Inhalt
Prolog
Während im übrigen Europa des Jahres 1871 die Nachricht von der Wiedererrichtung des deutschen Kaiserreiches die Runde machte, hatte König Wilhelm von Wengland ganz andere Sorgen. Noch immer war Europa ein riesiger Flickenteppich mehr oder weniger großer Reiche – von kleinen Grafschaften, die kaum fünfzig Meilen lang und dreißig Meilen breit waren, über mittelgroße Fürstentümer bis hin zu Großherzogtümern, deren Herrscher nach Königskronen griffen. Doch die Flicken auf diesem bunten Teppich begannen zusammenzuschmelzen, nachdem sich 1864 ein massiver Gegensatz zwischen Preußen und Österreich entwickelt und sich in einem kurzen, aber folgenreichen Krieg entladen hatte. Preußen griff nach immer mehr Territorien, hatte sich das Rheinland, das Königreich Hannover – die Stammlande des britischen Königshauses! – und zahlreiche andere kleine Fürstentümer wie zum Beispiel Neuenburg am westlichen Rand der Schweiz einverleibt. Nach dem Sieg über Frankreich war Preußen zum Kernland des neuen Deutschen Reiches aufgestiegen, sein König war Kaiser des Reiches geworden – erwählt und bestätigt von den deutschen Fürsten. Reichskanzler Bismarck hatte den Vielvölkerstaat Österreich ganz bewusst aus diesem neuen Reich gedrängt.
Wilhelm konnte es immer noch nicht fassen, wie knapp nicht nur Wengland, sondern auch Wilzarien, Breitenstein und Scharfenburg einem ähnlichen Schicksal wie Hannover entgangen waren. Unter seinem Vater, Ferdinand von Wengland, war Wengland ein in der europäischen Welt offen vorhandenes Fürstentum gewesen, das es seit den Tagen des Dreißigjährigen Krieges war. Fürst Ferdinand war durch seine Hilfe gegenüber dem König von Preußen und dem Kaiser von Österreich die Anerkennung als König zuteil geworden. Ohne das Versprechen dieser beiden Herrscher hätte Ferdinand wohl eher mit Napoleon gemeinsame Sache gemacht. Der Franzosenkaiser hatte Ferdinand mit der Königskrone ködern wollen, aber da die französischen Truppen Südwengland, Hirschfeld und Karlsfeld arg gerupft hatten, hatte Ferdinand gewisse Animositäten gegen Napoleons Truppen. Also hatte er Preußen und Österreich ein entsprechendes Angebot gemacht und es mit der Bedingung versehen, als König von Wengland anerkannt zu werden.
Angesichts der Qualität der fürstlichen Truppen hätte eine Zusammenarbeit der Wengländer mit den Franzosen unabsehbare Folgen haben können. Daran war weder Preußen noch Österreich gelegen. Zudem hatte es beide Herrscher nichts gekostet, Ferdinand als König anzuerkennen. Wengland hatte sich seit Fürst Wolfs Zeiten unauffällig immer selbstständiger gemacht, bis es schließlich aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ausgeschieden war, ohne dass der Kaiser das überhaupt bemerkt hatte. Mit dem endgültigen Zusammenbruch des Reiches 1806 war Wengland ein völlig souveräner Staat geworden. Ob dieser Staat von einem Fürsten oder einem König regiert wurde, spielte für Preußen überhaupt keine, für das gebeutelte Österreich nur eine untergeordnete Rolle. Wichtig war für beide hingegen, dass Wengland mit ihnen gegen Napoleon verbündet war. Dank des eingetretenen Erfolges gab es seit 1813 wieder ein Königreich Wengland in denselben Grenzen, die vor bald sechshundert Jahren unter seinem großen König Ulrich das Reich bezeichnet hatten.
Die Herrscher Wenglands und seiner Nachbarstaaten wussten, dass auf die großen Nachbarn wie Preußen, Österreich und Frankreich nur bedingt Verlass war. In Zeiten der Bedrohung von außen nutzten sie deshalb etwas, das in die fortschrittsgläubige Zeit des 19. Jahrhunderts so wenig passte wie ein Zündnadelgewehr ins Mittelalter: Zauber!
Jahrhunderte zuvor war es einem Goden, einem Priester einer längst untergegangenen Religion, gelungen, die ganze Region mit einem Zauber zu verbergen. Der Zauber war in Vergessenheit geraten, als die Pest die Region entvölkerte. Erst durch einen Zufall war Simon, der Sohn des Fürsten Wolf, auf einen riesigen Diamanten gestoßen, der tief im Keller eines Schlosses in der Nähe von Münster versteckt war – und auf das dazugehörige Buch, das ihm das Geheimnis dieses Steins verraten hatte. Seither konnte die Region wieder verborgen werden, wenn die regionalen Herrscher es wünschten. Wer in Zeit der verborgenen Existenz an die Grenzen der Verborgenen Lande kam, der kam in eines der Nachbarländer der Region, aber nicht in die Region hinein – es sei denn, er hatte einen Schlüssel bei sich, der das Tor in die Verborgenen Lande öffnete …
Die Welt schien durch neue Verkehrsmittel wie etwa die Eisenbahn immer kleiner zu werden und Europa durch das Wachsen der großen Nationen immer gefährlicher. Das Expansionsstreben Frankreichs unter den Revolutionären und später unter Napoleon sowie das Streben Preußens, in den deutschsprachigen Gebieten Europas die bestimmende Macht zu sein, waren eine so eindringliche Warnung gewesen, dass die Herren der Verborgenen Lande ihre Feindseligkeiten beiseitegeschoben hatten und 1850 die gesamte Region in die Verborgenheit versetzt hatten. Letzter Auslöser war die preußische Polizeiaktion im Großherzogtum Baden gewesen, wo Republikaner den Großherzog gestürzt und eine Republik ausgerufen hatten. Der benachbarte König von Württemberg, der König von Bayern und die Landgrafen von Hessen hatten schlichtweg Angst gehabt, dass der badische virus republicanus auf ihre Länder übergreifen würde und hatten zusammen mit dem militärisch mächtigen Preußen die badische Demokratie brutal zerschlagen.
Die Könige Wenglands und Wilzariens, der Fürst von Breitenstein und der Herzog von Scharfenburg fürchteten sowohl die republikanischen Ideen als auch die preußische Militärmacht, der sie zu wenig entgegenzusetzen hatten, um selbstständig zu bleiben. So hatten sie ihre Auslandsvertretungen in den meisten europäischen Staaten offiziell geschlossen, vorgeblich an Handelsfirmen verkauft, in deren Hinterzimmern die Diplomaten der Region gleichwohl weiterhin tätig waren und im Notfall Anlaufstellen für reisende Wengländer, Wilzaren, Breitensteiner oder Scharfenburger waren.
Es gab nach 1850 nur einen einzigen Staat in Europa, von dem aus die Verborgenen Lande ohne Schwierigkeiten erreicht werden konnte, und das war die Schweiz. Das kleine Land in der Mitte Europas hatte beim Wiener Kongress von 1815 als Preis für die Anerkennung seiner äußeren Grenzen auf Verlangen der europäischen Großmächte „immerwährende Neutralität“ erklären müssen – und genau das machte die Schweiz für die Herren der Verborgenen Lande ausreichend vertrauenswürdig, um die dortige Gebirgsgrenze nur teilweise zu verbergen. Offen blieben jene Grenzübergänge, die sich in Gebirgshöhlen oder speziell dafür gebauten Tunneln befanden. Mit der Schweiz bestanden weiterhin volle diplomatische Beziehungen und das Abkommen, dass die fraglichen Grenzübergänge nur für Personen geöffnet wurden, die sich als Einwohner der Verborgenen Lande ausweisen konnten.
Dass sich die Herren der Verborgenen Lande einig waren, was das Verstecken einer Fläche so groß wie Baden, Württemberg, Bayern, Deutsch-Österreich und die Schweiz zusammen betraf, bedeutete keineswegs, dass in der Region Krieg unbekannt war. Wengland und Wilzarien führten nahezu ständig Krieg miteinander – meist um die seit 1265 zu Wengland gehörende Grenzprovinz Aventur, dessen Besitz Wengland aber seither stets verteidigt hatte. In einem Jahrzehnt waren vier bis fünf Jahre Krieg normal …
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Kapitel 1
Befehl zur Heimkehr
König Wilhelm hatte lange vor einer großen Wandkarte gebrütet. Fast dreihundert Jahre war Wengland in seine dreizehn Grafschaften geteilt gewesen. In dieser Zeit hatten die einzelnen Provinzen höchst unterschiedliche Entwicklungen durchgemacht. In den vergangenen zweihundert Jahren hatten zwar die Wunden der Teilung geheilt werden können, aber es waren Narben zurückgeblieben, die die Grafschaften untereinander schwer erreichbar machten. Für den König stellte sich die Frage, ob die vorhandenen Verkehrswege ausgebaut werden sollten, oder ob man neue Wege zu beschreiten sollte. Als geeignete Alternative zur Postkutsche war wohl die Eisenbahn anzusehen, die in den weiter nördlich liegenden Ländern der offenen Welt schon Einzug gehalten hatte und das Verkehrswesen dort geradezu revolutioniert hatte.
Wilhelms Blick fiel auf die Herkunftsbeschriftung. Topographisches Amt, Steinburg, gezeichnet: Alexander von Steinburg stand dort. Der König seufzte. Alexander müsste da sein! Der Junge hatte Ideen. Aber Wilhelm wusste nicht einmal genau, wo sein jüngster Sohn sich aufhielt.
Wilhelm zog heftig an der Klingelschnur. Ein Diener in grüner Livree erschien.
„Majestät haben geläutet?“
„Gerhard, lassen Sie den Außenminister von Stotzeck kommen.“
„Der Herr Außenminister ist gestern Morgen auf Ihre Veranlassung nach Bern gereist, Majestät“, erklärte der Diener.
„Auch das noch!“, knurrte Wilhelm. „Dann lassen Sie General von Aschewerth holen.“
„Jawohl, Majestät.“
Der Diener buckelte und ging.
Eine halbe Stunde später war der General bei seinem König.
„Majestät haben mich rufen lassen?“
„Ja. Von Aschwerth – wo kann sich Prinz Alexander aufhalten?“
„Ach, herrje!“, entfuhr es dem General. „Majestät sehen mich ratlos. Ich weiß nur, dass er ins Ausland wollte.“
„Ja, bei Gott, das weiß ich auch, Herr General! Ich will wissen, wo der Bengel sich herumtreibt!“, entfuhr es Wilhelm. Der General dachte eine Weile nach.
„Kurz bevor er den Dienst bei mir beendete, habe ich in seiner Stube Bücher über Amerika und die Schweiz gesehen. Soll ich über unsere Botschaften in Bern und Washington anfragen, ob Seine Königliche Hoheit dort eingetroffen ist?“
„Tun Sie das, Von Aschewerth. Aber etwas zügig, bitte.“
„Jawoll, Majestät!“
Von Aschewerth knallte vernehmlich die Hacken zusammen und verschwand eilig.
Drei Stunden später war der General mit einem Berg von Depeschen zurück.
„Wir haben ihn in der Schweiz gefunden. Er scheint in Uri zu sein“, erklärte von Aschewerth strahlend.
„Dann holen Sie ihn aus Uri zurück! Ich brauche ihn jetzt hier!“
„Majestät mögen mir verzeihen, aber ich glaube nicht, dass er kommen wird“, gab der General zu bedenken.
„General von Aschewerth: Egal, wie Sie es machen – ich will meinen Sohn hier in Steinburg haben! Schreiben Sie ihm, schicken Sie einen Kurier oder machen Sie sonst etwas. Aber ich brauche Alexander in spätestens drei Monaten hier!“
Der General salutierte.
„Ich tue mein Bestes, Majestät“, versprach er und eilte davon.
Alexander hatte zu den Soldaten gehört, die General von Aschewerth äußerst ungern hatte gehen lassen. Der junge Mann hatte sich nicht nur durch unbedingte Tapferkeit, sondern auch durch Klugheit ausgezeichnet. Folgte man der Chronik der wenglischen Herrscher, musste Alexander an die Qualitäten eines Martin oder Ulrich von Wengland heranreichen. Beide waren nicht nur Ritter gewesen, sondern hatten sich auch der Wissenschaft geöffnet. Alexander schien aus dem gleichen Holz geschnitzt zu sein. General von Aschewerth hatte dessen Aufenthaltsort denn auch bezeichnenderweise nicht über die Botschaft in Bern, sondern über die Universität Wachtelberg bekommen. Nach Auskunft der Physikalischen Fakultät war der Prinz mit einer Gruppe von Vermessungstechnikern nach Andermatt im schweizerischen Kanton Uri aufgebrochen, wo zurzeit Vermessungsarbeiten für eine Bahnverbindung zwischen Andermatt und Airolo über den Gotthardpass stattfanden.
General von Aschewerth sandte eine dringende Depesche an den jüngsten Sohn des Königs nach dem Postamt in Andermatt, mit der Aufforderung, umgehend nach Steinburg zurückzukehren.
Alexander war jetzt sechsundzwanzig Jahre alt. Mit zwanzig Jahren hatte er den unter wenglischen Adligen üblichen Schulabschluss Abitur gemacht und war danach – wie jeder männliche Wengländer – zum Militärdienst eingezogen worden. Männliche Abituranwärter des Adels durchliefen ab der Untersekunda, der 10. Klasse der Gesamtschulzeit von dreizehn Jahren, bereits die Kadettenschule, in der sie neben einer breiten Allgemeinbildung bereits ihre militärische Ausbildung als angehende Offiziere erhielten. Nach dem Abitur wurden die jungen Männer des wenglischen Adels bereits als Offiziere in den eigentlichen Militärdienst eingezogen, der dann mindestens zwei Jahre dauerte.
Während Alexanders Militärzeit hatte Wengland mit Wilzarien wieder einmal einen heftigen Krieg um die Provinz Aventur geführt, der auf beiden Seiten hohe Verluste verursacht hatte. Nach diversen Verwundungen, darunter einer wirklich schweren, die er nur knapp überlebt hatte, und monatelanger Gefangenschaft hatte er zum frühestmöglichen Zeitpunkt seinen Militärdienst quittiert und – so weit wie möglich von Aventur entfernt – an der Universität Wachtelberg Vermessungstechnik studiert. Weil den angehenden Offizieren auf der Kadettenschule bestimmte Elemente der Vermessungstechnik beigebracht wurden, hatte er nach zwei Semestern bereits die Prüfung zum Vermessungsingenieur ablegen können und danach ein halbes Jahr lang im Topographischen Amt von Steinburg gearbeitet.
Jawohl, gearbeitet! Prinzen aus dem Hause Wengland-Steinburg waren ohnehin keine geborenen Müßiggänger. Alexanders ältere Brüder Friedrich und Eberhard hatten ihre hohen Posten bei Armee und Polizei nicht nur ehrenhalber inne, sondern verstanden ihr Handwerk dort ebenso gut wie ihre Untergebenen.
Im Hotel Zur Post in Andermatt, wo der Prinz wohnte, wusste der Wirt von dem ausländischen Gast nicht mehr, als dass er es mit dem Vermessungsingenieur Von Steinburg zu tun hatte. Die Depesche, die dort ankam, war aber an Herrn Alexander von Wengland gerichtet. Als Alexander abends müde in sein Hotel kam und – wie gewöhnlich – nach Nachrichten fragte, eröffnete der Wirt:
„Für Sie habe ich nichts. Aber kennen Sie unter Ihren Leuten einen Herrn von Wengland?“
Alexander wurde hellhörig.
„Darf ich fragen, von wem die Depesche ist?“
„Die ist doch nicht für Sie?“, wunderte sich der Wirt.
„Ich bin Wengländer – und wenn ich Post von wenglischen Behörden bekomme, schreiben die immer an Alexander von Wengland. Die begreifen’s einfach nicht.“
Der Wirt lugte unter den Tresen. Kriegsministerium des Königreichs Wengland stand auf der Depesche als Briefkopf.
„Dann könnte die Nachricht doch für Sie bestimmt sein“, sagte er noch zögernd und gab Alexander die Depesche. Der bedankte sich höflich und ging in sein Zimmer hinauf.
‚Paps sucht also nach mir’, seufzte er in Gedanken. Zwei Jahre war er jetzt nicht mehr in Steinburg gewesen. Seine Arbeit als Vermessungsingenieur bei verschiedenen Eisenbahngesellschaften hatte ihn völlig in Anspruch genommen. Er hängte sein Tagesbündel an den Garderobenhaken, ließ sich müde auf sein Bett fallen und riss das Depeschensiegel auf.
>>SOFORTIGE ANWESENHEIT EW. KGL. HOHEIT IN STEINBURG ERFORDERLICH. ANGELEGENHEIT NATIONALEN INTERESSES. BITTE DEPESCHE BESTAETIGEN UND SCHNELLSTMOEGLICH ANREISEN. GEZ.: GEN. V. ASCHEWERTH. P.S.: IN UNIFORM!<<
Alexander hatte prompt die Befürchtung, Wengland befände sich – wieder einmal – in Grenzstreitigkeiten um die Grafschaft Aventur. Der Prinz zog seine Uhr aus der Tasche. Es war schon nach zehn Uhr abends. Die Telegrafenstation der schweizerischen Post hatte jetzt ohnehin geschlossen. Er würde seine Bestätigung am nächsten Morgen abgeben. Er war so müde, dass er nicht einmal mehr Hunger hatte. Dabei hatten auf der Tageskarte so leckere Schweinsplätzli, herrlich saftige Schweineschnitzel, gestanden. Aber Alexander wollte im Augenblick nur schlafen.
Am folgenden Morgen sandte er vom Postamt aus diese Nachricht:
>>HABE DEPESCHE ERHALTEN. KUENDIGUNG HIER ERFORDERLICH ODER SPAETERE FORTSETZUNG MEINER ARBEIT HIER MOEGLICH?
GEZ. A.V.STEINBURG<<
Die Antwort aus Steinburg war überdeutlich: Er sollte kündigen!
‚Wenn das so aussieht, liegt Wengland im Krieg!’, durchzuckte es den Prinzen. Er eilte ins Hotel Weißes Kreuz, wo der Chefingenieur Henninger logierte. Er überraschte ihn beim Frühstück.
„Tut mir Leid, Sie beim Frühstück zu stören, Herr Henninger“, sagte Alexander.
„Was gibt’s?“, fragte der Chefingenieur.
„Ich habe eine Depesche von zu Hause bekommen. Das Kriegsministerium zitiert mich heim nach Steinburg.“
„Oh je! Was Schlimmes?“
„Ich fürchte fast. Entweder ist mein Vater verstorben oder Wengland hat mit irgendwem Streit.“
„Ist Ihr Vater ein bedeutender Mann, Herr von Steinburg?“
„Na ja, kann man so sehen“, erwiderte der Prinz. Es musste nicht jeder wissen, dass er ein königlicher Prinz war.
„Kommen Sie wieder?“, fragte Henninger.
„Nach der Anweisung muss ich kündigen. Ich weiß nicht genau, wann meine Aufgaben daheim beendet sein werden.“
„Das ist bitter. Ihre Vermessungen brauche ich nicht zu überprüfen. Es gibt hier durchaus Ingenieure, bei denen das notwendig ist. Ich verliere Sie ungern, Herr von Steinburg.“
„Ich gehe auch ungern, weil ich die Gotthardbahn gern ganz mit gebaut hätte“, erwiderte Alexander mit einem traurigen Lächeln.
Er bekam den fälligen Lohn ausgezahlt – einschließlich der Prämien eine stattliche Summe – beglich seine Hotelrechnung und buchte den Postkutschenkurs nach Altdorf. Eine Reise mit der Postkutsche dauerte relativ lange, und Alexander wünschte sich dringend eine bereits bestehende Eisenbahn. Auf seiner Reiseroute heim nach Wengland gab es allerdings keine Eisenbahn. Selbst im fortschrittlichen Breitenstein existierte nur eine kaum drei englische Meilen lange Eisenbahnverbindung zwischen Dominiksburg und Palparuva/Breitenstein. Und diese kurze Strecke war zurzeit nicht schneller als die Postkutsche. Palparuva/Breitenstein, eine schöne Stadt am Fuß des Piz Palparuva, war der letzte Ort auf Breitensteiner Boden. Nach Erledigung der Breitensteiner Pass- und Zollformalitäten rollte die Anschlusskutsche über die wenglische Grenze.
Zehn Tage nach seinem Aufbruch von Andermatt hatte Prinz Alexander den Grenzort erreicht. Bei der wenglischen Passkontrolle sah der Grenzsoldat in ein Verzeichnis, als er im Pass eine Buchstabenkombination in der Passnummer fand, die selten war. Der Mann zuckte zusammen, als er feststellte, dass er ein Mitglied der königlichen Familie vor sich hatte.
„Verzeihung, Königliche Hoheit!“, hustete der Grenzbeamte und gab Alexander seinen Pass mit einem zackigen Salut zurück.
„Schon gut, schon gut“, wehrte der Prinz freundlich ab. „Wo ist das nächste Zeughaus? Ich brauche eine Uniform.“
„In Palparuva-Dorf, Königliche Hoheit.“
„Wann geht die Postkutsche nach Steinburg?“
Der Grenzbeamte sah auf die große Standuhr in der Amtsstube. Es war zehn Minuten vor zehn Uhr am Vormittag.
„In zehn Minuten, Königliche Hoheit.“
„Und die nächste?“
„Nicht vor morgen Nachmittag, Königliche Hoheit.“
„Dann werde ich mich beeilen, noch einen Fahrschein zu bekommen. Danke.“
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Kapitel 2
Schicksalhafte Begegnung
Alexander eilte aus der Amtsstube und lief die Straße zur Poststation hinunter, die noch eine Viertelmeile von der Grenzstation entfernt war. Er kam gerade noch rechtzeitig zum Postamt, um einen Fahrschein zu lösen und zur bereits abfahrbereit wartenden Kutsche zu kommen. Der Postillion hielt dem Fahrgast eifrig die Tür der Kutsche auf, Alexander stieg ein. Die Kutsche hatte insgesamt sechs Sitzplätze. Nur ein Platz in Fahrtrichtung war besetzt. Eine junge Dame saß im Fond. Ihr Blick hatte etwas Furchtsames an sich, als sie den fremden Mann einsteigen sah.
„Guten Tag“, grüßte Alexander höflich und zog den Hut. „Gestatten Sie, dass ich Ihnen gegenüber Platz nehme?“
„Wie es Ihnen beliebt, mein Herr“, erwiderte sie. Der Prinz setzte den Hut wieder auf, nahm wie gewünscht Platz. Der Kutscher trieb die Pferde an. Der Wagen setzte sich rumpelnd in Bewegung.
„Macht es Ihnen nichts aus, rückwärts zu fahren?“, fragte die junge Dame erstaunt.
„Nein, durchaus nicht. Außerdem hätten Sie es vielleicht als aufdringlich empfinden können, wenn ich mich einfach neben Sie gesetzt hätte.
„Mir wird immer übel, wenn ich rückwärtsfahren muss. Deshalb bin ich immer schon eine Stunde vor Abfahrt in der Kutsche.“
„Sie reisen öfter mit der Postkutsche?“
„Mindestens einmal im Monat“, bestätigte die junge Dame.
„Ziemlich gefährlich – so ganz allein“, mutmaßte er.
„Oh, bisher habe ich noch keine Räuber getroffen. Und diesmal reise ich sogar mit männlichem Begleitschutz“, erwiderte sie mit einer Geste zu ihm. Er musste lachen.
„Verzeihen Sie meine Neugier, mein Fräulein. Darf ich fragen, weshalb Sie so oft reisen? Die meisten Frauen sind froh, wenn ihnen Reisen erspart bleiben.“
„Mein Vater lebt hier in Palparuva Grenze. Einmal im Monat besuche ich ihn. Sonst wohne ich in Steinburg“, erklärte die junge Frau. Der junge Mann überlegte einen Moment. In Palparuva/Wengland Grenze gab es nicht viel. Im Gegensatz zum Nachbarn gleichen Namens in Breitenstein und zu Palparuva-Dorf unten im Tal war der Flecken klein und lag auf der östlichen Seite des Quartenpasses, wo die Talebene fast zweitausend Fuß höher lag als in Palparuva/Breitenstein. Die Gegend war eine unwirtliche Bergregion. Außer der Poststation gab es nur eine Försterei und ein Staatsgefängnis für Schwerverbrecher in der Grenzfestung.
„Ist Ihr Vater der Förster hier oder Beamter im Gefängnis?“, fragte er. Die junge Frau wurde merklich blasser.
Noch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr die Kutsche durch ein großes Schlagloch, und ihre Handtasche fiel herunter. Der Verschluss öffnete sich und der Inhalt landete auf dem Kutschenboden. Alexander war etwas schneller als seine Mitreisende und las den Tascheninhalt auf. Dabei hielt er plötzlich einen Besucherpassierschein des Staatsgefängnisses in der Hand. Er sah die ängstlichen Augen seines Gegenübers, packte schweigend alles ein und reichte ihr die Tasche.
„Passen Sie gut drauf auf“, empfahl er lächelnd. Sie nahm ihm die Tasche ab und presste sie ängstlich an sich.
„Zeigen Sie mich an?“
Alexander war völlig verblüfft.
„Warum sollte ich das tun“, fragte er.
„Es ist immerhin verboten, Gefangene im Palparuva-Gefängnis zu besuchen.“
„Sie haben doch offenbar einen ordnungsgemäßen Passierschein. Also tun Sie nichts Verbotenes.“
Die junge Frau schüttelte den Kopf.
„Mir ist klar, dass jemand, der so deutlich auf seine Königstreue hinweist, nicht auf die Idee verfallen würde, etwas zu tun, das gegen die Gesetze des Regimes verstoßen würde“, sagte sie. Er lehnte sich zurück und runzelte leicht die Stirn.
„Was meinen Sie mit dem deutlichen Hinweis auf Königstreue?“, fragte er.
„Die Lilie, die Sie an der Krawatte tragen“, erklärte sie. Er tastete nach seiner Krawattennadel, deren Kopf aus einem kleinen, goldfarbenen Schild mit gekrönter Lilie bestand. Er lächelte sanft.
„Oh, das ist unter Wengländern, die im Ausland leben, das übliche Erkennungszeichen und hat nichts mit dem Königshaus zu tun“, erwiderte er. Sein Gegenüber entspannte sich wieder.
„Bitte, erklären Sie mir, was an Ihrem Tun verboten ist. Ich finde es nicht“, bat er dann.
„Es ist verboten, Gefangene zu besuchen. Es gibt keine legalen Passierscheine, mein Herr.“
„Aber dann müssten die Wachen es spätestens nach dem zweiten Versuch spitzbekommen, dass Sie dort nichts zu suchen haben und Ihnen gleichfalls ein Zimmer auf Staatskosten geben“, wunderte sich der Prinz.
„Für einen bestimmten Personenkreis gibt es Passierscheine, die aber nicht übertragbar sind – und die Angehörige schon gleich gar nicht bekommen.“
Sie wurde noch blasser, als ihr klar wurde, dass sie gerade eine Beichte vor jemandem ablegte, den sie nicht genau kannte. Das warme Lächeln auf dem Gesicht ihres Mitreisenden war allerdings Vertrauen einflößend. Der junge Mann sah nicht so kalt und unnahbar aus, wie die Staatsbeamten, die ihr sonst begegneten.
„Ich war lange nicht in Wengland, deshalb stelle ich so dumme Fragen. Verzeihen Sie mir bitte“, sagte Alexander nach einer Pause. „Mir ist neu, dass Angehörige Gefangene nicht mehr besuchen dürfen.“
„Seit etwa eineinhalb Jahren – seit Prinz Eberhard Chef der Polizei ist – werden Leute, die nicht völlig untertänig zu Seiner Majestät stehen, brutal unterdrückt und werden teilweise sogar ohne Prozess eingesperrt. Man will von Seiten des Regimes jede Opposition unterdrücken – und das auch noch totschweigen, die Gefangenen einfach vergessen!“
„Nicht zu glauben! Bewahren Sie den Passierschein gut auf, lassen Sie ihn nicht in falsche Hände geraten. Von mir erfährt niemand etwas“, versprach er.
Pünktlich um zwölf Uhr erreichte die Kutsche Palparuva-Dorf und hielt vor der Poststation, der auch das Wirtshaus Zur Post angeschlossen war.
„Palparuva-Dorf!“, rief der Postillion. „Zwei Stunden Aufenthalt!“
Alexander stieg aus und half der jungen Frau aus dem Wagen.
„Danke, mein Herr“, sagte die junge Frau. „Übrigens, hier, in der Post kann man sehr gut essen“, setzte sie mit einem Lächeln hinzu.
„Ist das als Einladung zu verstehen, mit Ihnen gemeinsam zu essen?“, erkundigte er sich mit einem sanften Lächeln.
„Wenn Sie möchten?“
„Gern“, lächelte er. Er hielt ihr höflich die Tür der Gaststube auf.
„Ah, Grüß Gott, Fräulein Haldenstein!“, grüßte der Wirt. „Den üblichen Tisch?“
„Nein, Herr Postwirt. Sie sehen, ich bin heute nicht allein.“
Der Postwirt verbeugte sich knapp, dann sah er die Ziernadel an Alexanders Krawatte. Das freundliche Lächeln des Wirts erlosch wie eine Petroleumlampe, die man ausbläst.
„Im Ausland gewesen?“, fragte er den jungen Mann.
„Ja, wieso?“
„Weil sie nicht wie einer von der Polizei aussehen“, erwiderte der Wirt.
„Seit wann gibt’s denn in Wengland Polizei ohne Uniform?“, wunderte sich Alexander.
„Seit Prinz Eberhard als Chef der Polizei eine geheime Einheit gegründet hat, die eben keine Uniform trägt. Die Leute laufen ganz normal gekleidet herum – sieht man von der Auslandslilie ab, die die in der Krawatte tragen. Und ehe man sich’s versieht, findet man sich da oben wieder“, sagte der Wirt und wies mit dem Daumen in Richtung Palparuvapass. „Was darf ich den Herrschaften bringen?“
„Haben Sie von Ihrem leckeren Gulasch?“, fragte die junge Frau.
„Ich hab’ mir gedacht, dass Sie heute kommen und habe welches im Angebot.“
„Dann hätte ich gern davon.“
„Und Sie, mein Herr?“
„Das nehme ich auch“, lächelte Alexander.
Das Essen zog sich etwas hin, weil die Nudeln, die der Koch als Beilage zum Gulasch zubereitet hatte, recht pappig geraten waren. In Alexanders bisherigem Arbeitsumfeld in der Schweiz war Italien nicht weit, beim Bahnbau am Gotthard waren viele Italiener beschäftigt – und Italiener haben eine besondere Beziehung zu Nudeln. Breiige Nudeln sind für Italiener ein Sakrileg beim Essen. Und wer einmal als Nichtitaliener al dente gekochte Nudeln gegessen hat, verzichtet dankend auf Nudelbrei … Der Prinz monierte freundlich, aber bestimmt, dass ihm diese Nudeln nicht schmeckten. Der entsetzte Wirt ließ den Koch antreten, der diensteifrig zusagte, die Nudeln wie gewünscht al dente zu kochen. Bis er das richtig hinbekam, verging allerdings eine halbe Stunde, in der das Gulasch warm gehalten werden musste.
Schließlich waren Gulasch und Nudeln dann doch serviert und schmeckten wirklich ausgesprochen gut. Alexander sah auf die Standuhr in der Gaststube. Es war inzwischen ein Uhr.
„Noch eine knappe Stunde bis zur Weiterfahrt“, brummte er, als er auf die Uhr sah. „Bitte entschuldigen Sie mich. Ich habe noch etwas zu erledigen“, bat er dann die junge Frau.
„Was kann man in dieser Bergeinsamkeit zu erledigen haben?“, wunderte sie sich.
„Nun, wenn man per Einberufungsbefehl nach Hause gerufen wird, bedeutet das Uniformzwang auf wenglischem Boden. Hätte Palparuva Grenze ein Zeughaus, wäre ich schon bis hier in Uniform mitgefahren“, erklärte er mit verschmitztem Lächeln. Fräulein Haldenstein schnappte heftig nach Luft.
„Was?“, entfuhr es ihr. Er verbeugte sich und drehte sich dann zum Wirt um.
„Ich gehe noch zum Zeughaus, um mir meine befohlene Uniform zu holen. Stellen Sie bitte inzwischen die Rechnung. Es geht zusammen auf meine Rechnung.“
„Mir wäre lieber, Sie zahlen gleich“, brummte der Wirt. Alexander seufzte, zog seine Taschenuhr aus der Weste und legte sie auf den Tresen.
„Genügt die als Pfand, dass ich wiederkomme?“
„Nein, nur Bares ist Wahres“, grunzte der Wirt.
„Dann bitte die Rechnung.“
„Muss ich ja erst mal zusammenrechnen …“
„Dann tun Sie das bitte zügig. Sonst fährt die Kutsche noch ohne mich weiter – und die Kosten für die Extrapost stelle ich Ihnen in Rechnung. Die dürfte teurer sein als das Essen!“, versetzte der Prinz mit gewisser Reizung in der Stimme.
„Is’ ja gut, ich mach’ ja schon.“
Schwitzend rechnete der Wirt zusammen, Alexander bezahlte und verließ das Gasthaus.
Das Zeughaus war direkt um die Ecke der Poststation gelegen. Alexander legte seinen Reservistenausweis vor und bekam eine Reiseuniform der wenglischen Gardekavallerie. Wenn ein Wengländer aus dem Ausland zurückgerufen wurde und der Rückruf den amtlichen Zusatz enthielt, dass er in Uniform erscheinen sollte, galt das als Einberufung als Reservist. Einberufene Reservisten hatten in Wengland während der normalen Dienstzeiten von morgens sechs Uhr bis abends sechs Uhr Uniform zu tragen. Alexander war kein aktiver Soldat mehr und hatte in den USA die Vorzüge des Zivilistenlebens kennengelernt. Dennoch war er ein gehorsamer Diener seines Landes und beachtete die für ihn gültigen Vorschriften – mochten sie ihm auch missfallen.
Als er sich umgezogen hatte, musste er feststellen, dass ihm die grüne Uniform immer noch gut stand, auch wenn er sie zwei Jahre nicht mehr getragen hatte. Der Uniformrock war aus einem sehr feinen dunkelgrünen Tuch gefertigt, hatte einen scharlachroten Stehkragen und ebensolche Aufschläge, die jeweils von einer schmalen goldenen Litze am Rand verziert wurden. Die Farbe Rot bezeichnete in der wenglischen Armee die Kavallerie, die goldene Litze war das Abzeichen für die Garderegimenter bei allen Waffengattungen. Neun goldfarbene Knöpfe, verziert mit der königlichen Lilie, verschlossen den Rock. Schulterklappen hatte der Rock nicht, da zur Reiseuniform weder Seitengewehr noch Tornister getragen wurden, deren Riemen die Schulterklappen sonst Halt gegeben hätten. Je zwei kleine sechszackige Silbersterne, untereinander angeordnet auf beiden Seiten des Stehkragens markierten Alexanders Dienstgrad als Oberleutnant. Über den Rock gehörte ein schwarzes Lederkoppel mit rundem Schloss, das die Königskrone zeigte. Diese Schlossvariante war – wie die Goldlitze an Kragen und Aufschlägen – allein den Garderegimentern vorbehalten.
Außerdem gehörten eine schwarze Hose mit roter Seitenpaspel und blanke schwarze Halbstiefel zur Reiseuniform. Als Krönung setzte Alexander eine österreichisch anmutende, steife Offiziersmütze auf. Sie war mit dem gleichen dunkelgrünen Tuch bezogen, aus dem auch der Rock gefertigt war und hatte einen blanken schwarzen Lederschirm. Über dem goldfarbenen Sturmriemen waren senkrecht angeordnet zwei Kokarden angebracht: Die untere, die recht genau in der Mitte der Mützenhöhe angebracht war, bestand aus einem goldfarbenen Knopf mit einer Lilie, die obere, die halb über die Mützenkrone reichte, zeigte oval angeordnet die wenglischen Staatsfarben – außen Gold, Rot in der Mitte und im Zentrum Grün. Eine goldene Königskrone in der Mitte der oberen Kokarde vervollständigte sie als königlich wenglische Kokarde. Während der untere Knopf aus blank poliertem Metall bestand, war die obere Kokarde aus grünem Samt im Zentrum und roten, bzw. goldfarbenen Litzen gefertigt und hatte an der Rückseite eine Vorrichtung, in die ein Federbusch eingeschraubt werden konnte. Diese Vorrichtung überragte die Litzenkokarde um vielleicht 1/10 Zoll. Beide Kokarden waren durch eine doppelte Soutacheschnur verbunden, die insgesamt knapp einen halben Zoll breit war.
Ein Blick auf die Uhr zeigte dem Prinzen, dass es Zeit wurde, zu gehen, wenn er die Postkutsche noch erreichen wollte. Seinen Zivilanzug verpackte er sorgsam im Koffer und eilte zur Kutsche.
Zu seiner Überraschung war der Postillion noch nicht auf dem Kutschbock, obwohl es bereits Schlag zwei war. Alexander packte seinen Koffer aufs Wagendach und ging in die Posthalterei.
„Wird der Fahrplan nicht eingehalten?“, fragte er etwas unwirsch. Der Postillion sprang erschrocken auf.
„Der Postwirt sagte mir, Sie kämen eventuell später. Ich habe auf Sie gewartet, Herr Oberleutnant“, sagte er.
„Meinetwegen braucht sich niemand zu verspäten. Und vergessen Sie ganz schnell, dass ich Oberleutnant bin!“
„Jawoll, Herr Oberleutnant!“
„Postillion!“
Alexander schüttelte nur noch den Kopf und stieg in die Kutsche ein, in der Fräulein Haldenstein bereits saß. Sie wurde kreidebleich, als sie den jungen Mann in Uniform sah. Alexander lächelte sie sanft an.
„Werden Sie mir jetzt nicht ohnmächtig. Ich beiße nicht, nur weil ich ab jetzt in Uniform bin“, sagte er.
„Na ja, wenn man Verwandte im Staatsgefängnis hat, betrachtet man Uniformierte vielleicht mit anderen Augen als die so genannten braven Bürger.
„Ich bin kein anderer geworden, seit wir vor einer Stunde am selben Tisch gesessen haben“, erwiderte Alexander. Die junge Frau ließ ein spöttisches Lachen hören.
„Bis jetzt war jeder wie ausgewechselt, sofern er einen Zivilanzug mit einer Uniform vertauscht hat. Ich habe Leute gekannt, die ihre besten Freunde ohne zu fragen niedergeknüppelt haben, kaum dass sie eine Uniform angezogen haben“, entgegnete sie bitter.
