hat das jemand bezweifelt, Captain Teague?“, fragte Will und lehnte sich bequem an die Reling.

„Dein Blick, Jungchen. Der lässt Wasser zu Eis erstarren – na ja, jedenfalls wär’s Jackie so gegangen … Mach’s gut, du hast noch viel vor dir“, erwiderte Teague, winkte und schwankte samt Trägern und Schlüsselhund davon.

 

Elizabeth drückte die Truhe fest an sich und sah Jack Sparrows Vater einen Moment nach. Dann spürte sie Wills Blick, der liebevoll auf ihr ruhte, und kehrte auf sein Schiff zurück.

„Nicht, dass du denkst, ich würde es nicht gut behandeln“, sagte sie und öffnete die Truhe, damit er sich davon überzeugen konnte.

„Jetzt weiß ich auch, warum ich mich so richtig rundherum wohlfühle, mein Liebling. So bequem hat mein Herz es noch nie zuvor gehabt“, sagte er und klappte zufrieden den Deckel wieder zu. „Es ist deins – seit langer Zeit, genau genommen, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe“, sagte er leise. Einen Moment lehnten sie Stirn an Stirn aneinander.

„Du musst fort, nicht wahr?“, fragte Elizabeth. Er nickte nur.

„Die Seelen deiner Matrosen … sie warten“, erwiderte er schließlich. Ergeben nickte auch sie.

„Bring sie gut dorthin, wohin sie gehören. Ich vertraue sie dir an“, flüsterte sie mit einem dicken Kloß im Hals. Es fiel ihr unendlich schwer, ihn wieder herzugeben.

„Wir werden uns wieder sehen“, versprach er. Elizabeth rang sich ein mühsames Lächeln ab.

„Wenn ich irgendwem seine Versprechen glaube, dann dir, Will Turner“, gab sie zurück.

 

Wenig später stand sie hoch auf den Klippen über Schiffbruch-Bay und winkte der Flying Dutchman und ihrem Captain nach, bis die Sonne unterging und ein grüner Blitz die Fähre der Toten wieder verschluckte. Tränenüberströmt stand sie da, die Truhe fest umklammert.

„Er wird zurückkommen, Mä’chen. Der ist verlässlicher als meiner“, brummelte Teague hinter ihr. „Hast ’ne gute Wahl getroffen.“

Elizabeth spürte eine Hand auf der Schulter und sah sich um. Teague war nahe zu ihr getreten und hatte seine Pranke auf ihre Schulter gelegt.

„Und er mit dir, das sollte man nich’ vergessen“, setzte er hinzu.

 

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Kapitel 13

Der Rat der Captains

Der grüne Blitz beförderte die Flying Dutchman in fast greifbare Nähe der Himmelsinsel, doch die Teufelsschiffe schienen nur auf sie gewartet zu haben. Augenblicklich attackierten sie das Seelenschiff. Will wollte nicht wieder eine Katastrophe mit unabsehbaren Folgen auf Erden auslösen und verzichtete darauf, sie mit einem Sturm davonzujagen – allerdings um den Preis eines heftigen Gefechtes, das die Dutchman dank der weiterreichenden Kanonen und ihrer Geschwindigkeit für sich entscheiden konnte.

Dennoch hatte Will das Gefühl, vor ihnen gekniffen zu haben, was ihm überhaupt nicht behagte.

„Ich komm mir vor wie ein Feigling“, brummte er, als die Scylla und die Charybdis außer Sichtweite waren.

„Das bist du nicht, Junge!“, beruhigte sein Vater ihn. „Du hast getan, was richtig war. Die Seelen sind noch an Bord, wir sind weiter uneingeschränkt manövrierfähig und sind sie einstweilen los. Du kannst sie nicht besiegen, jedenfalls nicht endgültig. Diese Schiffe haben ebenso übernatürliche Eigenschaften wie deins.“

„Ich hoffe, Calypso hat auf Legolas’ Anregung den Rat der ehemaligen Captains einberufen. Ich brauche dringend eine gute Lösung für dieses Problem, die niemanden in der Welt der Lebenden gefährdet“, seufzte Will.

„Captain … ich sollte Euch sagen, dass schon Davy Jones nach so einer Lösung gesucht hat, als er den Dienst noch treu erfüllen wollte“, warf Wyvern ein, der Will am Steuer abgelöst hatte, nachdem nun wieder Ruhe eingekehrt war.

„Aber er hat offenbar keine gefunden, richtig?“, hakte Will nach.

„Er hat sie gefunden, aber auf eine andere Weise.“

„Welche?“

„Er hat dem Teufel nachgegeben und ihm die Seelen ausgeliefert, die er haben wollte“, erkläre Wyvern.

„Dann ist mir auch klar, weshalb er in so einem überzeugenden Ton von der Grausamkeit des Lebens nach dem Tod reden konnte …Und weshalb die Brüder hinter diesem Schiff im Wortsinne her sind wie der Teufel hinter der armen Seele. Dem muss ich einen Riegel vorschieben, wenn ich irgendwann noch mit Anstand in den Spiegel sehen will“, knurrte Will. Bill schmunzelte.

„Fürchtest du Tentakeln?“

„Wer weiß, was mir dann wachsen würde …“, rang Will sich ein spöttisches Lächeln ab. „Nein, ich will meiner Verantwortung für die Seelen gerecht werden und meine Pflicht als Fährmann gewissenhaft erfüllen. Sie sind wehrlos, Vater. Ich kann sie nicht im Stich lassen.“

„Du bist ein wahrer Sohn dieser Familie, mehr als ich selbst, mein Junge. Bei dir hat das ritterliche Erbe wirklich durchgeschlagen“, sagte Stiefelriemen schließlich ernst.

„Was für ein Erbe?“

„Lass es dir vom Captains Council erklären, Will. Du wirst eine Menge Familie dort treffen.“

„Was werde ich noch alles finden?“, fragte Will unbehaglich. Es gefiel ihm nicht, nur scheibchenweise Wissen zu erlangen. Er kam sich wieder wie ein Welpe vor, der von nichts eine Ahnung hatte und doch die ganze Last der Hoffnungen, Ängste und Wünsche Anderer tragen sollte – wie seit jenem Tag, an dem er mit Captain Jack Sparrow in der Schmiede von Meister John Brown aneinander geraten war; jenem Tag, der sein bis dahin so wohlgeordnetes Leben völlig und unumkehrbar durcheinander gebracht hatte.

„Lass es dir von ihr erklären. Sie weiß, weshalb und warum gerade du auf diesem Schiff das Kommando hast“, wehrte Bill ab. Will nickte ergeben, begreifend, dass er jetzt im Moment nichts weiter erfahren würde. 

 

Wenig später lag die Flying Dutchman an der Himmelspier vertäut. Die Seelen aus Elizabeths Crew, die bei dem Taifun gestorben waren und die drei, die sich gegen sein Angebot entschieden hatten, gingen von Bord. Die anderen vier, die sich mit dem Tod noch nicht anfreunden konnten, winkten ihnen nach. Engel nahmen sie in Empfang, begrüßten sie und wiesen ihnen den Weg ins Innere der Himmelsinsel. Nachdem die Seelen fort waren, kam einer der Engel an Bord.

„Captain William Turner?“, fragte er. Will drehte sich um.

„Aye?“

„Ihr werdet erwartet, Captain. Bitte folgt mir“, forderte der Engel ihn auf.

„Äh, ich bin erst kurze Zeit auf dem Schiff und darf erst in zehn Jahren wieder an Land – für einen Tag“, erinnerte Will. Der Engel lächelte freundlich.

„Das gilt für die Welt der Sterblichen. Hier gelten andere Gesetze, Captain Turner. Bitte, kommt mit.“

„Nicht, dass mir dieser Landgang angerechnet wird und ich in zehn Jahren Ärger kriege!“, knurrte Will. Der Engel schüttelte den Kopf.

„Nein, kommt, bitte“, sagte er sanft. Will nickte.

„Master Maccus, Ihr habt das Kommando“, wandte Will sich an den Ersten Maat.

„Aye, Captain!“

 

Will folgte dem Engel mit gewisser Nervosität. Die Engel, die am Kai standen, verneigten sich vor ihm.

„Wohin bringt Ihr mich?“, erkundigte sich der Captain, als er dem Engel eine Weile gefolgt war und zu einem weiten Feld kam, auf dem mehrere einzelne Nebelfetzen am Boden waren.

„Das werdet Ihr bald erfahren. Setzt Euch, mit einer Wolke geht es schneller“, sagte der Engel und wies auf einen der Nebelfetzen. Erst jetzt erkannte Will, dass die Nebelfetzen so etwas wie Sitze hatten. Vorsichtig trat er auf die Wolke, die ihn aber ohne weiteres trug und nahm auf einer neblig wirkenden Bank Platz. Die Wolke hob ab und segelte in knapp sechs Fuß Höhe in einem leichten Wind gen Westen auf eine wunderschöne Stadt zu. Silberglänzende Mauern umgaben sie, die unendlich massiv und doch federleicht wirkten. Strahlende Kuppeln, die wie geschliffene Diamanten glänzten, bildeten die Dächer der schneeweißen Häuser und Paläste. Dazwischen waren sattgrüne Matten, Bäume und Büsche, Blumen von ungeahnter Pracht.

„Das ist wunderschön“, sagte Will berührt. „Wie nennt man diese Stadt?“

„Sie hat viele Namen: Manche nennen sie Jerusalem, andere Nirwana, Tenochtitlán des Himmels, Atlantis, Ewige Jagdgründe, Valinor – es gibt so viele Namen für diese Stadt wie es denkende Wesen gibt“, erklärte der Engel.

 

Die Wolke landete auf einem weichen, grünen Rasen vor einem prächtigen Gebäude am Rand der Stadt. Der Engel stieg herunter und winkte Will, der ihm in das Gebäude folgte. Durch schier endlose Flure gelangten sie in einen Saal, der im Gegensatz zur sonstigen Pracht dieser Stadt eher schmucklos war, wenngleich er hell und freundlich war. In einem Halbrund saßen acht Männer in sehr altertümlich wirkenden Gewändern um einen Tisch, in der Mitte der acht Männer thronte Calypso. In Gestalt und Farbe erinnerte nichts an die Voodoo-Zauberin, doch die Gesichtszüge waren unzweifelhaft Calypso.