„Und wieso?“
„Weil jemand es ihnen befohlen hat, Herr Offizier! Sie sind doch auch so unglaublich gehorsam, dass Sie selbst in dieser Bergwildnis, in der kein Kontrolleur herumläuft, völlig selbstverständlich eine Uniform anziehen!“, hielt sie ihm vor.
„Ja, das ist richtig. Das für mich als einberufenen Reservisten gültige Gesetz schreibt das vor. Erwischt mich ein Amtsträger in Zivil, bedeutet das Strafe für mich. Der Grenzbeamte in Palparuva ist verpflichtet, sämtliche Militärposten an der Strecke zu informieren, dass ich als Reservist einberufen bin. Er gibt das einschließlich einer Personenbeschreibung weiter. Der Zeughauswachtmeister war bereits über mein Kommen unterrichtet. Wäre ich in Palparuva-Dorf in Zivil in die Kutsche gestiegen, hätte ich die Zeughauswache am Hals gehabt – mit dem Vorwurf der Fahnenflucht. Eine gesetzliche Vorschrift ist aber etwas anderes als ein direkter Befehl. Widerspricht ein Befehl geltendem Gesetz, darf ich ihn nicht einmal ausführen“, erwiderte Alexander.
„Aber ein Soldat muss seinem König gehorchen. Und wenn der morgen befiehlt, dass Sie auf eine Demonstration schießen, dann …“
„Na, da sei Gott vor!“, entfuhr es ihm. „Wenn der König sein Volk nur noch mit Waffengewalt beherrschen kann, muss ich ihn mal fragen, warum das so ist.“
„Sie wären gewiss der erste Soldat, der nicht in blindem Gehorsam schießen würde“, mutmaßte die junge Frau.
„Sagen wir, ich habe – im Gegensatz zu anderen – die Möglichkeit, Fragen zu stellen.“
„Sie? Ein kleiner Oberleutnant? Sie haben doch keinen Einfluss bei Hof!“
„Nehmen Sie das ruhig an. Darf ich fragen, was Ihr Vater eigentlich verbrochen hat, dass man ihn eingekerkert hat?“
„Mein Vater hatte eine Arztpraxis in Steinburg. Er hat eine unvorsichtige Äußerung gemacht, die einen Patienten – ein Mitglied der Geheimpolizei, wie ich erfahren habe – prompt zu einer Verhaftung gereizt hat.“
„Was hat er denn so Schlimmes gesagt?“, bohrte er unnachgiebig weiter.
„Er hat gefragt, was eigentlich gegen diese Verrückten, diese Sozialisten, einzuwenden sei. Das seien doch nur harmlose Spinner.“
Er lachte auf.
„Das hätte von mir sein können!“, rief er fröhlich. „Ich danke Ihnen, mein Fräulein. Vielleicht war es doch nicht so völlig sinnlos, mich ganz aus der Schweiz zu holen!“
Die junge Frau war sichtlich erstaunt.
„Sie, ein Soldat, waren in der neutralen Schweiz?“
„Ich bin kein aktiver Offizier mehr, sondern Reservist. Ich habe zwei Jahre als Vermessungsingenieur in den Vereinigten Staaten und in der Schweiz gearbeitet. Meine Einberufung hat mich bei der Vermessung der neuen Eisenbahnstrecke über den Gotthardpass erwischt. Es passt mir überhaupt nicht, das können Sie mir glauben! Und wenn es heute Abend sechs Uhr schlägt, dann hängt diese Uniform im Schrank und ich bin wieder in Zivil.“
„Seltsam. Jeder in diesem Lande, der sich zu König und Vaterland bekennt, schmückt sich heute mit einer Uniform. Selbst die Postsortierer im Hauptpostamt in Steinburg hüllen sich in prächtige Uniformen“, wunderte sie sich.
„Eine Krankheit, die in Europa weit verbreitet ist. Ich halte es für eine Modeerscheinung“, erwiderte er.
„Seien Sie bloß vorsichtig, vor wem Sie solche Äußerungen machen. Sie landen schneller in Palparuva, als Sie es ahnen“, orakelte die junge Dame.
„Nun, ich bin in einer Position, die mir solche Mätzchen erlaubt, ohne dass ich gleich verfolgt werde“, lächelte der junge Mann verbindlich.
„Wer könnte sich so etwas erlauben, wenn er mit dem Königshaus nicht verwandt ist?“, fragte sie. „Gestatten Sie, wenn ich Sie nach Ihrem Namen frage?“
„Wie unhöflich von mir. Verzeihen Sie, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Von Steinburg, Alexander von Steinburg. Und Ihr Name ist Haldenstein, habe ich das in der Postwirtschaft so richtig verstanden?“
„Ja, richtig. Simone Haldenstein.“
„Haldenstein … Und Ihr Vater ist Arzt, sagten Sie?“
„Ja“
„Chirurg, oder?“
„Ja“
„Ich kenne ihn. Einer der besten Chirurgen, die Steinburg als Grafschaft zu bieten hat“, bemerkte Alexander.
„Ja, aber es hat ihm nichts genützt, Herr von Steinburg.“
„Wie lange sitzt er schon?“
„Fünf Monate.“
„Vielleicht kann ich etwas für ihn tun“, bot er an.
„Danke, das ist mit einem Preisschild versehen – und das will ich auf keinen Fall.“
„Es hätte keinen Preis. Ihr Vater hat mich vor einigen Jahren nach einem Bergunfall vor dem Rollstuhl bewahrt. Wenn ich versuche, ihm zu helfen, dann a) weil ich ihm dankbar bin, b) was er getan zu haben scheint, in keiner Weise eine Einkerkerung rechtfertigt und c) weil ich Ihren Mut rückhaltlos bewundere.“
„Ich mag nicht mehr glauben, was mir angeblich einflussreiche Männer erzählen“, widersprach sie. Ihre dunkelblauen Augen nahmen einen melancholischen Zug an.
„Das erwarte ich nicht“, erwiderte er. „Vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit, etwas zu tun. Wir werden sehen.“
A A A
Kapitel 3
Ein unverschämter Patron
Die Kutsche erreichte die nächste Station, Bravadur, gegen fünf Uhr abends. Alexander stieg steifbeinig aus dem Kutschenfond aus und half Fräulein Haldenstein ritterlich aus dem Wagen.
„Ich wünschte, hier gäbe es auch Eisenbahnen“, seufzte er. „Dann könnten wir schon längst in Steinburg sein. Vom Quartenpass bis nach Steinburg sind’s immer noch drei Tagereisen. Daran hat sich seit König Philipps Zeiten nichts geändert – und das ist bald tausend Jahre her.“
Der Prinz ließ es sich nicht nehmen, der jungen Dame das Gepäck zu tragen. Der Wirt vom Posthotel kannte Fräulein Haldenstein offenbar ebenso wie der Postwirt in Palparuva-Dorf.
„Grüß Gott, Fräulein Haldenstein. Ihr Zimmer ist schon fertig. Nummer Sechs, wie immer.“
Mit einem etwas schmierigen Grinsen reichte er Simone den Zimmerschlüssel, die sich mit leicht zitternder Hand eintrug und den Schlüssel mit einem eher gezwungenen Lächeln annahm. Sie bedankte sich artig und ging die Treppe neben der Rezeption hinauf.
„Herr Oberleutnant, was kann ich für Sie tun?“, wandte sich der Postwirt an Alexander.
„Ich hätte gern ein Zimmer mit einem gescheiten Abendessen und einem guten Frühstück.“
„Ja, gewiss doch. Ham’s den Pass dabei, Herr Oberleutnant?“
Alexander legte gehorsam den Pass vor.
„Mir wäre lieb, Herr Wirt, wenn Sie den dämlichen Dienstgrad wegließen und mich einfach mit Herr von Steinburg anredeten.“
Der Wirt sah in den Pass, dessen Buchstabenkombination SKH3 in der Passnummer Alexander immerhin als den dritten Sohn des Königs auswies.
„Aber hier steht doch …
„Von Steinburg genügt völlig!“, entgegnete der Prinz scharf.
„Ja, gewiss, Herr von Steinburg!“, buckelte der Wirt.
„Ich hätte gern ein Bad genommen. Kann ich das auf dem Zimmer bekommen?“
„Wenn Königli… äh … Sie es wünschen, jederzeit.“
„Dann lassen Sie es mir bitte in einer halben Stunde richten und setzen Sie es mit auf die Rechnung.“
„Jawohl“
Der katzbuckelnde Wirt war dem Prinzen regelrecht zuwider. Aber die Öligkeit gegenüber Fräulein Haldenstein war ihm geradezu unheimlich. Das Mädchen hatte richtig unglücklich ausgesehen, als sie den Zimmerschlüssel genommen hatte. Anscheinend befand sie sich in einer Zwangssituation. Wenn es diese Passierscheine nur für einen bestimmten Personenkreis legal gab, zu dem sie nicht gehörte und der Schein nicht gestohlen war – erpresste vielleicht jemand die junge Frau? Viel Geld war nach der Schließung der Praxis gewiss nicht zu holen, aber Simone Haldenstein war ein hübsches Mädchen. Da konnten ganz andere Dinge oben auf der schier unerschöpflichen Forderungsliste eines Erpressers stehen …
Alexander bekam das Zimmer 7, gegenüber dem Zimmer der so unglücklichen jungen Dame. Das Hotel war ein altes Haus, dessen Wände und Türen recht dürftig waren. Jedes etwas lautere Geräusch aus den Nachbarzimmern war zu hören. Alexander packte seine Sachen nur soweit aus, als er am Abend Kleidung brauchte. Dann erschien der Hoteldiener und richtete ihm das Bad. Er hatte sich gerade eingeseift, da hörte er einen heftigen Wortwechsel von gegenüber, der ihn aufmerksam machte:
„Wie? Sie wollen nicht? Das ist aber ganz gegen unsere Abmachung. Passierschein gegen Sie, Fräulein Haldenstein. Aber bitte, wenn Sie nicht wollen – mein Vater sitzt ja nicht. Aber Ihre Schulden werden Sie noch bezahlen, Fräuleinchen!“
„Ich kann nicht mehr, Herr von Drechselberg. Lassen Sie mich endlich in Ruhe!“
„Ho, wo werd’ ich denn? So einen Leckerbissen bekommt man nicht alle Tage. Außerdem schulden Sie es mir!“
Ein erstickter Ruf, der als:
„Hilfe!“, zu deuten war, ließ Alexander keine Sekunde länger im Bad bleiben. Er sprang aus der Wanne, trocknete sich oberflächlich ab, warf sich den Bademantel über und stürzte nach Gegenüber. Er kam gerade zurecht, um einen älteren Mann an einer Vergewaltigung zu hindern. Alexander riss ihn grob von seinem Opfer weg, verpasste ihm rechts und links schallende Ohrfeigen, schleppte ihn am Schlafittchen in den Flur und versetzte ihm einen Fußtritt, der den Lümmel die Treppe hinunterwarf.
„Wenn ich Sie je wieder dabei erwische, dass Sie einer Dame an die Wäsche wollen, Herr von Drechselberg, sind Sie die längste Zeit der Kommandant vom Palparuva-Gefängnis gewesen!“, rief er hinterher. Von Drechselberg rappelte sich am Fuß der Treppe auf und sah zornig hinauf. Zu seinem Schrecken erkannte er Prinz Alexander von Wengland. Er erbleichte.
„Jawohl, Königliche Hoheit! ‘S wird nicht wieder vorkommen. Ganz gewiss nicht.“
Alexander blieb oben an der Treppe stehen.
„Wo der Ausgang ist, wissen Sie hoffentlich!“, knurrte er.
„Ja, ja“, buckelte von Drechselberg. Unter vielen Verbeugungen machte er sich auf den Rückzug, bekam schließlich das Laufen und rannte aus dem Hotel, als sei Luzifer persönlich hinter ihm her. Die Tür krachte hinter ihm ins Schloss.
Der Wirt sah verstohlen hinauf.
„Ich glaube, Herr Wirt, wir haben nachher noch ein Wörtchen miteinander zu reden“, knurrte Alexander den erbleichenden Wirt an. Offensichtlich hatte das Treffen mit dessen Billigung stattgefunden. Der Wirt buckelte untertänig.
Der Prinz machte kehrt und ging in den kleinen Flur zurück. Simones Zimmertür stand noch offen.
„Ist Ihnen etwas passiert?“, fragte er in das Zimmer hinein, ohne es zu betreten. Sie schüttelte nur schluchzend den Kopf und wagte nicht, aufzusehen.
„Es ist gleich sechs. Darf ich Sie bitten, beim Abendessen mein Gast zu sein?“, fragte er höflich an. Sie schüttelte heftig den Kopf.
„Einmal am Tag reicht“, erwiderte sie schluchzend.
„Na gut. Beruhigen Sie sich erst einmal. Versprechen Sie mir nur, dass Sie überhaupt etwas essen.“
„Ich danke Ihnen für Ihr beherztes Eingreifen, Herr von Steinburg. Aber, bitte – lassen Sie mich jetzt allein.“
Alexander nickte schweigend, schloss leise die Tür und ging in sein eigenes Zimmer. Zunächst setzte er sein unterbrochenes Bad fort, rasierte sich noch und zog sich wieder seinen zivilen Sommeranzug an.
Bevor er sich zum Essen setzte, nahm er sich den Wirt vor:
„Wenn ich mich recht erinnere, Herr Wirt, ist es in Wengland nicht erlaubt, unverheirateten Paaren oder Einzelpersonen ein Doppelzimmer zu vermieten!“, sagte er so leise, dass es außer dem Wirt niemand hören konnte.
„Nein“, bestätigte der Wirt.
„Und trotzdem haben Sie Fräulein Haldenstein ungefragt ein Doppelzimmer vermietet?“
„Wo… woher wi… wi… wissen Sie das?“, stotterte der Wirt.
„Weil ich vor einer halben Stunde Herrn von Drechselberg aus einem Doppelzimmer geholt habe, wo er offensichtlich dabei war, Fräulein Haldenstein Gewalt anzutun! Das Gebrüll muss doch bis in die Gaststube gedröhnt haben!“
Der Wirt suchte nach einem Mauseloch, in das er verschwinden konnte, aber Alexander packte ihn und hielt ihn fest.
„Wenn Sie zum Ausgleich Ihrer Mittäterschaft Fräulein Haldenstein diesmal das Zimmer, Nachtessen und Frühstück kostenlos in Anspruch nehmen lassen, verzichte ich darauf, die Sache an die große Glocke zu hängen. Außerdem zähle ich auf Sie, dass Fräulein Haldenstein hier stets ein sauberes Einzelzimmer bekommt, wenn sie auf der Durchreise ist. Verstanden?“
„J… ja, Königliche Hoheit“, jammerte der Wirt.
„Gut. Und nun bekommen Sie wieder Contenance und servieren Sie mir das Abendessen.“
Der Wirt nickte nur.
Alexander betrat die Gaststube, suchte sich einen Tisch, wo niemand hinter ihm sitzen konnte und er den Raum gänzlich im Blickfeld hatte. Seit er in den USA gearbeitet hatte, wo die Sitten unter den Eisenbahnleuten manchmal recht rau waren, hatte er sich das zur Gewohnheit gemacht. Der Wirt bot ihm eifrig den als Menü auf der Speisekarte stehenden Kalbsbraten mit Knödeln und Kraut an.
„Dazu ein Dunkelbier?“, fragte er unsicher. Alexander nickte lächelnd. Der Wirt atmete auf, ging in Richtung Küche und wischte sich den Angstschweiß ab, wobei er hoffte, dass der Prinz es nicht bemerkte.
Kurz nachdem er Alexander die Suppe serviert hatte, kam Fräulein Haldenstein in die Gaststube. Unschlüssig blieb sie an der Tür stehen. Ihr bisheriger Reisegefährte saß allein im Gastraum. Zögernd lenkte sie ihre Schritte zu ihm.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte sie vorsichtig. Er legte sofort den Löffel weg, stand auf und schob ihr einen Stuhl zurecht.
„Selbstverständlich“, sagte er. Höflich rückte er den Stuhl wieder hin, als sie sich setzte.
„Dem Wirt habe ich die Ohren langgezogen. Sie haben für diesmal freie Kost und Logis“, sagte er dann. Sie sah ihn erschrocken an.
„Und für die nächsten Besuche bei Ihrem Herrn Vater haben Sie hier ein Einzelzimmer“, setzte er grinsend hinzu.
„Sie wissen, was mich diese Passierscheine gekostet haben. Was ist Ihr Preis, Herr von Steinburg?“, fragte sie leise, dennoch ätzend.
„Ob Sie es glauben oder es bleiben lassen: Für Sie tue ich das umsonst“, erwiderte er mit einem ebenso sanften wie verführerischen Lächeln.
„Danke, aber meine Quelle für die Passierscheine ist durch Ihr Eingreifen leider versiegt.“
Alexander schüttelte den Kopf.
„Sie werden die Erlaubnis bekommen. Auch kostenlos.“
„Warum tun Sie das?“, fragte sie. Es klang beinahe verzweifelt.
„Ich hasse nichts mehr als Ungerechtigkeit und Ausnutzerei“, erklärte er. Der Wirt kam.
„Darf ich servieren?“, fragte er beflissen.
„Ja“, sagte Alexander. „Das Menü bitte auch für Fräulein Haldenstein.“
„Sehr wohl.“
Der Wirt beeilte sich, in die Küche zu kommen. Simone war völlig überrascht.
„In den letzten Monaten ist mir mancher Mann begegnet: Die Polizisten in Steinburg, die Beamten der Staatsanwaltschaft, der Direktor vom Gefängnis. Alle wollten für den kleinsten Gefallen einen hohen Preis. Jemand wie Sie ist mir noch nicht begegnet.“
Er war mit der Suppe fertig und schob die leere Tasse beiseite.
„Zeigen Sie mir mal den Passierschein?“, bat er. Sie suchte in ihrer Handtasche und reichte ihm den Ausweis. Es war eine formlose Erlaubnis, das Gefängnistor passieren zu dürfen, unterschrieben von Oberst Edgar von Drechselberg – im Auftrag Seiner Majestät, König Wilhelm I. von Wengland. Alexander lächelte. So einen Wisch konnte er auch unterschreiben, sogar mit größerer Vollmacht.
„Ich brauche nur ein gewöhnliches Stück Papier, eine Schreibfeder, ein paar Tropfen Tinte und etwas Siegellack“, sagte er. „Dann haben Sie einen Passierschein, den Sie nicht zu erneuern brauchen.“
Die junge Frau sah ihn ungläubig an.
„Wer sind Sie, dass Sie solche Erlaubnisse geben können?“
„Jemand, der solche Vollmacht hat“, gab er nebulös zurück.
„Wenn man das nicht glaubt, auf wen kann ich mich dann berufen?“
„In Behördenkreisen, vor allem ganz oben in den Behörden, löst der Name von Steinburg durchaus heftiges Buckeln aus“, lächelte der Prinz freundlich. Simone kam nicht dazu, etwas zu erwidern, weil der Wirt ihre Suppe und Alexanders Hauptgang servierte. Als der sich wieder entfernt hatte, bohrte sie weiter:
„Guter Gott, wer sind Sie?“
„Warum ist Ihnen das so wichtig?“
„Weil ich keinen Reinfall erleben will“, erklärte sie.
„Das werden Sie auch nicht“, versprach er.
„Dann, bitte – wer hat Ihnen solche Vollmacht gegeben? Ich muss es wissen!“
„Gut“, sagte er. „Aber legen Sie bitte den Löffel weg und schlucken Sie erst herunter.“
Sie tat wie ihr geheißen, dann sah sie in seinen Pass.
„Fallen Sie mir bloß nicht in Ohnmacht“, warnte er, als er ihre schreckgeweiteten Augen sah.
„Oh, gute Güte! Jetzt begreife ich!“, sagte sie langsam. Die Suppe wollte nicht mehr rutschen.
„Fräulein Haldenstein – Ihre Suppe wird kalt!“, erinnerte er grinsend.
„Ich bin verwirrt, Königliche …“
„Halt – Von Steinburg ist völlig ausreichend!“
„Sie legen keinen Wert auf korrekte Betitelung?“ fragte sie erstaunt.
„Was soll’s? Der Titel ist hohl und leer. Friedrich, mein ältester Bruder erbt Krone und Reich, Eberhard, der zweite, den Grafentitel. Für einen dritten Sohn war kein Titel mehr drin. Ich habe nur Geld zu erben. So beschränke ich mich auf das kleine von, arbeite für meinen Lebensunterhalt und lege meine Apanage zinsbringend an.“
„Aber Ihre Unterschrift scheint mehr wert zu sein, als Sie mich jetzt gerade glauben machen wollen“, lächelte Simone etwas gelöster.
„Je nun, es ist nicht abzustreiten, dass ich ein Prinz des Königreichs Wengland bin. Was solche Erlaubnisse anbelangt, sind alle Prinzen gleichberechtigt – ob thronerbend oder nicht. Das hat König Ulrich so im Codex Rex Wenglandia so festgelegt. Und auf den und die Bibel haben alle wenglischen Könige und Grafen ihre Amtseide abzulegen.“
Simone zügelte für die Dauer des Essens ihre Neugier.
„Meine Güte, bin ich satt!“, pustete sie danach.
„Wie wäre es mit einem Verdauungsspaziergang?“, schlug Alexander vor. Die Wahl, mit allen offenen Fragen und einem überfüllten Magen ins Bett zu gehen, oder einen Spaziergang mit ihrem Gegenüber zu unternehmen, bei dem man auch reden konnte, fiel der jungen Frau nicht schwer. Sie nahm dankend an. Dass der freundliche Mann jetzt statt der Uniform einen leichten, zivilen Sommeranzug trug, erleichterte ihr die Wahl zusätzlich.
Alexander wollte ihr eigentlich den Arm bieten, verbot sich diese Freiheit aber, weil er dieses scheue Reh nicht verschrecken wollte. Sie spazierten die Dorfstraße von Bravadur entlang, während hinter den schroffen Felsen im Westen gerade die Sonne unterging. Die im Osten befindlichen Berge wurden in rotgoldenes Licht getaucht.
„Sagen Sie, was treibt einen königlichen Prinzen, der von seiner Apanage in Saus und Braus leben könnte, dazu, einen Beruf zu erlernen und richtig zu arbeiten?“, fragte sie nach einer Weile, die sie schweigend gegangen waren.
„Schier unstillbarer Wissensdurst. Man kann zwar alles in der Theorie erlernen, aber ob man es wirklich weiß, zeigt einem erst die Praxis. In einer Vorlesung an der Militärakademie hörte ich von der militärischen Nutzbarkeit der Eisenbahn, und davon, dass das in den USA im gerade zu Ende gegangenen Bürgerkrieg bereits praktisch erprobt worden war. Mit einer Militärdelegation konnte ich die USA im Sonderauftrag Seiner Majestät bereisen. Das Land und die Leute gefielen mir. Nach meinem Militärdienst habe ich in Wachtelberg Vermessungstechnik studiert, habe mein Diplom gemacht und dann zunächst beim Topographischen Amt in Steinburg Landkarten gezeichnet. Nach einem halben Jahr im Topographischen Amt nahm ich Kontakt mit einem General Dodge auf. Dodge war Bauleiter bei der Union Pacific Railroad, einem privatwirtschaftlichen Unternehmen, das einen Teil der transkontinentalen Eisenbahn bauen sollte. Einen Landvermesser konnte er gut gebrauchen. Ein Jahr habe ich für die Union Pacific Strecken vermessen. Leider haben die Amerikaner nur auf Schnelligkeit, aber nicht auf Qualität gesetzt. Die Union und die Central Pacific bauten gleichzeitig an der Strecke. Es gab aber keinen vereinbarten Treffpunkt. Weil die Regierung den Eisenbahngesellschaften das Land am Rand der Strecke praktisch schenkte, wollte jeder so weit wie nur irgend möglich kommen und dem Konkurrenten so wenig Land wie möglich überlassen. Also wurde schnell-schnell gebaut – aber eine solide Bauweise war’s nicht. Beim Bau lernte ich einen Schweizer kennen, der mir vom geplanten Bau einer Eisenbahn im Raum Gotthard-Pass erzählte. Dann bekam ich auch noch ein lukratives Angebot aus Andermatt über die Universität Wachtelberg. Die Gotthard-Bahn suchte über die Physikalischen Fakultäten aller möglichen Hochschulen nach Ingenieuren. Ich bin in die Schweiz gegangen, habe auch dort gut ein Jahr gearbeitet. Und dann bekam ich eine Depesche, dass ich zu Hause dringend gebraucht werde. Leider“, erzählte Alexander.
„Sie füllen meine Vorstellung von einem Königssohn so überhaupt nicht aus“, sagte Simone.
„Wie müsste der nach Ihrer Ansicht sein?“
„Adlig eben.“
„Aha. Und wie ist adlig?“, hakte Alexander nach.
„Adel ist hochnäsig, schottet sich vom Volk ab, geht zur Jagd, feiert einen rauschenden Ball nach dem anderen, vergeudet Geld, schmückt sich mit Gold, Silber, Edelsteinen, Säbel, Uniform und edlen Pferden“, gab sie ihre Vorstellung preis. Er antwortete nicht gleich.
„Stimmt’s?“, bohrte sie.
„Ja, Sie haben Recht. Ein großer Teil meiner Standesgenossen hat diese Dinge aus einer anderen Zeit herübergerettet. Ich weiß aber auch, dass Wenglands Könige und Fürsten immer sehr nah am Volk waren. Unsere größten Könige, Martin II. und Ulrich I., waren nicht nur Ritter, sie waren auch Gelehrte. Beide haben sich nicht gescheut, für Geld im Ausland zu arbeiten, bevor sie regieren konnten. Beide haben bemerkenswerte Bücher geschrieben. Martin eins über Astronomie und eines über Heilkunst, Ulrich hat als geradezu geborener Jurist den Codex Rex Wenglandia hinterlassen, ein Gesetzbuch, das noch heute als beispielhaft gilt und in Wengland mit unbedeutenden Änderungen immer noch gültig ist. Fürst Wolf war auch so ein verkappter Professor. Er hatte nur das Pech, dreißig Jahre Krieg mitmachen zu müssen und war deshalb im Wesentlichen Soldat. Aber in seiner knappen Freizeit, wenn ich das so nennen darf, hat er ein Buch über Landwirtschaft, Lagerhaltung und Gemeindeverwaltung geschrieben. Das gilt auch heute noch als Maßstab in Wengland“, sagte Alexander. „Gewiss gilt der Adel als Müßiggänger schlechthin, aber ich glaube, das ist nur bedingt wahr.“
„Welcher Fürst arbeitet schon für seinen Lebensunterhalt?“, fragte Simone mit spöttischem Unterton.
„Oh, Arbeit kann man auf zweierlei Weise verstehen: Arbeit mit der Hand und Arbeit mit dem Kopf. Ein Schmied, zum Beispiel, arbeitet sicher mit der Hand; ein Advokat, da werden Sie mir Recht geben, mit dem Kopf.“
Fräulein Haldenstein nickte.
„Wenn Sie beide Formen der Arbeit als Arbeit akzeptieren, gibt es durchaus Fürsten, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Nämlich die, die ihre Ländereien selbst verwalten oder ihre Unternehmen eigenhändig führen. Zweifelsohne gibt es auch eine Menge Adliger, die die Geschäfte angestellten Verwaltern überlassen und selbst nur von den Zinsen ihres Geldes leben – wobei sie nicht fragen, woher das Geld kommt“, erklärte Alexander.
„Finden Sie das richtig?“
„Nun, ich denke, man kann niemanden für die Verhältnisse verurteilen, in die er hineingeboren wird. Große Vermögen fallen nicht vom Himmel. Irgendwer hat sie zusammengetragen und seinen Erben hinterlassen, weil er das Geld nicht durchs Himmelstor bekam. Aber dafür kann man den Erben nicht beschimpfen.“
„Den Erben wohl nicht, aber den Erblasser“, versetzte sie. „Oder den Gesetzgeber, der zulässt, dass es überhaupt Erbe gibt.“
Alexander schmunzelte. Zufällig war ihm bekannt, dass Dr. Haldenstein seine Arztpraxis vom Vater finanziert bekommen hatte, weil sein Vorgänger in besagter Praxis Leibarzt des Königs geworden war und für seinen Patientenstamm und die Einrichtung eine wahrhaft königliche Ablöse gefordert hatte.
„Dann sollte mir einer erklären, wie Ihr Vater dann zu seiner Praxis gekommen ist. Vom Himmel ist sie bestimmt nicht gefallen.“
„Mein Großvater hat hart arbeiten müssen, damit mein Vater studieren konnte und die Praxis eröffnen konnte.“
„Demzufolge hat sich Ihr Vater die Praxis nicht allein erarbeitet, sondern von seinem Vater das Geld bekommen – oder geerbt, oder?“
Simone wurde rot bis unter die Haarwurzeln.
„Stimmt“, bestätigte sie kleinlaut. „Wissen Sie“, fuhr sie dann fort, „wir beide haben das große Glück gehabt, in reiche Familien hineingeboren zu werden. Sie konnten studieren, weil Ihr Vater das Schulgeld hatte. Es gibt Leute, die sind so arm, dass sie ihre Kinder nicht einmal in die Schule schicken können. Entweder weil das Schulgeld fehlt, oder weil die Kinder schon mit für das Überleben sorgen müssen. Die Sozialisten wollen das ändern und fordern kostenlose Schulen. Was halten Sie davon?“
„Viel. Bildung ist etwas, was jedem offenstehen sollte.“
Die junge Frau blieb verblüfft stehen.
„Wie bitte?“
„Ich sagte, dass Bildung jedem offenstehen sollte. Ich befürworte kostenlose Schulen“, wiederholte der Prinz.
„Sie verwirren mich.“
„Liebes Fräulein Haldenstein, ich bin vielleicht eine Ausnahmeerscheinung meines Standes. Das weiß ich. Es gibt mehr als genug Adlige, die meinen, Bildung sei ein Privileg der oberen Klassen. Ich halte das für Quatsch.“
„Leider sind nicht Sie, sondern Friedrich der Thronfolger“, seufzte Simone. „Es gibt eine Menge Leute in Wengland, die Ihre Brüder nicht mögen.“
„Wenigstens auf Fritz bezogen, verstehe ich es nicht. Er hat ein recht umfangreiches Programm von Reformen vor, die im Wesentlichen auf die Verbesserung der Situation der Ärmeren zielen. Aber ich weiß um die Wahrheit Ihrer Worte. Leider kann ich es nicht ändern, denn die Erbfolge ist geregelt – und da stehe ich weit hinten. Abgesehen davon wäre es nicht gesichert, dass ich im Volk beliebter wäre, wäre ich der Kronprinz.“
„Aber Sie können mit ihren Brüdern reden.“
„Schon. Die Sache hat nur das kleine Häkchen, dass eben der kleine Bruder bin, noch dazu so ein unmöglicher Mensch, der ganz unadelig am Theodoliten steht und die Welt durch die Optik betrachtet.“
„O weh! Hat Sie das aus Wengland fortgetrieben?“
„Nein“, widersprach der Prinz, „ich war einfach neugierig.“
Sie hatten kehrt gemacht und das Posthotel wieder erreicht. Am Empfang bestellte er Siegellack, Feder und Tinte. Dann stellte er der Arzttochter einen Passierschein für die Dauer der Haft ihres Vaters aus.
„Sollten Sie trotzdem Probleme haben, wenden Sie sich an mich. Notfalls versuche ich, einen offiziellen Passierschein von meinem Bruder zu bekommen“, sagte er dazu.
„Es mag unverschämt von mir sein – aber meinen Sie dass es möglich wäre, die Haftberechtigung für meinen Vater zu überprüfen?“
„Ich will sehen, was sich machen lässt. Versprechen kann ich es nicht.“
Als sie ihm heimlich den Zimmerschlüssel zuschieben wollte, hinderte er sie vorsichtig.
„Es liegt nicht am Preis, Fräulein Haldenstein. Es liegt nur daran, dass ich nicht selbst der Chef der Polizei bin – oder der König, der Ihren Vater mit einem Federstrich zum freien Mann machen könnte.“
Als sie am folgenden Tag nach Martinskirchen weiterfuhren, saßen noch zwei weitere Personen in der Kutsche, was ein vertraulicheres Gespräch zwischen Alexander und Fräulein Haldenstein verhinderte. Auch auf der dritten Etappe nach Steinburg waren noch zwei Ohren zu viel an Bord.
Am Abend des dritten Tages, nachdem sie Palparuva verlassen hatten, erreichte die Kutsche die Poststation von Steinburg. Das Hauptpostamt von Steinburg lag kaum dreihundert Fuß von der Auffahrt zur Steinburg entfernt. Der Postillion hielt den Wagen genau vor dem Hauptportal der Post an.
„Steinburg, Hauptpost! Endstation! Alles aussteigen!“, rief der Fahrer. Alexander stieg aus und half Simone aus dem Fond. Der Postillion gab das Gepäck vom Wagendach herunter.
„Soll ich Ihnen einen Handwagen besorgen?“, fragte er. Simone schüttelte den Kopf.
„Danke, nicht nötig, Herr von Steinburg. Ich wohne hier um die Ecke“, erwiderte sie.
„Es ist schon dunkel. Soll ich Sie begleiten?“
„Nein, danke, wirklich nicht“, wehrte sie ab. Alexander verbeugte sich und verabschiedete sich mit einem höflichen Handkuss von ihr.
„Leben Sie wohl, Fräulein Haldenstein. Es war ein Vergnügen, mit Ihnen reisen zu dürfen.“
„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Herr von Steinburg“, erwiderte sie, leicht errötend. „Sie sagten, ich könne mich an Sie wenden, wenn …?“
„Sie sehen die Burg da drüben?“
„Ja“
„Ich werde beim Kastellan hinterlassen, dass Sie Zutritt haben. Der Kastellan wird mich holen. Im Besucherhaus können Sie mich jederzeit sprechen“, versprach er.
„Danke. Ich hoffe, ich muss Ihr freundliches Angebot nie annehmen, Herr von Steinburg.“
„Sie haben immer noch Angst, ich könnte einen Preis verlangen“, stellte der Prinz fest. „Nein, Fräulein Haldenstein, ich verlange keinen Preis“, bekräftigte er dann.
„Danke, Herr von Steinburg“, sagte sie leise und war schon fort, bevor er noch etwas sagen konnte.
A A A
Kapitel 4
Überraschungen
König Wilhelm studierte die Neuigkeiten des Tages, als der Kammerdiener ihm die Ankunft des Generals von Aschewerth und des Prinzen Alexander von Wengland meldete.
„Lassen Sie sie ‘rein!“, wies der König ihn an. Der Diener ließ die Gemeldeten ein, die in voller Uniform eintraten und sich wie befohlen zur Stelle meldeten.
„Danke, meine Herren“, nahm der König die Meldung entgegen. „General, ich brauche Sie im Augenblick nicht“, verabschiedete er Von Aschewerth. Der General knallte zackig die Hacken zusammen und marschierte aus dem Raum. König Wilhelm blieb vor seinem Jüngsten stehen.
„Willkommen zu Hause, mein Junge“, sagte er. Er hatte sich nicht eingestehen mögen, dass er ihn sehr vermisst hatte. Vater und Sohn begrüßten sich herzlich.
Als Alexander auf Verlangen seines Vaters von seinen Erlebnissen der letzten zwei Jahre erzählt hatte, fragte der junge Mann nach dem Grund, weshalb man ihn geholt habe.
„Genügt es dir nicht, dass deine Eltern einfach Sehnsucht nach dir hatten?“, fragte Wilhelm lächelnd. Alexander zog die Depesche aus der Tasche.
„Diese Depesche war sicher nicht Mamas Idee. Das hat Von Aschewerth mir telegrafiert. Wenn es nur eure Sehnsucht gewesen wäre, hätte er mich nicht in Uniform herbestellt und mir in einer zweiten Depesche mitgeteilt, ich solle meine Arbeit aufkündigen. Also?“
Wilhelm seufzte ertappt.
„Wir hatten Befürchtungen, du würdest nicht kommen. Von Aschewerth hat sicher die Brandmethode angewandt. Aber er war jedenfalls erfolgreich.“
„Papa, du weißt, dass ich nach der Staudammgeschichte lieber weit weg war. Ich bin nur ungern heimgekommen – und nur, weil ich ganz offensichtlich als Reservist einberufen wurde. Ich schätze diese Methode überhaupt nicht. Meine Arbeit hat mir nämlich ausgesprochen gut gefallen!“
„Alex – die Staudammaffäre ist ausgestanden. Außerdem habe ich dich gerade wegen deiner letzten Tätigkeit suchen lassen. Ich will ein Eisenbahnnetz in Wengland aufbauen.“
Alexander schluckte heftig. Mit sämtlichen kriegerischen Verwicklungen hatte er gerechnet, aber keinesfalls mit der Möglichkeit, seine eigentliche Arbeit weitermachen zu können.
„Holla, hoffentlich überschätzt du mich nicht, Papa“, bremste er.
„Mein Sohn, du bist Diplomingenieur der Vermessungstechnik“, erinnerte Wilhelm.
„Ja, aber um eine Eisenbahn zu bauen, braucht es nicht nur jemanden, der das Land vermisst, sondern auch Planungsfachleute, die dir die Kosten berechnen, Bauingenieure, die das technisch ausführen, was sich die Planer ausdenken; du brauchst ein Heer von Trasseuren, Schwellen- und Schienenlegern – und irgendwann einmal Eisenbahnpersonal, das die Züge rangiert und fährt, für den Fahrkartenverkauf sorgt und die Kontrolle übernimmt. Zuallererst sind aber noch Geologen notwendig, die die Bodenbeschaffenheit prüfen, Holzfäller, die die Schwellen herstellen und für Unterkünfte an der Baustelle sorgen, Sprengmeister, die die Wege durch die Berge graben – und so weiter und so fort“, warnte Alexander. Der König nickte.
„Stimmt. Du hast die nötigen Kontakte, schließlich hast du zwei Jahre Erfahrung. Bevor du mit dem Vermessen anfängst, wäre es gewiss von Vorteil, dass du dir die Leute anwirbst, die du brauchst. Das Projekt Königlich Wenglische Eisenbahn wird unter deiner Leitung stehen. Die Löhne sollten gut sein, aber im Rahmen des üblichen bleiben.“
„Ich hoffe, ich finde dafür Leute. Alle Welt baut Eisenbahnen. Gute Leute sind nur mit fetten Prämien zu ködern.“
Alexander griff in die Innentasche seiner Uniformjacke und förderte ein dreiseitiges, gebundenes Dokument zutage, das er seinem Vater gab.
„Hier, das ist mein Vertrag mit dem Kanton Uri.“
Wilhelm betrachtete die Summen.
„Wie viel ist ein Schweizer Franken in der Umrechnung etwa?“
„Etwa so viel wie ein Silbergulden“, antwortete Alexander. Der König nickte.