„Willkommen in Olympia, Captain William Turner“, begrüßte sie ihn. Will verneigte sich leicht.

„Ich danke für die Einladung, Calypso“, erwiderte er mit einem freundlichen Lächeln. Calypso wies in die Runde.

„Nimm Platz“, bot sie mit einem Hinweis auf einen freien Sessel vor dem großen halbrunden Tisch. Will nickte und setzte sich.

„Diese hier, William, sind deine Vorgänger als Captain der Flying Dutchman. Jeder von ihnen hat seine Erfahrungen mit Scylla und Charybdis gemacht – so wie du.“

Will sah die Männer an. Davy Jones fehlte offensichtlich.

„Du solltest deine Vorgänger kennen, denn sie können dir mit Rat und Tat zur Seite stehen“, fuhr Calypso fort. „Ganz auf der rechten Seite neben mir ist Odysseus, König von Ithaka, der bisher die kürzeste Zeit der Captain war. Ihn habe ich nach zehn Jahren aus meinem Dienst entlassen, damit er zu seiner Frau konnte, die treu auf ihn gewartet hatte und von Verehrern geradezu belagert war.

Zu seiner Linken einer deiner Vorfahren, Paris von Troja. Zu Unrecht schimpft man ihn einen Feigling – und eigentlich nur, weil er mit dem Bogen besser umgehen konnte als mit dem Schwert. Er war ein großer Seefahrer, der sich mir zur Verfügung stellte, als seine Frau Helena starb und fuhr fast hundert Jahre in treuem Dienst.

Neben Paris siehst du den Begründer deiner Familie, Legolas Thranduilion, den Prinzen der Waldelben von Mittelerde, Fürst der Elbenkolonie in Ithilien. Durch ihn kamen die Künste des Bogenschießens und des Schiffbaus in deine Familie.

Zu meiner Rechten ist Earendil, Hoher König von Gondor, ein Seefahrer wie vor ihm kaum ein zweiter. Auch er ist einer deiner Vorfahren und hat weiteres Salzwasser in den Adern deiner Familie hinterlassen.

Zu meiner Linken Tristan de Bretagne, ein Ritter und Troubadour, der bei einem Zweikampf tödlich verwundet wurde, in einem Boot über das Meer gesandt wurde und mir in die Arme schwamm. Er hat seine Isolde so intensiv geliebt, dass ich ihn erst zu meinem Captain machen konnte, als er sich aus Liebeskummer das Leben nahm. Er ist fast zweihundert Jahre für mich gefahren. Verwandt seid ihr nicht, aber fast wäre es so gekommen.

Links neben ihm ist Jason, der Argonaut, der schon vor tausenden von Jahren nach Schätzen gesucht hat und dabei auch gewisse Rücksichtslosigkeiten gezeigt hat, die noch immer in seinem Nachfahren Jack Sparrow stecken.

Daneben Perseus von Argos, Sohn des Zeus und der Danaë, ein Königssohn, der lange Fischer war, bevor er Pegasus zähmte und seine spätere Gemahlin von dem Kraken rettete – nicht jenem Kraken, den Davy Jones kontrollierte, sondern einem der Titanen des Kronos, die erst durch Zeus und seine Geschwister besiegt wurden. Auch Perseus ist ein Vorfahr von dir, Paris ist ein Abkömmling von ihm.

Ganz links siehst du Erik den Roten, einen Wikinger, der der vorletzte Captain vor Davy war. Tristan löste ihn ab und war der letzte Captain vor Davy“, stellte Calypso die Runde vor. Will nickte den früheren Captains zu. Die Hälfte davon waren seine Vorfahren … Nicht zu fassen … 

„Am schlimmsten hat es einmal Odysseus getroffen. Odysseus, sag ihm, was geschehen ist.“

Der Mann ganz links von Will, der eine geradezu antike Tunika trug, sah den jungen Captain eindringlich an.

„Ich wollte Charybdis ausweichen und geriet direkt vor die Scylla. Sie hat mir nicht nur sämtliche Seelen von Bord geholt, auch sechs meiner Männer getötet und gefressen. Du hast Glück gehabt, Junge.“

„Hattest du Waffen gegen sie?“, fragte Will.

„Nur die Fähigkeit, den Wind zu beherrschen“, erwiderte Odysseus. „Allerdings noch nicht so wie du. Ich musste noch die Büchse der Pandora zu Hilfe nehmen – und die ungünstigen Winde konnte ich nicht beherrschen.“

„Sie werden wiederkommen“, warnte Earendil. Er trug ebenfalls eine weiße Tunika. Neben ihm lag ein silberner Helm, der mit Seevogelschwingen verziert war. „Du hattest das Glück, dass jeweils nur der Steuermann an Bord war. Diese Wesen – in meiner Sprache nennen wir sie Nazgûl – sind körperlos und vermögen vieles allein durch eine Handbewegung zu bewirken, auch das Zünden von Kanonen, wie du festgestellt hast. Es gibt nur ein einziges wirklich wirksames Mittel, das sie dir vom Leib halten kann. Warum hast du es nicht eingesetzt?“, fragte er.

„Von welchem Mittel sprichst du?“, fragte Will.

„Das hat er nicht, Earendil“, erwiderte Calypso. „Earendil war der erste Captain deines Schiffes. Unter seiner Führung hieß es noch Vingilot und fuhr durch den Himmel“, erklärte die Göttin an Will gewandt. „Aber er hat Recht. Du brauchst wenigstens den Silmaril, den Earendil am Mast führte. Sein Licht ist so ungeheuer hell, dass die Besatzungen der Höllenschiffe diesem Licht nicht widerstehen können und sich deinem Schiff nicht nähern können.“

„Wo bekomme ich dieses Licht?“, fragte Will.

„Da gibt es ein Problem“, sagte Tristan. Er war wie ein Ritter gekleidet. „Und das Problem habe ich verursacht. Ich habe diesen Stein verloren. Seitdem hat der Teufel recht leichtes Spiel mit dem Schiff. Ich habe viele Seelen an ihn verloren, die ich eigentlich hierher hätte bringen sollen.“

„Tristan war – wie du – ein gutwilliger und kämpferischer Captain. Beim Kampf mit der Scylla ist der kostbare Stein in einer Gegend verloren gegangen, die du gut kennst – in der Karibik. Es gibt dort eine Insel, die San Cristobal genannt wird“, erklärte Calypso. „Dort befindet sich nicht nur dieser Stein, sondern auch seine beiden Brüder in der Macht dessen, der sie einst schuf. Er wird sie nicht freiwillig herausgeben. Er hat dafür mit dem Teufel persönlich gekämpft, seine gesamte Familie verloren und hütet die Silmaril wie seinen Augapfel. Du wirst ihn überlisten müssen.“

„San Cristobal – das ist in der Welt der Lebenden, wenn ich mich recht entsinne“, sagte Will. Die Kapitänsrunde nickte geschlossen.

„Aber ich kann erst in zehn Jahren …“

„Nein“, unterbrach Calypso. „Ich habe dir gesagt, dass du Seeleuten, die noch nicht tot sind, anbieten kannst, deine Crew zu bereichern. In dieser Welt kommen aber nur Tote an. Das bedeutet, du kannst dich sehr wohl in der Welt der Lebenden bewegen, William. Unter den besonderen Gegebenheiten, dass der Teufel immer frecher wird und sogar in die Gewässer des Himmels eindringt, um Seelen zu rauben, kannst du in die Welt der Lebenden zurückkehren, um diese Steine zu holen. Es wird nicht einfach sein und du wirst dafür Hilfe brauchen, denn die Insel selbst kannst du nicht betreten. Doch ich kann dich nur davor warnen, Jack Sparrow dafür zu bemühen. Du würdest die Steine nie wieder sehen. Das gleiche gilt für die Bruderschaft insgesamt. Sie sind Piraten und streben nur nach ihrem eigenen Vorteil.“

„Dann wüsste ich nur noch Elizabeth, die mir helfen könnte“, erwiderte Will, der im Geiste alle abhakte, die ihm gerade noch eingefallen waren – einschließlich Jack Sparrow und Hector Barbossa. Calypso lächelte hintergründig.

„Es gibt noch jemanden, der auch seemännische Erfahrung hat“, sagte sie. Sie nickte dem Engel zu, der Will begleitet hatte. Will sah zur Tür und glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als der Engel mit James Norrington zurückkam.

„William!“, rief er. „Was machst du hier?“

„Mir Rat und weitere Anweisungen geben lassen. Guten Tag, James“, grinste Will.

„James Norrington kennt seine Aufgabe bereits“, erklärte Calypso. „Ich halte es aber für besser, wenn du eine kleine Streitmacht hast. Ich habe alle Seeleute aufgerufen, denen Davy ein Leben auf der Flying Dutchman verweigert hat – und das sind mehr als genug. Einige kennst du selbst. Und außerdem habe ich unter deinen Verwandten noch jemanden gefunden, der dir viel von seinem Wesen hinterlassen hat – nicht nur, dass er ursprünglich den gleichen Beruf erlernt hat. Du bist Balian von Ibelin ausgesprochen ähnlich, William. Deshalb wird er dich begleiten und dein Vertreter an Land sein.“

Auf einen Wink von Calypso holte der Engel auch Balian herein, der Will freundlich zunickte. Beide unterschied hauptsächlich die Tatsache, dass Balian einen kurz geschnittenen, sehr gepflegten Vollbart trug und sein Haar etwas dunkler und glatter als Wills war , während Will seine Barttracht auf Oberlippen- und Kinnbart beschränkte und eine von der Sonne an der Oberfläche etwas ausgeblichene, lockige Mähne hatte, die er nur knapp mit dem Kopftuch bändigen konnte.

„Danke, Calypso“, erwiderte Will. „Eine Frage noch: Ich sollte im Meer aufräumen …“

Sie schüttelte den Kopf.

„Das hat keinen Sinn, solange der Teufel dir die Seelen abjagen will. Du würdest mehr verlieren, als gut ist. Ich spüre, dass das deiner Seele nicht gut bekommt.“

Will nickte, doch ihm brannten noch Fragen auf der Seele.