„Die Größenordnung ist vertretbar. Such’ dir deine Leute.“
„Hast du einen Zeitplan?“
„Zur Tausend-Jahr-Feier hätte ich gern eine Verbindung durchs ganze Land, wenn es möglich ist.“
„Militärische oder zivile Priorität?“
„Beidseits verwendbar.“
„Also auf jeden Fall Richtung Aventur und Breiten-stein. Gut. Ausländer zugelassen?“
Der König nickte.
„Schweizer ja“, bestätigte er. „Bei anderen Ausländern denk’ bitte daran, dass Wengland im verborgenen Zustand ist. Es dürfen dann nur absolut vertrauenswürdige Leute sein, die schwören, dass sie die Lage dieser Region nie verraten werden – oder von so weit herkommen, dass deren Heimatländer keine Gefahr für uns darstellen“, setzte er hinzu.
„In Ordnung. Ich brauche vielleicht Leute, die fachliche Kapazitäten sind, die aber politisch als unzuverlässig gelten“, schob der Prinz ein. In Gedanken sah er Dr. Haldenstein als Betriebsarzt der Königlich Wenglischen Eisenbahn.
„Hol dir, wen du brauchst.“
„Ich kann keine Schnüffler gebrauchen. Geheimpolizisten sähe ich ungern in meinem Haufen.“
„Wenn du deine Leute von Dummheiten abhältst, in Ordnung. Wenn nicht, muss ich sie überwachen lassen.“
„Kommt drauf an, wo du Dummheiten ansetzt. Wenn unvorsichtige Äußerungen dazugehören, sehe ich mich nicht in der Lage, ordentliche Arbeit abzuliefern. Ich will gern dafür sorgen, dass es keine Bombenanschläge gibt oder sonstige Mordpläne ausgeheckt werden. Aber sonst …“
„Gut, das ist akzeptabel. Keine Geheimpolizei. Such deine Leute und fang an.“
Trotz des dringenden Eisenbahnwunsches seines Vaters nahm Alexander sich zwei Tage für die Familie Zeit. Seine Mutter war überglücklich, ihren jüngsten Sohn endlich wieder daheim zu haben.
„Alex! Gott sei Dank, du bist wieder zu Hause!“, entfuhr es Königin Annette, als Alexander sie besuchte. Als seine Mutter ihn umarmte, bemerkte der Prinz, wie sehr er seine Eltern und Brüder in seinem selbstgewählten Arbeitsexil vermisst hatte.
„Du bleibst doch hoffentlich jetzt hier“, stellte die Königin fest.
„Es sieht so aus. Vater hat mich gebeten, eine Eisenbahn zu bauen. Es ist schön, wieder daheim zu sein.“
Alexander bezog wieder seine Zimmer in der Steinburg. Zunächst machte er sich eine Liste mit den dringendsten Erfordernissen, die er dann abarbeitete. Eines dieser Erfordernisse war, Simone Haldenstein zu besuchen und ihr mitzuteilen, dass es wohl eine Möglichkeit gäbe, ihrem Vater zu helfen. Ein anderes Erfordernis war, das Schlossarchiv nach dem Namen Haldenstein zu durchforsten. Alexander erledigte dies als Erstes, da es räumlich am nächsten lag. Irgendwie hatte er die Idee gehabt, Dr. Simon Haldenstein könnte mit dem Baron Julius von Haldenstein verwandt sein. Der Name war in Wengland nicht häufig. Außerdem hatte er auf Simones Koffer einen hakendurchsteckten Fisch entdeckt. Das wäre nichts Unnormales gewesen, da fast jede Familie in Wengland ein Wappen führte – aber Simon Haldenstein war Sozialist, und seine Tochter war es auch. Was Alexander unter dem Namen Haldenstein und dem Wappen fand, ließ ihn laut auflachen.
‚Wenn der gute Dr. Haldenstein das wüsste …!’, dachte er. Vielleicht wusste er auch und verschwieg es nur … In Alexanders Kopf reifte neben den Eisenbahnplänen seines Vaters noch eine weitere Idee, die mit Eisenbahn und Vermessungstechnik bestenfalls am Rande zu tun hatte.
Eine Woche nach seiner Ankunft in Steinburg hatte Alexander an den schweizerischen Planungsfachmann Ueli Gasser in Zürich telegrafiert und nach einem Geologen gesucht, der mit ihm die mögliche Streckenführung und eventuellen Ausweichrouten bereisen sollte, um entsprechende Untersuchungen durchzuführen. Von der Universität Wachtelberg bekam er einen Geologen genannt, bei dessen Nennung Alexander sich vor Ärger über sich selbst vor den Kopf schlug. Die Universität empfahl ihm den Diplom-Geologen Andreas Ettinger. Wie hatte er den nur vergessen können! Schließlich waren sie Schulfreunde gewesen und hatten danach – wenn auch in verschiedenen Studiengängen – gemeinsam in Wachtelberg studiert.
Aber zunächst nahm er sich Zeit, um die Tochter seines Hausarztes aufzusuchen. Da es mittags um halb eins war, trug er Uniform. Sein Vater – selbst Wenglands größter Uniformträger – hatte es einfach abgelehnt, ihn aus seiner Reservisteneinberufung zu entlassen. Ohne diese Erlaubnis des Königs hatte ein Reservist zwischen sechs Uhr früh und sechs Uhr abends gefälligst Uniform zu tragen! Also ging Alexander in Uniform zum Haldenstein’schen Hause. Eine alte Frau, die sich als Haushälterin vorstellte, wies ihn ab.
„Fräulein Haldenstein ist nicht zu Hause. Uniformierte empfängt sie ohnehin nicht.“
„Würden Sie ihr denn etwas ausrichten?“
Die Alte nickte brummig.
„Sagen Sie ihr bitte, ich hätte eine Möglichkeit gefunden, ihrem Vater eventuell behilflich zu sein“, trug er der Haushälterin auf. Sie sah sich schnell um, dann winkte sie den jungen Mann näher heran.
„Gehen Sie ins Wirtshaus Zum Hirschen“, sagte sie geheimnisvoll. Er tat, wie ihm geheißen.
Im Wirtshaus platzte er in eine politische Versammlung der Sozialisten. In seiner grünen Uniform fiel Alexander sofort auf.
„Schmeißt den Stiefellecker ‘raus!“, brüllte jemand im Saal. Ehe er sich’s versah, hatten ihn einige muskelbepackte Arbeiter ergriffen und wollten ihn hinauswerfen, als Simone Haldenstein eher zufällig auf den Tumult am Eingang aufmerksam wurde.
„Moment, Genossen, wartet“, rief sie. Die Arbeiter hielten den Prinzen so fest, dass er sich nicht einmal bewegen konnte. Simone kam die Treppe zum Eingang herauf.
„Herr von Steinburg!“, wunderte sie sich. „Lasst ihn los, Genossen!“, forderte sie dann.
„Was, das Nutznießerschwein loslassen? An die Wand gehört der Monarchistenlump!“, grunzte einer der Vierschrötigen.
„Er hat mir geholfen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Bitte, lasst ihn los.“
Zögernd ließen die bulligen Männer den Uniformierten los. Alexander zupfte sich den Rock zurecht, staubte die steife Mütze ab, die bei der Rangelei zu Boden gegangen war.
„Danke. Ihre Genossen hätten mich beinahe zerrissen, Fräulein Haldenstein. Ich glaube, ich habe eine Möglichkeit gefunden, Ihrem Vater aus dem Gefängnis zu helfen.“
„Glauben Sie, oder haben Sie?“, fragte Simone interessiert. Die vierschrötigen Kerle verzogen sich nach unten zum Bühnenvorraum. Nur einer blieb am Kopf der Treppe stehen.
„Ich soll im Auftrag des Königs eine Eisenbahn durch Wengland bauen – und da brauche ich doch einen guten Arzt!“, erklärte Alexander augenzwinkernd.
„Und Sie wollen …?“
„Ja, sicher. Der König hat mir zugesichert, dass auch Leute mitarbeiten können, die nach Regierungsauffassung politisch unzuverlässig sind. Sie müssen nur fachlich geeignet sein und sollten nicht zu Bombenanschlägen oder anderen Attentaten aufrufen oder sie selbst durchführen.“
Der Arbeiter am Kopfende der Treppe kam wieder zum Eingang. Er sah Alexander misstrauisch an.
„Und welchen Preis soll die Genossin dafür zahlen? Dein Bett ist weich, was?“, giftete er den Prinzen an. Der sah ihn verächtlich an.
„Sie sollten nicht von sich auf andere schließen, Genosse!“, entgegnete er kühl. Dem Mann war nicht nach Diskussion: Er holte aus und schlug zu, aber Alexander tauchte rechtzeitig weg, so dass der Schläger die leere Luft traf, das Gleichgewicht verlor und der Prinz ihn über sich hinweg in die Ecke befördern konnte. Der Rüpel blieb benommen liegen. Unten im Saal erhob sich gerade Jubel über eine Rede eines Zentralkomiteemitgliedes, so dass der Vorgang an der Tür unbemerkt blieb.
„Aber eines ist sicher, Fräulein Haldenstein: Ihr Vater wird der einzige Sozialist sein, den ich freiwillig bewusst einstelle. Guten Tag“, sagte der Prinz, zog höflich die steife Mütze, stieg über den am Boden liegenden Parteigänger hinweg und verließ das Wirtshaus.
Simone mochte das anscheinend pauschale Urteil über ihre Genossen nicht gelten lassen und eilte hinter ihm her.
„Herr von Steinburg! Warten Sie!“, rief sie ihm auf der Straße nach. Er blieb stehen.
„Ja?“
„Urteilen Sie nicht pauschal“, bat sie.
„Das tue ich nicht. Aber außer Ihnen gab es nicht einen Einzigen, der bereit gewesen wäre, diese Lümmel daran zu hindern, mich in Stücke zu reißen. Sie können nicht von mir erwarten, dass ich mich mit Leuten umgebe, die jeden überfallen, der in Uniform bei mir auf der Baustelle auftaucht, ohne zu fragen, weshalb er denn eigentlich gekommen ist. Wenn Sie jemanden kennen, der diese Wölfe bändigen kann, könnte ich ein paar davon wegen ihrer Körperkraft gut gebrauchen – aber sie müssen mich schon als Chef akzeptieren, ohne dass ich vorher mit ihnen Zweikämpfe ausgetragen habe. Mein Wort für Ihren Vater gilt ohne Vorbehalt.“
„Danke, Herr von Steinburg.“
„Das hatte ich Ihnen versprochen. Versprechen pflege ich zu halten.“
„Es tut mir Leid, was eben passiert ist“, sagte sie hilflos.
„Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Fräulein Haldenstein. Sie sind für die Handlungen Ihrer Genossen nicht verantwortlich.“
„Sie sind so freundlich, Herr von Steinburg. Wie kann ich das nur gutmachen?“
Alexander lächelte freundlich.
„Keinen Preis, schöne Dame!“, erinnerte er leise, nahm ihre Hand, zauberte einen höflichen Handkuss darauf und verabschiedete sich.
In den darauffolgenden vier Wochen bereiste er mit seinem Geologen Andreas Ettinger die in Frage kommenden Täler und Pässe. Andreas war ein Kommilitone des Prinzen und einer seiner besten Freunde. Ettinger stammte aus einer bitterarmen Familie. Sein Vater war Flickschuster. Das kleine Lädchen lag in unmittelbarer Nähe der Burg. So waren sich der Prinz und der Beinahe-Bettelmann schon als Kinder über den Weg gelaufen und Freunde geworden. Alexander hatte Geld, viel Geld. Da er sich selbst nichts zu kaufen brauchte, hatte er von seinem reichlichen Taschengeld für sich selbst nie etwas ausgegeben. Aber er hatte seinen Freund Andreas und dessen arme Familie unterstützt. Als die Frage aufkam, ob Andreas eine Schule besuchen konnte, hatte das königliche Taschengeld dazu gereicht, das Schulgeld zu finanzieren. Das Studium, das die beiden jungen Männer in Wachtelberg aufnahmen, bezahlte Alexander komplett von seiner dann schon laufenden Apanage. Ettinger fühlte sich zwar tief in Alexanders Schuld, aber von Rückzahlung der Ausbildungskosten wollte der Prinz nichts wissen.
Andreas hatte mit besonderem Eifer gelernt und galt als einer der besten Geologen Wenglands. Alexander hatte drei mögliche Routen auf einer Landkarte mit Bleistift eingetragen. Alle drei verliefen von Palparuva im Nordwesten über Steinburg nach Christophstein in der Provinz Aventur. Die Strecken wichen nur wenig voneinander ab. Sie liefen fast parallel durch Flusstäler. Diese Strecken hatten die Freunde nacheinander abgeritten, Andreas hatte Bodenproben genommen, tieferliegende Schichten seismologisch untersucht. Jetzt, nach Beendigung der Voruntersuchung, saßen sie wieder in Alexanders provisorischem Büro in der Steinburg und werteten die Ergebnisse ihrer Forschungen aus.
„Ich würde die Route Palparuva – Bravadur – Steinburg – Turmesch – Christophstein für die geologisch beste halten“, resümierte Andreas.
„Vermutlich auch die teuerste“, seufzte Alexander.
„Das ist nicht gesagt“, entgegnete Andreas. „Sicher, Granit ist ein hartes Ding. Es kostet bestimmt Geld, die nötigen Kunstbauten und Tunnel herzustellen. Aber auf den anderen beiden Routen haben wir eine Menge Treibsand und wandernde Gesteine. Das zu bändigen ist noch teurer, als sich durch festen Granit zu beißen und die Strecke durch das Bravadurtal nach Palparuva zu bauen“, erklärte der Geologe.
„In spätestens einer Woche müsste Herr Gasser hier sein. Der wird mir sagen, was der Spaß kostet. Und dann sehe ich König Wilhelm in Ohnmacht fallen.“
Alexander lächelte, aber die Zahlen, die er im Kopf hatte, waren schwindelerregend. Im Moment hatte er nur die Sorge, sein eigentlich sehr sparsamer Vater könnte vor den hohen Kosten doch noch zurückschrecken. Der Prinz zog die Uhr aus der Tasche.
„Meine Güte! Schon wieder halb elf! Sind wir durch?“
Andreas ging seine Unterlagen noch einmal durch und nickte.
„Es sei denn, dir fällt noch etwas ein“, sagte er dann.
„Kein Gedanke! Jetzt habe ich Appetit auf ein frischgezapftes wenglisches Dunkelbier“, beschloss Alexander. „Komm, mein Freund.“
Die beiden jungen Männer verließen die Steinburg und steuerten – in alter Gewohnheit – das Wirtshaus Zum Hirschen an. In den Jahren, bevor Alexander Wengland verlassen hatte, war das Wirtshaus ihre Stammwirtschaft gewesen. Sie saßen bereits an der Theke, als Alexander einfiel, wo er war. Da es jedoch nach sechs Uhr abends war, war er in Zivil. Es war wenig wahrscheinlich, dass er von sozialistisch angehauchten Gästen als der Offizier wiedererkannt wurde, der vier Wochen zuvor in die Parteiversammlung geplatzt war.
Sie bestellten Bier, stießen mit dem Wirt Jonas an und schwatzten fröhlich mit ihm. Der Wirt kannte Alexander auch schon als Studenten und wusste nur zu gut, dass der junge Mann nicht als Königliche Hoheit angesprochen werden wollte. Wenn es im Königshaus jemanden gab, der sich unter dem normalen Volk wohlfühlte, dann war es der Prinz Alexander.
Es war etwa halb zwölf, als der Wirt ihnen zuraunte:
„Jetzt wird’s richtig interessant.“
„Aha“, lachte Alexander auf. „Was haben Sie denn so interessantes, Herr Jonas?“
„Eine Can-Can-Truppe. Alex, sowas haben Sie noch nicht gesehen!“
Auf der recht rauchigen Bühne im Hintergrund wurde es hell.
„Und jetzt, meine Herren, direkt aus Paris: Can-Can!“ kündigte Anton, der Conférencier, an.
„Lügner!“, grinste Andreas in sein Glas. „Die Damen sind alle aus Steinburg“, kicherte er.
Zehn hübsche Damen traten zum Can-Can an. Alexander sah wohlgefällig an der Reihe der Damen entlang, bis sein Blick auf die zweite von rechts fiel. Vor Schreck hätte er sich beinahe verschluckt, als er Simone Haldenstein erkannte.
„Holla, Alex! Verwirren schöne Frauen dich so sehr, dass du dich verschluckst?“, prustete Andreas.
„Vielleicht hatte ich zu lange keine Zeit, um mir einen guten Can-Can anzusehen“, hustete der Prinz. Er war entsetzt. So also verdiente Simone ihren Lebensunterhalt!
‚Verdammt, warum habe ich so wenig Zeit?!’, fluchte er in Gedanken.
Der Can-Can, den die Damenriege zur Musik von Jacques Offenbach vortrug, war mittelmäßig, aber sie gaben sich alle Mühe.
„Jonas, wie lange ist die Dame, die zweite von rechts da, schon dabei?“ fragte Alexander.
„Oh, das ist eine traurige Geschichte. Ihr Vater ist der Vorsitzende der Sozialisten. Vor etwa einem halben Jahr wurde er verhaftet und ohne Prozess eingesperrt. Der Mann ist Arzt, hatte eine gutgehende Praxis hier in Steinburg. Die Praxis ist natürlich geschlossen. Das Mädchen hatte gewisse Ersparnisse, aber ohne neue Einkünfte reicht das nicht weit. Außerdem geht das Gerücht, die Partei habe sie zu einer namhaften Spende aufgefordert – man kann es auch zwingen nennen – weil ihr Vater als Arzt richtiges Geld verdiente. Als gute Sozialistin soll sie gezahlt haben – und hatte selbst nicht mehr viel. Seit drei Monaten ungefähr versucht sie, sich als Tänzerin durchzuschlagen. Eine Zeitlang war der Von Drechselberg – Sie wissen schon, der Kommandant vom Palparuva-Gefängnis – ihr großer Gönner. Aber seit etwa einem Monat kommt er nicht mehr. In der Gerüchteküche heißt es, er habe sie erpressen wollen. Seit er ihr kein Geld mehr gibt, sieht es schlecht aus für die Kleine. Als Tänzerin verdient sie keine Reichtümer. Der Prinzipal hält die Mädchen richtig kurz. Ich habe schon versucht, ihnen ein paar Gulden extra zu geben, aber der Prinzipal hat’s ihnen wieder abgeknöpft. Von der kleinen Haldenstein habe ich sogar gehört, sie habe schon in Siebenberg in einem Freudenhaus gearbeitet“, berichtete der Wirt.
„Guter Gott, das darf nicht wahr sein!“, entfuhr es Alexander. „Wer ist der Prinzipal?“
„Carl-Heinrich Trampert. Der hat sein Büro hier in Steinburg.“
Alexander nickte kaum merklich.
„Gibt’s noch mehr solcher Fälle?“, fragte er dann.
„Sie ist mir bekannt. Von anderen weiß ich in dieser Tragik nichts. Aber es gibt sie, dessen bin ich mir sicher. Ihr Bruder versucht, Wengland etwas zu brutal zu säubern.“
„Was ist eigentlich in Wengland los?“, fragte Alexander. „Leute werden ohne Prozess eingesperrt, sitzen ein halbes Jahr ohne Urteil, hinter den Grauen Gendarmen wird heimlich die Faust geballt, wer in Uniform den Sozis zu nahe kommt, wird fast gelyncht. Jonas, was ist hier los?“
Jonas sah den Prinzen geheimnisvoll an.
„Vor etwa einem Jahr gab es eine Verschwörung, die die Sozialisten angezettelt hatten. Man wollte die Monarchie abschaffen. Die Verschwörung wurde verraten – und dann begann eine regelrechte Hexenjagd auf jeden, der die Sozialisten nicht in die tiefste Hölle wünschte. Prinz Eberhards neue Geheimpolizei hat fast ein Prozent der Gesamtbevölkerung Wenglands ohne Prozess eingekastelt. Aber er hat die Sozis doch nicht alle erwischt. Und die sind erst mal untergetaucht. Ich glaube, die brüten was aus.“
„Oh, mein Gott!“, sagte Alexander. Leise flüsterte er in sein Glas:
„Heiliger Martin, hilf mir.“
In diesem Fall konnte nur noch Wenglands Schutzheiliger helfen.
Die Damen verließen nach zwei Zugaben atemlos die Bühne. Die Männer forderten eine weitere Zugabe, aber die Bühne blieb leer.
„Ich muss mal kurz weg. Bin gleich wieder da“, sagte Alexander, ließ sein erst zur Hälfte geleertes Glas stehen und verließ das Lokal. Er schlich sich zum Bühnenausgang und wartete ab, bis die Tänzerinnen herauskamen. Simone war die Letzte.
„Guten Abend, Fräulein Haldenstein“, sagte er leise. Sie erschrak heftig.
„Oh, nein!“ entfuhr es ihr, als sie den Prinzen erkannte. Simone wollte davonlaufen, aber er hielt sie fest.
„Ausgerechnet Sie haben mich gesehen. Das ist eine Katastrophe!“, keuchte sie.
„Das wäre es, wenn ich Sie nicht gesehen hätte. Simone, tun Sie mir einen persönlichen Gefallen und kommen Sie morgen in die Burg“, sagte er.
„Warum?“
„Fräulein Haldenstein, ich war neugierig. Ihren Lebensunterhalt können Sie auch auf weniger skandalöse Weise verdienen.“
„Nein, ich will nicht noch tiefer in Ihre Schuld geraten“, widersprach sie.
„Simone, in der Wirtschaft sitzt einer, dem ich schon seit langer Zeit in Freundschaft verbunden bin und dem ich gerne geholfen habe. Lassen Sie mich Ihnen genauso helfen. Ich verlange keine Gegenleistung.“
„Nein, ich kann nicht.“
„Haben Sie Angst, sich als Sozialistin zu kompromittieren, indem Sie für das Regime arbeiten, wie Sie es neulich ausdrückten?“
„Ich möchte nicht abhängig sein“, antwortete Simone.
„Das sind Sie im Moment auch. Sie sind abhängig von Ihrem Prinzipal Trampert, der Sie engagiert. Sie sind abhängig von den zusätzlichen Geldern, die die Männer in der Kneipe Ihnen – für gewisse Dienste – zustecken. Ich biete Ihnen eine feste Anstellung, in der Sie zwar abhängig beschäftigt sind, in der Sie aber sicher vor Nachstellungen nach Ihrer Person sind.“
Sie sah zu Boden. Die Wahrheit seiner Worte war bitter.
„Sie wissen alles, nicht wahr?“
„Fast, denke ich“, erwiderte er leise. „Lassen Sie sich helfen. Ich will nicht, dass Sie zu tief in dieses Milieu rutschen.“
Sie antwortete nicht gleich.
„Werden Sie kommen?“, hakte Alexander nach. Ein kaum merkliches Nicken bestätigte seine Bitte.
„Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Fräulein Haldenstein.“
„Danke, Herr von Steinburg.“
Ein höflicher Handkuss des Prinzen, und er war im Dunkel des dürftig beleuchteten Hinterhofes verschwunden. Wie betäubt ging Simone heim.
Alexander kehrte zu seinem Bierglas zurück.
„He, wo warst du?“ fragte Ettinger.
„Ich hatte etwas zu erledigen“, antwortete der Prinz geheimnisvoll.
A A A
Kapitel 5
Ein neuer Anfang
Am folgenden Tag kam Simone schon morgens um neun Uhr zum Schloss. Der Kastellan hatte von Alexander die Anweisung, Fräulein Simone Haldenstein ohne besondere Anmeldung einzulassen.
„Ich werde Seine Königliche Hoheit sofort holen lassen, Madame.“
„Danke, sehr freundlich.“
Der Kastellan bot ihr im Besucherhaus Platz an.
„Haben Sie schon gefrühstückt?“, fragte er.
„Ja, danke“, gab sie scheu zurück.
„Vielleicht noch einen Kaffee?“
„Danke, gern.“
Der Kastellan ließ der jungen Dame Kaffee bringen und schickte nach dem Prinzen.
Es dauerte nicht lange, bis Alexander kam. Er war wieder in Uniform.
„Guten Morgen, Fräulein Haldenstein“, begrüßte er sie. Wie üblich bedachte er sie mit einem höflichen Handkuss.
„Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?“, fragte er dann. Sie schüttelte den Kopf.
„Ich bin schrecklich unsicher. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.“
„Am besten ganz normal. Nur sollten Sie hier nicht das Wort Regime gebrauchen. Es hat hier einen negativen Beigeschmack.“
„Ich werde mich bemühen, Königliche Hoheit.“
„Nein, Von Steinburg. Dabei bleibt es. Vielleicht Alexander, wenn Sie mögen“, lächelten er freundlich.
„War das ein Wink mit dem Zaunpfahl, Herr von Steinburg?“
„Sie glauben es noch immer nicht“, lachte er leise. „Ich möchte Ihnen eine Arbeit anbieten, die Ihnen ein ehrliches Einkommen und eine gesellschaftlich sichere Position bietet. Zurzeit baue ich eine Planungsorganisation für die künftige Eisenbahn in diesem Lande auf. In der nächsten Zeit werde ich viele Termine mit ausländischen Gästen haben und brauche jemanden, der mich an diese Termine erinnert, sie notiert, mir meine Zeit einteilt. Kurz: Ich brauche einen Sekretär – und dafür möchte ich Sie einstellen.“
„Ich bin eine Frau, Herr von Steinburg“, erinnerte sie.
„Na und?“, erwiderte er. „Wengland mag ein schrecklich konservatives Pflaster sein; aber wenn ich etwas tun kann, um das zu ändern, bin ich dazu bereit. Ich glaube, dass Sie gute Arbeit leisten werden. Deshalb möchte ich Sie dafür haben.“
„Sie wollen mich von der Straße haben“, stellte sie fest.
„Das auch.“
„Warum kleben Sie so an mir?“
„Weil ich das Gefühl habe, dass Ihnen und Ihrem Vater durch dieses Haus“, er tippte mit dem Zeigefinger auf den Tisch, „ungeheures Unrecht angetan wurde. Ich kann nicht alles ausbügeln, aber die groben Falten versuche ich zu glätten. Außerdem sind Sie mir sympathisch.“
„Wann soll ich meinen Dienst bei Ihnen antreten?“
„Am besten heute.“
„Ich habe noch einiges zu regeln. Darf ich morgen beginnen?“
„Natürlich. Wenn Sie nur nicht heute Abend im Hirschen auftreten“, erwiderte er.
„Es ist meine Arbeit, Herr von Steinburg. Ich habe einen Vertrag mit Herrn Trampert.“
„Ich löse Sie aus. Da habe ich keine Hemmungen“, grinste Alexander.
„Egal, was es kostet?“
„Ich werde Ihnen mein Limit nicht nennen. Schließlich will ich Ihre Sitten nicht verderben“, lächelte der Prinz.
„Ich nehme an.“
„Gut. Sie bekommen auch von mir einen Vertrag, der Ihre Tätigkeiten genau regelt. Darüber hinaus sind Sie zu nichts verpflichtet.“
„An welche Entlohnung hatten Sie gedacht?“
„Zunächst fünfhundert Gulden im Monat.“
Simone blieb der Mund offen stehen.
„Wie viel?“
„Fünfhundert Gulden. Ist Ihnen das zu wenig?“, fragte Alexander nach. Simone schüttelte nur den Kopf. Für gewöhnlich bekam ein Sekretär nicht mehr als dreihundert Gulden.
„Gut, fünfhundertfünfzig zuzüglich eventueller Abfindung, wenn das Arbeitsverhältnis einmal beendet werden muss. Zunächst setze ich voraus, dass Ihre Tätigkeit bei der Königlich Wenglischen Eisenbahngesellschaft unbefristet ist.“
Simone war nahe daran, Alexander vor Freude zu umarmen. Sie beherrschte sich knapp.
„Sie bekommen morgen Ihren Vertrag, lesen sich das Ganze noch einmal in Ruhe durch. Dann können Sie unterschreiben.“
Simone Haldenstein nahm ihre Tätigkeit auf und war nach drei Wochen für Prinz Alexander völlig unentbehrlich. Die Planung schritt fort. Ueli Gasser, der schweizerische Planungschef, legte einen detaillierten Finanzplan vor. König Wilhelm nahm die genannten Zahlen mit unverkennbarer Befriedigung zur Kenntnis. Schließlich war die Planungsphase abgeschlossen und Alexander begann mit einem großen Vermessungsteam die Strecke durch das Bravadurtal zu vermessen. Ein Konvoi von zehn Wagen setzte sich nach Bravadur, dem Hauptstützpunkt, in Bewegung.
Kaum dort angekommen, machte sich Alexander gleich auf den Weg nach Palparuva, um den Arzt für sein Team zu holen. Gefängnisdirektor von Drechselberg wagte nicht, sich dem Prinzen zu widersetzen. Zunächst bat Alexander, mit dem Gefangenen allein sprechen zu dürfen. Von Drechselberg arrangierte ein Treffen seinem Büro, wo der Königssohn und der Regimegegner miteinander ungestört reden konnten. Als Wächter den Gefangenen hereinführten, erhob sich der Prinz höflich.
„Noch ein Verhör?“ fragte Dr. Haldenstein unverhohlen bitter. „Ich weiß nicht, was man noch von mir will!“
„Guten Tag, Herr Dr. Haldenstein“, begrüßte Alexander den Arzt. Auf seine ausgestreckte Hand reagierte der Arzt nur, indem er die Hände demonstrativ vor der Brust kreuzte.
„Gut, dann nicht“, seufzte Alexander. „Nehmen Sie doch Platz“, bot er dann an.
„Danke, ich stehe lieber.“
Der Prinz blieb gleichfalls stehen.
„Dr. Haldenstein, ich bin Alexander von Steinburg und soll im Auftrag des Königs den Bau einer Eisenbahn durch Wengland organisieren. Ich möchte Sie dafür anwerben. Haben Sie Interesse?“
„Es reicht mir, dass ich im Auftrag des Königs seit mehr als einem halben Jahr ohne Urteil in Haft bin. Ich bin nicht willens, jetzt auch noch zu Sklavenarbeit herangezogen zu werden“, knurrte Haldenstein.
„Sie sollen keine Gleise verlegen, sondern den Leuten, die krank werden oder Unfälle haben, ärztliche Hilfe geben. Ich zahle Ihnen das Gehalt eines Stabsarztes mit dreißig Prozent Zuschlag.“
„Ich lasse mich nicht in eine Uniform stecken, Herr von Steinburg! Abgesehen davon scheinen Sie zu übersehen, dass ich eingesperrt bin!“, giftete Dr. Haldenstein.
„Eine Uniform brauchen Sie ja auch nicht zu tragen. Ihre normale Arztkleidung ist völlig ausreichend. Ich bezahle Sie nur nach Armeetarif. Wenn Sie Interesse haben, können Sie hier ‘raus.“
„Ich arbeite nicht für ein Regime, das mich ungerechtfertigt einsperrt!“
Seufzend zuckte Alexander mit den Schultern.
„Gut, dann eben nicht. Ich wollte Ihnen nur behilflich sein, aus diesem Loch herauszukommen, damit Sie Ihre normale Tätigkeit gegen gute Bezahlung wieder aufnehmen können“, sagte er.
„Sie können mich kreuzweise, Herr von Steinburg. Sie und das ganze Adelspack! Aufhängen müsste man euch allesamt! Wenn ich je aus diesem Gefängnis herauskomme, werde ich Wengland verlassen und mir ein Land suchen, wo freie Meinungsäußerung nicht mit grundloser Kerkerhaft belohnt wird. Auf Wenglands Adel spucke ich!“
Wie zur Bekräftigung spie er Alexander ins Gesicht. Der Prinz erblasste vor Wut, behielt sich aber mühsam im Zaum und trocknete sich mit dem Taschentuch ab.
„Ich sehe es ein, dass es zwecklos ist, Ihnen Hilfe anzubieten. Geben Sie nur Acht, Dr. Haldenstein, dass Sie nicht auf sich selber spucken, wenn Sie den Adel so verfluchen! Guten Tag!“
Er klopfte, die Wache ließ ihn aus dem Zimmer. Zornbebend verließ der junge Mann die Haftanstalt.
Mitten in der Nacht kam er in Bravadur an. Im Gastraum des Posthotels saß einsam Simone Haldenstein. Er murmelte einen Gruß und wollte auf sein Zimmer gehen.
„Moment, Herr von Steinburg“, rief sie ihm nach. „Wollten Sie nicht meinen Vater holen?“
Er blieb auf der halben Höhe der Treppe stehen und drehte sich um. Seine braunen Augen waren dunkel vor Zorn.
„Ja, das wollte ich!“, schnaubte er.
„Hat wohl nicht geklappt?“, fragte sie mit höhnischem Unterton.
„Nein, das hat es nicht. Es liegt aber nicht an mir oder meinem Vater. Der hat mir zugesagt, dass Dr. Haldenstein bei mir arbeiten kann. Es liegt an Ihrem Vater, der nicht für mich arbeiten will. Bitte, wer nicht will, der hat schon!“
Als er Simones ungläubigen Blick sah setzte er hinzu:
„Es ist mir egal, ob Sie es glauben oder nicht!“
„Es ist das erste Mal, dass nicht das geschieht, was Sie wollen, nicht wahr?“, fragte sie spitz. Er kam die Treppe wieder herunter und blieb in seiner vollen Größe von sechs Fuß vor ihr stehen.
„Ich war bereit zu ignorieren, dass sich die politischen Ansichten Ihres Vaters mit meinen nicht in jedem Punkt decken. Was er denkt, ist mir egal. Ich bin entsetzt über die Verbohrtheit, mit der er den politischen Gegner betrachtet. Gut, man hat ihn – vielleicht – ungerechtfertigt eingesperrt. Zumindest gibt es bisher kein richterliches Urteil, das eine andauernde Haft begründet. Aber er wünscht jeden in die Hölle, der nichts gegen den König hat oder eventuell selbst einen Adelstitel trägt. Es interessiert ihn überhaupt nicht, ob derjenige, der ihm gegenübersteht, seine Ansichten nicht sogar teilen könnte. Er sieht nur eine Uniform und rastet aus. Er ist zu keinen Konzessionen bereit, verweigert jegliche Mitarbeit. Er kann sicher nicht erwarten, dass man ihn dann mit Jubelschall in Adelskreisen begrüßt. Nichtsdestoweniger habe ich an die Staatsanwaltschaft und das Obergericht Steinburg telegrafiert und eine umgehende Haftprüfung beantragt. Entweder ist Ihr Vater in spätestens einem Monat ein freier Mann oder er hat wenigstens einen Prozess, der in irgendeiner Form ein Urteil hervorbringt. Ich weiß nur nicht, ob ich mir, meiner Familie und dem wenglischen Adel allgemein einen Gefallen damit getan habe. Ich erwarte ja nicht, dass man mir vor Dankbarkeit die Füße küsst, aber etwas anderes als den frommen Wunsch, man möge mir einen Strick um den Hals legen, hätte ich denn doch erhofft! Gute Nacht!“
Damit ließ er sie stehen und sprang die Treppe hinauf. Simone war wie vom Donner gerührt. Ihr Vater konnte sich jede Chance auf einen gerechten Prozess verbauen, wenn er einen wohlmeinenden Menschen wie Alexander verärgerte.
Am folgenden Morgen hatte Alexander sich wieder beruhigt. Er trug wieder Zivil, weil ihm das für seine tägliche Arbeit sehr viel bequemer erschien als die Uniform. Außerdem kontrollierte in Bravadur niemand, ob er als Reservist auch brav Uniform trug. Die Vermessungen machten gute Fortschritte, besser, als er geglaubt hatte. Am Ende des Monats waren die kompliziertesten Teile der Bergstrecke – die Kehrtunnel bei Felsbruck, die Viadukte über den Bravadurbach und die drei Kehrtunnel zwischen Palparuva/Wengland und Palparuva/Breitenstein – fertig vermessen.
Am Ende dieses Monats hielt Alexander auch ein Telegramm in den Händen, in dem mitgeteilt wurde, dass Dr. Haldenstein frei war. Am Abend zeigte er Simone das Telegramm. Sie las die Depesche durch und umarmte Alexander genauso wortlos, wie er ihr die Nachricht gegeben hatte. Ganz vorsichtig machte er sich aus der Umarmung frei.
„Ich hoffe nur, dass er seine Freiheit vernünftig nutzt und nicht gleich irgendwelche Dummheiten macht. Gute Nacht“, sagte er leise und wollte hinaufgehen.
„Herr von Steinburg!“, rief Simone ihm nach. Er blieb stehen.
„Ja?“
„Ich weiß, es ist zu spät, aber ich will es nicht verschweigen …“
„Was? Dass Ihr Vater der Vorsitzende des Zentralkomitees der Sozialistischen Partei Wenglands ist? Unnötig, ich weiß es längst.“
„Und trotzdem haben Sie für seine Freilassung gesorgt?“, fragte sie verblüfft nach.
„Ich habe lediglich veranlasst, dass seine Haftberechtigung geprüft wurde. Nicht ich, das Obergericht in Steinburg hat entschieden, Fräulein Haldenstein. Nach dem Codex Rex Wenglandia ist die Gerichtsbarkeit in Wengland von Weisungen des Königshauses unabhängig – seit mehr als fünfhundert Jahren!“
Es klang kühl.
„Es tut mir Leid. Ich hätte Ihnen die Wahrheit sagen sollen, Herr von Steinburg.“
Sie sah zu Boden, hörte plötzlich Schritte, die die Treppe wieder herunterkamen. Er hob sanft ihr Kinn an, bis sie ihm in die Augen sah.
„Simone, nach unserer kleinen Reise von Palparuva habe ich mich genauer erkundigt. Außerdem war es doch sehr ungewöhnlich, dass die vierschrötigen Kerle, die mich im Hirschen beinahe in der Luft zerrissen hätten, Ihnen aufs Wort pariert haben. Ihr Vater musste viel Einfluss haben, sonst wäre das nicht passiert. Ich bin über diese Tatsache nicht unglücklich gewesen. Ihre Einstellung, liebe Simone, respektiere ich nicht nur, sie deckt sich zum großen Teil mit meiner. Was ich nicht akzeptieren kann, ist die Methode, die mich fatal an die Französische Revolution erinnert. Das kann ich nicht nur deshalb nicht billigen, weil es mein eigener Hals ist, der bedroht ist. Ich könnte es auch nicht gutheißen, wenn ich nicht von Adel wäre. Wenn es Ihnen möglich ist, Simone, halten Sie Ihren Vater von Dummheiten ab, die ihn unter den Galgen brächten, wenn er sie verwirklicht“, sagte er. Er ließ sie los.