„Ich hätte da noch ein paar Fragen“, sagte er.

„Frag’“, nickte die Göttin.

„Niemand von euch hat so eine Narbe auf der Brust wie ich. Warum konnte euer Herz bei euch verbleiben, obwohl ihr in die Unterwelt gesegelt seid?“, fragte Will.

„Niemand von uns war so voller Kummer, dass er seiner Gefühle ledig sein wollte – nicht einmal ich“, erklärte Tristan.

„Weshalb musste ich dann mein Herz hergeben, obwohl ich glücklich liebe und meine Liebe erwidert wird?“

„Das verdankst du Davys Hass auf jedes gute Gefühl“, erwiderte Calypso. „Aber du weißt doch schon von seinem Extrafluch …“, wunderte sie sich dann.

„Es könnte ja sein, dass meine Crew einem Missverständnis erlegen ist und einfach meinte, das müsse so sein“, entgegnete Will.

„Nein, das ist kein Missverständnis.“

„Könnte ich mein Herz auch in diese Welt mitnehmen oder muss es in der Welt der Lebenden bleiben?“

„Davys Fluch nötigt dich nur, es in der Truhe zu verwahren, die es auch am Leben erhält. Aber du könntest es auch mit dir führen, wenn du willst“, sagte die Göttin.

„Calypso, ist es wahr, dass ich meiner Kapitänspflicht ledig bin, wenn ich zehn Jahre meine Aufgabe erfüllt habe und Elizabeth auf mich gewartet hat?“, fragte er. Die Göttin lächelte.

„Ja, das ist es. Aber du darfst es ihr nicht sagen, wenn du sie jetzt sehen wirst. Es ist ihre Prüfung.“

Er nickte ergeben. Dann drängte sich ihm eine weitere Frage auf.

„Eines noch: Wenn ihr wisst, wo der Stein verloren gegangen ist – warum ist er immer noch auf San Cristobal?“

„Der Nachfolger von Tristan war Davy Jones“, schaltete sich Legolas ein. „Davy hat nie den Versuch gemacht, den Stein zurückzubekommen. Er hat die Seelen lieber dem Teufel überlassen.“

„War das der Grund, weshalb du nicht an dem Ort warst, an dem er auf dich wartete?“, wandte sich Will an Calypso. Sie nickte nur.

„Ich werde dich nicht enttäuschen“, versprach er mit einem sanften Lächeln. Calypso erwiderte sein Lächeln.

„Deshalb, William Turner, würde auch nie wieder einer anderen Familie mein Schiff anvertrauen. Mit jenen hier, die nicht mit dir verwandt sind, hatte ich großes Glück. Aber das riskiere ich nicht wieder. Davy war mir eine Lehre für alle Zeiten. Nur deine Familie ist mit allen ihren Mitgliedern verlässlich genug, diese Aufgabe durchzuführen. Eigentlich wollte ich deinen Vater mit dieser Aufgabe betrauen, doch meine Macht reichte nicht mehr aus, um ihn vor Davy zu schützen. Bei dir ist es mir einige Male gelungen.“

„Ich danke dir für deine Hilfe“, erwiderte Will mit einer leichten Verbeugung.

„Ich danke dir, dass du diese Aufgabe erfüllen wirst. Eine Frage habe ich an dich, William Turner: Wenn du nach zehn Jahren deiner Pflicht ledig bist, weil deine Frau treu auf dich wartet, wirst du dann mein Fährmann bleiben wollen?“

„Kann ich das, ohne sie zu vernachlässigen?“, erkundigte sich Will. Calypso lächelte ihn warm an.

„Aber ja! Wenn du – nein – wenn ihr beide den Fluch gebrochen habt, kann sie dich begleiten, auch dein Sohn, wohin immer du fährst, ohne dass ihnen Gefahren drohen. Du kannst an Land, wann immer und für wie lange du es dann willst“, erklärte die Göttin. „Meine Aufgabe ist keine Strafe, kein Fluch, sie ist Lohn – und durch dich kann sie das endlich wieder werden.“

„Gesetzt den Fall, ich würde nach zehn Jahren nicht mehr weitermachen wollen, wer wäre dann mein Nachfolger?“

„Du kannst jemanden empfehlen. Ich werde dann prüfen, ob ich ihm mein Schiff anvertraue.“

„Müsste derjenige auch sein Herz geben?“

„Nein, es sei denn du belegst ebenfalls mit einem gesonderten Fluch“, erklärte Calypso.

„Und wenn jemand mein Herz durchbohrt?“

Calypso lächelte verführerisch.

„Es ist dein Herz, William. Welche Strafe du dir für jemanden ausdenkst, der dich auch um dieses Leben bringt, ist allein dir überlassen.“

„Ich danke für die weit reichenden Informationen. Ich werde mein Schiff klarmachen und dann nach San Cristobal segeln“, sagte Will und erhob sich.

„William!“, rief Calypso ihm nach.

„Aye?“

„Suche deine Freunde auf und Elizabeth. Sie alle vermissen dich – und vielleicht wirst du ihre Hilfe auch gut gebrauchen können.“

„Davor hast du mich gerade noch gewarnt.“

„Ja – was die Steine betrifft. Ansonsten hast du keine besseren Verbündeten als sie. Geh und sei auf der Hut“, verabschiedete die Göttin ihren Fährmann. Will verbeugte sich mit einem leichten Lächeln und verließ dann den Raum, gefolgt von James Norrington und Balian von Ibelin.

 

 

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Kapitel 14

Aufbruch in die Welt

 

Calypso gab Will noch mit, dass die Leute, die sie ausgesucht hatte, wie Barbossa von den Toten erweckt waren, also ein ganz normales Leben in der Welt der Lebenden führen konnten, wenn sie wollten. Sie konnten aber auch, wenn sie es wünschten, nach Erfüllung ihrer Aufgabe ins Jenseits zurückkehren oder auf der Flying Dutchman bleiben und Will weiter unterstützen.

Er, Balian und James Norrington enterten die Wolke, die noch vor dem Haus abgestellt war, die der darin geübte Balian zur Himmelspier steuerte.

„Warum hat Calypso dich nicht mir ihrer Seelenfähre betraut, wenn sie unsere Familie so sehr schätzt?“, fragte Will an seinen Vorfahren gewandt.

„Sie hat mich nicht erwischt, als mein Schiff im Sturm kenterte, ganz einfach. Ich habe von ihrer Absicht erst sehr viel später erfahren, als ich an Land gestorben war und mit Charons Nachen herkam. Aber da war es zu spät. Ich bin eine hoffnungslose Landratte, allerdings eine, die schwimmen kann“, grinste der.

„Kennst du den Rest der Familie, die hier ist?“, fragte Will weiter. Balian nickte.

„Vater sagte, bei mir sei das ritterliche Erbe stärker ausgeprägt als bei ihm selbst. Wer ist eigentlich der, der dieses Erbe hinterlassen hat?“

„Ich“, erwiderte der Gefragte mit sanftem Lächeln. Einen Moment sah sein Nachfahr ihn verblüfft an.

„Calypso sagte, du wärst wie ich ein Schmied gewesen“, wunderte er sich dann.

Gewesen trifft es. Zu meinen Lebzeiten war ich ein Schmied in Frankreich, dem sich sein Vater erst in seinem 24. Lebensjahr offenbarte – und der war Ritter und Baron von Ibelin, einem verträumten Wüstennest im Königreich Jerusalem. Durch Vater erbte ich den Titel, er schlug mich zum Ritter. Er gab mir den Rittereid mit, den ich nie vergaß und den ich auch weitergegeben habe: Sei ohne Furcht im Angesicht deiner Feinde; sei tapfer und aufrecht, auf dass Gott dich lieben möge; sprich immer die Wahrheit, auch wenn es deinen Tod bedeutet; beschütze die Wehrlosen – und tue kein Unrecht. Daran habe ich mich mein irdisches Leben lang gehalten und verfügt, dass alle männlichen Nachkommen diesen Eid schwören sollten“, erklärte Balian. „Da du ihn nicht kennst, hat wohl jemand das Testament nicht eingehalten, hm?“, grinste er dann. Will schüttelte den Kopf.

„Nach allem, was ich von dir weiß, hat dein Vater aber Recht. Ich beobachte dich schon lange. Wir haben in der Tat viel gemeinsam – insbesondere, was unsere Frauen betrifft. Ich wäre auch für Natalie und Sibylla gestorben, nur musste ich es im Gegensatz zu dir nie einlösen, dieses Versprechen“, fuhr er fort. Will lächelte verlegen.

„Ist das so?“, fragte er. Balian lachte lauthals.

„Du bist wirklich mein Nachkomme, wenn du mich so treffend zitierst, mein Junge!“

„Zugegeben, Jacks ‚klar soweit?’ hätte hier nicht gepasst“, grinste Will. „Aber … was war das? Zwei Frauen?“

„Nun, das Leben ist nicht immer einfach. Natalie nahm sich nach einer Fehlgeburt das Leben. Sibylla war meine zweite Frau“, erwiderte der Ritter.

„War?“

Balian lächelte.

„Nein, jetzt sind sie es beide. Hier im Himmel gibt es keine Rivalität, nur Liebe. Wenn du mal wieder im jenseitigen Jerusalem vorbeikommst, solltest du uns mal besuchen. Sie würden dich beide gern kennen lernen.“

„Heißt es nicht, wer sich das Leben nimmt, kommt in die Hölle?“, fragte Will. Balians Blick verhärtete sich.

„Dafür habe ich sogar meinen Bruder abgestochen. Sei vorsichtig, mit dem, was du über meine geliebte Natalie sagst!“, grollte er.

„Entschuldige bitte, so war es nicht gemeint. Ich bin nur verwundert, was die Pfaffen einem so alles erzählen …“

Balian seufzte, dann schlich sich wieder ein Lächeln auf sein Gesicht.

„Ich habe mir immer gesagt, solange sie in meinem Herzen ist, kann sie nicht in der Hölle sein“, sagte er. Will war, als ob der grüne Blitz direkt in die Wolke gefahren wäre.

„Was?“, entfuhr es ihm. „Balian! Das kann die Lösung sein!“

„Wie meinst du das genau?“

Will schnippte mit den Fingern der rechten Hand.