„Wenn mein Vater von mir überhaupt noch einen solchen Rat annimmt, Alexander. Ich sitze zwischen den Stühlen. Immerhin arbeite ich für die Regierung, statt gegen sie zu agieren.“
„Immerhin sagen Sie nicht mehr Regime“, lächelte er. „Ich kann mir denken, dass Sie bei Ihren Genossen in Schwierigkeiten sind, aber ich konnte Sie nicht in der Gosse lassen, nachdem sich Ihre Genossen so vorbildlich um Sie gekümmert hatten.“
„Diese Bissigkeit war unnötig, Königliche Hoheit“, entgegnete sie eisig.
„Ehrlich, Simone: Haben die Genossen Sie unterstützt?“
„Es sind keine reichen Prinzen, Alexander. Sie haben selbst kaum genug zum Leben. Mein Vater galt ja schon als zur Bourgeoisie gehörig.“
Er überhörte ihren Sarkasmus geflissentlich.
„Und die Bourgeoisie wird natürlich nicht von der Arbeiterklasse unterstützt“, resümierte der Prinz. „Sehr solidarisch, wenn man bedenkt, dass Ihr Vater der ideologische Kopf der wenglischen Sozialisten ist“, setzte er leise hinzu.
„Im Augenblick sitzen so viele von uns ein, dass die Partei nicht in der Lage ist, alle Angehörigen zu unterstützen.“
„Und zuerst ließen sie die scheinbar viel zu reiche Tochter des Dr. Haldenstein zur Ader, um sie dann wie eine heiße Kartoffel fallen zu lassen, als sie mangels Masse selbst Unterstützung benötigte“, stellte Alexander fest. Es war die bittere Wahrheit, wie Simone nur zu gut wusste.
„Sie haben alles von mir gewusst und mich im Zweifel gelassen“, warf sie ihm vor.
„Im Zweifel worüber?“, fragte er sanft. „Ich wusste auch nicht genau, woran ich mit Ihnen war“, gab er zurück. „Ich kannte die monarchiefeindliche Einstellung Ihrer Genossen. Im Hirschen hatte ich festgestellt, dass Ihre Genossen sich der Autorität eines Regierungsbeauftragten nicht unterwerfen würden. Aber ich hatte die schwache Hoffnung, Ihr Vater wäre trotz seiner politischen Einstellung zu Kompromissen fähig. Jetzt weiß ich, dass ich in dieser Hinsicht auf Sand gebaut habe. Nach dem Reinfall mit Ihrem Herrn Papa schien es mir angeraten, ganz vorsichtig zu sein und nichts von dem preiszugeben, was ich wusste.“
„Es tut mir Leid. Ich muss Ihnen so undankbar erscheinen, Herr von Steinburg“, sagte sie leise und stockend. Er lächelte freundlich.
„Keineswegs. Sie arbeiten besser, als ich gehofft habe. Ich bin froh, dass ich eine Mitarbeiterin wie Sie habe, Fräulein Haldenstein. Und ich hoffe, dass Sie auch weiterhin für mich arbeiten werden“, erwiderte er. Sie zuckte hilflos mit den schmalen Schultern.
„Was das anbelangt, habe ich einen Weg ohne Wiederkehr beschritten. Ich könnte nicht mehr zurück, selbst wenn ich wollte. Wie ich erfahren habe, werde ich inzwischen selbst zum Adelslager gerechnet.“
„Noch ein Grund mehr, gut auf Sie aufzupassen“, lächelte er. „Es ist spät. Gehen Sie schlafen. Gute Nacht“, setzte er hinzu.
Die Arbeiten an der Bahn schritten nun zügig voran. Nachdem die Vermessung abgeschlossen war, begann die Trassierung der Strecke. Die Trasseure trassierten jeweils fünf Meilen vor, dann erfolgte die Einschotterung und Gleisverlegung. Die schwierigsten Passagen in den Bergen nordwestlich von Steinburg wurden von Spezialtrupps trassiert, die die nötigen Sprengungen vornehmen konnten. Chefplaner Gasser hatte zunächst die Idee gehabt, die notwendigen Brücken aus Stahl zu erstellen, diesem neuen, so praktischen Werkstoff. Doch die wenglische Stahlindustrie war nicht so weit entwickelt, dass sie entsprechende Stahlsorten liefern konnte. Importe aus Scharfenburg hätten die Baukosten zu sehr in die Höhe getrieben. Schließlich hatte einer der ausführenden Bauingenieure, auch ein Schweizer, die Idee, das herausgesprengte Gestein zum Brückenbau zu verwenden. Das sparte nicht nur Herstellungskosten, sondern erwies sich auch als der Landschaft besser angepasst.
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Kapitel 6
Unruhestifter
Alexander war wieder mehr in Steinburg als auf der Hauptbaustelle, die sich zurzeit in Felsbruck am Eingang des Bravadurtales befand. Dort waren für den Kehrtunnel und zwei Streckentunnel sowie für zwei Galerien umfangreiche Sprengarbeiten notwendig. Andreas Ettinger, der auch einen Sprengmeisterschein hatte, leitete die Sprengarbeiten. Die Arbeiter, die an dieser Strecke arbeiteten, gehörten zu den bestbezahltesten in ganz Wengland.
Da die Vermessungsarbeiten an dieser Strecke abgeschlossen waren und die Richtmessungen nach den Sprengungen auch von seinem bisherigen Assistenten Simonsen gemacht werden konnten, widmete Alexander sich seiner zweiten Aufgabe, der Repräsentation für die KWE, die die Königlich Wenglische Eisenbahngesellschaft kurz genannt wurde. Alles lief reibungslos, bis Andreas etwa ein halbes Jahr nach Beginn der Arbeiten in Felsbruck, im April 1872, auf schnaufendem Ross nach Steinburg gehetzt kam und atemlos in das Eisenbahnbüro in der Alvedrastraße stürmte.
„Alex, die Arbeiter streiken!“, keuchte er.
„Bitte?“, fuhr der Prinz kerzengerade von seinem Stuhl hoch.
„Sie streiken! Sie wollen mehr Freizeit und höhere Löhne!“
„Bei den Löhnen? Die sind wohl komplett verrückt! Ich komme“, rief Alexander. Andreas hielt ihn am Arm fest.
„Nimm dir freiwillig ein Regiment Kavallerie mit. Die Burschen sind zu allem fähig, so aufgebracht, wie sie gestern an meine Bürotür geklopft haben“, warnte Ettinger.
„Ich will nicht mit der Tür ins Haus fallen. Die Arbeiter könnten es falsch verstehen, wenn wir gleich mit Soldaten kommen. Zur Not holen wir Truppen aus Martinskirchen über den Telegrafen“, wehrte Alexander ab. Dann hatte er einen Einfall.
„Simone, haben Sie mitbekommen, was in Felsbruck los ist?“, fragte er ins vordere Büro.
„Ja“, kam es von vorn zurück. Alexander ging nach vorn und blieb bei ihr am Schreibtisch stehen.
„Ich reite mit Herrn Ettinger nach Felsbruck, um die Leute zur Vernunft zu bringen. Wenn mir das gelingt, melde ich mich bis morgen früh um sieben telegrafisch. Wenn bis zehn Uhr hier kein Telegramm von mir eingetroffen ist, ist es schiefgegangen, und wir brauchen Hilfe. Bitten Sie dann meinen Vater, er möge mir zwei Schwadronen Kavallerie aus Martinskirchen schicken.“
Simone sah ihren Chef verwirrt an.
„Herr von Steinburg, das sind Arbeiter und keine Rebellen!“, erwiderte sie. Alexander lächelte.
„Davon gehe ich zunächst mal aus“, sagte er. „Aber ich muss mich absichern, falls das Letztere zutreffen sollte.“
„Wie meinen Sie das?“
Er sah sie einen Moment an.
„Wir wissen doch beide, dass es eine gewisse Gruppe gibt, die am Kampf, genauer am Klassenkampf interessiert ist, oder?“, sagte er.
„Sie meinen, die So… – nein, das glaube ich nicht!“, entfuhr es ihr.
„Glauben mag ich das auch nicht. Aber ich bin zu lange Soldat gewesen, um nicht mit dem Unmöglichen zu rechnen. Werden Sie die Soldaten holen, Simone?“
Sie sah auf ihren Schreibtisch und seufzte.
„Ja. Wenn Sie sich bis zehn Uhr nicht gemeldet haben, werde ich zu Ihrem Vater gehen“, sagte sie leise. „Aber ich bete, dass Sie sich rechtzeitig melden. Vergessen Sie es um Gottes Willen nicht! Ich bin nicht da, um Sie zu erinnern“, beschwor sie ihn.
„Wenn ich mich nicht melde, bin ich mit Gewalt daran gehindert. Ich habe Herrn Ettinger bei mir. Der wird meinem Siebgedächtnis schon auf die Sprünge helfen“, lächelte er, mit der Notwendigkeit einer Gedächtnisstütze kokettierend. Er winkte Andreas und verließ das Eisenbahnbüro. Simone beugte sich gerade wieder über ihre Arbeit, als Alexander nochmal den Kopf ins Büro steckte.
„Und stoppen Sie dann auch die morgen fällige Lohngelderkutsche!“, wies er sie an. Sie nickte nur.
Mit frischen Pferden eilten die Freunde nach Felsbruck. Im Eilgalopp erreichten sie auf schäumenden Pferden vier Stunden später am Nachmittag die Hauptbaustelle. Vor dem Ortsbüro demonstrierten etwa tausend aufgebrachte Arbeiter. Alexander fiel auf, dass einige rote Armbinden hatten. Der Prinz drängte sich recht rücksichtslos zum Büro durch.
„Ruhe!“, brüllte er vernehmlich. „Wir sind zu Verhandlungen bereit. Aber schreit nicht alle durcheinander sondern stellt eine Abordnung zusammen, die für euch sprechen soll!“
„Wir wollen keine Verhandlungen mehr! Wir wollen die Bahn übernehmen und in Volkseigentum überführen!“, schrie jemand aus der Masse. Er trug eine rote Armbinde. Alexander richtete sich in den Steigbügeln hoch auf.
„Na gut, dann baut die Bahn alleine, ohne Ingenieure, ohne Geld. Ihr werdet sehen, wie weit ihr kommt!“, rief er.
„Du hast was falsch verstanden, Hoheit: Du und deine Monarchistenschweine, ihr werdet die Bahn fürs Volk bauen – und wir werden zusehen, so wie du und deine Stiefellecker zugesehen haben! Holt das Schwein vom Pferd!“
Die kräftigen Arbeiter griffen zu und zerrten Alexander und Andreas von den Pferden. Irgendwer brüllte:
„Hängt sie auf!“
Die wie von Sinnen scheinenden Arbeiter gehorchten prompt. Sie hatten ihren Gefangenen schon den Strick um den Hals gelegt, als eine kräftige Stimme Einhalt gebot:
„Halt, Genossen! Tötet sie nicht!“
Unwillkürlich sah Alexander in die Richtung, aus der der Ruf kam. Vor der Tür des Büros stand Dr. Haldenstein.
„Sie sollen doch eure Bahn bauen, die Monarchisten! Jede Hand nutzt der Diktatur des Proletariats!“, fuhr der Doktor fort. Eine Gasse bildete sich, die Arbeiter zerrten Andreas und Alexander zum Büro.
„Nun, Königliche Hoheit?“, lächelte Dr. Haldenstein frostig. „Arbeit mit den eigenen Händen schändet nicht.“
„Ach, nein! Ich entsinne mich, dass ich Ihnen vor einem halben Jahr hier eine gut bezahlte Stelle angeboten habe. Aber die wollten Sie ja nicht! Im Gegensatz zu Ihnen, Dr. Haldenstein, habe ich an dieser Strecke bereits hart gearbeitet! Sie haben hier nichts geleistet! Sie können nur aufhetzen!“, rief Alexander erbittert. Ein Schlag ins Gesicht riss ihm den rechten Mundwinkel auf.
„Maul halten, Monarchist!“, knurrte einer der Arbeiter. Dr. Haldensteins Gesichtsausdruck wurde eine starre Maske.
„Deinesgleichen haben mich sieben Monate getriezt. Jetzt bist du an der Reihe. Fein, dass du schon gearbeitet hast, Prinzlein. Dann weißt du ja, wie’s geht. Aber bilde dir nicht ein, dass du sagst, wo es langgeht. Das erzählen wir in Zukunft. Ab in den Schuppen! Es lebe die Diktatur des Proletariats!“
Die Arbeiter schleppten die Gefangenen johlend ab und warfen sie unsanft in einen Schuppen. Die Tür krachte zu, der Querbalken fiel geräuschvoll in seine Halterungen. Im Dunkel des Schuppens rappelte sich Andreas mühsam auf.
„Alex, bist du verletzt?“, fragte er hektisch in die Schwärze hinein.
„Abgesehen von der geplatzten Schnabelecke geht’s mir gut“, erwiderte Alexander.
„Wo bist du?“
„Ich glaube, ziemlich in der Nähe der Tür. Oben im Dach ist ein kleiner Schlitz. Hab’ etwas Geduld, bald haben sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt“, beruhigte Alexander den aufgeregten Geologen.
„Das erinnert mich daran, dass ich mal zwei Tage verschüttet war. Blödes Gefühl“, gab Andreas zu bedenken. „Ist dir klar, was hier seit gestern Abend passiert ist?“, fragte er dann.
„Nur zu gut. Revolution nennt man das, Andi“, antwortete Alexander. „Die Arbeiter sind so irre und glauben Haldenstein, dass es möglich ist, eine Eisenbahn mit zwanzig Leuten zu bauen. Es wird Zeit, dass es freie Schulen gibt, damit die Leute endlich rechnen lernen!“
„Was tun wir?“
„Ich tue keinen Handschlag“, knurrte Alexander.
„Die hängen uns glatt auf!“, warnte Ettinger.
„Das werden sie sich schwer überlegen. Wen sollten sie dann zur Arbeit zwingen?“
Am Morgen kamen Arbeiter mit roten Armbinden, die Alexander abholten und ins Büro brachten. Zwei bewaffnete Männer – gleichfalls mit roten Armbinden – standen Posten im Raum.
‚Zwei Mann und der Doktor. Damit könnte ich fertigwerden’, dachte Alexander. ‚Kommt nur auf die Überraschung an, hat Bobby gesagt. Der muss es wissen. Schließlich ist der fünfmal aus Gefangenenlagern ausgerissen’, erinnerte er sich an seinen Freund Robert Bennett in den USA.
„Guten Morgen, Steinburg“, begrüßte ihn Dr. Haldenstein wenig höflich. Alexander vergaß seine gute Kinderstube nicht.
„Guten Morgen, Herr Dr. Haldenstein“, erwiderte er liebenswürdig. Haldenstein setzte sich, machte aber keine Anstalten, dem Prinzen ebenfalls Platz anzubieten. Dennoch wollte Alexander sich setzen. Ein Stoß mit dem Gewehrkolben hinderte ihn.
„Fürwahr: Ihre Freiheit haben Sie gut genutzt. Manchen Leuten darf man nicht den kleinen Finger geben – die nehmen den ganzen Arm“, sagte er kühl. Haldenstein sah ihn kalt an.
„Du solltest mir dankbar sein, Steinburg. Ohne mein Eingreifen gestern hätten dich deine Arbeiter in ihrem gerechten Zorn über deine Ausbeutung gelyncht.“
„Ohne Ihre Roten Garden auf der Baustelle hätten die Leute es mit Sicherheit nicht versucht, Herrn Ettinger und mich zu hängen. Bevor Sie mit Ihren Randalebrüdern hier aufgekreuzt sind, war das hier ein friedliches Tal, in dem eine Eisenbahn gebaut wurde“, entgegnete Alexander eisig. Einer der Rotgardisten wollte ihn mit dem Gewehr schlagen, aber eine knappe Handbewegung von Haldenstein hinderte den Mann.
„Du wirst mich nicht provozieren, Bürschlein“, sagte Dr. Haldenstein süffisant. „Für dich ist heute der erste Tag richtiger Arbeit angebrochen, Steinburg. Du wirst trassieren.“
„Von Steinburg – so viel Zeit muss sein.“
Alexanders kühles Lächeln verhieß für den, der es kannte, nichts Gutes. Aber Dr. Haldenstein kannte es nicht.
„Im Übrigen sage ich: nein“, setzte Alexander hinzu.
„Oh, der Prinz hat Wünsche? Wir sind nicht dazu da, vor Nutznießern wie dir zu kuschen, Steinburg. Wir sind dazu da, dich umzuerziehen. Du wirst lernen, zu gehorchen. Du wirst schuften, bis dir die Knochen genauso wehtun wie den armen Schweinen da draußen!“
„Unter den Bedingungen, die hier herrschen, tue ich keinen Handschlag!“, versetzte Alexander eisig.
„Wir werden dich schon dazu überreden, Monarchistenschwein!“, sagte Haldenstein in einem Anflug von Zorn.
„Ich werde nicht arbeiten!“, beharrte Alexander.
Er befand sich auf einem verflixt dünnen Grat, das war ihm klar. Wenn er Pech hatte, schossen die Posten sofort. Die zwei Mann kamen vor, einer legte schon an. Haldensteins Augen verdunkelten sich bedrohlich. Er schlug mit der Hand auf den Tisch.
„Verpasst dem Kronenträger zehn Hiebe! Vielleicht bringt ihn das zur Vernunft“, befahl der Arzt. Alexander erinnerte sich an die Nahkampfausbildung der wenglischen Armee und die Lehren seines Freundes Robert in den USA. Als der hintere Posten ihn zu packen versuchte, rammte Alexander ihm den Ellbogen mit voller Wucht in die Magengrube, tauchte weg; der andere Posten schoss sofort, traf aber nur den zweiten, hinter dem Prinzen stehenden Rotgardisten. Die Überraschung des Wächters war so groß, dass Alexander ihn niederschlagen konnte. Mit kurzen Handgriffen hatte er ihn entwaffnet.
„Bleiben Sie, wo Sie sind, Haldenstein!“, warnte er den Sozialistenführer und richtete die Waffe des Postens auf ihn.
„Verdammter Monarchist!“, schrie der, griff nach seinem Revolver. Ein Schuss krachte, Haldenstein schrie auf und ließ die Waffe fallen. Die Kugel hatte ihn in den rechten Oberarm getroffen.
„Los, hier in die Ecke!“, befahl Alexander und zerrte Simones Vater in die hinterste Ecke des Büros und sprang mit zwei langen Sätzen hinter die Tür.
Die Tür wurde aufgestoßen, zwei Männer mit roten Armbinden stürzten bewaffnet herein, schossen sofort, trafen aber nur die am Boden liegenden Wächter. Alexander stieß die Tür mit einem kräftigen Fußtritt zu und schlug die Männer mit dem Kolben des erbeuteten Gewehrs nieder.
„Mit Ihren Roten Garden ist’s nicht weit her, Simon“, grinste er. „Ausgebildete Soldaten sind’s jedenfalls nicht. Und die brauchen Sie schon, wenn sie mich dingfest machen wollen. Da haben selbst die Wilzaren ihre liebe Not gehabt.“
Er verschnürte Haldenstein und die beiden Türposten, die so unüberlegt hereingestürmt waren. Dr. Haldenstein verbiss sich eine Äußerung, aber Alexander sah ihm an, dass er Schmerzen hatte.
„Die Unbill hätten Sie sich sparen können, wenn Sie vernünftig gewesen wären“, seufzte der Prinz. „Wo sind die Ingenieure und die Vorarbeiter?“
Schweigen.
„Ist recht“, lächelte Alexander und klopfte einen der Türposten wieder wach.
„Raus mit der Sprache: Wo sind die Ingenieure und Vorarbeiter?“, fragte er scharf.
„Im Materialschuppen“, ächzte der Posten, immer noch benommen.
„Dummkopf!“, schalt Dr. Haldenstein den Rotgardisten.
Alexander sperrte die drei Männer in eine Abstellkammer und ging zum hinteren Ausgang. Dort kam gerade ein dritter Posten an, den der Prinz niederschlug, sorgsam verknotete und gleichfalls in die Abstellkammer beförderte. Die Waffen nahm er mit und schlich sich zunächst zu dem Schuppen, in dem Ettinger noch eingesperrt war. Der völlig überraschte Wächter hob wortlos die Hände und ließ es widerstandslos zu, dass Alexander die Tür öffnete, um Andreas herauszulassen und den Posten einzusperren.
„He, wie hast du das angestellt?“, fragte Andreas verblüfft, als Alexander die Tür wieder sicherte.
„Bei der Armee lernt man eine ganze Menge, Andi. Komm, nimm einen von den Schießprügeln. Wir holen die anderen ‘raus.“
„Der Schuppen ist besser bewacht“, warnte Andreas.
„Ich lenke die Wachen ab. Schleich dich hinten ‘ran.“
Andreas legte sich auf die Lauer, Alexander marschierte geradewegs auf die vorderen Posten zu.
„He, Rote Garde! Pfoten hoch!“, befahl er barsch. Statt einer Antwort rissen die Wachen die Gewehre hoch, aber Alexander war schneller. Beide Posten trafen Kugeln in die Waffenhand oder in den Arm. Andreas wartete in Deckung, bis die hinteren Posten nach vorn stürmten, drang von hinten in den Schuppen ein und befreite die Ingenieure und die Vorarbeiter. Draußen fielen weitere Schüsse. Die Befreiten liefen um den Schuppen herum, um Alexander zu helfen, aber es war unnötig. Die beiden Posten, die von hinten gekommen waren, hatte er erschießen müssen.
„Sitzt noch jemand fest?“, fragte Alexander, als er seine Leute begrüßt hatte.
„Nein“, erwiderte Gasser. „Ingenieur Berger ist tot. Er hatte sich geweigert, den Kehrtunnel allein weiterzubauen.“
„Die Lumpen werden dafür bezahlen. Aber erst mal müssen wir die Arbeiter zur Vernunft bringen. Wo stecken die eigentlich?“
Thornton, ein Bulle von irischem Gleisarbeiter, grinste über das ganze Gesicht.
„Der ganze Haufen ist heute Morgen in die Felsbrucker Naturbühne gegangen. Die Bühne liegt im Tal. Rundherum von Felsbastionen umgeben. Ich glaube, sie sollten wohl politischen Unterricht bekommen.“
„Dann werden wir diesen Unterricht etwas ausweiten“, entschied Alexander. „Holt euch Waffen und Munition aus dem Geräteschuppen. Die werden sich wundern. Thornton, nehmen Sie noch eine Alarmschiene mit.“
„Mach’ ich“, bestätigte der Ire. „Ach, Chef: Bei der Bühne müssen noch etwa zwanzig von diesen Leuten mit den roten Armbinden sein.“
„Zwanzig. Im Büro liegen drei und der rote Doktor, vier vor dem Schuppen. Macht siebenundzwanzig. So viele sind wir auch. Kommt.“
„Ja, aber keine Soldaten“, warf Gasser ein.
„Herr Gasser, Wengländer unterscheiden sich von Schweizern in der Militärphilosophie nicht sehr. Bei uns hat auch jeder gediente Mann sein Gewehr im heimischen Schrank. Wir haben zwar keine jährlichen Wiederholungskurse, wie sie in der Schweiz üblich sind, aber ein Wengländer ist chronischer Reservist“, erklärte Alexander grinsend. „Und das übersehen die Herren Rotgardisten.“
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Kapitel 7
Ausgebremste Revolution
Vorarbeiter und Ingenieure versorgten sich mit Waffen und Munition, Alexander nahm noch ein Megaphon mit, dann liefen sie zur Felsenbühne. Sie verteilten sich gleichmäßig oberhalb des Tales und gingen in Deckung.
Unten im Theater standen die Rotgardisten ähnlich verteilt wie die Männer oben auf der Bastion. Einer von ihnen hielt eine flammende Rede von der Diktatur des Proletariats. Ein Schuss aus der Höhe unterbrach den Agitator.
„Guten Morgen, meine Herren!“, schallte es von oben. „Mein Name ist Alexander von Steinburg. Ich bin der Hauptverantwortliche für den Bau der Königlich Wenglischen Eisenbahn. Wie Sie bemerken, meine Herren von der Roten Garde, bin ich nicht mehr eingesperrt. Und die Ingenieure und Vorarbeiter sind es auch nicht. Ich mache darauf aufmerksam, dass wir jetzt auch bewaffnet sind. Das ist traurig, denn bisher gab es auf dieser Baustelle keine Waffen. Niemand wurde unterdrückt, hier arbeiten Leute, die einen guten, einen sehr guten Lohn bekommen und die damit zufrieden sind.“
„Hier geht’s nicht um mehr Lohn, hier geht’s um Volkseigentum, du Schwein!“, tönte es aus der Menge.
„Hier fallen Worte, die bis heute keiner gebraucht hat! Schwein nennt man Leute, die genau wie ihr hart für diese Eisenbahn arbeiten, Männer! Wenn ich es so übersehe, sind jetzt etwa zwanzig Leute hier, die mit den roten Armbinden, die das Maul aufmachen – oder auch gleich mit der Waffe sprechen – die vor drei Tagen noch nicht hier waren. Es sind Leute, die keinen Stein bewegt, keinen Schwellennagel eingeschlagen und keine Elle Schienen verlegt haben. Sie haben keinen Handschlag getan, außer dass sie sämtliche Ingenieure und Vorarbeiter eingesperrt und Ingenieur Berger erschossen haben. Sie sind bewaffnet hergekommen, um etwas zu erzwingen, was unmöglich ist. Man kann nicht mit weniger als dreißig Leuten eine Eisenbahn bauen, wenn dazu tausende von Männern nötig sind. Und was sie wollten, wollten sie mit Gewalt. Überlegt euch, ob einer von euch mit Gewalt zur Arbeit bei der Eisenbahn gezwungen worden ist. Ihr wisst, dass es nicht so ist! Ihr alle habt euch auf die Anzeigen im Wengländer Tagblatt oder auf die Anschläge an den Poststationen gemeldet. Niemand ist gezwungen worden, hier zu arbeiten! Ihr seid gekommen, weil die KWE euch ein gutes Einkommen garantiert. Da man uns, die Ingenieure und Vorarbeiter, zur Sklavenarbeit zwingen wollte, nehme ich nicht an, dass man uns dafür bezahlen wollte. Ich glaube nicht, dass bisher über Geld gesprochen worden ist. Deshalb tue ich das jetzt. Was ist mit euch? Wovon wollte man euch bezahlen?“
„Das geht dich einen Dreck an!“, kam es von unten.
„Ich glaube, das war einer mit ‘ner roten Armbinde“, mutmaßte Andreas. Alexander nickte.
„Einen Dreck geht es mich also nach deiner unmaßgeblichen Meinung an, Rotärmel!“, schnauzte Alexander. „Es geht mich so einen Dreck an, dass die wenglische Eisenbahngesellschaft den doppelten Lohn zahlt, der sonst bei Eisenbahnen üblich ist. Und ihr, meine Herren Revoluzzer? Wovon wolltet Ihr den Arbeitern einen ganzen Gulden pro Stunde zuzüglich Prämien von einem weiteren Gulden pro solide verlegter Meile Gleise zahlen? Von Liebe, Luft und Sonnenschein? Ihr habt es ja nicht mal fertiggebracht, die Tochter eures Häuptlings zu unterstützen, als ihr Vater im Gefängnis war! Wie wollt ihr es da schaffen, an die tausend Familien dieser Arbeiter zu ernähren? Ich wage mir nicht vorzustellen, wie ihr den Lohnausfall für die letzten beiden Tage eigentlich finanzieren wollt“, rief Alexander in sein Megaphon.
„Die Bahn werden die Kapitalisten bezahlen! Wir werden ihren Reichtum dazu verwenden!“, schrie der Agitator.
„Dafür müssen sie es erst einmal herausrücken!“, rief Alexander hinunter. „Ihr rechnet mit ungelegten goldenen Eiern, meine Herren. Und was macht ihr bis dahin? Die Sterntaler sind schon unten, Jungs!“
„Wir kämpfen ohne Lohn, bis wir das Kapital konfisziert haben!“, tönte einer der Rotgardisten.
„Kann ich mir denken!“, giftete Alexander. „Du hast hier auch nicht angeheuert, um deine Kinder zu ernähren! Was den Lohn anbelangt: Da ich mich bis heute Morgen um zehn nicht in Steinburg melden konnte, weil ihr nämlich geschickterweise die Leitung gekappt habt, wird heute keine Kutsche mit Lohngeldern eintreffen!“
„Das können Sie nicht machen, Herr von Steinburg!“, riefen einige Arbeiter im Chor.
„Warum nicht? Ich sehe nicht ein, euch zu bezahlen, solange ihr im Theater politischen Unterricht macht, statt die Arbeit zu tun, für die ich euch Geld versprochen habe!“, krächzte es aus dem Megaphon.
„Man könnte meinen, du meinst es ernst“, grinste Andreas. Alexander konnte sich ein Lachen nur schwer verkneifen.
„Aber wir haben noch Geld für die letzte Woche zu bekommen!“, kam es von unten.
„Völlig richtig!“, antwortete der Prinz. „Ihr habt hart gearbeitet und zehn Meilen Gleise sauber und ordentlich verlegt. Der Lohn wird auch ausgezahlt – sofern mit diesem Aufstand hier Schluss ist, hier wieder normale Zustände herrschen und die Sicherheit der Kutscher mit den Lohngeldern garantiert werden kann! Das sehe ich nur gewährleistet, wenn ihr euch von diesen Anarchisten distanziert, die hier den Arbeitsfrieden stören, und wenn sämtliche Waffen wieder in der Gerätekammer verschwinden. Hier wird friedlich gearbeitet und nicht zur Arbeit getrieben.“
„Wir wollen die Eisenbahn als Volkseigentum!“, röhrte ein Rotgardist. Alexander lachte hell auf.
„Leute!“, rief er ins Megaphon, „Tut mir den Gefallen und stopft den fremden Aufrührern das Maul, denn sie bringen euch um die Früchte eurer Arbeit, wenn sie so weitermachen! Ihr, die ihr die Bahn baut, habt in euren Verträgen einen kleinen Zusatz, den ihr vielleicht übersehen habt: In euren Verträgen steht, dass ihr nach Fertigstellung dieser Strecke von Palparuva nach Christophstein Anteilscheine an der KWE im Wert von fünftausend Gulden erhaltet. Diese Eisenbahn ist eure Eisenbahn! Ihr baut sie und euch wird sie zum Großteil gehören. Jetzt entscheidet euch: Wollt ihr eure Bahn bauen oder wollt ihr das Feld den Anarchisten überlassen, deren Ideen euch keinen Tag am Leben erhalten?“
„Glaubt dem Monarchistenschwein kein Wort!“, rief der Hauptagitator.
„Augenblick mal!“, meldete sich einer der Bahnarbeiter. „Bevor du wieder in unverständliche Redensarten von deinen komischen -ismen wie Marxismus, Sozialismus und so ‘m Kram anfängst, erklär’ uns bitte in verständlichen Worten, wovon wir unsere Familien ernähren sollen. Bekomme ich von deinem Genossen Vorsitzenden den gleichen Lohn wie von der KWE?“, forderte er. Der Agitator seufzte.
„Genosse, du hast nichts begriffen!“, schalt er dann. „Kommunismus ist eine Idee! Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bis die Diktatur des Proletariats installiert ist. Wir müssen den Sozialismus erst aufbauen, aus dem der Kommunismus erwachsen kann.“
„Dauert das länger als bis morgen?“, fragte der Arbeiter. „Bis morgen habe ich nämlich noch Geld. Von deinen krausen Ideen kann ich kein Brot kaufen. Von harten Gulden schon. Also?“
Der Agitator musste notgedrungen zugeben, dass es wohl länger als vierundzwanzig Stunden dauern würde, bis die Diktatur des Proletariats die Benutzung von Geld als Tauschmittel für lebensnotwendige Dinge entbehrlich machen würde. Die Stimmung unter den Arbeitern kippte um. Die noch verbliebenen zwanzig Männer, die die Propaganda betrieben, wurden von den Arbeitern aus dem Felsentheater gejagt.
„Halt, lasst sie nicht laufen!“, rief Alexander. „Wenglands Gerichte haben so wenig zu tun.“
Die Arbeiter griffen sich die Rotgardisten und verschnürten sie zunächst einmal. Alexander, die Ingenieure und Vorarbeiter kamen über einen Bühnenzugang nach unten ins Theater.
„Wohin mit denen, Chef?“, fragte einer der Arbeiter, der wie aus einem Traum erwacht schien.
„Erst mal in den leeren Schuppen hinter dem Kontor. Ich schätze, die Kavallerie wird bald hier eintreffen. Denen geben wir die Burschen mit.“
„Kavallerie?“, fragte der Arbeiter entsetzt. Alexander grinste jungenhaft.
„Ich hatte in Steinburg hinterlassen, mir zwei Schwadronen Kavallerie hinterherzuschicken, wenn ich mich bis heute Morgen um zehn nicht gemeldet habe. Dank eurer Vorsorge, den Draht zu kappen, konnte ich das nicht. Die Frist ist seit drei Stunden verstrichen. Also wird die Kavallerie kommen“, erklärte der Prinz.
„Aber der Streik ist beendet!“, ereiferte sich der Arbeiter.
„Das werde ich dem Kommandeur dann sagen“, versprach Alexander. „Also, wollt ihr eure Bahn bauen?“
„Jaaaa!“, tönte es vielstimmig.
„Dann ab, an die Arbeit! Gleise wachsen nicht auf den Bäumen!“, rief Alexander. Die Arbeiter gingen in die Materialschuppen, holten sich ihre Arbeitsgeräte und kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück.
„Thornton!“, rief Alexander. „Nehmen Sie sich zwei Leute und reparieren Sie die Telegrafenleitung!“
„Wird gemacht.“
Thornton rief zwei Leute aus seinem Trupp und machte sich auf den Weg an die Schadstelle.
Zwei Stunden später erschien die Kavallerie. Rittmeister von Bühldorf war erstaunt, dass alles friedlich war und die Arbeiter fleißig an den Gleisen werkelten. Noch verblüffter war er, dass Alexander ihm entgegen geritten kam.
„Donnerlüttich, Alex! Ich hatte mit Keilerei gerechnet – und bestimmt nicht mit dir hoch zu Ross!“
„Tag, Arnim“, begrüßte Alexander den ehemaligen Kameraden. „Ich konnte euch nicht mehr zurückpfeifen, weil meine Aufrührer die Telegrafenleitung gekappt hatten und wir erst heute Mittag um eins die Situation unter Kontrolle hatten.“
„Was ist mit den Aufrührern?“
„Vier sind tot, drei, einschließlich des Anführers sind verletzt, zwanzig unverletzt, aber sauber verschnürt. Sie sind alle in dem Schuppen hinter dem Kontor.“
„Gut. Wir nehmen sie mit. Gleich ab nach Palparuva?“
„Nein, Arnim, die bekommen einen richtig fairen wenglischen Prozess wegen 1. Aufruhr, 2. Störung des Betriebsfriedens, 3. Freiheitsberaubung in zwanzig Fällen, 4. Versuchter Nötigung in zwanzig Fällen“, erwiderte Alexander.
„Ho, das wird sie eine Kleinigkeit kosten, denke ich“, lachte von Bühldorf auf. Alexander wurde wieder ernst.
„Ja, und außerdem wegen Mordes an Ingenieur Berger“, sagte er. Das erleichterte Grinsen verschwand aus Bühldorfs Gesicht.
„Sag mal, Arnim, wer hat euch eigentlich geschickt? Mein Vater?“, fragte Alexander dann.
„Ja. Aber er hat sich sehr gewundert, dass bei ihm eine junge Dame hereingestürzt ist, die sich als Sozialistin bezeichnete, mitteilte, du hättest dich nicht gemeldet und bräuchtest unbedingt zwei Schwadronen Kavallerie und im nächsten Atemzug sagte, sie ginge jetzt zur Polizei, um sich als Sozialistin zu stellen.“
„Bitte?“
„Genauso hat dein Vater auch reagiert. Aber sie hat keinen Piep mehr gesagt und ist ‘rausgelaufen. Sie nannte sich Haldenstein.“
„Ich komme mit nach Steinburg“, entschied Alexander
Die Gefangenen wurden auf Wagen verladen. Die Verwundeten waren vom Camparzt behandelt worden, soweit es mit den beschränkten Mitteln im Camp möglich war. Dementsprechend ging es den Verletzten nicht gut. Sie wurden deshalb ins Hospital von Steinburg gebracht, um dort zunächst von den Verletzungen zu genesen.
Alexander ging sofort nach der Ankunft in Steinburg ins Polizeigefängnis, um mit Fräulein Haldenstein zu sprechen. In einem Besucherraum wartete er auf sie. Ein Wächter brachte sie herein.
„Guten Tag, Fräulein Haldenstein“, begrüßte er sie höflich.
„Guten Tag, Königliche Hoheit. Was verschafft mir die Ehre?“
„Ich komme aus Felsbruck zurück, finde das Büro verwaist und man erzählt mir, meine Sekretärin sei verhaftet worden. Das hat mich denn doch sehr verwundert“, erklärte Alexander. Er war noch im zivilen Reitanzug, verschmutzt von den Rangeleien, unrasiert, der aufgerissene Mundwinkel blutverkrustet. Sein ungewöhnlicher Zustand fiel ihr zunächst gar nicht auf.
„Weshalb sind Sie hier? Hat man Sie angezeigt?“, fragte er weiter.
„Nein, ich habe mich gestellt. Ich bin eine Sozialistin. Als solche werde ich verfolgt.“
„Simone, Sie wissen, dass das, was Sie gerade gesagt haben, nicht wahr ist. Nicht die Sozialisten werden verfolgt, sondern Leute wie die, die zwei Tage lang meine Arbeiter gegen mich aufgehetzt haben, dass sie mich beinahe gelyncht hätten.
„Was ist mit Ihnen passiert?“ fragte sie besorgt, als sie sein ramponiertes Äußeres nun doch bemerkte.
„Folgen des kleinen Aufstandes, den Ihr Vater mit seinen Roten Garden veranstaltet hat. Ich konnte, nachdem ich mich aus der Gefangenschaft der Aufrührer befreit hatte, meine Arbeiter davon überzeugen, dass die Anarchisten unter der Führung Ihres Vaters Ihnen erstens die fälligen Löhne nicht zahlen konnten und zweitens, dass sie ohnehin Anteilseigner der Bahn sein werden, wenn sie fertig ist. Damit hatte sich das Argument vom Volkseigentum in Luft aufgelöst, und die Arbeiter waren nicht willig, hinkünftig von Liebe, Luft und Sonnenschein zu leben“, gab Alexander Auskunft.
„Aber Sie beuten die Arbeiter aus!“, protestierte Simone.
„Das ist einer der Irrtümer, denen die Lehre des Karl Marx zumindest in Bezug auf die Königlich Wenglische Eisenbahngesellschaft unterliegt. Die Männer, die diese Bahn bauen, bauen sie für sich, für ihre Familien, für das ganze wenglische Volk – beileibe nicht für Seine Majestät König Wilhelm allein. Die Eisenbahn ist für das ganze Volk da – Anarchisten und Monarchisten, Arbeiter und Kapitalisten, Adel und Nichtadel. Das, glaube ich, hat Ihr Vater nicht begriffen, als er mit mehr als zwanzig bewaffneten Aufrührern auf der Felsbrucker Baustelle auftauchte.“
„Aber es ist eine Monarchistenbahn!“, beharrte Simone fast verzweifelt. Alexander schüttelte den Kopf.
„Nein, das ist sie nicht, denn sie wird dem König nicht allein gehören. Durch die ausgegebenen Aktien kann jeder Miteigentümer werden, der will. Die Bahnarbeiter werden es ohnehin. Zudem ist die Bahn sogar internationalistisch, weil wir Arbeiter aus Irland, der Schweiz und den USA haben, die genauso ihre Anteile bekommen. Und dann arbeitet sogar eine Sozialistin bei der Eisenbahn.“
Simone sah zu Boden. Sie wollte Alexanders warmem Blick einfach nicht begegnen.
„Was ist mit meinem Vater?“, fragte sie.
„Er ist verletzt, aber er lebt.“
„Haben die Soldaten viele Tote zurückgelassen?“
„Die Soldaten kamen erst, als die Ingenieure, die Vorarbeiter und ich die Situation unter Kontrolle hatten Aber ich danke Ihnen, dass sie meinen Vater um Soldaten gebeten haben. Heute früh um sieben hat es eine kurze Schießerei gegeben, als ich mich gegen die von Ihrem Herrn Vater angeordneten Peitschenhiebe zur Wehr gesetzt habe. Das Ergebnis waren insgesamt vier tote Rotgardisten und die Verletzung Ihres Vaters, die, wie ich zugeben muss, von mir verursacht wurde, weil er mich über eine Distanz von zehn Fuß mit einem Revolver bedroht hat und ich keine andere Mög…“
Simone Haldenstein schlug ohne Vorwarnung zu und verpasste Alexander eine schallende Ohrfeige, dass es nur so klatschte. Er fing sich gerade noch, um nicht zu stürzen und rieb sich die schmerzende Wange.
„…lichkeit hatte, ihn zu entwaffnen“, vollendete er den Satz. Eine zweite Ohrfeige fing er ab, weil er gewarnt war. Es hatte ihn einige Beherrschung gekostet, nicht im ersten Schmerzimpuls zurückzuschlagen.
„Warum steuern Sie mit aller Gewalt auf die schiefe Bahn, Simone?“, fragte er leise.
„Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?“, rief sie verzweifelt.
„Weil Sie nicht ins Gefängnis gehören, Simone. Selbst, wenn Sie Ihrem Vater gesagt haben sollten, wo zurzeit die Hauptbaustelle ist, wird man Ihnen kaum beweisen können, dass Sie das in der Absicht getan haben, einen blutigen Aufstand anzuzetteln. Außerdem ist die Baustelle kein militärisches Geheimnis. Geheimnisverrat scheidet also aus. Und allein für Ihren Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit kann man Sie nicht einsperren, weil das kein Straftatbestand ist. Also – was wollen Sie verbrochen haben?“, resümierte Alexander.
„Aber sämtliche Sozialisten werden verfolgt!“, beharrte sie.
„Noch mal langsam zum Mitschreiben: Das ist nicht wahr!“, erwiderte Alexander mit einer gewissen Reizung in der Stimme. „Hier wird es keine Märtyrer geben. Die Aufrührer bekommen einen fairen Prozess mit den üblichen ausgelosten zwölf Geschworenen. Ich habe mich mit meinem Bruder in Verbindung gesetzt. Er hat mir bestätigt, dass zurzeit die Haftberechtigung für alle einsitzenden Sozialisten geprüft wird. Und nachdem, was ich bislang erfahren habe, sitzen von den rund zweihundert im Gefängnis befindlichen Sozialisten wenigstens hundertfünfzig wegen richtig krimineller Handlungen wie Raub, Erpressung, Mord, Diebstahl, Brandstiftung, Freiheitsberaubung und so weiter – aber nicht wegen ihrer politischen Überzeugung“, erklärte der Prinz.
„Aber diese Taten haben sie wegen ihrer politischen Überzeugung begangen“, erwiderte Simone.
„Möglich, aber das fällt nicht unter die Freiheit der Gedanken, sondern unter die Wahl der Methoden – und diese Methoden sind kriminell. Wer für solche Taten brummt, sitzt nun einmal nicht wegen seines politischen Bekenntnisses. Das hat bei der Verurteilung keine Rolle gespielt. Hier im Steinburger Zentralgefängnis sitzt ein Mann jüdischen Glaubens wegen Sachbeschädigung in hoher Größenordnung. Er hat in religiösem Eifer eine Schlachterei auseinandergenommen. Der Schlachter verkaufte nämlich auch warmes Essen, unter anderem auch Schweinsrahmschnitzel. Und Fleisch und Milch in Kombination ist für einen gläubigen Juden nun einmal trefe, also unrein, ganz abgesehen davon, dass Schweinefleisch als solches unrein ist. Der Mann wurde aber nicht verurteilt, weil er Jude ist, sondern weil er die Schlachterei gerupft hat. Genauso wird man die Aufrührer, die meine Arbeiter aufgewiegelt haben, nicht wegen ihrer Mitgliedschaft in der Sozialistischen Partei Wenglands verurteilen, sondern wegen Freiheitsberaubung, Mord oder Totschlag, Nötigung oder so. Dann mag es immer noch ein paar Unverbesserliche geben, die weiter Stein und Bein schwören, dass sie nur ihrer Überzeugung wegen eingekerkert sind, aber die sind vernünftigen Argumenten dann genauso unzugänglich wie Ihr verbohrter Vater. Ich hoffe, Sie sind intelligent genug, sich das klar zu machen.“
Simone vergrub ihr Gesicht in den Händen.
„Nein!“, rief sie.
„Simone, ich kann Ihnen eine Zukunft bieten, ein ehrliches Einkommen, wenn Sie es wollen. Ich will nicht, dass Sie sich in diese Märtyrerpose hineinsteigern“, sagte Alexander. „Sehen Sie den Tatsachen ins Gesicht. Man kann einen Polizeistaat herbei reden und herbei bomben. Das Ergebnis mag vielleicht einmal die Diktatur des Proletariats sein, wenn die Bürger durch notwendige Polizeimaßnahmen in ihrer Ruhe gestört werden und gallig Revolution machen. So wünschen es sich Ihre Genossen – Sie vielleicht auch. Aber eine Diktatur – gleich von wem – ist nie etwas Positives. Man kann auch den anderen, den beschwerlicheren, aber ungefährlicheren Weg gehen und immer wieder auf soziale Missstände aufmerksam machen. Eine Revolution kostet ungeheure Opfer und Jahre des mühsamen Wiederaufbaus. Zudem hinterlässt sie Hass und Spaltung, wenn sie blutig verläuft. Frankreich ist ein Beispiel dafür. Die Verhältnisse beginnen sich jetzt, nach fast hundert Jahren, nach Terrorregime und zwei Kaiserreichen, zu stabilisieren. Ich möchte Wengland das nicht wünschen. Sie können mir helfen, Simone.“
Sie sah ihn verblüfft an.
„Wie sollte ich Ihnen helfen können?“, fragte sie.
„Indem Sie mir helfen, die Bahn zu bauen, indem Sie mir auf die Füße treten, wenn ich die Arbeiter überstrapaziere. Für konstruktive Kritik bin ich durchaus empfänglich.“
Simone sah ihn einen Moment lang an.
„Ich möchte über das, was Sie mir gesagt haben, nachdenken, Herr von Steinburg“, sagte sie dann.
„Das sollen Sie auch – aber nach Möglichkeit nicht im Gefängnis“, erwiderte er warm.
„Und wie sollte ich hier ‘rauskommen?“
„Schon mal was von Kaution gehört? Ich werde die Kaution für Sie hinterlegen. Da Sie nichts verbrochen haben, wird das Verfahren eingestellt werden. Dann bekomme ich mein Geld zurück.“
„Warum tun Sie das alles für mich?“ fragte sie verwirrt.
„Wenn ich Ihnen die Wahrheit sage, ohrfeigen Sie mich wieder und glauben tun Sie’s doch nicht. Vielleicht bietet sich eines Tages die Gelegenheit, Ihnen alles zu sagen, wenn Sie nicht mehr bockig sind. Ihr Vater liegt noch im Hospital. Er wird zwar bewacht, aber er darf Besuch empfangen. Falls er verurteilt wird, bekommen Sie wieder einen Dauerpassierschein.“
„Ich weiß nicht, ob ich für den Tag, an dem ich Sie traf, dankbar sein soll, oder ob ich ihn verfluchen soll“, schüttelte sie den Kopf. „Seit diesem Tag folgen Sie mir wie ein Schatten, ich werde immer abhängiger von Ihrer Gunst, Königliche Hoheit. Ich habe Angst, meine Freiheit zu verlieren.“
„Nun, im Gefängnis werden Sie Ihre Freiheit kaum wiederfinden“, schmunzelte Alexander. „Was den Tag anbetrifft, an dem wir uns in der Kutsche begegnet sind: Diesen siebzehnten August habe ich mir im Kalender rot angestrichen“, ergänzte er.
„Aber warum denn nur?“
„Ist es möglich, dass Sie keinen Spiegel haben? Wenn Sie bei Gelegenheit an einem vorbeikommen, schauen Sie mal hinein. Was Sie dann ansieht, ist – wenigstens für den Blick eines Mannes – ein erfreulicher Anblick. Außerdem haben Sie viel Mut.“
Ihre dunkelblauen Augen bekamen einen noch dunkleren Schimmer, Zeichen eines bevorstehenden Wutanfalls.
„Ich bin nicht käuflich!“, zischte sie.
„Simone – ich habe Ihnen bereits vor längerer Zeit gesagt, dass meine Hilfe für Sie in keiner Weise eine Gegenleistung Ihrerseits erfordert. Das hindert mich aber nicht am Träumen. Die Gedanken sind frei. Ich gedachte nicht, mir Ihre Liebesdienste zu kaufen, wie Herr von Drechselberg es tat. Vor allem deshalb nicht, weil Liebe nicht zu kaufen ist. Zu erzwingen ist sie schon gar nicht. Liebe kann man nur schenken. Ich halte mich also zurück und beschränke mich darauf, Ihnen einfach zu helfen, weil es mir Freude macht, zu helfen“, erwiderte er leise.
„Alexander – wovon träumen Sie?“
„Wenn Sie mir nicht gleich wieder eine Backpfeife verpassen: von Ihnen. Aber ich weiß um Ihr politisches Dilemma, das Ihnen einfach verbietet, mit einem königlichen Prinzen befreundet zu sein. Deshalb bleibt es beim Träumen.“
„Zumindest weiß ich jetzt endlich, was Sie sich wünschen, Alexander. Sie reden zwar viel, aber Ihre persönlichen Wünsche verbergen Sie gut. Werden Sie wieder in die Schweiz gehen?“
„Kann ich jetzt noch nicht sagen. Der Eisenbahnbau wird mich sicher einige Jahre in Wengland beschäftigen. Ich muss abwarten, was dann kommt.“
„Was kann dann kommen?“
„Vielleicht eine Ost-West-Verbindung durch Wengland? Wer weiß? Möglicherweise meint mein Vater, ich sollte die Eisenbahn auch leiten. Aber das schwebt noch zwischen den Sternen“, sagte Alexander. Er zog die Uhr aus der Tasche. „Also – wie ist es? Wollen Sie zu Hause nachdenken oder in Ihrer Zelle?“, fragte er.
„Schon lieber zu Hause“, war die leise Antwort.
„Gut, dann gehe ich jetzt zum Gefängnisdirektor und hinterlege die Kaution.“
„Haben Sie denn so viel Bargeld bei sich?“, wunderte sie sich.
„Die maximale Kaution für jemanden, der in Untersuchungshaft sitzt, aber nicht des Mordes beschuldigt wird, beträgt fünfhundert Gulden. Die sollten aufzutreiben sein.“
„So viel Geld?“
Alexander zog eine Grimasse.
„Sie sollten den Mund zumachen – sonst erkälten Sie sich den Magen“, lachte er.
Noch bevor Simone es recht begriff, war er aus dem Besucherraum fortgegangen. Der Wächter kam und brachte sie zunächst in ihre Zelle zurück. Eine knappe halbe Stunde später konnte sie das Gefängnis in Alexanders Begleitung verlassen. Er brachte sie nach Hause und verabschiedete sich vor der Tür mit einem Handkuss.
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Kapitel 8
Königliche Einladung
Simone Haldenstein nahm ihre Tätigkeit beim Eisenbahnbüro wieder auf. Die Zeit schritt voran und mit ihr machte die Bravadurlinie Fortschritte. Die Tunnelarbeiten am Felsbruck-Kehrtunnel und am Bravadurtunnel gingen besser voran, als geplant. Der Durchstich sollte knapp zwei Meilen lang sein und die Verbindung zur Grenzstation Palparuva herstellen. Es ließ sich absehen, dass bis zum Ende des Sommers 1872 die kompliziertesten Teile der Linie fertig trassiert sein würden und ein Teil der Tunnel fertiggestellt sein würden, wenn die Arbeiten so weiterliefen wie bisher.
Eine Woche vor dem Nationalfeiertag, dem 11. Juli, kam Alexander morgens in sein Büro. Simone erwartete ihn bereits und schien etwas auf dem Herzen zu haben.
„Guten Morgen, Fräulein Haldenstein“, grüßte der Prinz.
„Guten Morgen, Herr von Steinburg. Ich muss Sie gleich mit einer Bitte überfallen.“
„Worum geht’s denn?“
„Ab heute wird vor dem Steinburger Landgericht gegen meinen Vater verhandelt. Ich möchte zur Sitzung gehen.“
„Wenn Sie das wünschen, tun Sie das. Nur unternehmen Sie keinen Befreiungsversuch. Das endet fatal.“
„Nein, das habe ich nicht vor. Aber es könnte sich länger hinziehen. Sie haben vielleicht gelesen, dass er nicht sehr gesprächig war“, erklärte sie.
„Ich weiß. Ich habe für den zweiten Verhandlungstag eine Vorladung als Zeuge bekommen“, erwiderte der Prinz.
„Werden Sie aussagen?“, erkundigte Simone sich besorgt.
„Ich bin ein wenglischer Staatsbürger wie jeder andere auch. Der Umstand, dass ich ein Sohn des Königs bin, befreit mich nicht von meiner Zeugenpflicht“, erwiderte Alexander.
„Wie wird Ihre Aussage gewertet?“
„Hoffentlich nicht anders als andere. Das würde ich als ungerecht empfinden.“
„Welcher Richter könnte schon ignorieren, dass Sie ein Mitglied der Königsfamilie sind“, resignierte Simone.
„Ich geb’s auf!“, seufzte Alexander.
Er drehte sich zu einem Bücherregal um, in dem neben Atlanten und Folianten mit den Planungsunterlagen auch der Codex Rex Wenglandia, das wenglische Gesetzbuch, stand.
„Fräulein Haldenstein, wenn Sie heute nach Hause gehen, dann nehmen Sie sich bitte dieses Buch hier mit“, sagte er und drückte ihr das Gesetzbuch in die Hand.
„Dort lesen Sie bitte die Artikel einhundert bis einhundertfünfzig durch und merken sich das bitte. Dann wissen Sie hoffentlich, wie das Verhältnis von Königshaus und Gerichten in Wengland geregelt ist.“
„Haben Sie auch noch Jura studiert?“, fraget sie erstaunt.
„Nein, aber der Codex Rex Wenglandia wird den Prinzen und Prinzessinnen Wenglands bereits mit dem ersten Brei eingetrichtert“, erklärte Alexander lächelnd. „Ich denke, meine Einladung an Sie verschiebe ich bis nach dem Urteilsspruch gegen Ihren Vater“, ergänzte er. Simone wurde neugierig.
„Wozu oder wohin wollten Sie mich einladen?“, fragte sie. Er entschloss sich, ihre Neugier zu nutzen.
„Also gut: Am 10. Juli findet traditionsgemäß am Vorabend des Nationalfeiertages ein großes Fest im Palast statt. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie kämen, um diesen Abend mit mir zu verbringen.“
„Weiß Ihr Vater darüber Bescheid?“, fragte sie mit leisem Argwohn.
„Ja, natürlich. Er meinte vor ein paar Tagen zu mir, dass er Sie eigentlich viel zu kurz gesehen hat, als Sie ihn gebeten haben, mir zwei Schwadronen Kavallerie nach Felsbruck zu schicken. Er sagte mir, Sie wären völlig aufgelöst hereingestürzt, durch keinen Diener zu bremsen, hätten die Soldaten knapp, präzise, aber etwas hastig angefordert, sich als Sozialistin bezeichnet und wären verschwunden, bevor er auch nur Guten Tag sagen konnte. Danach sind Sie schnurstracks zur Polizei geflitzt, wie mir Rittmeister von Bühldorf erzählte. Meine Eltern möchten Sie gern kennenlernen, Simone.“
„Alexander, tragen Sie bei dem Fest eigentlich Uniform?“, fragte sie. Er nickte.
„Ja. Wollen Sie trotzdem kommen?“
Genau genommen winkte Alexander mit dem Zaunpfahl, da es als Vorstufe zur Verlobung angesehen wurde, wenn ein wenglischer Adliger ein Mädchen seinen Eltern vorstellen wollte. Simone Haldenstein war in solchen standeseigenen Besonderheiten nicht bewandert, da ihr erziehungsbedingt die Grundlagen dafür fehlten. Dieser Mangel hinderte sie aber nicht, sich von der Einladung durchaus geschmeichelt zu fühlen. Der Prinz war ein gut aussehender Mann, und eine Frau brauchte sich gewiss nicht zu schämen, mit ihm in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Aber da war noch ein kleines Hindernis: die Sozialistische Partei Wenglands. Nach der Satzung war den Mitgliedern der Partei ein freundschaftlicher Umgang mit der herrschenden Klasse verboten. Adlige galten als besonders verabscheuungswürdig. Simone hatte ohnehin schon gegen alle Bestimmungen der Satzung verstoßen, als sie bei der Eisenbahn angefangen hatte, obwohl ein Adliger ihr Vorgesetzter war. Im Augenblick hatte sie zudem noch Gewissensbisse, weil ihr Vater wegen des Aufstandes in Felsbruck vor Gericht stand. Durfte sie da mit einem Adligen auf einen aristokratischen Ball gehen?
„Bedenkzeit?“, fragte sie vorsichtig an. „Nur wegen des Prozesses, meine ich“, setzte sie hinzu.
„Bis vierundzwanzig Stunden nach der Urteilsverkündung, falls noch in dieser Woche abschließend verhandelt wird.“
„Wieso falls?“
„Nun, wenn Zeugenvernehmungen notwendig sind, eventuell Beweisanträge gestellt werden, muss der Prozess vielleicht vertagt werden. In dem Fall bis einen Tag vor dem Fest, damit ich dem Haushofmeister Ihre Teilnahme noch bestätigen kann – wegen des reservierten Platzes.“
„Ich fürchte, ich habe nichts anzuziehen für solche Fälle“, gab sie zu bedenken.
„Es wird sich etwas Passendes finden, wenn Sie mir freie Hand lassen“, lächelte er.
„Das kann ich nicht annehmen“, wehrte sie ab.
„Doch, Sie können“, entschied Alexander. „Vorausgesetzt, Sie kommen.“
Der Prozess nahm einen unerwartet kurzen Verlauf. Dr. Haldenstein brach auf Anregung seines Anwaltes sein Schweigen und legte gleich zu Prozessbeginn ein umfassendes Geständnis ab.
Der Anwalt beantragte daraufhin, im Interesse aller Beteiligten von einer Zeugeneinvernahme abzusehen, da dies für die Tatfeststellung nicht mehr notwendig sei und die Prozesskosten nur unnötig in die Höhe treiben würde. Gleichzeitig bat er um Milde für seinen Mandanten.
Der Staatsanwalt forderte eine Strafe von insgesamt zehn Jahren Kerker wegen Geiselnahme, Freiheitsberaubung, Nötigung, Anstiftung zum Aufruhr, Anstiftung zum Totschlag und Störung des Landfriedens.
Der Richter forderte die Geschworenen auf, sich zu beraten und den Spruch zu fällen. Das Urteil lautete schuldig in allen Anklagepunkten. Der Richter vertagte die Urteilsverkündung mit Strafmaß auf den nächsten Tag.
Am folgenden Tag wurde Dr. Simon Haldenstein zu acht Jahren Haft verurteilt, wobei die ohne Urteil in Palparuva abgesessenen sechs Monate und zwei Monate Untersuchungshaft angerechnet wurden, so dass eine Reststrafe von sieben Jahren und vier Monaten zu verbüßen war. Der Richter legte in seiner Urteilsbegründung dar, dass die Taten und nicht die Gesinnung den Ausschlag für das Urteil gegeben hatten.
Damit erübrigte sich die Einvernahme des Zeugen Alexander von Steinburg. Simone war zwar nicht überglücklich, aber immerhin hätte ihr Vater auch wegen Hochverrats angeklagt werden können. Der Aufstand in Felsbruck hatte nur der Anfang der Revolution sein sollen. Bei einer Schuldfeststellung Hochverrat hätte es unweigerlich ein Todesurteil gegeben. So gesehen hatte Vater Haldenstein sehr viel Glück gehabt. Dennoch stellte Simone sich erneut die Frage, ob sie in dieser Situation zu einem Fest gehen durfte, eingeladen von einem Feind ihres Vaters. Die Bedenkzeit lief ab, und sie musste Alexander eine Antwort geben.
„Ich bin unsicher, Herr von Steinburg“, sagte sie.
„Warum?“
„Nun, mein Vater sitzt im Gefängnis und ich soll in vier Tagen ein rauschendes Fest mit Ihnen feiern. Ich glaube, das wäre nicht richtig. Immerhin würde ich mit Feinden meines Vaters feiern.“
Er lächelte freundlich.
„Ich betrachte mich nicht als Feind Ihres Vaters. Sein Engagement für die Glücklosen und Unterprivilegierten schätze ich sehr. Ich billige nur die Methoden nicht. Aber als seinen Feind betrachte ich mich nicht.“
„Möglich. Aber er betrachtet Sie als seinen Feind“, sagte sie.
„Haben Sie mit ihm über die Einladung gesprochen?“
„Nein, das wage ich gar nicht.“
„Soll ich das tun?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nicht, wo mir im Moment der Kopf steht“, erwiderte sie.
„Möchten Sie Fristverlängerung? Ich reite heute Nachmittag nach Felsbruck und bin erst in zwei oder drei Tagen wieder hier. Es würde gerade noch reichen, um einen Gast dazwischenzuschieben.“
„Und die Garderobe?“, fragte sie verblüfft nach.
„Die sollten Sie mir überlassen“, erinnerte er.
„Aber ich müsste doch wohl zur Anprobe, oder?“
Alexander schüttelte lächelnd den Kopf.
„Nein, das brauchen Sie nicht.“
Empört stemmte sie die Hände in die Hüften.
„Sie Schuft! Woher haben Sie meine Maße?“, fauchte sie.
„Ein Gentleman behält seine Geheimnisse für sich. Und für einen solchen halte ich mich eigentlich“, erwiderte er, unwiderstehlich lächelnd. Sie wollte ihn wütend ohrfeigen, aber er kannte ihr Temperament inzwischen. Er fing ihre Hand ab und bedachte sie mit einem geradezu zärtlichen Handkuss.
„Auch wenn ich Sie in weitere Gewissenskonflikte stürze: Bis in drei Tagen brauche ich eine definitive Antwort“, sagte er.
„Wären Sie mir böse, wenn ich nein sage?“
„Nein, ich weiß um Ihre Nöte, Simone.“
„Warum laden Sie mich dann ein?“
„Weil ich Ihre Nähe schätze, weil ich den Abend in netter, möglichst unkomplizierter Gesellschaft verbringen möchte. Wenn es Sie beruhigt: Die Ingenieure und ihre Frauen, soweit sie in Wengland sind, sind ebenfalls eingeladen. Außerdem: Mein Vater und meine Brüder haben jeweils eine Bürgerstochter geheiratet. Wenglands Königshaus ist nicht so sehr von Standesdünkeln geprägt, wie weite Teile des europäischen Hochadels.“
„Dann betrachte ich es als Einladung im Rahmen meines Arbeitsvertrages. Das setzt die Sache in ein anderes Licht“, sagte Simone. Es war beinahe ein Aufatmen. „Ich komme.“
„Wunderbar“, antwortete Alexander. „Dann haben wir das geklärt. Damit hat sich auch mein Besuch in Felsbruck erledigt.“
„Warum?“
„Ich hätte sonst meinen guten Freund Andreas um Rat gebeten, wie ich Ihnen klarmache, wie gern ich den Nationalfeiertag mit Ihnen verbringen möchte.“
Simone lächelte sanft und tippte mit dem Finger auf den offenen Terminkalender.
„Sie waren lange nicht mehr in Felsbruck“, erinnerte sie.
„Stimmt. Dafür war ich beim Aventurviadukt in Rothenfels, in Bravadur und in Palparuva. Außerdem habe ich eine dreitägige Besprechung mit dem Breitensteiner Verkehrsminister von Eisenberg in Palparuva/Breitenstein gehabt wegen der Weiterführung zur Linie nach Dominiksburg in Breitenstein. Das wird übrigens klappen. Wir können den Bahnanschluss durchführen. Wir haben uns auf die 1435-Millimeter-Normalspur einigen können.“
„Millimeter?“
„Ja, Breitenstein hat vor der Tarnung der Region das metrische System von Frankreich übernommen. Ich sollte mit den zuständigen Ministerien reden. Das System ist praktischer als Zoll und Fuß.“
„Aha. Trotzdem – Sie waren lange nicht mehr in Felsbruck“, beharrte sie.
„Ja, seit dem Aufstand nicht mehr.“
„Sie sollten sich dort sehen lassen, Herr von Steinburg. Schon um den Arbeitern zu zeigen, dass sie wirklich ein Ohr für ihre Sorgen haben.“
Alexander stutzte. Wahrhaft – sie hatte Recht.
„Danke, liebes Gewissen“, sagte er und verbeugte sich.
„Sie wollten doch, dass ich …“
„Ja, sicher. Ich betrachte Sie ja auch als mein Gewissen. Ganz ehrlich – ohne Ironie.“
Am folgenden Morgen ritt Alexander nach Felsbruck, das er ohne Eile am Abend erreichte. Andreas empfing ihn herzlich.
„Gut, dass du kommst“, sagte er dann.
„Schwierigkeiten?“
„Der Durchschlag im Kehrtunnel müsste morgen früh erfolgen. Aber wir haben Probleme mit einem Wassereinbruch.“
„Wasserführende Schichten?“
„Sieht so aus.“
„Andi – du bist der Geologe. Ich kann bloß vermessen. Schlimmeres habe ich nie behauptet“, grinste Alexander. „Ist kein Bauingenieur hier?“
„Der kümmert sich schon drum. Du solltest dir den Tunnel trotzdem ansehen. Wir leiten das Wasser mit Kupferrohren ab. Es ist sehr interessant.“
„Gut. Was gibt’s sonst?“
„Nichts Besonderes. Beschwerden habe ich nicht bekommen.“
„Ausfälle?“
„Wir hatten einen Unfall. Einem Gleisarbeiter ist eine Schiene auf den rechten Fuß gefallen. Der Fuß musste amputiert werden.“
„Wo ist der Mann jetzt?“, fragte Alexander.
„Noch im Hospital. Können wir den überhaupt noch gebrauchen?“
„Sicher. Als Bagagewagenfahrer, wenn der Wagen auf linke Fußbremse umgebaut wird. Mit einer vernünftigen Prothese könnte er im Camp arbeiten, vielleicht sogar weiterhin trassieren.“
„So eine Prothese kann er nicht bezahlen. Nicht mal bei unseren Löhnen“, erwiderte Ettinger.
„Für solche Fälle gibt es den Invalidenfonds der KWE, lieber Andreas.“
Andreas zupfte seinen königlichen Freund am Ärmel.
„Sag mal, wovon bezahlst du das bloß?“, fragte er ihn.
„Den Invalidenfonds füttere ich mit den Zinsen meiner Apanage. Ich habe eine Stiftung daraus gemacht.“
Alexander blieb zwei Tage auf der Baustelle, sprach mit Ingenieuren und Arbeitern und konnte insgesamt zufrieden feststellen, dass die Arbeiten wie am Schnürchen liefen.
Zufrieden kehrte Alexander am 9. Juli nach Steinburg zurück. Es war schon lange nach sechs Uhr abends, und er erwartete, dass das Eisenbahnbüro in der Alvedrastraße schon geschlossen sei, doch zu seiner Verblüffung brannte dort noch Licht. Durch das Fenster sah er Simone fleißig arbeiten. Er betrat das Büro.
„Dienstschluss, Fräulein Haldenstein“, sagte er fröhlich.
„Oh, guten Abend, Herr von Steinburg. Kurz vor Büroschluss sind noch ein paar Depeschen hereingekommen. Ich wollte sie noch fertigmachen, weil morgen ja schon um drei Uhr Schluss sein soll.“
„Meine Güte, Sie sind ja preußischer als der Alte Fritz!“, lachte Alexander auf.
„Ich habe sonst keine Verpflichtungen. Mein Vater lehnt es zurzeit ab, dass ich ihn besuche. Er glaubt, ich sei Ihre Geliebte.“
„Er kann nicht glauben, dass Sie ganz einfach nur Ihren Lebensunterhalt verdienen, nicht wahr?“
„Nein“, seufzte sie. „Er kann nicht glauben, dass ein königlicher Prinz einem Mädchen aus dem Volk einfach so eine Arbeit gibt, ohne deren körperliche Reize in die Dienstleistung einzubeziehen.“
„Erstaunlich“, sagte Alexander. „Wähnt er sich schon als werdender Großvater?“
„Wenn dem so wäre, hätte er vermutlich schon einen Herzanfall bekommen.“
„Ich hoffe, Sie haben mich als reißenden Wolf geschildert?“, schmunzelte der Prinz.
„Warum sollte ich?“
„Um Ihren Vater in seiner Auffassung von Adel zu bestärken“, grinste er.
„Ich kann einfach nicht ironisch sein“, gab sie zurück.
„Egal, was jetzt noch liegenbleibt: Sie gehen jetzt nach Hause und erscheinen morgen nicht vor neun Uhr“, entschied Alexander. „Dann sind die vier Stunden, die Sie heute zu viel gearbeitet haben, gleich abgebummelt.“
„Aber …“
„Nichts aber! Es ist zehn Uhr abends, da gehören junge Damen wie Sie längst ins Bett“, erwiderte er.
„Danke, Herr von Steinburg. Und was tun Sie noch hier?“
„Ich habe nicht vor, noch einen Handschlag außer dem Löschen des Lichtes und dem Abschließen der Bürotür zu tun. Von Felsbruck ist es ein recht weiter Weg.“ Er machte eine Pause. „Danke, dass Sie mich hin gescheucht haben. Die Arbeiter haben es sehr begrüßt, dass ich so schnell nach dem Aufstand wieder da war. Es ist gut, Sie als soziales Gewissen hierzuhaben.“
A A A
Kapitel 9
Freundlicher Empfang
Am folgenden Tag schloss das Eisenbahnbüro tatsächlich um drei Uhr. Simone wollte zunächst heim, aber Alexander hielt sie zurück.
„Halt – heute geht es rechts herum.“
„Was ?“
„Auf ins Schloss“, sagte er, um deutlicher zu werden.
„Aber …“
„Sie sollen doch noch Garderobe bekommen. Kommen Sie. Unsere Hofdamen werden eine Prinzessin aus Ihnen machen.“
„Ich würde lieber ich selbst bleiben“, wehrte sie ab.
„Ich würde den Abend auch gern in Zivil feiern, aber das Hofprotokoll hat leider gewisse Vorschriften, über die sich nicht einmal ein Prinz hinwegsetzen kann“, erwiderte er sanft. „Nun kommen Sie. Die Damen werden eine Weile mit Ihnen zu tun haben.“
Er brachte die junge Frau in eine Gästesuite der Burg, ging dann fort, um eine Zofe zu holen. Simone hatte Zeit, das Gästezimmer etwas näher zu untersuchen. Die Suite bestand aus drei Zimmern. Im Wohnraum stand eine Chaiselongue, zwei bequem gepolsterte schwere Eichenholzsessel, dazu ein geschnitzter Eichentisch, das alles vor einem Kamin angeordnet. Zwischen Kamin und Sitzgruppe lag ein recht neues Widderfell mit Kopf. An der Wand hingen einige Gemälde, die Jagdszenen zeigten. Über dem Kamin hing ein Reitersäbel, gekreuzt mit einem Repetiergewehr, wie es von der wenglischen Kavallerie benutzt wurde. Auf dem Kaminsims stand eine Pendeluhr. Gerade schlug es halb vier.
Simone ging weiter. Der zweite Raum war ein Schlafzimmer, in dem ein großes Doppelbett mit Samthimmel stand. In den Himmel war das königliche Wappen – ein gevierter Schild von grün und rot, in den vier Feldern jeweils eine goldene Lilie, getrennt durch ein goldenes Kreuz – eingestickt. Die breiten Betten waren mit weißem Damast frisch bezogen, es duftete nach Lavendel und guter Waschseife. Gegenüber dem Bett befand sich wieder ein Kamin, der sich den Zug mit dem im Wohnzimmer befindlichen Heizplatz teilte. An der Wand gegenüber dem Fenster stand ein zweitüriger, mit Schnitzereien verzierter Eichenschrank, in dem der jeweilige Gast seinen Kofferinhalt lassen konnte. Sie öffnete den Schrank und entdeckte eine Auswahl von wenigstens zehn Kleidern in verschiedenen Farben und Schnitten. Eine Lavendelwolke kam ihr aus dem Möbel entgegen. Im Schrank waren sechs oder sieben Lavendelsäckchen verteilt, die dazu dienten, Motten fernzuhalten und gleichzeitig einen angenehmen Duft zu verbreiten.
Der dritte Raum war ein Badezimmer, den ein emaillierter Badezuber aus Stahlblech mit dem dazugehörigen Badeofen beherrschte. Das Bad war mit hellen Keramikfliesen ausgelegt und mit sehr hellem Kiefernholz an Wänden und Decke getäfelt. Alle drei Fenster waren mit weißen Gardinen behängt, in die die königliche Lilie eingewirkt war. Schwere Vorhänge aus dunkelgrünem, goldgefasstem Samt, die mit einem gleichartigen Bandelier gerafft waren, dienten zur Verdunkelung.
Was Simone zu sehen bekam, war gewiss nicht billig, wirkte aber keinesfalls überladen – sah man von der kostbaren Stickerei im Betthimmel ab. Es war das Mindeste, was von einem alten und vornehmen Haus wie diesem zu erwarten war.
Alexander kehrte zurück und hatte eine ältere Dame mit grauem Haar bei sich. Er machte eine einladende Handbewegung.
„Luise, darf ich Ihnen Fräulein Simone von Haldenstein vorstellen? Ich vertraue Sie Ihnen an. Wo die Sachen sind, wissen Sie ja. Simone, das ist Madame Luise, eine unserer Hofdamen. Sie wird Ihnen behilflich sein. Wenn Sie einen Wunsch haben, brauchen Sie es nur Luise zu sagen. Ich gehe jetzt. Gegen sieben Uhr hole ich Sie ab.“
„Sieben Uhr?“, entfuhr es Simone. „Und was soll ich bis dahin anstellen?“
Alexander lächelte freundlich.
„Nun, wenn Sie in Ruhe ein Bad genießen wollen und Luise Sie richtig hübsch machen soll, sollten Sie genügend Zeit dafür haben. Sollten Sie früher fertig sein, lassen sie mich rufen.“
„Und was tun Sie in der Zwischenzeit?“
„Ich werde genüsslich in der Wanne schwimmen, mir die Haare nachschneiden lassen und mir noch eine Rasur gönnen.“
„Meinen Sie denn, Sie wären früher fertig als ich?“
„Ich weiß, was ich anziehen muss. Das erspart Zeit bei der Kleiderwahl“, grinste er. „Also, lassen Sie sich schön machen.“
Er zwinkerte Luise zu und ging mit einer höflichen Verbeugung.
„Oh, Luise, geben Sie mir ein paar Ratschläge, wie ich mich verhalten soll? Ich war noch nie auf einem königlichen Fest.“
Die ältere Dame sah die junge Frau einen Moment an.
„Regen sie sich zunächst einmal nicht auf. Unser Königspaar ist längst nicht so distanziert, wie die Abgehobenheit dieser alten Burg glauben macht. Sie werden bestimmt glauben, die Majestäten schon einmal gesehen zu haben. Außerdem sind Sie in Begleitung des anständigsten jungen Mannes, den ich je gekannt habe. Aber abgesehen davon sind Sie ja selbst aus gutem Haus.“
Simone sah die Zofe verblüfft an.
„Oh, das von vergessen Sie ganz schnell wieder. Das hat Seine Hoheit dazu erfunden. Ich bin bürgerlich“, erwiderte sie schließlich. „Sagen sie, wie alt ist Seine Hoheit eigentlich?“, fragte sie in aufkommender Neugier. Bislang hatte sie noch nie jemanden getroffen, der ihr hätte Auskunft geben können – und Alexander selbst hatte sie nicht fragen wollen, um ihn nicht zu ermutigen, sich noch näher mit ihr zu befassen. Sie gingen langsam durch die Zimmerflucht.
„Siebenundzwanzig. Und er ist ein sehr netter junger Mann.“
„Hat er eine Frau?“
„Nein, er ist noch zu haben. Und da Sie es schon bis ins Schloss geschafft haben, haben Sie die besten Chancen. Um den Festplatz bei Prinz Alexander reißen sich die jungen Damen von Steinburg.“
„Wer war denn sonst seine Begleiterin?“
„Jemand, die in der Regel sein Vater ausgesucht hat. Er war nie glücklich darüber. Wissen Sie, ein unverheirateter Prinz, zumal, wenn er der letzte noch freie Mann im Königshaus ist, ist schwer belagert. Ich glaube, das war auch ein Grund, weshalb er so lange im Ausland gewesen ist. Heute ist jedenfalls der erste 10. Juli, an dem ich Seine Hoheit so fröhlich gesehen habe“, sagte Luise.
„Sie meinen doch nicht, dass er meinetwegen …“, stotterte Simone. Luise maß die junge Frau mit einem prüfenden Blick.
„Oh, doch, gnädiges Fräulein, das glaube ich!“, lächelte sie. „Wollen Sie erst die Garderobe aussuchen?“, fragte sie dann.
„Verzeihen Sie die Frage, aber haben sie denn Garderobe, die mir passt?“, fragte Simone.