„Solange es Menschen gibt, die jene lieben, die die Flying Dutchman befördert, sie in ihren Herzen haben, so lange kann Luzifer machen, was er will, die kriegt er nicht!“

„Ich bin mir nicht sicher, ob es den Teufel wirklich daran hindern würde, sich die Seelen zu schnappen, die er haben will. Ausprobieren würde ich das an deiner Stelle nicht. Natalie starb an Land. Charon hatte noch nie das Problem, dass ihm der Teufel Seelen auf dem Styx entreißen wollte“, erwiderte Balian mit deutlichen Zweifeln im Gesicht. „Wir sind gleich am Kai“, setzte er hinzu und ließ die Wolke auf den Boden niedergehen. Die drei Männer stiegen von der Wolke herunter und waren nur wenige hundert Yards von der Pier entfernt.

Will sah an der Pier eine größere Anzahl von Seeleuten stehen – Matrosen der Handelsmarine, aber auch Marinesoldaten aus verschiedenen Ländern. Er erkannte einige von ihnen als Seelen, die er in den letzten Monaten hergebracht hatte. Bei den Leuten standen auch diverse Kisten, die ersichtlich Kleidung enthielten. Calypso hatte also auch für Ausrüstung gesorgt.

„Das scheint mir eine annehmbare Stärke von Truppe zu sein“, bemerkte James Norrington mit einem angedeuteten Lächeln. „Die werden mit jedem Piratenhaufen fertig.“

Will konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Und wo ordnest du mich in diesem Fall ein?“, fragte er. James sah das spitzbübische Grinsen des jungen Captains.

„Ich denke, ich habe begriffen, wo die Grenzen von Recht, Gesetz und Gerechtigkeit sind, William“, sagte er leise. „Kannst du mir nicht vergeben?“

Will blieb stehen und wandte sich James zu.

„Was sollte ich dir vergeben, James? Du hattest mit meiner und Elizabeths Verhaftung an unserem geplanten Hochzeitstag nichts zu tun. Du warst ja selbst ein Gejagter, ein Pirat.“

Wills Lächeln verbreiterte sich bei dem Wort Pirat, das er genüsslich betonte.

„Nun, immerhin war ich es, der Beckett das Herz von Davy Jones aushändigte. Damit habe ich den weiteren Gang der Dinge ausgelöst. Mit wem ich mich da eingelassen habe, habe ich erst gemerkt, als Elizabeth mir erzählte, ihr Vater sei tot und sie mir nicht glauben wollte, dass ich damit nichts zu tun hatte.“

„Ich denke, wenn du um die Folgen gewusst hättest, hättest du das nicht getan“, erwiderte Will sanft. James schüttelte den Kopf.

„Hast du immer an die Konsequenzen gedacht, Will?“

„Das kommt darauf an, für wen es böse Konsequenzen haben konnte. Für mich selbst habe ich jede Konsequenz, die mein Handeln auslöste, hinnehmen wollen. Ich wollte sie aber nie für andere dulden, ganz besonders nicht für Elizabeth oder meinen Vater“, erwiderte Will.

„Das unterscheidet uns, denn ich habe aus Eigennutz gehandelt, wollte meine Ehre zurückhaben.“

„Wenn du es so ausdrücklich wünschst, James, dann vergebe ich dir – auch wenn es von meiner Seite aus nichts zu verzeihen gibt. Du hast mir nichts getan. Was mit mir geschehen ist, konntest du nicht ahnen“, sagte Will und bot James die Hand. Einen Moment zögerte er, dann nahm er das Freundschaftsangebot an.

„Ich war ein Idiot, dich einen Piraten zu nennen, Will.“

„Die Betonung liegt in dem Fall auf war, James“, grinste Will.

James’ Blick fiel auf Balian, der neben Will stand und sich eins feixte.

„Du hättest seinen Blick sehen sollen, Will, als ich ihn hier am Kai in Empfang genommen habe und James meinte, du wärst doppelt hier: An Bord und an Land. Der war völlig geschockt – und das im Himmel!“

„Woraus ich schließe, dass ihr euch schon näher kennt, richtig?“

Sein Vorfahr sagte nichts, neigte aber mit einem leichten Lächeln bestätigend den Kopf.

„Äh, Frage am Rande: Was ist mit deinem Vater, Will? Du wolltest ihn doch befreien …“, erkundigte sich James.

„Komm mit“, winkte Will ihm. „Alle Mann an Bord!“, befahl er dann. „Leinen los, Segel setzen! Kurs Welt der Lebenden!“

„Aye, Captain!“ tönte es vielstimmig zurück. Die von Calypso zusammengestellte Truppe packte die Kisten, eilte an Bord und verschwand eilig in den Fahrgasträumen.

„Master Turner!“, rief Will dann. „Ihr habt Besuch!“

Stiefelriemen kam aus dem Fahrgastraum, wo er die erweckten Seeleute einquartiert hatte und bemerkte James Norrington bei seinem Sohn.

„Admiral?“, fragte er. „Als ich Euch das letzte Mal sah …“

„… habt Ihr mir eine Harpune durch die Rippen gejagt, ganz recht“, grinste James. „Aber … da Euer Sohn mir alle meine Sünden verziehen hat, sehe ich es Euch auch nach“, setzte er hinzu.

„Danke, Sir“, sagte Bill mit einem freundlichen Lächeln.

„Aber wieso ist er immer noch an Bord?“, fragte James dann Will.

„Er ist freiwillig geblieben und ist mir in diesem etwas seltsamen Leben eine große Hilfe“, erwiderte Will. Der Captain sah sich um.

„Master Koleniko!“

„Aye, Captain!“, kam es aus dem Vormars.

„Bitte, übernehmt das Steuer“, wies Will ihn an. Koleniko nickte und stieg aus dem Krähennest herunter, um das Steuer zu übernehmen.

„Master Turner, Master Maccus, Master Norrington, Master Balian – ich bitte Euch zur Besprechung des weiteren Vorgehens in die Kapitänskajüte“, sagte Will dann.

„Aye, Captain!“

Will lotste sie an die Seekarte, die die Flying Dutchman in voller Fahrt gen Karibik zeigte.  

„Was hast du genau vor und wie wollen wir es anfangen?“, fragte Balian.

„Also, es geht um folgendes: Auf der Insel San Cristobal befinden sich wertvolle Steine, genannt die Silmaril, die ein so starkes Licht ausstrahlen, dass die Steuerleute der der Höllenschiffe davon geblendet werden und sich uns nicht nähern können. Wir werden deshalb in die Welt der Lebenden reisen und diese Steine – zumindest einen davon – holen, ihn am Fockmast befestigen, damit diese Brüder uns nicht mehr die Seelen rauben können“, erklärte Will ihr Vorhaben und wies auf die kleine Inselgruppe der Grenadinen am östlichen Rand der Karibik, die zwischen Guadeloupe und Martinique lag.

„Und wie willst du an die Steine herankommen?“, fragte James. „Calypso sagte ja, dass der Eigentümer sie kaum freiwillig hergeben wird.“

„In früheren Zeiten hätte ich gesagt, wir gehen auf die Insel, stechen alles ab, was sich uns in den Weg stellt, schnappen uns die Steine und verschwinden wieder“, sagte Will.

„Pirat!“, grinste James. Will erwiderte sein Grinsen.

Früher …“, schmunzelte er. „Jack hat durchaus Recht, wenn er sagt, dass der Tod die Prioritäten verändert. Außerdem ist der, in dessen Besitz die Steine sind, der rechtmäßige Eigentümer und Schöpfer dieser Kostbarkeit. Wir werden also mit ihm reden müssen, ihm ein Geschäft vorschlagen, damit er sie herausrückt.“

„Was für ein Geschäft?“, fragte Bill.

„Zugegeben, das ist der Punkt, der noch unbekannt ist“, räumte Will ein. „Wir müssen herausfinden, ob es etwas gibt, was er noch lieber möchte als diese Steine – oder ob diese Steine nochmals hergestellt werden können, wenn er sich weigern sollte.“

„Nehmen wir mal an, er gibt sie nicht her und sie können auch nicht nachgemacht werden. Was dann?“, fragte James.

„Dann haben wir ein Problem …“, brummte Will. Er wollte diese Steine nicht rauben. „Ich denke, in dem Fall kommen wir ohne Jack und seine unnachahmlichen Überredungskünste nicht weiter. Aber Jack in diese Sache einzuweihen, halte ich auch nicht für klug, denn er wird sie ebenso wenig herausrücken, wenn er sie einmal in den Fingern hat.“

„Dann müssen wir sie klauen“, schaltete sich Maccus ein.

„Wenn sich diese Möglichkeit vermeiden lässt, werde ich sie vermeiden“, wehrte Will ab.

„Dein Piratenblut wird sich für diese Lösung entscheiden, wenn es unumgänglich ist“, warf Bill ein. Will sah seinen Vater einen Moment an.

„Wenn es unumgänglich ist, dann möglicherweise“, sagte er.

„Wir gehen kein Risiko ein, Sir“, bemerkte der Erste Maat. „Wir können nicht sterben“, gab er zu bedenken.

„Es ist nicht die Frage, ob wir ein Risiko eingehen, Master Maccus“, versetzte Will. „Auch nicht, ob wir Gewalt anwenden sollten oder nicht – es ist eine Frage von Recht und Unrecht. Dieser Mann hat die Steine geschaffen. Wir haben kein Recht, sie ihm einfach wegzunehmen, auch wenn wir dazu in der Lage sind. Das ist eine andere Situation als gegen die East India Trading Company, die Menschen und ganze Landstriche und Inseln unter dem Deckmantel des Handels ausgeplündert hat oder gegen Davy Jones, der diese Crew knechtete und im Dienst der East India Trading Company jedes Schiff versenkte, das nicht unter deren Flagge fuhr.“

„Auf wessen Seite steht er?“, fragte Balian. „Es geht hier gegen den Teufel. Wenn er gegen den Teufel gekämpft hat, um diese Steine zurückzubekommen, ist er sicher nicht dessen Verbündeter. Vielleicht würde uns das bei ihm helfen.“

 

Die Kajütentür wurde aufgerissen.

„Captain! Die Teufelsschiffe!“, meldete Quittance atemlos. Mit schier einem Satz war Will an Deck und peilte mit dem Fernrohr nach den unheimlichen Fregatten.

„Verdammt!“, fluchte er halblaut. „Sie sind uns so nahe, dass sie uns in die Welt der Lebenden folgen könnten.“

Er rannte in die Kajüte zurück, brachte die Seekarte auf den augenblicklichen Standort, stellte fest, dass sie sich parallel zu einem Ort mitten im Atlantik befanden, an dem ein Hurrikan keinen Schaden anrichten konnte, kehrte an Deck zurück und schickte den Höllenschiffen einen massiven Sturm entgegen, der sie auf Distanz brachte. Fast im selben Moment durchbrach die Flying Dutchman die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits und schoss aus der Tiefe des Atlantiks an die Oberfläche wie ein Schwertwal auf der Jagd.

 

 

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Kapitel 15

Wettlauf

 

3„Position?“, fragte Will, als sich das Wasser vom Deck der Flying Dutchman zurückgezogen hatte und Crew und Führungsmannschaft sich erst einmal umsahen. Koleniko, der einen ausgesprochen guten Ortssinn hatte, konzentrierte sich.

„Ich schätze mal so vierhundert Meilen östlich der Kleinen Antillen, Sir“, sagte er.

„Gut“, lächelte Will. Koleniko ging in die Kajüte, um seine Schätzung zu überprüfen und fand sie ziemlich exakt bestätigt.

„Stimmt sogar“, brummte er, als er wieder an Deck kam.

„Sehr gut, Master Koleniko. Dann geht wieder ans Steuer und nehmt Kurs auf die Grenadinen“, wies Will ihn freundlich an.

„Aye, Captain!“

Will ging ebenfalls auf das Achterdeck und sah sich dort nochmals um. Ein ganzes Stück hinter der Flying Dutchman – er schätzte fünfzehn Seemeilen – dräute eine tiefschwarze Wand. Will konzentrierte sich darauf und beruhigte den Sturm, der dort tobte. Nur zu genau erinnerte er sich, dass von Osten zu bestimmten Zeiten immer wieder Hurrikans in die Karibik zogen und dort schlimme Verwüstungen anrichteten. Er wollte in seinem Bestreben, Scylla und Charybdis auf Distanz zu halten, nicht für einen Hurrikan in der Karibik verantwortlich sein. Der Himmel hinter ihnen hellte sich zusehends auf. Mit einem sanften Lächeln wandte Will sich wieder dem Steuer zu, das bei Koleniko in besten Händen war.

„Guter Gott! Was ist das?“, keuchte James, der weiterhin nach achtern Ausschau hielt. Will drehte sich um und sah, dass weit hinter ihnen ein Schiff aus der Tiefe an die Oberfläche geschossen war, wie das darum herum noch immer schäumende Wasser bewies, und nur Augenblicke später ein zweites folgte.

Scylla und Charybdis!“, entfuhr es Will. „Sie können also auch in der Welt der Lebenden herumstreifen!“

„Sind die jetzt hinter uns her oder hinter dem, was wir auch suchen?“, fragte James.

„Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass sie es auf keinen Fall in die Finger bekommen dürfen“, erwiderte Will. James sah ihn an.

„Du hast so einen piratigen Blick, William …“, bemerkte er.

„Wenn ich den Eindruck habe, dass mich jemand an der Erfüllung einer Verpflichtung oder eines Versprechens hindern will, dann werde ich zum Piraten“, entgegnete Will. In seiner Stimme schwang Entschlossenheit mit. Er trat ans Steuer.

„Ich löse Euch ab, Master Koleniko“, sagte er leise. Der Steuermann sah ihn verblüfft an.

„Aber, Sir …“

„Es ist kein Misstrauen in Eure Fähigkeiten als Steuermann. Ich brauche Euch und Eure guten Augen jetzt an den Kanonen“, setzte Will hinzu. Der Steuermann strahlte über das ganze Gesicht. Oft hatte sich Davy Jones seiner Fähigkeiten bedient, aber nie so davon gesprochen.

„Aye, Captain!“

Er sprang eilig den Niedergang zum Hauptdeck hinunter und sammelte seine Geschützführer zusammen. Wyverns Wachplan, der die vorhandene Crew in drei Wachen eingeteilt hatte, die jeweils vier Stunden Dienst taten und dann acht Stunden frei hatten, zeigte erneut seine hervorragende Ausarbeitung und genaue Kenntnis der Crew. Um die Zeit genau einzuhalten, hatte Wyvern ein Stundenglas* eingesetzt, dass in einer halben Stunde durchlief. War diese Zeit buchstäblich abgelaufen, läutete der Wachhabende einmal mit der Schiffsglocke, die sich auf dem Achterdeck befand. Die ganze Wache umfasste also acht halbe Stunden, die sich in letztlich acht Schlägen am Ende der Wache ausdrückte.

„Können wir aushelfen?“, fragte James.

„Die Flying Dutchman hat recht spezielle Kanonen, aber mehr Hände an den Segeln schaden nie“, erwiderte Will. „Lass deine Männer in die Wanten gehen und die restlichen Segel setzen.“

„Aye, Captain!“, bestätigte James und verließ das Achterdeck.

„Alle Mann in die Wanten! Alles Zeug setzen!“, befahl der frühere Admiral. Seine Leute eilten wie befohlen in die Wanten und auf die Rahen, um die noch gerefften Segel fallen zu lassen.

Norrington sah mit seiner Erfahrung als Seeoffizier, dass die von ihm dazu ausgesuchten Matrosen ihr Handwerk verstanden. Dann ging sein Blick zum Achterdeck und zu dem Captain dieses Schiffes, der das Steuer hart Backbord warf. Er gestand sich ein, sich selten so in einem Menschen verschätzt zu haben wie in William Turner jr. Oft hatte er in ihm einen verkappten oder tatsächlichen Piraten gesehen. Doch dieser Mann, der mit einem unbändig entschlossenen Ausdruck im Gesicht aufrecht und stolz am Steuer seines Schiffes stand, war kein Pirat, war es niemals wirklich gewesen … Ein Pirat handelte zu eigenem Nutz und Frommen; Will Turner tat, was immer er tat, zuerst für andere – für Elizabeth, die er bedingungslos liebte; für seinen Vater, weil Blut nun einmal dicker war als Wasser; für Jack Sparrow, auch wenn der es ihm nur wenig gedankt hatte … Und jetzt tat er, was er tat, für die ungezählten Seelen, die er noch ins Jenseits begleiten würde.

James’ Blick traf auch Balian von Ibelin, der auf dem Achterdeck geblieben war. Ihn und seinen Nachfahren William trennten gute fünfhundert Jahre – und doch waren sie sich ähnlich wie Zwillinge. Durch Balian hatte er vieles über Will erfahren, aber auch über den Baron von Ibelin selbst. Diese Attacke, die William jetzt gegen die Höllenschiffe fuhr, die hatte etwas von einem Angriff Balians gegen eine Übermacht von Sarazenen, von der der Baron ihm einmal erzählt hatte.

Gebe Gott, dass es diesmal besser klappt als bei Balians Angriff’, durchzuckte es Norrington. ‚Diesmal allerdings ist der Captain wahrhaft in göttlichem Auftrag unterwegs …’, dachte er weiter.

 

Die Flying Dutchman wendete rasch und fuhr gegen den Wind mit voller Kraft, direkt zwischen die beiden Teufelsschiffe.

„Feuer!“, befahl Will mit lauter Stimme. Mit donnerndem Krachen entluden sich auf beiden Seiten der Flying Dutchman die Kanonen, die beiden Satansschiffe wurden durch den Einschlag der großkalibrigen Kugeln der Flying Dutchman so weit auf die andere Seite geworfen, dass sie zu kentern drohten. Eilig luden die Kanoniere ihre Geschütze nach, Will wendete seine Fleute erneut und fuhr einen zweiten Angriff, aber beide Höllenschiffe nahmen reißaus und flohen vor der erneut aufkommenden Flying Dutchman, indem sie wegtauchten.

Der Captain der Flying Dutchman hatte kein Verlangen, diesen überaus anhänglichen Schiffen bald wieder zu begegnen und nutzte seine Fähigkeiten, seinem Schiff etwas mehr Schub zu geben, als der Wind eigentlich zuließ. Dennoch konnte er nur hoffen, dass diese Spürhunde seine Fährte nicht schneller wieder aufnahmen als es ihm und seiner Crew lieb sein konnte. Sie schienen immer genau zu wissen, wo die Flying Dutchman sich gerade aufhielt. 

„Mutig“, sagte Balian, der schweigsam neben dem Captain gestanden hatte.

„Meinst du übermütig?“, fragte Will.

„Nein, so wie ich es sage. Bei mir ist so eine Attacke mal böse ausgegangen, sehe ich davon ab, dass die Leute, die ich mit meinen Männern damit retten wollte, tatsächlich gerettet wurden.“

„Bist du dabei getötet worden?“

„Nein, nur durch einen Schlag auf den Kopf außer Gefecht gesetzt worden. Wie lange hält so ein Erfolg gegen sie?“

„Nicht lange genug. Sie werden bald wieder da sein“, erwiderte Will.

„Dann werde ich mal was basteln“, sagte Balian und ging zum Niedergang.

„Was hast du vor?“, fragte Will.

„Dir eine nette Sammlung von griechischem Feuer zu machen. Das Zeug kriegst du nicht gelöscht – jedenfalls nicht mit Wasser.“

„Kannst du auch Granaten machen?“

„Ja“

„Dann davon auch bitte welche“, bat Will. Balian lächelte zustimmend und verschwand in der Decksluke, während die Flying Dutchman mit größtmöglicher Geschwindigkeit über den Atlantischen Ozean fegte und dabei allen Gesetzen der Physik Hohn sprach.

 

Doch auch die Teufelsschiffe blieben nicht untätig – und auch sie gehorchten nur ihren Captains und nicht Wind und Wellen. Es dauerte keine zwei Glasen*, bis sie wieder die Dutchman jagten. Sie erreichten sie zwar nicht, blieben aber hartnäckig an ihr dran.

„Wir können sie nicht abschütteln, Sir!“ brüllte David, der in den Ausguck des Besanmastes aufgeentert war.