„In den letzten zwei Wochen waren hier beinahe zwanzig Schneiderinnen beschäftigt, die neue Garderobe gemacht haben. Seine Hoheit hat einiges speziell für Sie anfertigen lassen, wie er mir gesagt hat, damit Sie eine Auswahl haben. Wollen Sie erst aussuchen oder erst baden?“
„Vielleicht wäre es besser, erst auszusuchen, damit ich mich nach dem Bad gleich anziehen kann“, meinte Simone. Luise und sie gingen ins Schlafzimmer zum Schrank, den Simone bereits besichtigt hatte.
„Sagen Sie, Luise, wird Seine Hoheit heute Abend seine grüne Uniform tragen?“
„Ja, heute trägt er seine Hofuniform, die ist auch grün.“
„Grün …“, sinnierte Simone, „dazu passt Grün, Gelb oder Weiß oder Schattierungen davon.“
„Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben dürfte, gnädiges Fräulein?“, setzte Luise an.
„Sagen Sie einfach Simone, ich bin bürgerlich“, bat Simone.
„Zu Ihren schönen blonden Locken passt Grün sehr gut“, schlug die Zofe vor.
„Hoffentlich passt das Grün zu dem Grün der Uniform, in der der Prinz erscheint“, mutmaßte Simone. Luise lächelte sanft.
„Bestimmt. Seine Hoheit hat die Näharbeiten schließlich in Auftrag gegeben“, beruhigte die Zofe. Sie nahm ein dunkelgrünes Satinkleid aus dem Schrank. Der eckige Ausschnitt war dezent und mit Schweizer Spitze züchtig verschlossen, auch wenn ein gewisser Anteil Haut sichtbar blieb. Die Ärmel endeten in enganliegenden Manschetten, die knapp unter den Ellbogen ansetzten und bis zum halben Unterarm reichten. Dazu gehörten noch ein Paar weiße Glaceehandschuhe, die über den Manschettenansatz reichten.
„Das Kleid und eine Knotenfrisur, in die ich einige dunkelrote Samtbänder einflechte – und ich garantiere, dass Ihnen heute Abend kein Mann in diesem Palast widerstehen kann.“
„Oh, daran liegt mir eigentlich gar nichts“, erwiderte Simone, aber sie probierte das Kleid an. Es passte in jeder Hinsicht. Sie entschied sich für das Kleid.
Luise richtete die Sachen her und brachte Simone dann ins Bad. Die Besucherin stellte fest, dass Lavendel offenbar der Duft im Hause Wengland-Steinburg war. Auch Badesalz und Seife waren damit parfümiert. Die Zofe gab sich alle Mühe, aus der Bürgerstochter eine leibhaftige Prinzessin zu machen – und sie hatte Erfolg damit. Das lange, blonde Haar kämmte sie nach dem Waschen ganz nach hinten, steckte es dann mit vielen Haarnadeln hoch und schlang dunkelrote Samtbänder mit Perlenverzierung hindurch. Dann half sie Simone ins Leibchen und schnürte es zu.
„Lieber nicht so fest, Luise. Ich fürchte, es muss noch was hinein“, stoppte Simone.
„Klug von Ihnen. Die meisten Frauen lassen sich gleich ganz einschnüren. Und bei der Suppe fallen sie vor Atemnot in Ohnmacht.“
Die Zofe schloss das Oberkleid und sah auf die Uhr.
„Sehen Sie – gleich ist es sieben“, lachte sie.
Fast im gleichen Moment klopfte es.
„Ja, herein!“, rief Simone. Die Tür öffnete sich, und Simone blieb beinahe das Herz stehen, ehe es mehr als aufgeregt zu klopfen begann. Der Mann, der zur Tür hereinkam, schien geradewegs aus dem Märchenbuch zu kommen.
Alexander trug die Hofuniform der Gardekavallerie. Der dunkelgrüne Waffenrock hatte einen dunkelroten Samtstehkragen und ebensolche Aufschläge, die mit goldenen Litzen eingefasst waren. Sieben goldfarbene Lilienknöpfe verschlossen den Rock, die nach Husarenart mit waagerecht verlaufenden goldenen Litzenschlaufen verziert waren, an deren Enden die Litzen zu einer Lilie geformt waren. An den spitz zulaufenden Ärmelaufschlägen bildeten die Litzen kompliziert wirkende Husarenschlingen, die Abnäher auf dem Rücken verschwanden unter Goldtressen, die unter der Schulter und am unteren Rücken in Lilienschlingen endeten.
Anders als bei der normalen Husarenuniform, bei der statt Schulterklappen nur schmale Litzenschlaufen zur Sicherung der Tragriemen des Säbels vorhanden waren, markierten goldfarbene Epauletten mit dünnen Goldfransen und zwei kleinen sechszackigen Silbersternen an den ovalen Enden seinen Dienstgrad.
Um die rechte Schulter rankte eine goldfarbene Fangschnur mit breitem Zopf, die am obersten Knopf des Rocks befestigt war. Aus dem dunkelroten Kragen hing ein Orden an einem rot-gelb geteilten Ordensband heraus. Er hatte die Form eines dunkelrot emaillierten und golden geränderten Malteserkreuzes, belegt mit einer grünen Scheibe, in deren Zentrum eine goldene Lilie war. Ein Gold und Schwarz gestreiftes Koppel, das ein rundes Schloss mit der Königskrone zusammenhielt, trug er über dem Waffenrock. Statt des schweren Kavalleriesäbels hing ein kostbar verzierter Portepee-Dolch an der linken Seite des Koppels.
Eine dunkelrote Hose mit einer 3/8-Zoll breiten Goldbiese vervollständigte die Uniform. Die Hose wurde von Stegen unter den blankgeputzten schwarzen Halbstiefeln gehalten. Zu Pferd verzichtete Alexander in der Regel auf Sporen, aber zur Hofuniform gehörten zwingend Tanzsporen. Für den König und seine Söhne waren sie vergoldet – eine Reminiszenz an die goldenen Sporen der Ritter. Eine Kopfbedeckung hatte der Prinz nicht bei sich.
„Guten Abend, gnädiges Fräulein“, sagte er leise, verbeugte sich und hob ihre Hand an seine Lippen.
„Lieber Himmel, das träume ich doch nur!“, murmelte Simone. „Verzeihung – Guten Abend, Königliche Hoheit“, ergänzte sie errötend.
„Bitte, Simone – ich lasse nicht einmal zu, dass mich der jüngste Stallbursche Königliche Hoheit nennt. Tun Sie mir den Gefallen und nennen Sie mich Alexander“, bat er.
„Wenn Sie es wünschen – Alexander“, erwiderte Simone, noch etwas unsicher.
„Kann ich mich zurückziehen, Hoheit?“, fragte Luise mit fast spitzbübischem Lächeln.
„Luise!“, entfuhr es Alexander mit gespielter Empörung.
„Verzeihung, darf ich …?“
„Ja, natürlich. Sie können gehen. Danke, Luise.“
Luise knickste und ließ die jungen Leute allein.
„Sie sehen bezaubernd aus, Simone“, sagte Alexander leise. „Sie sind eine schöne Frau.“
Simone bemerkte, dass sie ob des warmen Tons seiner Stimme rot wurde.
„Alexander – woher haben Sie meine Maße gehabt? Das Kleid sitzt wie angegossen“, fragte sie, wie um ihre Sicherheit zurückzugewinnen.
„Simone – ich bin Vermessungsingenieur“, grinste er. Um zu verhindern, dass die Gewitterwolken in ihren dunkelblauen Augen zu einem Blitz in Form einer Ohrfeige führten, nahm er vorsichtig, aber bestimmt beide Hände der jungen Frau und bedachte sie mit Handküssen.
„Darf ich bitten?“, fragte er dann und bot ihr ritterlich den rechten Arm. Noch etwas verwirrt nahm sie dankend an. Ein scheuer Seitenblick maß den Prinzen von der Seite. Das dunkelbraune Haar war nachgeschnitten, das männlich-schöne Gesicht frisch rasiert. Ein frischer, dennoch unverkennbar männlicher Duft eines guten Rasierwassers umgab den jungen Mann.
Durch einige Flure geleitete er sie in den großen Festsaal. Der Ausrufer in Livree, der an der Tür stand, bekam ein Kärtchen von Alexander zugesteckt, schaute darauf, sah den Prinzen fragend an, der nur nickte. Der Ausrufer tippte seinen Stab dreimal auf und rief:
„Seine Königliche Hoheit, Prinz Alexander von Wengland und Baronesse Simone von Haldenstein!“
Simone stutzte.
„Alexander – ich bin keine Baronesse!“, protestierte sie leise. Er legte den Finger an die Lippen.
„Gedulden Sie sich ein paar Minuten, dann wissen Sie mehr“, sagte er. Unnachgiebig führte Alexander die junge Dame zu seinen Eltern, die am Ende des Saales die Gäste persönlich begrüßten.
„Darf ich den Majestäten Simone, Baronesse von Haldenstein vorstellen?“, fragte Alexander mit einer Verbeugung vor seinen Eltern. König Wilhelm nahm mit einem Lächeln Simones schmale Hand, gab ihr einen Handkuss.
„Willkommen, liebe Baronesse von Haldenstein“, sagte er.
„Majestät, ich bin keine Baronesse“, protestierte sie erneut.
„Doch, liebe Simone, das sind Sie. Sie wissen es nur nicht. Ihr Vater lehnt es einfach ab, seinen ihm zustehenden Titel als Baron von Haldenstein zu tragen. Das ändert nichts an der Tatsache, dass er vom Königlichen Hofamt weiterhin als Baron von Haldenstein geführt wird. Sie, als sein einziges Kind, sind die Baronesse. Wenn Sie vielleicht selbst den Titel nicht führen möchten, machen Sie es wie mein Jüngster. Alexander lehnt es auch ab, als Königliche Hoheit angesprochen zu werden. Er hasst es geradezu. Aber heute Abend kommt er nicht drumherum. Bei diesem Fest sind vollständiger Titel und Hofuniform vorgeschrieben“, erklärte der König. Sein ergrauter, sorgsam gepflegter Vollbart verzog sich zu einem fast jungenhaften Grinsen. Als junger Mann musste er etwa so ausgesehen haben wie Alexander. Königin Annette zog die Hand der recht verwirrten jungen Frau an sich.
„Willkommen, liebe Baronesse. Ich gebe zu, mein Sohn hat sie in schönen Farben beschrieben, aber Ihre wahre Schönheit hat er verschwiegen“, begrüßte sie Simone. Deren unsicherer Seitenblick traf Alexander, der mit hinter dem Rücken gehaltenen Händen neben ihr stand. Ein unendlich warmer Blick umfing sie und ließ sie erröten. Sie versuchte einen Hofknicks, der ihr auch halbwegs gelang.
Als sie weitergingen, tippte sie den Prinzen an.
„Alexander – das ist doch Schwindel!“, empörte sie sich leise.
„Das mit dem Titel? Nein, Simone, das ist kein Schwindel. Vor etwa zweihundert Jahren wurde Haldenstein zur Baronie erhoben. Ihr Vater, der Doktor Simon von Haldenstein, ist der Erbe dieses Titels, weil er der älteste Sohn Ihres Großvaters, Julius von Haldenstein, ist. Auch Ihr Großvater hat sich aus dem von nichts gemacht. Offizielle Urkunden, wie sein Testament, hat er aber mit vollständigem Namen und seinem Titel unterschrieben. Ihr Vater hat seinen ihm zustehenden Titel nie getragen, sich nie zu seinem Stand bekannt. Er kann allerdings nie in der Weise verzichten, dass er auf jüngere Geschwister übergeht oder gar ganz erlischt. Der Titel könnte nur vom Adelsgericht aberkannt werden – aber nur, wenn der Titelträger des Hochverrats für schuldig befunden wird. Folglich: Auch wenn Ihr Vater meint, seinen Titel nicht tragen zu wollen oder zu können – Sie erben diesen Titel und Sie werden ihn weitervererben“, erklärte Alexander.
„Das kann ich schlecht, da ich den Namen meines Mannes annehmen muss, wenn ich heirate. Oder ist das Gesetz geändert?“
„Nein, aber bei Adelstiteln gibt es eine Ausnahmeregelung. An sich vererbt nur ein männlicher Titelträger auf seinen Sohn, das ist richtig. Der Königsthron ist auch an ein rein männliches Erbe gebunden. Aber schon König Ulrich war der Ansicht, dass eine Familie nicht völlig ausstirbt, nur weil sie ausschließlich weibliche Nachkommen hat. Deshalb hat er im Codex Rex Wenglandia eine Bestimmung erlassen, nach der ein Adelstitel – mit Ausnahme des Königstitels – auch an ein Mädchen vererbt werden kann, wenn sie die einzige Erbin des Titelträgers ist. Die Bestimmung im Ehestandsgesetz berührt diese Regelung nicht. Gesetzt den Fall, Sie heirateten einen Adligen – mich zum Beispiel – wäre ein Kind erbberechtigt auf beide Titel, in Personalunion sozusagen. Haben Sie mehrere Kinder, kann die Titelweitergabe testamentarisch geregelt werden.“
Sie waren in den Bankettsaal gegangen. Alexander rückte Simone den Stuhl zurecht und setzte sich dann neben sie auf den für ihn vorgesehenen Platz. Sie saßen ziemlich in der Mitte der schier unendlich langen Tafel.
„Alexander?“
„Ja?“
„War das eben ein Heiratsantrag?“, fragte sie.
„Wenn ich jetzt ja sage, habe ich die Vorspeise auf der Uniform, sage ich nein, vermutlich den Wein. Sie sind mir noch zu impulsiv, um Ihnen in Griffweite von Wurfgeschossen zu sagen, ob es ein Antrag war“, antwortete Alexander lächelnd. Zögernd legte sie ihm die Hand auf den Arm. Selbst durch die Uniform spürte sie Wärme.
„Bitte – weichen Sie mir nicht aus. Sie wissen so viel von mir, von meiner Familie, von meiner Herkunft. Umsonst macht sich doch niemand diese Mühe, die Sie sich gemacht haben, um das alles in Erfahrung zu bringen.“
Ein Kellner erschien und bot Weine an.
„Zur Vorspeise, denke ich, nehmen wir einen Weißen. Ist Rebmärker da?“
„Ja, Hoheit.“
„Dann Rebmärker Riesling.“
„Sehr wohl, Hoheit. Zum Hauptgang?“
„Rehrücken, oder?“
„Ja.“
„Wenn Rebmärker Blauburgunder da ist, von dem.“
„Gern, Hoheit. Wollen Sie auch schon zum Dessert bestellen?“
„Ich denke, das hat Zeit.“
„Jawohl, ich komme später noch einmal.“
Der Diener verbeugte sich und ging fort.
„Ist das nicht zu viel durcheinander?“, fragte Simone vorsichtig.
„Nein, nicht in normalen Maßen getrunken. Aber wenn Sie Wein schlecht vertragen, trinken sie am besten nach dem Essen. Oder möchten sie Wasser zum Verdünnen haben?“
„Ja, das wäre gut“, gab Simone zurück. „Also – Antrag oder nicht?“, hakte sie dann nach.
„Ja“, sagte er. „Simone, das war ein Antrag. Wenn Sie möchten, können wir gern auf dem Balkon …“
„Danke, nicht nötig“, entgegnete sie. „Alexander, ich kann nicht.“
„Schon vergeben?“, fragte er.
„Nein, das nicht, aber …“
„Wir liegen politisch zu weit auseinander?“
„Wenn Sie nicht geheuchelt haben, nein. Aber mein Vater wird das nicht schlucken. Er wird nie einen Prinzen als Schwiegersohn akzeptieren.“
„Darf ich fragen, wie alt Sie sind, Simone?“
„Fünfundzwanzig.“
„Sie sind volljährig, Simone. Ihr Vater kann Ihnen keine Vorschriften mehr machen. Sie verdienen Ihr eigenes Geld, sind unabhängig – jedenfalls von den Zuwendungen Ihres Vaters.“
„Schon; aber ich würde meinen Vater und meine Freunde verlieren. Eine Sozialistin, die sich mit einem Adligen einlässt, begeht einfach Verrat. Außerdem gehört zu einer Heirat in meinen Kreisen so etwas wie Liebe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich aus Gründen der Staatsräson heiraten wollen. Das wäre der einzige vernünftige Grund, nicht aus Liebe heiraten zu wollen. Und ich weiß nicht, ob ich Sie liebe, Alexander.“
„Woran mangelt es?“
„Ich kenne Sie so wenig, dass ich mir keine Meinung bilden kann.“
„Wie müsste ein Mann sein, den Sie lieben könnten?“, fragte er sanft.
„Ehrlich gesagt – ich weiß es nicht. Ich hatte noch keine Zeit, mir meinen – persönlichen – Märchenprinzen zu erträumen.“
„Ich werde mir alle Mühe geben, diesem Traum bei Ihnen ein wenig Form zu geben“, lächelte Alexander.
Der Kellner servierte den Weißwein, der Prinz kostete und befand ihn für gut. Er bestellte noch einen Krug Wasser, damit Simone ihren Wein verdünnen konnte. Sie registrierte es mit Anerkennung. Er hatte offenbar nicht vor, sie unter Alkohol zu setzen um sie sich gefügig zu machen.
Die Majestäten erschienen, die Tafel war vollzählig. König Wilhelm eröffnete mit einer kurzen Ansprache die Tafel. Die Vorspeise wurde aufgetragen. Ein Diener servierte eingelegten Lachs, der auf einem weißen Porzellanteller mit dem königlichen Wappen auf dem Tellerrand mit reicher Dillgarnitur und Dill-Senf-Sauce kunstvoll angerichtet war. Der Diener drehte den Teller so, dass das Wappen zur Tischmitte hin zeigte.
„Alex, was ist das?“, erkundigte sie sich.
„Gravad Lax, eine schwedische Spezialität. Unser Hofkoch hat einige Zeit in Schweden gelebt und hat das Rezept von dort mitgebracht“, erklärte Alexander. „Immerhin sprechen sie mich schon mit Alex an. Darf ich das als Freundschaftsangebot werten?“
Sie nickte.
„Vielleicht sollten wir dann die Förmlichkeit des Sie beenden?“
„Ich bin vorsichtig, Herr von Steinburg“, zog sie sich eilig in ihr Schneckenhaus zurück, aus dem sie sich schon fast zu weit herausgewagt hatte. Alexander ließ ihr Zeit, sich wieder zu beruhigen.
‚Scheuer als ein Murmeltier’, dachte er.
A A A
Kapitel 10
Festnacht
Nach dem Diner hatten die Gäste bis zum Beginn des Festballes etwas Zeit zum Verdauen des üppigen Mahles. Die meisten Gäste nutzten die Zeit für Unterhaltungen mit den bisherigen Tischnachbarn, einige Herren in prächtigen Uniformen zogen sich in den Rauchsalon des Schlosses zurück, ihre Gattinnen plauderten derweil angeregt über andere Damen des Adels, die nicht anwesend waren. Manche der Klatschbasen schauten zu Alexander und Simone und tuschelten über das hübsche Paar. Alexander bemerkte es aus dem Augenwinkel und lud Simone zu einem Rundgang durch die Burg ein, um den Klatschweibern aus dem Weg zu gehen.
„Ich bin einfach überwältigt, Alexander“, sagte Simone, als sie mit dem Prinzen durch einen der unendlich erscheinenden Flure ging.
„Wovon?“
„Von dieser Pracht, dieser – Verzeihung – Verschwendung.“
„Sie meinen, wir wären besser auf Wasser und Brot umgestiegen und hätten das Geld den Armen gegeben?“
„Ja.“
„Oh, Simone – auch in diesem Haus gibt’s nicht täglich Lachs und Kaviar. Wie ich meinen Vater kenne, ist in der nächsten Woche Essen auf Sparflamme angesagt: Montag Bohnensuppe, Dienstag Polenta mit Stippe, Mittwoch Kohlsuppe, Donnerstag Spaghetti, Freitag Hering und Pellkartoffeln, Samstag Bratkartoffeln und Spiegelei und Sonntag vielleicht Spinat, Pfui Spinne! Nein, liebe Simone, der Steinburger Hof lebt nicht das ganze Jahr so in Saus und Braus. Solche Kostbarkeiten werden bestenfalls zu Ostern, Pfingsten, zu Sankt Martin, Weihnachten und zum Bankett vor dem Nationalfeiertag aufgefahren“, lachte Alexander. Sein Lachen machte ihn sehr sympathisch, fand Simone. Etwas verstohlen sah sie ihn genauer an, als sie durch die Flure gingen. Sie erreichten die Königsgalerie, wo die Porträts sämtlicher Herrscher Wenglands hingen. Simone betrachtete die Gemälde.
„Ich glaube, Sie haben mit diesen dreien sehr viel Ähnlichkeit“, sagte sie dann und wies auf die Bilder der Könige Martin II., Ulrich I. und des Fürsten Wolf.
„Ich wage nicht, das zu bestätigen. Immerhin waren ausgerechnet diese drei unsere bedeutendsten Fürsten, liebe Simone“, erwiderte Alexander. Simone sah noch einmal genauer hin und verglich die Gemälde mit ihrem Begleiter. Er hatte tatsächlich die gleichen warmen braunen Augen, die auch seine Vorfahren hatten, schien ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.
„Wann haben sie gelebt?“, fragte sie.
„Wie genau wollen Sie es wissen?“, fragte er zurück. Sie sah ihn fragend an. „Ich meine – wollen Sie die genauen Daten oder genügen Ihnen grobe Jahreszahlen?“
Simone wollte es genauer wissen, und Alexander erzählte, was er von seinen Vorfahren wusste. Sie musste feststellen, dass Alexander sehr viel erzählen konnte. Es war sehr interessant von Martin zu hören, der – erzogen von dem französischen Ritter und Baron Balian von Ibelin, dem Verteidiger Jerusalems gegen Sultan Saladin, – in beinahe kriminalistischer Arbeit eine Verschwörung aufgedeckt hatte und einen dauerhaften Frieden mit Scharfenburg gestiftet hatte; von Ulrich, der nach jahrelangem Exil und entwürdigender Gefangenschaft bei den Wilzaren Wengland zurückerobert hatte und Wengland ein noch immer gültiges Gesetzbuch gegeben hatte; von Wolf, dem bitterarmen Grafen, der Wengland im Dreißigjährigen Krieg wiedervereinigt hatte und eine mustergültige Verwaltung geschaffen hatte.
Sie gingen weiter und kamen an den persönlichen Gemächern des Königspaares vorbei. Vor den Türen standen Wächter in Uniformen, die an die Zeit des Dreißigjährigen Krieges erinnerten. Sie waren in den wenglischen Staatsfarben Grün und Rot gehalten und ähnelten den Kasacks der königlichen Musketiere Frankreichs zur Regierungszeit Ludwigs XIII., doch war die Grundfarbe des Kasacks eben dunkelgrün statt dunkelblau und statt eines silbernen Lilienkreuzes mit goldenen Flammen in den Kreuzecken war eine gelbe Wappenlilie in die Mitte der Brust eingestickt, die etwa ein Drittel der Länge des Vorderteils einnahm. Eine Goldlitze grenzte den Rand der dunkelgrünen Außenseite vom rotseidenen Futter ab, das an den Seiten wie eine Paspel leicht überstand. Als Kopfbedeckungen trugen die Gardisten ein grünes Barett mit einer weißen Feder an der linken Seite, die von einer metallenen goldenen Lilie gehalten wurde.
„Was sind das für Leute?“, fragte Simone.
„Das sind Herwigsgardisten“, erwiderte Alexander.
„Was für Garden?“
„Herwigsgardisten.“
„Und was haben die zu tun? Nur vor der Tür stehen?“, bohrte Simone. Alexander lächelte.
„Nein. Die Herwigsgarde ist die unmittelbare Leibwache des Königs und seiner Familie. An Festtagen wie diesem tragen sie vor den Gemächern des Königs diese Traditionsuniformen, die Fürst Wolf so bestimmt hat, als er diese Garde wieder aufstellte. Morgen, bei der Parade tragen sie Rüstungen, die der Regierungszeit König Philipps nachgestaltet sind. Zum normalen Dienst gehört die übliche grüne Uniform – ähnlich wie meine, nur mit weißen Aufschlägen.“
„Woher kommt der Name?“
„Herwig war der erste Kommandeur der Königsgarde. Er soll ein Räuberhauptmann gewesen sein, der König Philipp zu Thron und Titel verholfen hat.“
Alexander erzählte Simone die Sage vom Geisterreiter, als der Philipp seinen Thron erobert hatte. Eine Uhr, irgendwo auf dem Flur, schlug elfmal.
„Oha!“, entfuhr es Alexander. „Vor lauter Museum und Familiengeschichte habe ich glatt den Ball vergessen!“
„Das macht nichts, ich tanze ohnehin nicht gut“, beruhigte Simone. „Außerdem finde ich die Führung sehr interessant.“
„Im Vertrauen – ich bin auch kein berauschender Tänzer“, gestand er leise. „Übrigens: Das Feuerwerk fängt gleich an. Vertrauen Sie mir?“
„Wieso?“
„Weil wir direkt vor einem Balkon stehen, von dem wir bestimmt einen sehr schönen Blick haben werden“, sagte er leise. Sie sah ihn im Schein der Flurkerzen einen Moment an. Dann dämmerte es ihr, es könnte Absicht gewesen sein, sie in diesen Flur zu lotsen.
„Das haben Sie absichtlich gemacht. Sie sind ein Schuft, Alex – aber der liebenswerteste, den ich kenne“, setzte sie sie lächelnd hinzu.
„Oh, Sie haben mich ertappt. Ich bekenne mich schuldig“, gab er lachend zurück und öffnete die Balkontür.
Fast pünktlich, mit dem letzten Böllerschuss, traten sie auf den Balkon. Ein wunderschönes Feuerwerk wurde abgebrannt. Simone sah wie gebannt auf die bunten Lichter. Sie bemerkte gar nicht, dass sie in der kühlen Nachtluft zu zittern begann. Genauso wenig merkte sie, dass ihr Begleiter kurz verschwand. Erst eine sanfte Berührung an den Schultern ließ sie aufsehen. Er hatte eine warme Stola geholt und legte sie ihr um. Einen sehr langen Augenblick sahen sie sich an. Als sie in seinen Augen die Spiegelung des Feuerwerks sah, schien die Zeit stillzustehen. Sie ließ es geschehen, dass er sie vorsichtig an sich zog und sie zärtlich küsste. Sie umarmte ihn und gab sich völlig der Süße des Augenblicks hin. Ohne es bewusst zu wollen, schmiegte sie sich an ihn, spürte die kräftige Muskulatur, die die Uniform sorgsam verbarg.
„Irgendwie träume ich sehr deutlich, Alex“, murmelte sie.
„Könnte es sein, dass du deinen Märchenprinzen gefunden hast?“, fragte er ebenso leise, umarmte sie und drückte einen sanften Kuss auf ihr Haar. Simone nickte schweigend.
„Ich liebe dich, Simone“, wisperte er.
„Bitte, Alex, küss mich“, bat sie. Es war ein Wunsch, den er ihr nur zu gern erfüllte. Als er sich – zugegeben etwas mühsam – aus dem Kuss löste, der beinahe mehr bewirkte, als er sich für diesen Abend vorgenommen hatte, packte ihn die Lust zu theatralischer Übertreibung: Er nahm eine ritterliche Kniebeuge ein und sagte:
„Bitte, schöne Baronesse, erhört das Flehen Eures Ritters: Ich bitte um Eure Hand, holde Maid“, deklamierte er. Simone merkte sehr schnell, dass seine Geste humorig gemeint war. Allzu dramatisch kniete er vor ihr.
„Komm hoch, Alex!“, lachte sie. „Du weißt, dass ich das aus gewissen Gründen nicht mehr bin.“
Er erhob sich lachend und umarmte sie wieder.
„Das weiß ich, aber es hindert mich nicht, die Jungfrau in dir anzusprechen. Körperlich, liebste Simone, bist du es wohl nicht mehr. Aber du bist im Inneren immer noch ein scheues Reh. Fast ein Jahr ist es jetzt her, dass wir uns zufällig in der Kutsche gegenübersaßen. Ich musste sehr vorsichtig sein, um dich nicht zu verschrecken. Ich möchte wetten, dass ich mir gestern noch einen Satz warme Ohren gefangen hätte, hätte ich es gewagt, dich zu küssen.“
„Wie lange hast du Lümmel das hier geplant?“
Alexander grinste spitzbübisch.
„Wenn ich ehrlich sein soll: Seit dem Tag, an dem du mir in der Postkutsche gegenübergesessen hast“, sagte er leise.
In leisem Gespräch und Schmusen vertieft, hatten Simone und Alexander gar nicht bemerkt, dass das Feuerwerk längst vorüber war. Erst, als die Uhr des Steinburger Doms viertel vor zwölf schlug, wurden sie sich dessen bewusst. Er brachte sie über die langen, einsamen Flure zurück zum Festsaal. Ihr Fehlen war in der Masse der Gäste überhaupt nicht aufgefallen.
„Sag, möchtest du die Parade morgen von hier aus sehen?“, fragte der Prinz plötzlich.
„Wenn das möglich wäre? Wann ist die denn?“
„Um zehn Uhr. Komm.“
Er brachte Simone zu seinen Eltern, die gerade die Gäste verabschiedeten. Er und Simone waren die Letzten, die zum Königspaar kamen.
„Ich hätte eine Bitte an die Majestäten“, sagte er. König Wilhelm sah die jungen Leute freundlich an.
„Nur zu, mein Junge.“
„Könnte die Baronesse von Haldenstein die Parade morgen von der Burgloge aus sehen?“
„Wenn sie in deiner Begleitung ist, Alex, natürlich“, antwortete der König. Er schaute auf seine Taschenuhr. „Darf ich Sie dann einladen, für heute Nacht Gast auf der Steinburg zu sein, Baronesse?“
„Ich soll hierbleiben?“, fragte Simone verblüfft.
„Nun, es ist jetzt fast zwölf. Wenn Sie jetzt nach Hause gehen, sind Sie vor zwei Uhr nicht im Bett. Sie sollten die Parade ausgeschlafen und gut gefrühstückt ansehen können. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie heute Nacht unser Gast wären“, erwiderte der König.
„Danke, ich nehme Ihr freundliches Angebot an, Majestät“, erwiderte Simone mit einem Knicks.
„Wenn die Majestäten erlauben, begleite ich die Baronesse zu den Gasträumen“, bat Alexander mit einer leichten Verbeugung. Der König sah den jungen Mann hintergründig lächelnd an.
„Benimm dich, mein Sohn“, warnte er. Alexander bot Simone den Arm.
„Darf ich bitten?“
Simone verabschiedete sich noch von Königin Annette und ließ sich von Alexander begleiten.
„Ich habe doch nicht geträumt, als ich die beiden auf dem Romeo-und-Julia-Balkon gesehen habe“, lächelte Wilhelm.
„Wird er sich beherrschen können?“, fragte die Königin besorgt.
„Ich konnte es nicht“, lachte der König. „Friedrich und Eberhard konnten es auch nicht. Es sollte mich wundern, wenn nichts passiert. Die Herwigsgarde soll die zwei abschotten. Wenn schon, sollen sie wenigstens ungestört sein.“
„Wilhelm!“, empörte sich Annette.
„Annette – wir zwei waren auch nicht besser. Erinnere dich an den Abend, als ich dich bei Hofe vorgestellt habe. Was ist danach passiert?“, grinste Wilhelm. „Wir können unseren Söhnen nicht verbieten, was wir selbst getan haben.“
„Das war doch ganz was anderes!“, erwiderte Annette. Wilhelm sah seine Frau an.
„Dann erklär’ mir, was daran anders war. Wir kannten uns drei Wochen, waren himmlisch verliebt – aber weder verlobt, geschweige denn verheiratet. Nein, liebste Annette, unser damaliges Tun unterscheidet sich in nichts von dem, was heute passieren könnte.“
Wilhelm gab vier Gardisten einen Wink, bot seiner Königin den Arm und verließ den leeren Festsaal.
Alexander brachte Simone in die Gastgemächer zurück, wo sie sich am Nachmittag bereits aufgehalten hatte. Sie waren allein. Hinter ihnen klangen Schritte auf der Treppe. Alexander sah noch einmal aus der Tür und bemerkte vier Mann der Herwigsgarde, die in respektablen Abständen außer Hörweite zu den Gasträumen im Flur Posten bezogen. Sein Vater hatte also für Ungestörtheit gesorgt.
‚Guter Paps’, dachte der Prinz. Ganz leise schloss er die Tür.
„Kann ich noch etwas für dich tun?“, fragte er Simone. Sein Ton war leise und zärtlich. Sie sah ihn an. Ein leichter Anflug von Furcht zeigte sich in ihrem Gesicht.
„Stunde der Wahrheit?“, fragte sie. Er schüttelte den Kopf.
„Was ich mir wünsche, kommt nur mit deinem ausdrücklichen Einverständnis in Frage“, erwiderte er.
„Könntest du mir das Kleid aufmachen?“, fragte sie. Ein Teil von ihr hatte Sorge, er könnte es als Einladung falsch verstehen, ein anderer Teil von ihr wünschte sich, dass er genau das tat. Alexander trat hinter sie und hakte ihr das Kleid auf. Sie spürte seine warmen Hände am Rücken. Es war unwiderstehlich schön.
„Das Leibchen auch?“, drang eine leise Frage an ihr Ohr.
„Ja“, erwiderte sie ebenso leise. Er schnürte das Kleidungsstück vorsichtig auf, berührte sacht ihre Haut. Simone spürte eine wohlige Gänsehaut und flüsterte seinen Namen. Alexander drehte sie ganz sanft um, zog sie an sich und küsste sie. Dabei bemerkte er, dass sie sein Koppel löste, es samt Dolch über einen Stuhl hängte und seinen Uniformrock aufzuknöpfen begann.
„Bleib“, flüsterte sie. „Ich möchte mich bedanken.“
Er nickte verstehend und fuhr im Kuss fort. Ganz sanft befreite er sie von ihrem Kleid, während sie ihn aus der Uniform schälte. Sie ließen sich Zeit, viel Zeit. Schließlich, als alles ordentlich über zwei Stühle sortiert war, hob Alexander Simone auf seine kräftigen Arme und trug sie zum Himmelbett. Sie schmiegte sich an ihn, spürte seine warme Haut. Nein, dies war etwas ganz anderes als die erzwungenen Nächte mit Von Drechselberg. Alexander legte sie in das vorbereitete Bett und deckte sie liebevoll zu.
„Willst du da sitzen bleiben?“, fragte Simone sanft.
„Wäre mir auf die Dauer wohl zu kalt“, lachte er. Sie hob einladend die Bettdecke an. Der Prinz schob sich unter die kuschelige Daunendecke. Simone rückte näher zu ihm, bis sie sich berührten. Vorsichtig begannen ihre Hände eine gegenseitige, zärtliche Entdeckungsreise. Alexander war so vorsichtig, beinahe ehrfürchtig in seinem Streicheln, wie die junge Frau es noch nie erlebt hatte bei den Männern, die ihren Körper als Preis für kleinste Gefälligkeiten verlangt hatten. Simone hatte ihren Preis bezahlt – und es war entwürdigend gewesen. Alexander gab ihr ihre Würde zurück, indem er sie glücklich zu machen suchte. Seine sanften Hände lösten ein heftiges Begehren bei Simone aus. Zum ersten Mal seit sie mit einem Mann das Bett teilte, hatte sie wirklich Verlangen. Alexander verstand es, unwiderstehlich zu sein, ohne zum brünstigen Hengst zu werden. Simone, die noch am Nachmittag den festen Vorsatz gehabt hatte, notfalls zu kratzen und zu beißen, wenn der Prinz es wagen sollte, sie verführen zu wollen, schmolz unter seinen warmen Küssen dahin.
Alexander zähmte sich mit Mühe. Simone musste ihn wirklich wollen, wenn diese Nacht keine Katastrophe werden sollte. Er brauchte alle Kraft und Geduld, um sie sanft zu reizen, bis sie ihm ihr Begehren atemlos ins Ohr hauchte und ihn gleichzeitig zu sich führte.
„Bitte, lieb mich“, flüsterte sie. Vorsichtig glitten sie ineinander. Sie seufzte vor Wonne, zitterte und bebte. Dieser Mann erschütterte sie zutiefst. Sie wollte ihn, er wollte sie – und sie schenkte sich ihm ganz und gar. Kein Gedanke mehr an die schmierigen Mannsbilder, die sie entwürdigt hatten. Überschäumender Genuss hob Simone dem Prinzen entgegen. Wie von selbst hob und senkte sich ihr schlanker Körper, als er zärtlich ihren Namen flüsterte. Sie presste sich an ihn, ließ ihn wieder fort, nur um ihn wieder fest an sich zu ziehen. Das Gleiten in ihr trieb sie höher und höher zu einem Höhepunkt, wie sie ihn noch nie erlebt hatte.
Alexander ging es ebenso. So sehr er versuchte, diesen unendlichen Genuss zu dehnen – sein überreizter Körper tat ihm nicht den Gefallen, es solange auszuweiten, wie er es sich gewünscht hatte. Simone erreichte den Höhepunkt, krampfte sich völlig überwältigt an seinem Rücken fest, wurde schnell und heftig, so dass auch er den Höhepunkt erlangte. Was er in sie gab, war verschwenderisch. Atemlos und erschöpft flüsterte sie seinen Namen. Er kam zur Ruhe, küsste sie ganz sanft und wisperte leise ihren Namen.
„Oh, Alex, war das schön!“, seufzte sie unter weiteren zarten Küssen.
„Es sollte ein besonderes Geschenk sein, mein Liebling“, flüsterte er und schenkte ihr weiter Zärtlichkeiten.
„Es war herrlich“, sagte er dann zog sich ganz vorsichtig aus ihr zurück, sie noch einmal langsam genießend.
„Simone, ich liebe dich.“
„Ja, jetzt glaube ich es, mein Märchenprinz“, gab sie sanft zurück. Sie zog ihn zu sich herunter, küsste ihn und sagte:
„Ich liebe dich auch, Sascha.“
„Was hältst du von ein wenig ruhigem Schlaf?“, fragte er.
„Viel – wenn du nur bei mir bleibst.“
„Gern“, flüsterte er. „Diese Wonne mag ich auch noch nicht hergeben. Gute Nacht, Simonetta.“
„Gute Nacht, Sascha.“
Ein zärtlicher, langer Kuss, dann ruhten sie dicht aneinandergeschmiegt.