„Na schön, es geht auch anders …“ knurrte Will. „Alle ’raus aus den Krähennestern!“, befahl er. Die Männer stiegen eilig aus den Mastkörben der Masten und kamen rasch auf das Deck herunter.

„Alle Landtruppen unter Deck!“, befahl Will. „’Runter mit ihr!“

Die eigentliche Crew der Dutchman bestand aus Leuten, die sich auf Davy Jones’ oder Will Turners Angebot zum Dienst auf diesem Schiff entschieden hatten und damit bis zum Abmustern nicht dem Tod verfallen konnten. Doch die Männer, die Calypso an Bord gesandt hatte, waren wie Hector Barbossa und Jack Sparrow Auferweckte und damit grundsätzlich wieder sterblich. Calypso hatte Will deshalb aufgetragen, diese Männer auf keinen Fall an Deck zu lassen, wenn es nötig war, unter Wasser zu fahren … Schnell senkte sich der Bug der Flying Dutchman, sie tauchte ins Wasser und ging buchstäblich auf Tauchstation.

Unter Wasser drosselte Will die Geschwindigkeit auf das notwendige Minimum. Nicht lange darauf jagten die Höllenschiffe über ihnen vorbei. Auf Wills Zeichen hob sich der Bug der Flying Dutchman wieder gen Wasseroberfläche, das Schiff schoss aus dem Wasser und war wieder hinter den eben noch ihr folgenden Teufelsschiffen.

 

Völlig perplex bemerkten die Steuerleute der von Luzifer gesandten Fregatten, dass sie nunmehr die Gejagten waren. Die Flying Dutchman war so knapp hinter ihnen aufgetaucht, dass ein Entkommen nicht mehr möglich war. Wieder drängte sich das Totenschiff zwischen sie, und diesmal bekamen sie das handwerkliche Geschick des Barons von Ibelin um die Masten geschlagen. Aus den Mündungsrohren der massiven Kanonen der Flying Dutchman flogen mir griechischem Feuer gefüllte Kokosnüsse, die mit Metallbändern gerade soweit stabilisiert waren, dass sie zwar den Abschuss heil überstanden, aber beim Auftreffen auf ein nur wenig härteres Hindernis augenblicklich zerschellten und ihren zerstörerisch-feurigen Inhalt über die Decks und Segel der Scylla und der Charybdis ergossen.

In der Hölle war es per se heiß, aber mit so einem Feuer hatte keiner der für den Teufel persönlich schuftenden Seeleute gerechnet. Verzweifelt kämpften sie gegen die Flammen und konnten doch nichts dagegen ausrichten. Die Schiffe verloren zusehends an Fahrt und blieben hinter der Flying Dutchman zurück, die erneut tauchte und unter Wasser den Höllenschiffen davonfuhr.

 

Erst gut fünfzig Seemeilen weiter westlich tauchte die Flying Dutchman wieder aus den tiefblauen Fluten des Atlantiks wieder auf, als die Sonne gerade hinter dem Horizont verschwand – mit einem der äußerst seltenen grünen Blitze, die nur wenige Menschen in ihrem Leben je zu sehen bekommen …

 

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Kapitel 16

Nachtschatten

 

Dunkelheit senkte sich über die See, die Sterne erschienen am Firmament.

„Siehst du diesen hellen Stern, William?“, fragte Bill Turner seinen Sohn und wies auf die Venus.

„Ja. Das ist die Venus, Vater. Der erste Stern, der am Abendhimmel erscheint“, sagte er. Bill lächelte sanft.

„Er hat viele Namen. Venus ist der heute gebräuchliche Name. Legolas nennt ihn Undómiel als Abendstern und Gil-Estel, den Stern der Hoffnung, als Morgenstern. Aber er wird auch Earendils Stern genannt. Es soll sich um den Stern handeln, den Earendil an seiner Vingilot führte …“, fuhr Stiefelriemen fort. Will sah ihn verwirrt an.

„Moment, den hat Tristan doch in der Karibik verloren!“, entfuhr es ihm. „Deshalb sind wir doch zu den Grenadinen unterwegs.“

Bill lächelte hintergründig.

„Tristan hat dort einen Stein verloren, aye. Aber war es tatsächlich der Silmaril des Earendil?“

„Willst du mir damit sagen, dass der Rat der Captains mich angelogen hat?“, erkundigte sich Will.

„Vielleicht nicht bewusst, aber es würde mich wundern, wenn wir auf San Cristobal tatsächlich alle drei existierenden Silmaril finden würden“, gab Bill zurück. Im Licht der Sterne sah Will seinen Vater eine Weile an. In diesem schweigsamen Mann steckte augenscheinlich mehr, als er zuweilen preisgeben wollte.

„Wie lange warst du bei Davy Jones?“, fragte Will. Jetzt war es Bill, der seinen Sohn verblüfft anschaute.

„Zehn Jahre“, sagte er dann.

„Davy hat seine Verpflichtungen als Fährmann verraten und hat all die Toten nicht begleitet, wie er sollte. Deshalb müssen wir ja noch viel wegräumen, was er vernachlässigt hat. Ist doch so, oder?“

„Aye“, pflichtete Bill bei.

„Woher weißt du dann all das, wenn du nie an der Himmelsinsel gewesen sein kannst?“, fragte William und sah seinen Vater geradeheraus an. Bill hielt dem forschenden Blick seines Sohnes stand.

„Es ist wahr, dass Davy dieser Pflicht nicht unbedingt nachkam. Dennoch ist dieses Schiff hin und wieder dort gewesen und hat auch Seelen abgegeben – selten, sehr selten. Aber doch oft genug, dass ich erfahren konnte, wer unsere Vorfahren sind und dass sie ein Auge auf dich hatten. Außerdem hatte ich bei einigen Aufenthalten an der Himmelinsel unter deinem Kommando Gelegenheit, mit Legolas zu reden“, erwiderte Bill. Will senkte beschämt den Blick. Er hatte doch tatsächlich seinem Vater misstraut!

„Entschuldige bitte“, sagte er leise.

„Schon gut, mein Sohn. Ich habe dir nicht viel Gelegenheit geboten, mich kennen zu lernen und festzustellen, dass ich zwar Pirat aber kein Schuft bin.“

„Jack nannte dich einen Piraten – und einen guten Mann. Nach allem, was ich gehört habe, hat er Recht.“

„Aye, dass das kein Ausschluss ist, siehst du an dir selbst, auch wenn du im Gegensatz zu mir diesen Weg nicht freiwillig gegangen bist.“

Eine Weile schwiegen Vater und Sohn und lauschten nur dem leisen Gleiten des Schiffes durch das dunkle Wasser und dem Knarren der Takelage.

„Ich habe große Angst um dich gehabt, mein Sohn, denn um Calypsos Fährmann werden zu können, musstest du sterben. Ich habe mich dagegen wehren wollen, weil ich nie für dich ein Seemanngrab wollte. Hätte dieses unter Davy verdammte Schiff mich nicht fast mein ganzes Gedächtnis gekostet, hätte ich es irgendwie verhindert“, sagte Bill schließlich sanft. „Obwohl ich einräumen muss, dass es ein großer Fehler gewesen wäre, denn einen besseren Captain als dich für diesen Kahn gibt es nicht. Calypso kann auf ihre Wahl nur stolz sein. Ich bin stolz auf dich und unendlich froh, dass du mich nicht von deiner Seite gewiesen hast. Indem ich dir helfe, habe ich meine Bestimmung gefunden.“

Will lehnte sich auf die Reling, während sein Vater das Steuer führte. Nachdenklich sah er über die dunkle See, in der sich abertausende von Sternen spiegelten.

„Und was ist meine Bestimmung?“, fragte er.

„Captain dieses Schiffes zu sein. Sie hat es von Anfang an geplant, mein Sohn. Du warst derjenige, den sie an diesem Platz haben wollte – auf Biegen und Brechen.“

Will nickte.

„Das habe ich gemerkt“, erwiderte er. Es klang bitterer als beabsichtigt.

„Ich wollte nie ein Pirat sein, aber ich wurde einer“, fuhr er fort. „Ich habe mehr Schiffbrüche überlebt als jemand anderes vor mir, denke ich. Ich wollte Elizabeth, hatte aber jahrelang keine Chance, auch nur daran zu denken, sie zu meiner Frau zu machen. Und als wir endlich geheiratet haben, war ich nicht einmal ein Glasen lang ihr angetrauter Ehemann … lebendig, meine ich, normal lebendig. Erst in zehn Jahren werde ich an Land gehen können, um ihr einen Tag lang meine Liebe zu schenken, die sie besser täglich haben sollte.“

„Vertraust du ihr nicht?“

„Wem sollte ich vertrauen, wenn nicht der Frau, die ich liebe?“, fragte Will verblüfft.

„Mit Vertrauen meine ich jetzt in ihre Treue. Wenn sie dir treu ist und in zehn Jahren auf dich wartet, dann bist du nicht mehr an dieses Schiff gebunden. Es ist dann nicht nur ein Tag, mein Sohn.“

„Ich weiß, Calypso hat es mir bestätigt. Nur darf Elizabeth es nicht wissen. Darum schiebe ich diesen Gedanken von mir, um es ihr nicht unabsichtlich zu verraten und damit Unheil heraufzubeschwören“, erwiderte Will. „Nein, ich mache mir Sorgen um sie, um ihre Sicherheit. Wenn jemand weit genug denkt und sich darüber klar wird, dass der Besitz meines Herzens die Herrschaft über die Ozeane bedeutet, ist sie in großer Gefahr, aber es ist niemand da, der sie beschützen kann. Sie ist allein mit der Sorge um mein Herz, wird unser Kind allein aufziehen müssen. Ich bin mir nicht sicher, ob den anderen Piratenfürsten zu trauen ist.“

Will drehte sich zu seinem Vater um. Bill bemerkte Trauer und Niedergeschlagenheit in den Augen seines Sohnes, was für ihn sehr ungewöhnlich war. Bisher war Will für seinen Vater ein Fels in der Brandung gewesen; einer, der nie aufgab, der dann anfing, wenn andere längst aufhören wollten. Doch im Moment schien ihn sein Mut und seine Zuversicht verlassen zu haben.

„Du bist müde, William. Der heutige Tag hat dich einiges an Kraft gekostet. Geh schlafen, Junge. Manchmal brauchen auch Unsterbliche Ruhe.“

„Ich glaube nicht, dass ich schlafen könnte“, seufzte der Captain. „Ich werde nur grübeln, fürchte ich.“

„Das wird hier an Deck nicht anders sein“, mutmaßte Bill. „Geh im Geiste zu ihr, verbinde dich mit ihr und ruh dich in ihren Armen aus.“

Will nickte schweigend und verließ das Achterdeck in Richtung Kajüte.

 

Bill hörte die Tür unter dem Achterdeck klappen. Er hätte schwören können, in den Augen seines Sohnes Tränen gesehen zu haben. Er schüttelte den Kopf. Was seinem Sohn und seiner Schwiegertochter angetan worden war, war einfach nur grausam. Warum? Was hatten diese beiden jungen Menschen nur verbrochen, dass sie so hart geprüft wurden?

„Kennst du die Geschichte von Hiob, Bill?“, drang eine Stimme in Stiefelriemens Ohr. Er sah sich um und bemerkte Calypsos transparenten Schatten, eine zart leuchtende Aura, auf der Steuerbordlaterne am Heck des Schiffes.

„Vermutlich nicht so gut wie du“, brummte Bill.

„Er war ein Mann Gottes, der nie in seinem Glauben und seiner Treue schwankte. Dennoch wurde er hart geprüft – mit dem Verlust seines Eigentums, seiner Familie, mit schwerer Krankheit geschlagen. Aber er blieb standhaft und bewies damit dem Teufel selbst, wie treu er zu Gott stand. Wenn ich es nicht selbst gehört hätte, würde ich es ins Reich der Fabel verweisen, dass Gott selbst mit dem Teufel im Fall Hiob gewettet hat, aber es ist Tatsache. Auf deinen Sohn warten große Aufgaben, William senior. Nur jemand wie er wird in der Lage sein, die verlorenen Seelen zurückzuholen. Dafür ist er ausersehen. Und dafür braucht er die Silmaril – und zwar alle drei.“

„Mal ehrlich: Wie stellst du es dir vor, dass er die Steine bekommt. Feanor rückt sie nicht heraus, das habt ihr vor langer Zeit schon probiert. Wie das ausgegangen ist, weißt du“, erwiderte Bill. Calypso lächelte.

„Damals steckte ich noch in meiner menschlichen Hülle und konnte die Angelegenheit nicht so beeinflussen, wie ich wollte. Jetzt sieht es anders aus. Ich werde eine weitere Hilfe schicken, die Feanor umstimmen kann.“

„Was sollte das sein?“, wunderte sich Bill. Calypso lächelte geheimnisvoll.

„Du wirst es wissen, wenn es soweit ist.“

Mit diesen Worten verschwand die Göttin und ließ einen etwas ratlosen Zweiten Maat am Steuer der Flying Dutchman zurück.

 

Will warf sich unruhig herum. Er fand weder Schlaf noch Verbindung zu Elizabeth. Schließlich stand er wieder auf und ging – nur mit seiner Hose bekleidet – nach unten an die Seekarte. Eine Weile sah er darauf, eher planlos mit dem Blick auf der Karte herumwandernd. Dann fiel ihm ein kleines Detail auf. Die Seekarte zeigte mit einem Sonnensymbol am oberen Kartenrand den Zenit der Sonne – und zwar dort, wo sie tatsächlich aktuell im Zenit stand. Von Schiffbruch-Bay war der Höchststand der Sonne nicht weit entfernt, vielleicht zwei Stunden. Dort war es also heller Vormittag – und Elizabeth mit größter Wahrscheinlichkeit längst aufgestanden. Will beherrschte sich nur knapp, nicht im Zorn auf die Karte zu schlagen. Die Karte konnte schließlich nichts dafür, sie zeigte nichts als die lautere Wahrheit …

Müde stand er vom Kartentisch auf und kehrte mit schweren Schritten in seinen Ruhebereich zurück und ließ sich wieder in die Koje fallen. Seine Gedanken blieben bei Elizabeth, bei ihrem Besuch auf diesem Schiff, bei dem Glück, das sie für drei Tage geteilt hatten. Es war schwer, auf sie zu verzichten, auf ihre Nähe, ihre Liebe. Er spürte, dass sich eine einzelne Träne aus dem rechten Auge stahl und in Richtung Ohr rollte. Seine bisher noch mühsam gewahrte Beherrschung brach zusammen und er ließ seinen Tränen freien Lauf. 

 

Elizabeth zuckte zusammen. Sie spürte eine Welle der Trauer wie noch nie zuvor. Nicht einmal in dem Moment, in dem die Flying Dutchman im grünen Blitz verschwunden war, hatte sie so eine tiefe Trauer gefühlt – dabei war es ein strahlender Vormittag, warm und sonnig, doch ihr fehlte etwas zum Glück an diesem Tag, und das war Will. Sie hatte auf der Veranda ihres Hauses gesessen, hatte Karten studiert und in den Auszügen aus dem Kodex gelesen, die sie sich vor einigen Tagen bei Captain Teague herausgeschrieben hatte. Jetzt konnte sie sich darauf nicht mehr konzentrieren und ging in ihr Schlafgemach, wo die Truhe des Toten Mannes stand. Je näher sie ihr kam, desto größer wurde das Gefühl abgrundtiefer Traurigkeit. Stirnrunzelnd holte sie den Schlüssel hervor und öffnete die Truhe, nahm das mittlere Kissen samt Wills Herz heraus.

Als sie es wieder in beiden Händen hielt, stockte ihr der Atem, weil sie etwas sah, von dem sie nicht angenommen hatte, es könne jemals sein: Ihr geliebter Will weinte bitterlich. Tröstend strich sie über das Herz, spürte wieder ganz deutlich seinen weichen Bart an ihrer Hand.

„Will, mein Liebling, was hast du?“, fragte sie.

 

Im Moment tiefster Verzweiflung spürte Will, was er bis vor Augenblicken noch so schmerzlich vermisst hatte: Elizabeths Hand, die sanft seine Wange liebkoste.

„Elizabeth …“, flüsterte er.

„Ich bin hier. Was hast du?“, fragte sie zurück. Es war einfach unglaublich, dass sie ihn nicht nur sah, sondern sogar seine Worte zu hören glaubte.

„Ich habe dich schrecklich vermisst“, gab er zurück. „Und nicht damit gerechnet, dass du doch da bist.“

„Du fehlst mir auch, mein Liebling. Wo bist du jetzt?“, fragte sie, auch wenn sie es mehr rhetorisch meinte und eine Antwort nicht ernsthaft erwartete. Es erschien ihr einfach zu unwahrscheinlich, dass sie wirklich miteinander redeten – obwohl er ihr gesagt hatte, dass sie sich tatsächlich spüren konnten …

„Auf dem Weg in die Karibik, nach San Cristobal in den Grenadinen“, antwortete er, sich allmählich beruhigend. Elizabeth stockte. Es gab diese Inselgruppe; sie hatte auch von San Cristobal gehört, aber nie in Gegenwart von Will … Wenn er davon sprach, dann war es wohl so …

„Will, hörst du mich tatsächlich?“, fragte sie. Er nickte.

„Und ich sehe dich“, fügte er hinzu. Die Trauer löste sich auf, Wärme kehrte in seine Augen zurück. Elizabeth lächelte.

„Hier ist es Nacht. Bei dir scheint die Sonne.“

„Das wird sie auch bald wieder für dich, Will“, tröstete sie ihn. Er rang sich ein Lächeln ab.

„Es tut mir Leid, dass ich dich so erschreckt habe. Ich wünschte, du wärst hier.“

„Das wünschte ich auch. Aber so schnell die Empress auch ist, ich fürchte, ich würde dich verpassen. Du siehst müde aus.“

„Das bin ich“, gestand er.

„Dann schlaf jetzt. Ich behalte dich im Schoß. Gute Nacht.“

Will schloss die Augen, genoss das liebe volle Streicheln seiner geliebten Frau und schlief endlich ein.

 

 

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Fortsetzung folgt

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Glossar

 

Seemännische Fachausdrücke sind nicht jedem geläufig, das ist mir durchaus klar. Ich habe einen gewissen Salzwasseranteil im Blut und benutze daher solche Fachausdrücke mit einiger Selbstverständlichkeit, aber ich weiß auch, dass sie nicht jeder versteht.

Daher greife ich eine Anregung von Karibik-Hexe auf und erkläre die verwendeten Begriffe. Sollte dennoch mal ein Begriff nicht verständlich sein, dann bitte ich um einen Hinweis dazu und werde das Glossar entsprechend erweitern, das – wenn nötig – mit jedem Kapitel aktualisiert wird.

 

achteraus: Richtung nach hinten; achterlich, allgemeine Richtung von hinten bis ausschließlich querab

achtern: hinten

Achterdeck: Hinterstes Deck, bei Großseglern oft höher als die übrigen Decks.

Ankerspill: Siehe Spill

Annam: (Nein, das ist kein seetechnischer Fachbegriff!) alter Name für Vietnam

ausreffen: ein Reff aus dem Segel nehmen und damit die Segelfläche vergrößern. Segel fallen lassen

Backbord: (Bb.), links, linke Seite. Zugehörige Farbe: Rot. Gegenteil von: Steuerbord.

Belegnagel: hölzerner oder eiserner Bolzen mit Griff, der durch ein Loch in der „Nagelbank“ gesteckt wird und an dem Leinen „belegt“ werden können.

Besan, Besanmast: der, auf mehrmastigen Schiffen außer Schoner der achterste Mast, und zwar mit Gaffel- oder Hochtakelung (auch Name des dazugehörenden Segels).

Bilge: (Aussprache: bilsch), die, unterster Raum im Schiff, in dem sich Wasser sammelt.

Brasse: laufendes Gut zum waagerechten Schwenken einer Rah.

brassen: Verb zu Brasse, bezeichnet die Tätigkeit, die Rahen mittels Brassen zu bewegen

Brücke: Der erhöhte Steuerstand auf einem Schiff wird auch als Brücke bezeichnet. Bei Großseglern befindet sie sich in der Regel auf dem Achterdeck, von wo aus das gesamte Schiff zu übersehen ist. Diese erhöhte Warte ist vergleichbar mit einer Brücke.