A A A
Kapitel 11
Morgengeflüster
Der traditionelle Kanonensalut am Nationalfeiertag weckte das Paar aus den schönen Träumen dieser zauberhaften Nacht. Simone schreckte heftig auf. Sie brauchte eine Weile, um sich zu erinnern, wo sie war. Ein leises:
„Guten Morgen, Simonetta“, brachte die Erinnerung an das wundervolle Lieben mit Prinz Alexander. Sie drehte sich um und sah in seine warmen, braunen Augen. Oh doch, es waren die gleichen Augen, die sie am Abend zuvor auf den Bildern in der Königsgalerie gesehen hatte. Wenn nur ein Zehntel dessen stimmte, was die wenglische Literatur über ihre großen Könige Martin und Ulrich behauptete, konnte sich jeder glücklich schätzen, der mit Alexander befreundet war. Nach dem, was Simone bisher über ihn wusste, war er ein echter Nachkomme dieser Männer.
Er richtete sich auf und umarmte sie.
„Guten Morgen, Sascha“, sagte sie leise nach seinem zärtlichen Morgenkuss.
„Hast du schön geschlafen, mein Liebling?“, fragte er und zog sie wieder in die kuscheligen Kissen zurück. Sie nickte eifrig und legte den Kopf auf seine breite Brust.
„Wunderbar“, sagte sie und zeichnete mit dem Zeigefinger verträumt eine lange Narbe nach, die von seiner linken Schulter bis fast zum Bauchnabel reichte.
„Alex – was ist das für eine Narbe?“
„Eine Erinnerung an die üblichen Grenzstreitigkeiten mit Wilzarien um Aventur. Säbelhieb.“
„War es schlimm?“, fragte sie besorgt.
„Nein, mehr oberflächlich – zum Glück, sonst hätte ich es nicht überlebt.“
„Warst du oft verwundet?“
„Schatz, tu mir einen Gefallen: Erinnere mich nicht an meine Militärzeit“, erwiderte er. Simone beschloss, das Thema zu wechseln.
„Wie spät ist es?“, fragte sie. Alexander nahm seine Taschenuhr vom Nachttisch.
„Gleich sieben.“
„Wann müssen wir aufstehen?“
„Die Parade beginnt um zehn, die Truppen sammeln sich um halb zehn. Wir sollten – spätestens – um viertel nach acht, halb neun frühstücken. Wenn wir noch genug Zeit haben wollen, um uns fertigzumachen, sollten wir so gegen halb acht aufstehen“, erklärte er. Sie sah zu ihm auf.
„Meinst du, ob jemand was ahnt?“, fragte sie.
„Was meinst du?“
„Na, was zwischen uns war?“
„Ich glaube schon“, lächelte Alexander.
„Wieso?“
„Nun, mein Vater hat uns gestern vier Mann der Herwigsgarde hergeschickt. Normalerweise stehen in diesem Flur keine Herwigsgardisten. Sie haben sich in respektvollem Abstand um die Zugänge zu dieser Suite postiert. Sie hatten dafür zu sorgen, dass uns keiner stört.“
„Sag, finden deine Eltern es normal, dass einer ihrer Söhne eine Frau einlädt und die Nacht mit ihr in einem Zimmer verbringt?“
Er lachte fröhlich.
„Durchaus nicht“, erwiderte er. „Du kannst es als Sicherheit für dich betrachten, dass sie es wissen. Sollte ich es wagen, dich nicht heiraten zu wollen, würde mein Vater mich zum Traualtar prügeln.“
„Und wenn ich nicht will?“
Der Prinz lachte herzlich.
„Dann erkläre das meinem Herrn Vater!“
„Du bleibst dabei, mich heiraten zu wollen?“
„Ja, das ist mein Ernst“, erwiderte er leise und küsste sanft ihr Haar.
„Oh, Sascha, wenn du wüsstest …“, lächelte Simone.
„Dass Von Drechselberg dir keinen Heiratsantrag gemacht hat, ist mir klar. Der Lümmel ist bereits verheiratet.“
Nach einer kurzen Pause fragte er:
„Ich frage dich noch einmal: Willst du mich heiraten?“
„Ja“, sagte sie leise. „Wenn ich es irgendwie möglich machen kann, ja.“
„Welche Hindernisse gibt es?“
„Meinen Vater, meine Freunde. Sie sind Antimonarchisten. Sie würden nicht akzeptieren, dass ich einen Prinzen heiraten will. Es ist fürchterlich: Jede Frau träumt davon, dass sie ein Prinz besucht und sie heiraten will. Aber ausgerechnet ich habe mich Zielen verschrieben, die meiner Liebe widersprechen.“
Alexander schwieg und streichelte sie nur sanft.
„Ich lasse dir Zeit, Simone“, sagte er nach einer ganzen Weile.
„Es hat mit Zeit nichts zu tun, Schatz“, erwiderte sie. „Ich weiß nicht, wie ich das politische Dilemma lösen soll.“
„Eben deshalb lasse ich dir Zeit. Du sollst ausreichend Gelegenheit haben, dein Problem zu lösen.“
„Alex?“
„Hmm?“
„Du könntest dich nicht gegen deinen Vater entscheiden?“
„Ich brauche es nicht.“
„Wieso?“
„Meine Eltern haben ihren Söhnen ausdrücklich völlige Freiheit bei der Wahl ihrer Frauen gelassen.“
„Und dein Titel?“
„Ich habe dir gestern Abend erklärt, dass ich meinen Titel weder ablegen noch verlieren kann, es sei denn das Adelsgericht erkennt ihn mir ab“, erwiderte er sanft.
„Wir Sozialisten wollen dieses überholte Gericht abschaffen“, warf Simone ein.
„Ihr wollt noch viel mehr beseitigen, Simonetta. Ihr wollt dieses Land völlig umkrempeln. Nach der Theorie von Marx sollen alle gleich sein. Alle sollen gemeinsam Eigentum an den Produktionsmitteln haben. Geld soll es nach eurer Auffassung nicht mehr geben, weil jeder das bekommt, was er zum Leben braucht. Privateigentum soll abgeschafft werden. Simone – das kann nicht funktionieren!“, sagte Alexander.
„Karl Marx hat das im Kapital aber nachgewiesen“, widersprach Simone.
„Theoretisch“, erwiderte er. „Theoretisch teilen auch Christen alles, was sie besitzen.“
„Religion ist Opium fürs Volk!“, ereiferte sich Simone.
„Schön nachgeplappert“, lobte er spöttisch. „Zeigt, dass eure Ideologen in die Bibel nie ‘reingeguckt haben. Genau genommen ist das Christentum die Urform des Kommunismus. Dass Religion zum Zwecke des Machterhalts mancher Fürsten missbraucht worden ist, bestreite ich nicht. Die wenglischen Könige haben das bisher nicht getan. Ich bin Katholik – aber aus eigener Überzeugung, nicht, weil ich mir damit Leute unterjochen will.“
Nach einer Pause fuhr er fort:
„Simone, das ist Humbug. Die Triebfeder des Menschen, Dinge zu erschaffen, etwas zu tun, ist nicht nur das Grundbedürfnis, sich zu sättigen, sich warmzuhalten – sondern die Habgier. Nur, weil der Mensch immer mehr haben möchte, als sein Nachbar, weil er besser gekleidet sein will, als jemand aus dem Nachbardorf, weil er mächtiger sein will als andere – deshalb erfindet er immer neue Dinge. Nein, Simone, auf Dauer kann eure Rechnung nicht aufgehen. Es mag eine schöne Vorstellung sein, dass alle Menschen gleich sind und dass sie dabei glücklich sind. Aber es wird nicht funktionieren“, sagte er leise.
„Aber ist es denn so falsch, Privilegien abzuschaffen?“
„Ja, und zwar deshalb, weil es eben diese Privilegien sind, nach denen der Mensch strebt.“
„Du gehörst selbst zu den Privilegierten.“
„Ich kann es nicht bestreiten. Du weißt aber auch, dass ich bemüht bin, mir meinen Lebensunterhalt durch meiner Hände Arbeit zu verdienen. Aber auch du gehörst zu den Privilegierten“, bemerkte Alexander.
„Bitte? Vielleicht durch den Titel, den ich deiner Meinung nach trage!“
Simones Antwort klang fast empört.
„Nein, dein Vater ist Arzt. Ärzte verdienen gutes Geld“, präzisierte der Prinz sanft.
„Alex – er praktiziert nicht, weil er im Gefängnis sitzt!“, erinnerte Simone mit einer leichten Reizung in der Stimme.
„Stimmt. Die Solidarität deiner Genossen hast du buchstäblich am eigenen Leib erfahren. Als du Geld hattest, hat man dich – im Wege der kommunistischen Solidarität – gezwungen, dein Geld der Partei zu geben, ohne zu fragen, wovon du eigentlich leben solltest. Als gute Sozialistin hast du gegeben, was du hattest. Als du selbst in Not warst, weil die Praxis deines Vaters geschlossen war und deshalb keine Einkünfte vorhanden waren, hast du keinen Heller bekommen. Du warst ja eine Privilegierte, ein Kind der Bourgeoisie, die ein echter Kommunist nicht unterstützt. Simone, deine Ansichten mögen ihren gleichen – als ihresgleichen akzeptieren werden sie dich nie!“, warnte Alexander.
„Aber mein Vater ist der Vorsitzende dieser Partei!“, begehrte Simone auf. Alexander spielte leicht mit einer Locke ihres Haars.
„Und die Sozialisten helfen ihrem Kopf gut“, spottete er.
„Du hast gut spotten!“, sagte sie, die aufkommenden Tränen unterdrückend.
„Weißt du, Schatz, ich habe mir meine Gedanken über die Sozialisten und ihre Ideen gemacht. Die Ideen als solche sind nicht übel. Wie gesagt: Die Urform des Kommunismus wäre das konsequent durchgezogene Christentum. Die Methoden sind es, die ich missbillige. Auf der Baustelle kreuzten fast dreißig bewaffnete Männer auf, sperrten die Vorarbeiter und Ingenieure ein und wollten den Arbeitern weismachen, man habe sie ausgebeutet. Und die lumpigen zwanzig – nennen wir sie mal Vorgesetzte – wollten die Burschen zur Weiterarbeit an der Bahn zwingen und selber zusehen. Eigentlich wollen sie sich auf die faule Haut legen und warten, bis ihnen die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Außerdem möchten sie, dass die Kapitalisten in Wengland die Bahn bezahlen, ohne dass die Geldgeber ein Verfügungsrecht darüber haben sollen. Ich habe das dunkle Gefühl, dass die Sozialisten Wenglands Kapital erst einmal kassieren wollen und sich dann Gedanken machen wie sie es neu verteilen; vor allem: ob sie es verteilen!“, sinnierte Alexander.
„Alex!“, empörte sich Simone.
„Du kannst es einfach nachprüfen. Ich kann dir Informationen über die Sozialisten besorgen, die zu der Zeit eingesperrt waren, als man von dir Geld haben wollte. Fordere Rechenschaft von deinen Genossen, was mit dem Geld geschehen ist, das sie von dir verlangt haben, das aber nach der Theorie des gemeinschaftlichen Eigentums auch dir gehört. Dann prüfe anhand der Informationen, ob die Angaben der Genossen der Wahrheit entsprechen. Wenn das Geld komplett an die Angehörigen der Gefangenen ausgezahlt worden ist, will ich glauben, dass zumindest deine Parteigenossen jene selbstlose Spezies von Menschen sind, die die christlichen Kirchen seit ungefähr tausendneunhundert Jahren züchten möchten. Fehlt Geld, dann weißt du, dass sie dich belogen und betrogen haben“, empfahl er.
„Und wenn sie mich betrogen haben?“, fragte sie.
„Dann weißt du hoffentlich, dass sie deine Freunde nur solange sind, wie sie dich melken können“, sagte er. „Solche Freunde zu verlieren ist kein Verlust.“
Alexander hatte Gedanken ausgesprochen, die Simone sich einfach verboten hatte. Sie seufzte leise.
„Und das System, das wir im Moment haben? Mit einem König an der Spitze, dessen Amt vererbt wird? Mit Grafen, die ihre Provinzen aussaugen? Mit Geheimpolizisten, die jeden verhaften können, der schief guckt? Ist das perfekt?“, fragte sie.
„Nein, ganz gewiss nicht“, erwiderte er leise. „Verbesserungen sind sicher möglich. Ich würde es nicht für falsch halten, das Volk an der Regierung zu beteiligen – so ähnlich wie in England. Vor allem könnten wir gewiss mehr gegen die Armut tun, die auf Alter und Krankheit oder Verletzung beruht. Es gibt so viele Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, und die jetzt im Alter zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel haben. Oder Arbeiter, die bei ihrer Arbeit einen Unfall erleiden, der sie arbeitsunfähig macht. Sie können ihre Arbeit nicht mehr tun und haben keine Einkünfte mehr. Da ist der Punkt zum Ansetzen.“
„Was würdest du dagegen tun?“, fragte Simone interessiert.
„Gegen das eine Übel habe ich etwas getan“, lächelte er. „Die Zinsen, die meine Apanage abwirft, fließen in eine Stiftung, die den Arbeitern der Königlich Wenglischen Eisenbahn bei Unfallinvalidität Hilfe zusichert. Das beinhaltet die Kosten für die Heilbehandlung, für Prothesen, für eine neue Ausbildung, wenn sie ihre ursprüngliche Arbeit nicht mehr tun können – oder eine Rente, wenn eine völlige Arbeitsunfähigkeit eintreten solle, was Gott verhüten möge.“
„Das hast du veranlasst?“, fragte Simone und sah ihren Freund verblüfft und bewundernd an.
„Es ist nicht viel, ich weiß. Aber es ist ein Anfang“, gestand er zurückhaltend.
„Es ist erheblich mehr, als jeder andere getan hätte. Selbst die Sozialisten sagen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“
Alexander grinste spitzbübisch.
„Ich kommentiere das jetzt nicht, Liebling. Sonst haben wir Ehekrach, bevor wir geheiratet haben“, grinste Alexander. Er nahm seine Taschenuhr.
„Wir sollten allmählich aufstehen, Mäuschen.“
A A A
Kapitel 12
Bruderzwist
Nach einem reichhaltigen Frühstück am Tisch der königlichen Familie, an dem es nichts auszusetzen gab, begaben sich das Königspaar, die Prinzen und ihre Familien sowie Gast Simone von Haldenstein zur Burgloge, von wo aus die Parade abgenommen wurde.
Alexander, seine Brüder und ihr Vater waren wieder in Hofuniform, diesmal auch behütet. Der zur Uniform gehörige Zweispitz war schwarz und mit Straußendaunen verziert, die in der jeweiligen Waffenfarbe eingefärbt waren. Vorn und hinten schaute eine goldene Troddel aus den Ecken des Zweispitzes heraus. Gehalten von einer goldfarbenen Soutacheschnur prangte an der linken Seite der Kopfbedeckung eine große, aus Stoff gefaltete Kokarde in den wenglischen Farben.
Die Parade begann mit dem Vorbeimarsch der Herwigsgarde, die Rüstungen im Stil des 9. Jahrhunderts trugen. Dann folgte die Kavallerie, an ihrer Spitze das Garderegiment, dem Alexander als Reservist angehörte. Ohne es eigentlich zu wollen, drückte Simone die Hand ihres Liebsten, als sie das stolze Regiment in sehr ähnlichen Uniformen sah, wie Alexander sie bei ihrem ersten Treffen in der Postkutsche getragen hatte. Der Kavallerie folgte die Infanterie, zuerst das Garderegiment, dessen Oberst Prinz Friedrich war. Dann kam die Artillerie, zunächst die schwere Festungsartillerie ohne ihre Geschütze, dann die leichte, bespannte Artillerie, die ihre aufgeprotzten Feldgeschütze mitführte. Hinter der Artillerie folgten die Pioniere mit dem von Fürst Wolf gegründeten Garderegiment, den Fürst-Wolf-Pionieren, dann die Sanitäts- und schließlich die Trosseinheiten. Den Abschluss bildete die Gendarmerie, deren Chef Prinz Eberhard war.
Hatten die Zuschauer jeden Truppenteil mit Jubel begrüßt – bei der berühmt-berüchtigten Grauen Gendarmerie blieb alles stumm. Ein eisiges Schweigen legte sich über die Steinburger Allee, auf der die Parade stattfand. Prinz Eberhard presste die Lippen zusammen. Der Affront richtete sich im Wesentlichen gegen ihn, hatte er doch das harte Durchgreifen gegen die Sozialisten veranlasst. Er packte zornig seinen Degengriff.
„Das werde ich ihnen heimzahlen!“, grollte er finster.
„Seit wann ist es Gesetz, der Polizei zuzujubeln?“, fragte Alexander grinsend. „Vor allem: Wem willst du es heimzahlen? Dem ganzen Volk? Dann fang’ gleich bei mir an. Ich habe der traurigen Vorstellung auch nicht applaudiert.“
Eberhard fuhr zu Alexander herum. Der Jüngere hielt dem wütenden Blick seines älteren Bruders stand.
„Wäre ich der Chef der Eisenbahn, hätte es keinen Arbeiteraufstand gegeben“, stichelte Eberhard.
„Dessen wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher, Eberhard. Auf jeden Fall hätte es mit dir als Eisenbahnchef mehr als vier Tote gegeben“, entgegnete Alexander kühl.
„Vor allem hätte ich mit den Aufrührern kurzen Prozess gemacht und sie nicht, wie du, verhätschelt!“, grunzte Eberhard. Alexander bemerkte, dass Simone aufbegehren wollte, und drückte unauffällig ihre Hand.
„Es ist interessant, Herr Polizeichef, dass du selbst nicht gewillt bist, Recht und Ordnung zu achten. Wie kannst du es dann von anderen erwarten?“, gab Alexander zurück.
„Dass du merkwürdige Ansichten hast, Alex, das weiß ich inzwischen. Aber dass du dieses Flittchen …“
„Halt, Eberhard! Simone lässt du aus dem Spiel!“, grollte Alexander scharf.
Seine Reaktion war so laut, dass auch die übrigen Mitglieder der Königsfamilie den brüderlichen Disput mitbekamen.
„Streitet ihr euch schon wieder?“, fuhr die Königin dazwischen.
„Alex, Eberhard, Schluss!“, befahl Wilhelm barsch. „Wir drei haben nach dem Essen miteinander zu reden. Jedes Mal, wenn ich Alex mit Mühe wieder hier habe, keift ihr euch an! Jetzt ist ein für allemal Schluss damit!“
Gehorsam hörten die Streithähne auf, aber Alexander zog es vor, auf die andere Seite des Königspaars zu wechseln.
„Habt ihr oft Streit?“, fragte Simone leise. Alexander seufzte.
„Immer, wenn es um die Polizei geht“, sagte er. Simone wollte noch etwas sagen, aber die Königin sprach sie an:
„Sie bleiben doch zum Essen, Baronesse?“
„Na ja, …“
„Ja, Mama, sie bleibt“, entschied Alexander lächelnd.
Nach dem Essen nahm Königin Annette Simone völlig in Anspruch. Sie hatte an der unkomplizierten jungen Frau Gefallen. Simones Scheu vom Vortag hatte sich gelegt und sie konnte nun offen reden, zumal ihr die freundliche ältere Dame sehr sympathisch war.
König Wilhelm bedeutete den beiden jüngeren Prinzen, mit ihm ins Arbeitskabinett zu kommen. Als er die reich verzierten, mit dem königlichen Wappen geschmückten Flügeltüren geschlossen hatte, drehte der König sich heftig um. Seine Söhne standen erwartungsvoll vor dem königlichen Schreibtisch und sahen ihren Vater an.
„Ich fasse es nicht! Die Herren Söhne sehen sich nach fast drei Jahren wieder und gleich gibt’s Streit. Wer hat angefangen?“
„Er!“, sagten beide wie aus einem Munde und wiesen auf den jeweils anderen.
„Eberhard – deine Version?“, forderte Wilhelm den Älteren auf.
„Alex hat über meine Polizei gelästert“, erklärte er.
„Alex?“
„Eberhard hat es nicht gepasst, dass das Volk seiner Polizei nicht zujubelt und meinte, er werde es ihnen heimzahlen. Ich habe ihn gefragt, ob er dann nicht gleich bei mir anfangen wollte, weil ich der traurigen Vorstellung seiner Truppe auch nicht applaudiert habe. Er …“
„Das reicht“, bremste Wilhelm den Redefluss seines Jüngsten. Er wandte sich an den Älteren:
„Eberhard, an deinem Führungsstil in der Polizei gefällt mir manches nicht. Das weißt du. Vor allem werden in letzter Zeit zu viele Personen zu lange ohne Prozess oder richterlichen Haftbefehl festgehalten. Ändere das schleunigst, oder ich setze jemand anderen als Polizeichef ein.“
Eberhard erblasste, sprang auf und wollte gehen.
„Hiergeblieben!“, kommandierte Wilhelm barsch. „Wenn ich euch schon beide gemeinsam an den Ohren habe, bleibt ihr beide hier, bis ich euch entlasse!“
„Jawohl, Majestät“, bestätigte Eberhard eisig und setzte sich wieder.
„Zu dir, Alexander!“, knurrte der König. „Ich bin keineswegs von der Affäre begeistert, die du dir mit dem Arbeiteraufstand geleistet hast. Das, mein Sohn, hätte dir nicht passieren dürfen!“
Alexander wollte etwas einwenden, aber eine herrische Handbewegung des Königs ließ ihn schweigen.
„Ich habe euer Intermezzo vorhin durchaus mitbekommen. Eberhard hat Recht, wenn er behauptet, ihm wäre das nicht unterlaufen.“
„Dann erkläre mir einer, wie ich es hätte verhindern sollen!“, brauste Alexander auf. „Ich kann nicht auf allen Baustellen gleichzeitig sein und noch die Repräsentation für die KWE hier in Steinburg machen. Nachdem Ingenieur Ettinger mich alarmiert hatte, hatten wir die Situation innerhalb von nicht einmal vierundzwanzig Stunden unter Kontrolle. Ich kann keinen Fehler meinerseits erkennen.“
„Verdammt, du musst durchgreifen!“, fauchte Wilhelm.
„Ah, ja. Und wie? Soll ich die tausend Arbeiter, die von den Aufrührern belogen und betrogen wurden, etwa erschießen lassen?“, fragte Alexander mit verhaltenem Zorn.
„Nein, ‘rausschmeißen!“
„Nein!“, widersprach Alexander. „Es sind fleißige und vor allem gute Arbeiter, die sorgfältig und ordentlich arbeiten. Die Aufrührer kamen von außen, nicht aus der Arbeiterschaft.“
„Aber sie haben die Aufrührer auf die Baustelle gelassen und sind ihnen gefolgt“, beharrte Eberhard.
„Eberhard, das ist doch kein Argument!“, wehrte sich Alexander. „Die Aufrührer kamen bewaffnet, haben sich gleich die Vorarbeiter und die Ingenieure gegriffen und eingesperrt und den Arbeitern einen Sack voll Lügen aufgetischt. Die Arbeiter waren den rhetorisch geschulten Agitatoren bildungsmäßig nicht gewachsen. Sonst hätten sie den Blödsinn mit Sicherheit erkannt und die Roten Garden schneller von der Baustelle komplimentiert, als sie ‘raufgekommen sind. Unter den Umständen hätte auch Eberhard den Aufstand nicht verhindert, Vater.“
„Ich hätte die Baustellen bewachen lassen“, warf Eberhard süffisant ein.
„Nachdem, was ich mitbekommen habe, neigt das Volk zur Opposition gegen deine Grauen Gendarmen. Die Arbeiter hätten angenommen, die Bewachung richte sich gegen sie – und nicht gegen Fremde, die den Betriebsfrieden von außen stören. Diese Baustellen sind doch kein militärisches Sperrgebiet!“, protestierte Alexander. „Und wenn ich sie jetzt bewachen lasse, müssen sie es erst recht annehmen!“, setzte er hinzu.
„Diese Situation hast du dir selbst eingebrockt, Alex“, sagte der König. „Durch deine mangelnde Aufsicht ist es zu dem Aufstand gekommen.“
„Sagt mal, was wollt ihr eigentlich?“, fragte Alexander völlig verblüfft. „Läuft dieses Gespräch darauf hinaus, Eberhard als Leiter der Eisenbahn einzusetzen? Vater, geh’ keine Umwege! Wenn du Eberhard mit der Leitung betrauen willst, jetzt, nachdem ich alles schön ins Laufen gebracht habe und technisch von ihm keine Leistungen mehr zu erbringen sind, weil ich die Strecke komplett vermessen habe und auf den Baustellen die Ingenieure die örtliche Bauleitung übernommen haben – bitte, tu es. Aber auf meine Mitarbeit werdet ihr dann verzichten müssen.“
„Ist das ein Rücktrittsgesuch?“, fragte Wilhelm.
„Keineswegs. Aber wenn du es vorhast, stell’ mir keine Falle, sondern sag’ offen, dass es dir lieber ist, wenn ein Polizeidrachen die Arbeiter knechtet, als dass jemand, der weiß wovon er spricht, die Arbeiten koordiniert. Dass ich kein Bauleiter im üblichen Sinne sein kann, habe ich dir von Anfang an gesagt. Ich bin Vermessungsingenieur, kein Bauingenieur“, erwiderte Alexander.
„Ich will nicht, dass du wieder fortgehst“, versuchte Wilhelm Alexander zu beruhigen.
„Dann überleg’ dir gut, was du tust, Papa. Ich sorge dafür, dass die Bahn nach deinen Wünschen gebaut wird. Aber wenn du mir Eberhard als Oberwachhund vor die Nase setzt, finde ich einen guten Job bei der Gotthardbahn“, warnte Alexander.
„Gut, lassen wir das“, lenkte König Wilhelm ein. Aber Alexander war schon zu weit getrieben worden.
„Nein, ich will wissen, wofür ich arbeite!“, versetzte er wütend. „Wenn ich letztlich nur dafür aus der Schweiz geholt worden bin, um die Eisenbahn hier in die richtige Spur zu setzen, damit einer meiner Brüder die Ehre hat, bei der Eröffnung hören zu können, dass er sie gebaut hat, dann weiß ich was besseres!“
„Alex, es reicht!“, rief Wilhelm, nun ebenfalls zu sehr gereizt. „Wenn so etwas wieder geschieht, dann ist Eberhard dein Vorgesetzter!“
„Lass mich wissen, wann er anfängt. Dann ist mein vorerst letzter Arbeitstag in Wengland!“, wetterte Alexander.
„Außerdem ist da noch dieses Flittchen …“, setzte Eberhard an, als Alexander ihm harsch ins Wort fiel:
„Lass Simone aus dem Spiel!“, donnerte er seinen Bruder an. „Sie ist mit Vaters Wissen und Willen eingeladen worden und auf seine Einladung über Nacht geblieben!“
„Mit Vaters Willen hast du sie kaum heute Nacht besucht“, grinste Eberhard maliziös.
„Möglich. Aber mit seinem Wissen. Sonst hätte er uns keine Herwigsgardisten zur Bewachung geschickt“, versetzte Alexander.
„Du leugnest also nicht, mit der Tochter eines wegen Aufruhrs verurteilten Mannes die Nacht verbracht zu haben?“, fragte Eberhard. Es klang nach Verhör.
„Keineswegs“, erwiderte der Jüngere. „Aber mit dem Aufruhr hat sie nichts zu tun. Ihr Vater hat den Aufstand angezettelt, nicht Simone. Sie hat mir sogar noch Hilfe geschickt. Lass sie aus dem Spiel. Simone ist meine Privatsache“, verteidigte er seine Freundin.
Wilhelm hatte dem heftigen brüderlichen Disput zugehört.
„Willst du sie heiraten?“, fragte er.
„Ja“, sagte Alexander ohne zu zögern.
„Nach den Informationen meines Polizeichefs bin ich davon zwar nicht begeistert, aber ich habe euch dreien die freie Wahl der Frau zugesichert. In deiner Funktion als Eisenbahnchef bist du damit aber zum Sicherheitsrisiko geworden. Das kann ich nicht länger verantwor…“
„Dann seht zu, wie ihr ohne mich fertig werdet!“, rief Alexander erbittert, sprang auf und stürmte zur Tür.
„Alexander!“, brüllte der König.
„Nein! Mit mir nicht mehr!“, schrie der Prinz zurück. „Treu und brav habe ich in der Schweiz meinen Job, der mir etwas bedeutet hat, aufgegeben, um hier eine Eisenbahn zu bauen. Jetzt läuft’s – der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. Diesmal ist’s endgültig. Schon einmal habe ich für Fehler bluten müssen, die ich nicht gemacht hatte, nachdem mir Eberhard vor die Nase gesetzt worden ist. Wie wär’s, wenn mein herzliebster Bruder zur Abwechslung mal selber was anfängt, statt sich von seinem kleinen Bruder das Nest machen zu lassen? Wengland ist für Eberhard und mich zu klein. Der Klügere gibt nach. Ich gehe!“
Die Tür des Arbeitskabinetts krachte geräuschvoll ins Schloss.
A A A
Kapitel 13
Heftige Reaktionen
Alexander stürmte zornig in seine Zimmer und packte seine Sachen, die er aus der Schweiz mitgebracht hatte, entledigte sich seiner Uniform und zog sich wieder einen leichten Zivilanzug an. Dann suchte er nach Simone. Er fand sie bei einem heiteren Gespräch mit seiner Mutter.
„Oh, mein Sohn, gut, dass du kommst. Die Baronesse muss noch einen Besuch machen. Ob du sie wohl heimbringst?“, bat die Königin ihren jüngsten Sohn.
„Gewiss, Mama. Ich wollte mich ohnehin von dir verabschieden.“
Erst jetzt fiel den Frauen auf, dass Alexander in Zivil war.
„Nein!“, entfuhr es Königin Annette entsetzt.
„Doch, Mama. Papa hat Eberhard zum zweiten Mal ein von mir angefangenes Projekt überlassen. Ich bin ein Sicherheitsrisiko, weil ich Simone, die Tochter des Dr. Simon von Haldenstein, der politisch unzuverlässig ist, liebe und sie heiraten will. So sieht’s aus. Ich habe die Nase voll und gehe zurück nach Andermatt, wo ich hätte bleiben sollen“, erklärte Alexander mit einer Bitterkeit, die Annette nicht von ihm gewohnt war.
„Alex, ich hatte dich endlich wieder hier. Geh’ nicht wieder fort, mein Sohn“, bat die Königin.
„Mutter – ich fange eine Arbeit an und wenn sie gut läuft, bekommt Eberhard das Kommando. Beim Alvedrastaudamm habe ich mir das gefallen lassen. Eberhard hat die Ehren eingestrichen; aber als der Damm nach vier Wochen Risse bekam, da trug ich plötzlich die Verantwortung, obwohl ich nur noch für die Vermessung zuständig war, nachdem mein herzliebster Bruder die Gesamtleitung übernommen hatte. Wie du dich erinnerst, hat man mich zu einer knackigen Geldstrafe verurteilt, obwohl Eberhard die Sache verbockt hatte. Diesmal, Mama, halte ich nicht mehr den Kopf für die Geltungssucht meines Bruders hin“, erklärte Alexander.
„Alex …“
„Nein, Mama, es ist zwecklos.“
Er wandte sich an Simone, die leichenblass geworden war:
„Soll ich dich heimbringen?“
„Sascha – was ist mit mir?“
„Du kommst mit. Heiraten können wir auch in Andermatt“, bot der Prinz an. „Eberhard wird dich kaum im Büro lassen“, setzte er warnend hinzu.
„Du wolltest mir Zeit lassen“, erinnerte Simone.
„Gut, wie du willst“, seufzte er. Er gab seiner Mutter einen Abschiedskuss.
„Komm“, sagte er leise zu Simone. Sie verabschiedete sich herzlich von Königin Annette.
Draußen auf dem Flur nahm er seinen Koffer und begleitete Simone heim.
„Ist es dein Ernst? Willst du wirklich ohne Abschied von den anderen gehen?“, fragte die junge Frau.
„Eigentlich nicht. Aber heute geht noch eine Postkutsche in Richtung Palparuva. Bravadur und Palparuva liegen zwar auf dem Kurs, aber Felsbruck nicht. Tu mir den Gefallen und informiere Andreas Ettinger“, bat Alexander.
„Was wird aus mir?“
„Meine Frau, sobald du es willst. Es liegt an dir. Wenn du hierbleibst, bist du morgen gefeuert. Eberhard wird aufräumen – und du wirst sein erstes Opfer sein“, bemerkte Alexander.
„Na ja, ich habe etwas gespart. Vielleicht komme ich so durch.“
„Nein, Simone. Ich gehe weg, aber ich lasse dich nicht im Stich“, versprach er.
„Ich will nicht, dass …“
„Und ich will nicht, dass du demnächst wieder im Hirschen Can-Can tanzen musst! Simone, verdammt, ich liebe dich! Komm mit mir“, erwiderte der junge Mann heftig.
„Ich kann noch nicht!“, rief sie verzweifelt.
„Gut. Ich hab’ verstanden. Konto bei der Steinburger Bank?“, fragte Alexander.
„Was?“
„Gib mir deine Kontonummer von der Steinburger Bank. Ich werde dir so viel Geld monatlich schicken, dass du dich nicht wieder prostituieren musst“, präzisierte er.
„Vielleicht finde ich ja wieder eine Anstellung, wenn dein Bruder mir kündigt“, hoffte sie.
„Meinetwegen lass’ das Geld Junge kriegen, aber gib mir deine Kontonummer, damit du was hast, wenn du keine Anstellung findest!“, drängte Alexander. „Und gib es nicht wieder zu freigiebig an deine Genossen“, setzte er hinzu. Simone gab auf und nannte ihm ihre Kontonummer. Alexander verabschiedete sich mit einem zärtlichen Kuss und verließ eilig das Haus, um die Postkutsche noch zu bekommen. Er hatte gerade das Haus verlassen, als Simone ein heftiger Weinkrampf packte.
Alexander erreichte die Poststation gerade noch rechtzeitig, um die Fahrkarte zu lösen und mitzufahren. Von Hohenburg, der ersten Etappe aus, beauftragte er die Steinburger Bank, von seinem dort laufenden Apanagekonto monatlich tausend Gulden auf Simone Haldensteins Konto zu überweisen. In Bravadur traf er auf Planungschef Gasser.
„Wie? Sie hier? Stimmt was nicht?“, fragte Gasser.
„So kann man’s nennen, Herr Gasser. Ich bin als Eisenbahnchef abgelöst und durch meinen Bruder Eberhard ersetzt. Ich gehe zurück nach Andermatt. Vielleicht hat Herr Henninger noch Verwendung für mich“, sagte der Prinz.
„Das ist ja furchtbar!“, entfuhr es dem Schweizer. „Also, wenn Sie gegangen werden, gehe ich auch!“, kündigte er dann an. Alexander wehrte ab.
„Nein, bleiben Sie. Ich bin ersetzbar – Sie nicht!“
„Aber ich habe hier angeheuert, weil Sie der Chef waren“, protestierte Gasser.
„Ueli – tun Sie mir den persönlichen Gefallen und bleiben Sie, damit aus dieser Bahn etwas wird“, bat Alexander.
„Warum hat man Sie abgelöst?“, wollte Gasser wissen.
„Mein Vater glaubt, dass mein Bruder die besseren Führungsqualitäten hat“, lächelte Alexander leicht gezwungen.
„Dann hätte er ihn gleich damit beauftragen können, statt Sie aus Andermatt zu holen“, empörte sich Gasser.
„Sie sehen, auch ein König ist nicht unfehlbar“, grinste der Prinz.
„Eben. Ich halte es für einen Riesenfehler, ausgerechnet Sie abzusetzen, Herr von Steinburg“, erwiderte Gasser knurrend.
„Mag sein. Bleiben Sie nur dabei. Bitte.“
„Na gut. Aber wenn Ihr Herr Bruder ihre Qualitäten nicht hat, sind wir Schweizer weg. Das garantiere ich“, drohte Gasser.
„Wartet es ab“, bat Alexander dringend.
Ebenso war die Reaktion in Palparuva. Die Arbeiter wollten sogar streiken; Alexander verbot es ihnen. Sie sollten weiter fleißig arbeiten und sich nicht darum scheren, wer oben saß.
„Alex, hören Sie:“, setzte der Ire Thompson an. „Ich kannte Sie von der Union Pacific her. Deshalb habe ich in Irland alles stehen und liegen lassen und bin nach Wengland gekommen“, sagte er.
„Dick, bitte! Ihr alle: Tut mir den Gefallen, baut weiter. Lasst euch nicht irre machen. Und wenn ihr fertig seid, dann könnt ihr sagen, ihr habt die Bahn für Alexander von Steinburg gebaut – und für euch selbst“, forderte Alexander die Arbeiter auf.
Simone brauchte zwei Tage, um sich einigermaßen zu beruhigen. Dennoch war sie am Tag nach dem Eklat wieder pünktlich im Büro gewesen, aber als Eberhard gegen Mittag kurz in die Geschäftsräume der Eisenbahngesellschaft geschaut hatte, hatte sie sich entlassen auf der Straße wiedergefunden. Als sie wieder zu sich selbst gefunden hatte, mietete sie sich ein Pferd und ritt nach Felsbruck.
„He, Simone, das ist ein seltener Besuch!“, rief Andreas Ettinger schon von weitem.
„Grüß dich, Andreas. Etwas Furchtbares ist passiert: Alexander ist abgelöst worden. Prinz Eberhard hat die Leitung übernommen“, sagte Simone noch ganz atemlos, als sie vor dem Baukontor vom Pferd stieg. Im Nu bildete sich eine Traube von Arbeitern, die ihren Ohren nicht zu trauen glaubten.
„Wie bitte?“, entfuhr es Ettinger. „Alex abgelöst und durch diese Schnüffelniete abgelöst? Welcher Schwachkopf war das?“
Simone machte eine ausladende Geste.
„Seine Majestät höchstpersönlich!“, seufzte sie.
„Ja, um Gottes Willen, warum denn?“, hakte Andreas nach.
„Offiziell meinetwegen“, erwiderte die junge Frau. „Weil er mich heiraten will, ist er plötzlich zum Sicherheitsrisiko geworden.“
Ettinger sah Simone über den Rand seiner runden Brille an.
„Weil dein Papi Sozi ist, was?“, stellte er fest. Simone nickte.
„Und was ist mit Alex? Warum kommt er nicht her?“
„Alex ist noch am elften nach Andermatt abgereist. Er hat mich gebeten, euch mitzuteilen, dass er abgelöst wurde und in nach Andermatt zurückgeht.“
„Hat er irgendwas gesagt, was wir tun sollen?“, fragte einer der umstehenden Arbeiter. „Sollen wir uns wehren?“
Simone schüttelte den Kopf.
„Nein, davon hat Sascha nichts gesagt. Er hat mir keine Aufträge für euch mitgegeben. Nur, dass ich euch informieren soll.“
„Herr Ettinger – wir streiken!“, rief der Arbeiter aus. „Wir lassen uns nicht einfach den besten Chef der Welt nehmen! Ohne ihn wär’ ich heute arbeitslos. Und Eduard hätte sich die Behandlung nach seiner Fußamputation nicht leisten können. Nein, das können wir uns nicht einfach bieten lassen!“
Andreas bat um Ruhe, weil die zuhörenden Arbeiter mehr oder weniger laut gegen Alexanders Entlassung protestierten.