Bugspriet: der, die Verstärkung des Vorstevens von Segelschiffen als Unterlage für den Klüverbaum

Davit: der, kleiner drehbarer Kran für Anker oder Beiboote (Bootsdavits).

deckend (Salve): Eigentlich kein seemännischer Begriff, sondern ein Fachbegriff aus der Militärsprache. Eine Salve ist deckend, wenn das gesamte Ziel darin eingeschlossen wird, also Geschosse sowohl unmittelbar davor als auch dahinter einschlagen. Eine deckende Salve ist die Erfüllung der Aufgabe der Artillerie (Kanonen). In der Regel fallen dabei nämlich auch Treffer im Ziel selbst an … Verdammt gefährlich also für jene, die das Ziel dieses Angriffs sind.

Dollbord: der, oberer Rand eines Bootes, in dem die Riemen (nicht: Ruder!) in Dollen oder Rundseln lagern.

dümpeln: unregelmäßiges Schaukeln eines Bootes.

Dünung: nach einem Sturm über große Strecken nachlaufende Wellen, aber auch weiche, lang gezogene Wellen ohne Kämme.

duhn: betrunken

Elmsfeuer: bei Gewitter die elektrische Entladung an den Toppen der Masten in Form kleiner Flämmchen.

Faden: englisches, vorwiegend für Tiefenangaben gebrauchtes Längenmaß = 6 Fuß = ~1,83m.

Fallreep: das, Treppe zum An- und Vonbordgehen in Schiffsrichtung. „Seefallreep“, eine über die Bordwand ausgebrachte Leiter mit Holztritten.

fieren: herunterlassen (wegfieren), der Kraft auf einer Leine nachgeben. Gegenteil von: heißen.

Fleute: Ende des 16. Jh. in den Niederlanden entwickelte Segelschiffsform mit eher flachem Boden, wenig Tiefgang und im Bereich des Hauptdecks stark eingezogen, um die Breite dieses Decks aus Ersparnisgründen zu reduzieren. Die Hafengebühren wurden im Entstehungszeitraum nach der Breite des Oberdecks berechnet … Bis zum 18. Jh. dominierte die Fleute die europäische Handelsschifffahrt. Durch das bewusst verschmälerte Hauptdeck wirkt eine Fleute einerseits sehr bauchig, ist durch das veränderte Verhältnis von Länge zu Breite gegenüber anderen zeitgenössischen Schiffen gleichzeitig aber langgestreckt. Üblich war ein Verhältnis von 3 : 1, bei der Fleute lag es bei 4,5 – 6 : 1.

Fockmast: Vorderster Mast eines mit mehreren Masten bestückten Schiffes.

Freiwache: Team von Seeleuten an Bord eines Schiffes, die gerade keinen Dienst haben.

Gehen, in See: „In See stechen“ sagen nur Landratten. Seebären sagen „in See gehen“, wenn ein Schiff aus dem Hafen ausläuft.

Glasen: Ausläuten der Schiffszeit. Siehe Stundenglas

Großmast: Höchster Mast eines Schiffes, bei einem Dreimaster der mittlere Mast.

Kabellänge: Längenmaß in der Seefahrt: 185,2 m = 1/10 Seemeile.

kalfatern: Decks- und Außennähte dichten. Geschieht zumeist mit Werg (gezupftem Sackleinen oder Hanffasern, die auch für Tauwerk verwendet werden), das mit einem breiten, aufgebogenen Eisen (Kalfatereisen) und mithilfe eines Hammers zwischen die Planken gestopft wird. Zusätzlich wird die ausgebesserte Stelle oft mit Teer verschmiert.

Kimm: der sichtbare Horizont auf See, die scheinbare Berührungslinie von Himmel und Wasser.

Klüver: der, ein Stagsegel, das vor der Fock gefahren wird.

Klüverbaum: über den Vorsteven hinausragendes Rundholz zum Befestigen von Vorsegeln.

Knoten: (kn) Geschwindigkeitsbezeichnung für Schiffe, Seemeilen je Stunde.

kreuzen: auf Zickzackkursen „am Wind“ gegen den Wind fahren.

Kreuzsee: Quer zur sonstigen Wellenrichtung laufende Welle, meist in Küstennähe durch Felsen verursacht.

Last:

Gewicht: Gegenteil von: Kraft.

Aufbewahrungsraum: z.B. Proviant-, Taulast.

Abweichung von der Horizontallage in der Schiffsrichtung; Vor- oder Kopflastigkeit, Achter- oder Hecklastigkeit: je nachdem das Schiff vorn oder achtern tiefer liegt.

lenzen: einen Raum leer („lenz“) pumpen.

Liek: das (Mehrzahl Lieken), verstärkte Kante eines Segels wie:

Vor-, Achter-, Ober-, Unterliek.

loten: die Wassertiefe feststellen.

löschen: Nein, das hat mit Feuer rein gar nichts zu tun. So nennt man das Entladen eines Schiffes … 

Messe: Speisebereich in einem Schiff.

Pfeifen (auf einem Schiff): Kenner der Materie haben mich eben gerade für bescheuert erklärt, und keine Landratte wird wissen, warum hier ein Sternchen steht. Deshalb zur Erklärung: Auf einem Schiff darf nur mithilfe der Bootsmannsmaatenpfeife gepfiffen werden, die ein seemännisches Signalinstrument ist und nicht dazu taugt, Melodien zu spielen oder einer anderen Person wie ein Playboy hinterher zu pfeifen. Der seemännische (Aber-)Glaube besagt, dass den (ungünstigen oder zerstörerischen) Wind herbeipfeift, wer es wagt, auf einem Schiff zu pfeifen. Selbst in der Gegenwart kann ein Sturm auch große Containerschiffe gefährden. Deshalb würde auf einem normalen Schiff ein Pfiff mit Strafe beantwortet werden. Die Flying Dutchman ist allerdings immun gegen solche Gefahren. Dort kann also ohne Risiko auch gepfiffen werden …

Pint: engl. Hohlmaß, ca. 0,5l

Poller: der, Festmachervorrichtung für Leinen an Bord und an Land entweder als einfacher, kurzer, senkrechter Pfahl oder als Pfahlpaar (»Doppelpoller«) zum kreuzweisen Belegen, oben meist verdickt, um ein Abgleiten der Leine zu verhindern. »Kreuzpoller«, mit einem Querarm versehen.

pullen: seemännisch richtig für die an Land irrtümlich verwendete Bezeichnung „rudern“. Siehe auch unter Riemen.

querab: dwars (seitlich).

Rah: die, in ihrer Mitte waagerecht am Mast aufgehängt; Rundholz, an das die Oberkante des Rahsegels angeschlagen ist.

reffen: ein Reff „einstecken“. Gegenteil von: ausreffen.

Riemen: binnenländisch – falsch – „Ruder“, Rundholz mit Blatt und Handgriff zum Fortbewegen eines Ruderbootes. Siehe auch unter pullen

Ruder: Andere Bezeichnung für Steuer. Nicht zu verwechseln mit dem, was die Landratte als Ruder bezeichnet, nämlich die Dinger, mit denen ein Boot gerudert wird. Seemännisch heißen die Riemen.

Ruderpinne: ein waagerechter Hebel zum Betätigen des Ruders, als „Segelpinne“ besonders lang.

Schratsegel: im Allgemeinen längsschiffs stehende Segel mit mittschiffs liegendem Vorliek (im Unterschied zu den an waagerechten Rahen im Allgemeinen querschiffs stehenden Rahsegeln).

schanghaien: jemanden gegen seinen Willen zum Dienst an Bord eines Schiffes nötigen, in dem man ihn (meist mithilfe von reichlich Alkohol dunkelblau und k. o. gemacht) an Bord schleppt und ihn erst auf hoher See aus dem Bau lässt … 

Schanzkleid: ist die massive, brüstungs- oder wandartige Fortsetzung oder Erhöhung der Bordwand über ein freiliegendes Schiffsdeck hinaus. Es ist insofern eine Sonderform der sonst offenen Reling.

Schwell: der, in Häfen und begrenzten Gewässern von fahrenden Schiffen bewegtes Wasser oder hineinstehende schwache Dünung. Kann aber auch in offenem Gewässer hinter schnell fahrenden Schiffen entstehen, insbesondere bei propellergetriebenen Schiffen

Seemeile: Entfernungsmaß in der Seefahrt. 1 Seemeile (sm) = 1.852 Meter

Smutje: Koch auf einem Schiff

Spiegel: querschiffs stehender Abschluss am Heck, bei alten Seglern oft mit kunstvollen Verzierungen und großen Fenstern versehen („Spiegelheck“).

Spill: das, Winde mit senkrechter Achse zum Handhaben von Ankerkette („Ankerspill“) und Leinen („Verholspill“); auch „Winsch“ genannt

Stagsegel: an einem Stag mit »Stagreitern« befestigtes Schratsegel.

Steuerbord: (Stb.), rechts, rechte Seite. Zugehörige Farbe: Grün. Gegenteil von: Backbord.

Stundenglas: Mittel, um in der Seefahrt die Wacheinteilung zu organisieren. Es handelt sich um eine Sanduhr, die in 30 Minuten durchläuft. Das dann folgende Läuten zur Mitteilung der Zeit an die Crew wird „Glasen“ genannt. 8 Glasen = 4 Stunden. Die Zeit beginnt um 12.00 Uhr mittags, der einzigen natürlich festzulegenden Zeit am Tage, da die Sonne den höchsten Stand erreicht. 8 Glasen danach ist es folglich 16.00 Uhr. Weitere Wachwechsel sind danach um 20.00 Uhr, 0.00 Uhr, 04.00 Uhr und 08.00 Uhr. Insgesamt kommen so innerhalb von 24 Stunden 6 Wachwechsel zustande.

Topp: der, das obere Ende, zumal eines Mastes oder einer Stenge.

Toppflagge: Flagge, die am Topp eines Mastes gesetzt wird. Im Großtopp (Topp des Großmastes) weht in der Regel die persönliche Flagge des Schiffskommandanten.

Vormars: Die Marsrah des Fockmastes

 

 

 

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