„Ruhe, Leute, Ruhe!“, rief er. Allmählich verstummte das Volksgemurmel.
„Prinz Eberhard ist unser neuer Chef!“, sagte er dann laut. „Mir schmeckt das überhaupt nicht, Leute – aber mit Streik kommen wir nicht weit. Eberhard, dieser Polizeidrache, hat uns Eisenbahner seit dem Aufstand im April ohnehin im Visier. Ein Streik würde ihm nur einen Vorwand liefern, Soldaten gegen uns einzusetzen. Wir machen weiter wie bisher. Der Polizeiprinz wird schon sehen, wie weit er ohne Alexander kommt. Er versteht nichts von unserer Arbeit. Freunde: Wir bauen unsere Bahn weiter! Und wenn man uns unsere Verträge kündigt, dann soll Eberhard doch sehen, wie er diese Bahn ohne euch Arbeiter, ohne Vorarbeiter, ohne Ingenieure baut! Los, weiter!“, forderte er die Arbeiter auf.
„Für unseren Alex!“, röhrten die Arbeiter im Chor.
Simone hatte plötzlich Tränen in den Augen. Kaum zu glauben: Genau diese Arbeiter hatten damals im April Alexander und Andreas beinahe gelyncht. Jetzt waren sie bereit, für den Prinzen sogar zu streiken. Aber Simone merkte noch mehr: Alexander fehlte ihr sehr. Sie hatte den dringenden Wunsch, nach Andermatt zu reisen.
A A A
Kapitel 14
Geschäftssinn
Eberhard begann, nach Sozialdemokraten unter den Arbeitern zu fahnden, setzte Spitzel ein, die nicht selten heftig verprügelt wurden. Sämtliche Fachleute in Führungspositionen, die Alexander eingestellt hatte und zu denen er ein gutes persönliches Verhältnis hatte, verschwanden innerhalb von zwei Wochen von den Baustellen. Für die Arbeiter, die bei Alexander angeheuert hatten und sogar zum Streik für ihn bereit gewesen waren, war dies das Zeichen zur Kündigung. Kaum einen Monat nach Alexanders Ausscheiden hatte die Bahn erstmals Baustillstand. Prinz Eberhard tobte zwar, aber er bekam keine Arbeiter, weil sich sämtliche Wengländer einfach weigerten, unter dem Kommando von Eberhard zu arbeiten. Der Prinz verfügte Fronarbeit, zog Häftlinge zur Zwangsarbeit heran, verschlechterte damit aber nur seinen ohnehin nicht guten Ruf. Nach knapp drei Monaten ging beim Bahnbau gar nichts mehr. Auf sämtlichen Baustellen ruhte die Arbeit.
König Wilhelm war außer sich vor Zorn, als Eberhard zum Rapport erschien.
„Wunderbar, Eberhard! Einmalig! Diesmal hast du keine drei Monate gebraucht, um Arbeiten zum Stillstand zu bringen, die Alexander begonnen hat! Unter Alexander war die Bahn – trotz des Aufstands – eineinhalb Monate vor dem Zeitplan. Durch deine grandiose Personalpolitik hängen wir jetzt zwei Monate hinter der Planung. Wirklich, eine reife Leistung, mein Sohn“, wetterte er.
„Aber du hattest doch selbst gesagt, dass Alex die Arbeiter ‘rauswerfen sollte“, maulte Eberhard.
„Ja, er sollte sie entfernen, stimmt. Aber die Bauarbeiten sollten auch weitergehen, mein Sohn! Es war keine Rede davon, dass die Arbeiten zum Stillstand kommen sollten. Ich habe von dir erwartet, dass du dein Versprechen einhältst, den Baufortschritt einzuhalten. Bete, dass es mir gelingt, Alexander zurückzuholen, denn der ist offenbar der Einzige, auf den ich mich wirklich verlassen kann! Wenn Alexander nicht kommt, weil wir ihn ernsthaft verärgert haben, setze ich mich über sämtliche wenglischen Gesetze hinweg und lasse dich die bisherigen Baukosten bezahlen!“, drohte Wilhelm wütend.
„Aber was habe ich denn getan?“, fragte Eberhard harmlos.
„Das frage ich mich seit eineinhalb Monaten auch, was du eigentlich tust!“, schnauzte der König. „Auf jeden Fall hast du mich irgendwie zum zweiten Mal dazu gebracht, dir die Leitung eines Projektes zu übertragen, das Alexander angefangen hat. Zum zweiten Mal hast du es gründlich verbockt. Im Alvedratal haben wir eine Bauruine, weil du falsches Material bestellt hast. Und ich Hornochse habe deinen Vorwürfen gegen Alexander geglaubt, dass er dir den Rat zu dem Schrott gegeben hat und habe ihn dafür verantwortlich gemacht! Es ist genug. Du hast genügend Unheil angerichtet. Ich rate dir, zu beten, dass dein Bruder heimkommt.“
„Weißt du, wo er ist?“
„Ich weiß es nicht. Aber wenn ich es wüsste, würde es dir nicht verraten, Eberhard. Mir ist dir Gefahr zu groß, dass du ihn von deinen Geheimpolizisten holen lässt. Ich will Alexander lebend und gesund zurückhaben. Die Garantie hätte ich dann nicht. Über das, was ich mit dir anstelle, reden wir, wenn die Bahn wieder im Lot ist.“
Der König winkte seinen zweitältesten Sohn hinaus. Dann läutete er nach einem Diener. Gerhard erschien.
„Ich brauche Simone Haldenstein“, sagte der König.
„Ich hoffe, das gnädige Fräulein ist in der Stadt, Majestät. Ich lasse sie holen, Majestät“, erwiderte der Kammerdiener. „Notfalls auch suchen“, setzte er noch im hinausgehen hinzu.
Gerhard suchte Luise auf, über die Simone Kontakt zum Hof hielt.
„Luise, ist Fräulein Haldenstein noch in Steinburg?“, fragte er die Hofdame.
„Ich habe sie gestern noch auf dem Markt getroffen. Aber ich weiß, dass sie eigentlich schon lange verreist sein wollte.“
„Der König möchte das gnädige Fräulein sprechen?“
„Wissen Sie warum, Gerhard?“
Der Kammerdiener schüttelte den Kopf.
„Seine Majestät hat nur gesagt, dass er sie sehen möchte.“
„Ich will sehen, was ich tun kann“, versprach Luise und ging sofort zu dem Haus in der Mauerstraße, wo die junge Frau wohnte.
Auf Luises Klopfzeichen öffnete Simone.
„Guten Tag, Luise. Haben Sie Nachrichten von Alexander“, fragte sie.
„Nein, Fräulein Simone. Der König schickt mich. Er lässt Sie zu sich bitten.“
„Wissen Sie, was er will? Ist was mit meinem Vater?“
Luise zuckte mit den Schultern.
„Der Kammerdiener Seiner Majestät hat mir nur gesagt, dass Seine Majestät Sie sehen möchte“, erwiderte die Hofdame.
„Wegen Alexander?“
„Ich weiß es nicht. Ehrlich.“
Simone folgte der Zofe klopfenden Herzens. Zwar hatte sie bei ihrem Besuch in Felsbruck schon die Reise nach Andermatt geplant, aber eine unerklärliche Hemmung hatte sie bislang vom tatsächlichen Reiseantritt abgehalten. Gerade zwei Tage zuvor hatte sie einen Brief von Alexander erhalten, in dem er sie noch einmal gebeten hatte, ihm zu folgen.
Im Vorzimmer des Königs musste Simone nicht lange warten. Wilhelm hatte sofort Zeit für sie.
„Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind, Baronesse.“
„Luise war recht geheimnisvoll. Ich bin neugierig“, erwiderte Simone kühl.
„Simone – bitte, holen Sie Alexander zurück“, eröffnete Wilhelm seinen Wunsch ohne Umschweife. Simone sah den König einen Moment an.
„Majestät, Sie wissen, dass Alexander mich liebt. Deshalb probieren Sie es mit mir, weil Sie wissen, dass er ohne meine Mitwirkung nicht reagieren wird. Vermutlich wird auch keine telegrafische Einberufung mehr Wirkung zeigen“, lächelte sie süß.
„Liebe Simone, ich hoffe, dass Sie meine Schwiegertochter werden und …“, setzte Wilhelm an.
„Verzeihung, wenn ich Sie unterbreche, Majestät; aber gerade Saschas Liebe zu mir war der Grund, dass Sie ihm die Leitung der Eisenbahn entzogen haben. Er war doch ein Sicherheitsrisiko“, entgegnete Simone mit bissigem Unterton. Wilhelm seufzte.
„Sie wissen es!“, stöhnte er.
„Sascha hat es mir gesagt. Er hat mich bisher nicht belogen – im Gegensatz zu anderen“, versetzte Simone kühl. König Wilhelm fuhr sich nervös durch den Vollbart.
„Trotzdem bitte ich Sie, ihn zurückzuholen. Ich weiß inzwischen auch, dass gerade Sie tadellose Arbeit für die Bahn geleistet haben. Was ich getan habe, reut mich. Es war falsch. Ich habe meinen jüngsten Sohn zum zweiten Mal bitter enttäuscht. Ich hoffe, er verzeiht mir noch einmal.“
Simone überlegte eine Weile.
„Sagen Sie, Majestät, wäre Alexanders Rückkehr Ihnen wert, dass Sie meinen Vater begnadigen?“, fragte sie dann.
„Sie haben gelernt, wie es scheint“, erwiderte Wilhelm mit einem deutlichen Seufzen.
„Oh, Majestät, von allen Männern, die mir in Ihren Diensten stehend begegnet sind, war Alexander der Einzige, der je bereit war, mir einen Gefallen zu tun, ohne eine Gegenleistung zu fordern. Ja, ich habe gelernt.“
Der König sah die hübsche junge Frau lange an. Langsam begann er zu verstehen, weshalb Alexander sich rettungslos in Simone von Haldenstein verliebt hatte.
„Lieben Sie Alexander?“, fragte er nach einer ganzen Weile. Simone nickte.
„Ja“, sagte sie. „Jetzt weiß ich es.“
„Dann bitte ich Sie noch einmal: Holen Sie Alexander zurück. Wenn es Ihnen gelingt, begnadige ich Ihren Vater – auch wenn er es nicht verdient“, versprach der König.
„Gnade, Majestät, verdient man nicht. Mein Vater brummt zu Recht. Aber er ist mein Vater. Ich nehme an, Alexander würde für Sie das gleiche tun, wären Sie in der Situation meines Vaters. Eine Hand wäscht die andere.“
„Ich will nicht verheimlichen, dass Alexanders Heiratspläne nicht ganz nach meinem Geschmack waren. Aber ich nehme an, dass es Ihrem Vater genauso wenig passt, mit einem Prinzen als Schwiegersohn beglückt zu werden. Ich gebe aber auch zu, dass ich meine Meinung in dieser Hinsicht geändert habe – nicht nur wegen unseres heutigen Gespräches. Ich werde Ihnen und Alex nicht länger im Weg stehen. Simone – ich betrachte Sie als Verlobte meines jüngsten Sohnes.“
„Danke, Majestät. Ich werde reisen, sobald eine Postkutsche nach Palparuva geht“, erklärte Simone lächelnd.
„Wollen Sie nicht lieber die Hauskutsche nehmen?“, bot Wilhelm an.
„Das Angebot ist freundlich, Majestät, aber in zweifacher Hinsicht kann ich es nicht annehmen. Meine bisherigen Freunde, die Sozialisten, wissen noch nichts von der Verbindung zwischen Sascha und mir. Es wäre nicht gut, wenn sie es zur Unzeit erführen. Außerdem würde Sascha sofort merken, aus welcher Richtung der Wind weht, wenn ich mit der königlich wenglischen Hauskutsche in Andermatt vorfahre“, sagte die junge Frau.
„Ich sehe, Sie wissen, wo Sie suchen müssen“, lächelte Wilhelm verbindlich. Simone hatte in diesem Moment eine ziemlich genaue Vorstellung, wie Alexander als älterer Mann aussehen musste.
„Sascha hat mir geschrieben. Ich habe seine Adresse.“
Wilhelm erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. Simone stand gleichfalls auf. Ihr Schwiegervater in spe nahm sie einfach in die Arme.
„Fahr nach Andermatt und komm bald mit Alexander zurück, Simone. Gott schütze dich“, sagte er leise. Eine Ähnlichkeit mit Alexanders Tonfall war durchaus erkennbar.
Wenige Stunden später stand Simone am Fahrkartenschalter der Steinburger Hauptpost.
„Die nächste Regelpost nach Martinskirchen geht in drei Tagen“, sagte der Schalterbeamte nach einem Blick in den Fahrplan. „Wenn Sie die Extrapost nehmen, können Sie übermorgen in Martinskirchen sein. Von dort verkehrt zweimal wöchentlich ein Kurs zur Grenze. Mit der Extrapost bekommen Sie in Martinskirchen noch den Anschluss nach Palparuva und die Grenzpost nach Breitenstein. Von dort kommen Sie weiter in die Schweiz.“
„Was kostet das?“, erkundigte sich Simone.
„Einschließlich Extrapost dreihundertachtzehn Gulden und achtzig Heller bis Breitenstein.“
„Und ohne Extrapost?“
„Einhundertachtzehn Gulden achtzig.“
„Ich nehme die Extrapost“, entschied Simone. Der Beamte füllte den Fahrschein aus, die junge Frau bezahlte und ging in den Warteraum.
Zwanzig Minuten später rollte die Extrapost vom Hof der Hauptpost. Simone erreichte ohne Schwierigkeiten Martinskirchen. In der Regelpost nach Palparuva fand sich auch Simones Lieblingsfeind, Edgar von Drechselberg.
„Oh, sieh da – die feine Dame Haldenstein fährt wieder in Richtung Palparuva“, platzte der feiste Gefängnisdirektor heraus. Allein die Anwesenheit von zwei weiteren Mitreisenden hinderte ihn, über Simone herzufallen.
„Aber nur in Richtung, werter Herr!“, erwiderte Simone eisig.
„Oh, Sie wollen mein Kleinod diesmal nicht besichtigen?“, grinste Von Drechselberg listig.
„Ich habe nicht die Absicht.“
Simones Stimme war pures Eis.
„Obwohl Ihr Vater vorgestern dorthin gekommen ist?“, lockte der Direktor. Simone wurde unsicher. Bluffte Von Drechselberg nur oder sagte er die Wahrheit?
„Er empfängt mich ohnehin derzeit nicht“, sagte sie schneidend. „Nehmen Sie bitte im Übrigen zur Kenntnis, dass ich eine Unterhaltung mit Ihnen nicht wünsche“, setzte sie hinzu.
„Ich finde es sehr anregend, Sie zur Unterhaltung zu provozieren. Sie können sich denken, was die Unterschrift Ihres Galans wert ist?“
„Ich benötige sie im Augenblick nicht, mein Herr. Und wenn ich sie benötige, wird sie gültig sein. Ich an Ihrer Stelle würde mir langsam ausmalen, was Ihnen passieren kann, wenn Sie allzu bockig sind“, warnte sie gefährlich leise.
Weitere Ansprechversuche Von Drechselbergs ignorierte sie. Aber so einfach ließ Von Drechselberg sich denn auch nicht abweisen. Als die Kutsche Bravadur erreichte, ließ sich der Gefängnisdirektor nicht einmal mehr von der Anwesenheit der anderen Fahrgäste davon abhalten, zudringlich zu werden. Simone hatte bereits den Regenschirm als Waffe eingesetzt, um sich des dreisten Gockels zu erwehren, als einer der beiden Mitreisenden – der Kleidung nach offenbar ein Bauer – beherzt zupackte und Herrn von Drechselberg wegriss.
„Holla, so geht das nicht, mein Herr!“
„Was erlauben Sie sich? Ich bin Edgar von Drechselberg, Oberst der Königlich Wenglischen Polizei!“, empörte sich der ernüchterte Direktor.
„Und?“, gab der Bauer zurück. „Das ist kein Freibrief, über die junge Dame herzufallen. Dass sie nicht willig war, war allzu deutlich erkennbar.“
Er wandte sich an Simone:
„Steigen Sie aus. Ich halte Ihnen den Gockel vom Leib.“
„Danke, sehr freundlich, mein Herr.“
Simone stieg aus, der mutige Bauer ließ sie vorangehen und trug ihr sogar das Gepäck. Von Drechselberg schäumte vor Wut, aber in Bravadur gab es nicht mal einen Polizeiposten, bei dem er eine Verhaftung des Bauern veranlassen konnte. Simone betrachtete nachdenklich das Posthotel. Sie hatte große Sorge, es könnte etwas in diesem Haus passieren. So ging sie zwar hinein, verließ das Posthotel aber gleich wieder durch den Gartenausgang und eilte zum Hotel Sonnenheim, einige hundert Klafter entfernt. Das Sonnenheim war zwar teurer als das Posthotel, aber dank Alexanders regelmäßigen Überweisungen konnte sie sich den Luxus leisten und nahm dort Logis. Um dem schmierigen Gefängnisdirektor auszuweichen, verzichtete Simone am folgenden Tag auch auf die Regelpost und bezahlte lieber eine Extrapost nach Palparuva Grenze, von wo sie wieder normal weiterreiste.
Knapp drei Wochen nach ihrer Abreise aus Steinburg erreichte Simone das Dorf Andermatt im Schweizer Kanton Uri. Nach Alexanders letztem Brief wohnte er im Hotel zur Post. Simone wollte mit ihm sprechen, aber er war noch nicht zurück – obwohl es bereits sieben Uhr abends war.
„Wann kommt er denn für gewöhnlich heim?“, fragte sie den Wirt.
„Meist ist er um sechs Uhr hier, aber im Moment finden die Vermessungen auf der anderen Seite vom Gotthard statt. Vielleicht bleibt er auch noch heute Nacht auf der Hospizstation“, gab der Wirt Auskunft.
„Wie komme ich dorthin?“
„Morgen geht eine Postkutsche nach Airolo ins Tessin. Die ist am Nachmittag am Gotthardhospiz.“
„Danke“, sagte Simone. „Haben Sie für heute Nacht ein Zimmer für mich?“
Der Postwirt hatte ein schönes Einzelzimmer mit Ausblick auf den Gemsstock. Simone fröstelte ein wenig bei dem Gedanken, dass Alexander irgendwo auf dem Massiv dabei war, die Südstrecke der Gotthardbahn zu vermessen. So wie der Gemsstock aussah – oben weiß, gletscherbewehrt – war es gewiss keine angenehme Arbeit.
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Kapitel 15
Aussprache
Am folgenden Tag brachte die Schweizer Reisepost Simone zum Gotthardhospiz. Im Hospiz fragte sie nach Alexander.
„Ja, der isch hier“, sagte die Hospizwirtin im gemütlichen Dialekt der Schweiz. „Ober d’r hätt’ z’tue. D’r isch hüüt obig retour.“
Simone brauchte eine Weile, bis sie verstanden hatte, dass Alexander zu tun hatte und erst am Abend zurück sein sollte. Sie nahm ein Zimmer und sah sich zunächst die raue Gebirgsgegend am Gotthardpass an. Inzwischen war es bereits November, und es war in den Bergen schon sehr kalt. Die Passstraße war zwar geräumt, aber bald würde sie geschlossen sein. Neben der Straße türmte sich der weggeräumte Schnee mehrere Fuß hoch. Schon bald kehrte die junge Frau völlig durchgefroren ins Hospiz zurück. Die Wirtin schenkte ihr einen heißen Rumpunsch ein, den Simone nur allzu dankbar annahm.
Die Landvermesser kamen erheblich früher zurück, als erwartet. Ein Schneesturm hatte sie zur Rückkehr gezwungen.
„S’isch hätt kiine Zwäckch määr“, grunzte eine der dick vermummten Gestalten. „Solang es määterwiis Schnää hätt’, könnet miir nüüt varmässe[1].“
Aus der dicken Felljacken- und Pulloverschale schälte sich Alexander von Steinburg heraus. Er deponierte die dicken Oberteile an der Garderobe. Sein müder Blick der durch die Gaststube streifte, blieb plötzlich an einem wohlbekannten Paar dunkelblauer Augen unter weichem, blondem Haar hängen. Wie angewurzelt blieb er stehen, so dass ihn ein Kollege beinahe umrannte. Alexander stolperte ungeschickt in Richtung von Simones Tisch.
„Simone?“ fragte er ungläubig, als er sich gerade noch am Tisch festhalten konnte, um nicht zu stürzen, völlig überrascht, sie ausgerechnet auf dem Gotthardhospiz anzutreffen.
„Guten Abend, Alexander“, sagte sie lächelnd. Ganz vorsichtig, wie um nicht einen schönen Traum zu verscheuchen, setzte er sich auf die Bank neben sie, zog sie genauso vorsichtig an sich, bis sie sich entschloss, ihn einfach zu umarmen. Er drückte sie heftig an sich, flüsterte leise ihren Namen. Der Prinz hielt sie fest, als ob er Angst hatte, sie wieder für lange Zeit zu verlieren. Die letzten dreieinhalb Monate waren eine Ewigkeit für ihn gewesen.
„Ich hab’ dich so vermisst“, sagte er leise.
„Mögget Sie öppis z’esse[2]?“, fragte die Wirtin. Alexander drehte sich um.
„Was hennt Sie uuf die Charte[3]?“, fragte er.
„Älplermaggarona“, gab die Wirtin Auskunft.
„Guet. Zwimal, bitte, zwi Gläsli und e Suure Moscht für mi und ‘s Maidli“, bestellte er.
„S’isch guet. Sonscht no öppis?“
„Na, nüüt. Machet Sie nur bald. I hen Hunger.“
Simone sah verständnislos von der Wirtin zu Alex und wieder zurück und verstand gar nichts mehr.
„Was habt ihr da gerade verhandelt?“ fragte sie, als die Wirtin fortgegangen war.
„Ich habe das Tagesmenü – Älplermaggarona – zwei Gläser und eine Flasche Apfelwein für uns bestellt und die Wirtin gebeten, es bald zu bringen, weil ich Hunger habe“, übersetzte Alexander frei.
„Was ist das für eine Sprache?“
„Schwyzerdütsch, die Landessprache in der Deutschschweiz.“
„Woher kannst du den Dialekt?“
„Einschließlich der letzten Zeit arbeite ich jetzt über ein Jahr in der Schweiz. Die Leute hier sprechen zwar auch hochdeutsch, aber es hat sich als praktisch erwiesen, ihren Dialekt zu lernen. Gerade, wenn’s mal brenzlig wird, verfallen sie in den Dialekt. In meinem Trupp bin ich der einzige Nichtschweizer. Wenn ich nicht will, dass mir eines Tages was auf den Kopf fällt, muss ich die Töne verstehen können“, erklärte der junge Mann.
Ein Kollege von Alexander kam an den Tisch.
„Gueten Obig, miine Dame. Alex, isch des dai Maidli[4]?“, fragte er.
„Ja, des isch mi Simone, Ruedi. Tu mir d’ Gfalle, lass Hochdüütsch ride. Mai Maidli verstaht’s nüüt[5]“, erwiderte Alex im Dialekt.
„Ja, natürlich. Grüezi in Uri, junge Frau“, grüßte der Schweizer höflich.
„Darf ich dir Ruedi Altdorfer vorstellen, Simone?“
„Sehr erfreut, Herr Altdorfer.“
„Segget Si ifach Ruedi“, grinste der freundlich.
„Ruedi, das ist meine Freundin, Fräulein Simone Haldenstein.“
Altdorfer verbeugte sich höflich.
„Alex hat von Ihnen erzählt. Ich muss sagen: Er hat untertrieben. Die Schweizer Berge sind schön, aber durch Sie erhalten sie neuen Glanz.“
„Ruedi, das ist mein Mädchen!“, erinnerte Alexander lachend. „Er ist ein Schwerenöter, dieser Ruedi“, warnte er Simone.
„Keine Sorge, schönes Fräulein, ich werde Sie dem Alex nicht abspenstig machen. Ich bin verheiratet“, lächelte Altdorfer freundlich.
„Ich würde mich auch nicht abspenstig machen lassen, Ruedi. Ich bin meinem Alex doch nicht so weit nachgereist, um ihm untreu zu werden“, erwiderte Simone mit süßem Lächeln.
Die Wirtin servierte die Älplermaggarona. Dabei handelte es sich um eine Spezialität aus Hörnchennudeln, die aus einem speziellen Vollkornmehl hergestellt wurden. Zusammen mit Kartoffelstäbchen gekocht und mit Urner Bergkäse und Speckwürfeln überbacken war dies ein ebenso heißes wie sättigendes Essen, das seinen Ursprung auf den einsamen Almen hatte. Ruedi Altdorfer war an seinen eigenen Tisch zurückgekehrt; Alexander und Simone waren allein. Er schenkte ihr Apfelwein ein und hob sein Glas.
„Darauf, dass du hergefunden hast“, sagte er. Sie stießen an und tranken einen Schluck des perlenden Getränks.
„Guten Appetit. Vorsicht, das Zeug ist richtig heiß“, warnte Alexander. Simone pustete vorsichtshalber, bevor sie dann kostete.
„Mmh, lecker“, lobte sie.
„Simone – hast du’s dir überlegt?“, fragte der junge Mann dann.
„Ja, ich möchte dich heiraten“, erwiderte sie. „Aber ich würde gern in Steinburg heiraten“, setzte sie hinzu.
„Ich wollte eigentlich hierbleiben“, gab er zurück.
„Alex, liebst du mich?“
„Ja, aber …“
„Dann bitte ich dich: Komm nach Hause. Komm zurück nach Steinburg.“
„Was soll ich dort?“, fragte er kopfschüttelnd. „In Wengland kann ich meinem Beruf nicht nachgehen, ohne auf meinen Bruder Eberhard zu stoßen. Wir haben uns schon als Kinder nicht vertragen.“
„Alex, ich bin Wengländerin und ich möchte auf Dauer in Wengland bleiben. Ich liebe dieses Land – welche Mängel es auch immer haben mag.“
„Schatz, ich liebe Wengland sehr, glaub’ mir. Aber es ist für Eberhard und mich einfach zu klein. Nein, ich gehe nicht zurück.“
„Sei doch nicht so stur“, rügte sie ihn leise.
„Weißt du … ich bin schon einmal auf Anforderung meines Vaters zurückgegangen. Er möchte mich gern daheim haben. Leider hat er mich schon einmal für Dinge bluten lassen, für die nicht ich, sondern Eberhard verantwortlich war. Nein, ich mag nicht mehr.“
Alexanders Antwort klang resigniert.
„Dein Vater macht sich große Sorgen um die Bahn“, lockte Simone.
„Er hat doch meinen großen Bruder“, versetzte Alexander spitz. „Vater wollte doch unbedingt, dass …“
Er stockte, als er plötzlich begriff.
„Oh, nein, liebste Simone! So nicht!“
„Aber, Alex …“
„Simone, hat dich etwa Paps hergeschickt, damit du mich holst?“
Sie schüttelte den Kopf – wurde aber feuerrot.
„Du schwindelst; ich sehe es an deiner Nasenspitze“, sagte der Prinz. Betroffen und ertappt sah Simone eine Weile auf den Teller und pickte recht appetitlos in den verbliebenen Maggarona herum.
„Gut, ich hab’ verstanden. Wir reden später darüber. Iss erst einmal. Wo hast du dir ein Zimmer genommen?“, fragte Alexander.
„Hier“, sagte Simone leise, kaum hörbar.
„Weshalb bist du wirklich gekommen?“, fragte er schließlich. Simone sah sich um. Die anderen Hospizgäste schwatzten so laut oder aßen konzentriert, dass sie die Unterhaltung zwischen ihr und Alexander unmöglich mitbekommen konnten.
„Alex – bitte!“, flehte sie. „Ja, dein Vater hat mich geschickt. Aber ich wäre ohnehin gekommen. An dem Tag, als du fortgingst, habe ich es noch nicht recht bemerkt, was du für mich bist. Aber als ich mit Andreas und den Arbeitern sprach, die sogar streiken wollten, damit du zurückgeholt wirst, da wurde mir klar, was du mir bedeutest. Andreas Ettinger hat deinem Bruder so viele Probleme vorgelegt, dass er ihn keine zwei Wochen später entnervt entlassen hat. Inzwischen haben alle Ingenieure, die du eingestellt hast, den Laufpass bekommen. Die Arbeiter haben gekündigt. An der Bahn wird kein Handschlag getan. Eberhard hat es mit Zwangsarbeit probiert. Aber nach dem ein Lehrgerüst am Eichachviadukt eingestürzt ist, bei dem zehn Zwangsarbeiter ums Leben kamen, von denen einer auch noch am nächsten Tag hätte entlassen werden sollen, ist dein Vater sehr böse geworden. In den Zeitungen kursierte das Gerücht, Eberhard sei in Ungnade gefallen. Dein Vater ließ mich rufen, als ich gerade mit Vorbereitungen für eine Reise nach Andermatt beschäftigt war. Eberhard hatte mich noch am zwölften Juli auf die Straße gesetzt. Du hast in dieser Hinsicht Recht behalten. Eine andere Anstellung fand ich nicht – und Can-Can tanzen wollte ich nicht mehr. Alex, auch wenn dein Vater mich nicht gebeten hätte, wäre ich gekommen. Bitte, glaub’ mir das“, erzählte Simone.
„Was will mein Vater?“, fragte Alexander ernüchtert.
„Er möchte, dass du heimkommst. Warum, hat er mir nicht gesagt.“
„Ich weiß, dass er mich lieber zu Hause hat, weil ein Prinz nun einmal sein Geld nicht verdienen muss, wie er meint. Aber selbst, wenn ich irgendwann zurückkehre: Erst erfülle ich hier meinen Vertrag.“
Es klang recht endgültig. Simone wollte ihn nicht zu sehr drängen, weil sie fürchtete, er könnte erst recht unwillig werden.
Nach dem Essen brachte er sie auf ihr Zimmer.
„Bist du mir sehr böse?“, fragte sie vorsichtig.
„Warum?“
„Weil, … ach lass nur“, erwiderte sie. „Gute Nacht.“
Sie wollte in das Zimmer gehen, aber er hielt sie vorsichtig fest.
„Simonetta, ich glaube, du hast mir noch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Lass mich nicht irgendwann erkennen, dass ich wegen einer Lüge heimgekommen bin.“
„Halt’ mich nur fest. Lass mich nicht wieder allein“, bat sie. Er umarmte sie und drückte sie sanft an sich.
„Weshalb du auch gekommen bist – ich liebe dich und wünsche mir kaum etwas mehr, als dass du meine Frau wirst.“
An Ihrer Wange spürte Simone die raue Wolle seines Pullovers.
„Darf ich dich zu mir einladen?“, fragte sie leise und kuschelte sich ganz dicht an ihn. Seine Zustimmung flüsterte er leise in ihr Haar.
Die Novembernacht war bitterkalt, aber die Hospizzimmer waren gemütlich warm. Unter einer kuscheligen Decke hielt Alexander Simone sicher und warm in seinen Armen. Sie schlief schon beglückt und zufrieden, nachdem sie sich zärtlich geliebt hatten. Er lag noch wach und grübelte. Sie liebte ihn, daran hatte er keine Zweifel. Was ihn störte, war die Tatsache, dass sein Vater ihn mit ihrer Hilfe zurückholen wollte, obwohl gerade sie der Grund für seine Absetzung als Eisenbahnchef gewesen war. Er musste Gewissheit haben, dass er nicht nur im Moment die Kastanien aus dem Feuer holen sollte, um wieder zurückgestoßen zu werden, sobald mit der Bahn alles lief. Er wollte kein drittes Mal erfahren müssen, dass er eben nur der jüngste Königssohn war.
Irgendwann war Alexander doch eingeschlafen, denn er erwachte vom rabiaten Rasseln seines Weckers. Es war halb sieben und jahreszeitlich bedingt noch stockfinster. Verschlafen machte er sich aus Simones Armen frei und zog sich im Dreivierteldunkel an, das nur von einem verschämten Kerzlein durchbrochen wurde. Mit dem Licht in der Hand schlich er dann hinunter in die Gaststube, wo er für gewöhnlich seine Kollegen traf. Aber unten war alles noch still und genauso dunkel wie oben im Zimmer. Er wurde unruhig und klopfte am Zimmer des Oberingenieurs. Nach geraumer Zeit hörte er ein verschlafenes:
„Ja, was isch denn?“
„Herr Oberingenieur, s’isch Ziit[6]“, sagte Alexander. Es dauerte wieder eine Weile, bis der Oberingenieur in Nachthemd und Schlafmütze die Zimmertür öffnete.
„Ziit z’was[7]?“
„Zum Arbiite, Herr Oberingenieur. Guets Mörgli[8].“
Der Oberingenieur sah Alexander lange an, völlig verschlafen, um den schönsten Morgenschlaf gebracht.
„S’isch nüüt z’m Arbiite. Des hen i geschtern obig schon gsait[9].“
„Geb’ mir’s uuf[10]?“
„Ja. Gahet’s nur schlafe[11], Alex.“
„Guet. Schlafet’s no guet.“
„Merci“
Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang Alexander wieder hinauf in den ersten Stock, schlich sich leise in Simones Zimmer, legte im Ofen noch Holz nach, zog sich wieder aus, löschte das Licht und legte sich wieder hin.
„Alex?“, hörte er ihre leise Frage.
„Pscht. Schlaf weiter, Liebling. Es ist halb sieben, stockfinster und saukalt. Hier im Bett ist es schön warm.“
Im Halbschlaf schmiegte seine Liebste sich dicht an ihn.
„Wo warst du?“, fragte sie.
Er stutzte.
„Hast du bemerkt, dass ich aufgestanden bin?“
„Mir fehlte plötzlich deine Wärme, mein Schatz“, murmelte sie.
„Ich wollte zur Arbeit, aber der Oberingenieur hat weitere Arbeiten gestern Abend abgesagt. Da müssen wir schon oben gewesen sein.“
Sie kuschelte sich bei ihrem Prinzen zurecht und war auch schon wieder eingeschlafen. Die wunderbare Wärme, die Dunkelheit des Herbstmorgens – das wirkte einschläfernd. Bald war auch er wieder sanft entschlummert.
[1] Schwyzerdütsch: Es hat keinen Zweck mehr. Solange es meterweise Schnee hat, können wir nicht vermessen.
[2] Schwyzerdütsch: Möchten Sie etwas zu essen?
[3] Schwyzerdütsch: Was haben Sie auf der Karte?
[4] Schwyzerdütsch: Guten Abend, meine Dame. Alex, ist das dein Mädchen?
[5] Schwyzerdütsch: Ja, das ist meine Simone. Tu mir den Gefallen und lass uns hochdeutsch reden. Meine Freundin versteht es sonst nicht.
[6] Schwyzerdütsch: Es ist Zeit.
[7] Schwyzerdütsch: Zeit zu was ?
[8] Schwyzerdütsch: Zum Arbeiten. Guten Morgen.
[9] Schwyzerdütsch: Es ist nicht zum Arbeiten. Das habe ich gestern Abend schon gesagt.
[10] Schwyzerdütsch: Geben wir es auf?
[11] Schwyzerdütsch: Gehen Sie nur schlafen.
A A A
Kapitel 16
Auslandsglück
Am späten Vormittag war die Passstraße vom Neuschnee der Nacht geräumt. Der Vermessungstrupp verließ das Hospiz und kehrte nach Andermatt zurück. Die Voraussagen der Meteorologen verhießen für die kommenden Tage eisige Kälte und starken Schneefall. Der Chefingenieur ließ die Arbeiten unter freiem Himmel einstellen. Lediglich in den Tunnels wurde noch gebaut.
Simone wollte das Posthotel ansteuern, aber Alexander schüttelte den Kopf.
„Dort habe ich schon seit Wochen nur noch meine Postanschrift. Da ich annehme, einige Monate zu bleiben, habe ich mir ein Haus gemietet. Komm.“
Er führte sie zu einem Haus in der Nähe des Posthotels. Simone war erstaunt über die Größe des Hauses, obwohl sie wusste, dass ihr Verlobter nicht arm war. Am darauffolgenden Tag sprachen die jungen Leute beim Pfarramt in Andermatt wegen der Trauung vor.
„Ich brauche noch einen Taufschein Ihrer Heimatgemeinden als Nachweis, dass Sie beide katholisch und unverheiratet sind“, sagte der Pfarrer, als er die Formulare soweit ausgefüllt hatte.
„Die müssten wir wohl telegrafisch bestellen. Kann das Aufgebot trotzdem ausgehängt werden?“, fragte Alexander.
„Ja, natürlich. Nur die Trauung kann ich erst vornehmen, wenn die Taufscheine da sind“, antwortete der Priester.
Noch am selben Tag, es war der 11. November 1872, telegrafierte Alexander an das bischöfliche Pfarramt in Steinburg die Bitte, für ihn und für Simone von Haldenstein Taufscheine telegrafisch zu übermitteln. Dennoch dauerte die Übermittlung der notwendigen Unterlagen fast bis Weihnachten.
Auch wenn sie – noch – nicht verheiratet waren, lebten Simone und Alexander glücklich zusammen. Wenige Tage nach ihrer Ankunft in Andermatt erwachte Simone morgens nach einer zauberhaften Nacht neben Alexander und konnte sich nicht mehr vorstellen, wie sie ohne ihren Sascha auskommen sollte. Er war ein zärtlicher Liebhaber, ein liebevoller und aufmerksamer Mann. Es war wunderschön, von ihm geliebt zu werden, morgens neben ihm aufzuwachen. Sie sah ihn lange an. Sein ebenmäßiges Gesicht wirkte ruhig und entspannt. Ihr Blick heftete sich an die lange Narbe, die sie schon in ihrer ersten gemeinsamen Nacht bemerkt hatte. Seine Erklärung damals war ihr etwas knapp erschienen. Wie von selbst glitt ihre Hand über die Narbe. Alexander wachte auf.
„Guten Morgen, Sascha“, sagte sie leise und küsste ihn.
„Guten Morgen, Simonetta“, erwiderte er ebenso leise.
„Sascha?“
„Ja?“
„Diese Narbe …“
„Ich glaube, ich hatte dir gesagt, woher sie ist“, versuchte er, sie zu bremsen, aber so leicht gab Simone nicht auf.
„Schon, aber etwas knapp“, wandte sie ein. Ein Schatten huschte über sein Gesicht.
„Bitte, Liebling, lass’ es bei der knappen Erklärung.“
„Sascha, sei mir nicht böse. Verzeih’ meine Neugier, aber …“
Er seufzte.
„Bestehst du darauf?“, fragte er.
„Ich möchte es einfach wissen, weil du mich interessierst.“
„Na gut“, seufzte er und zog sie sanft zu sich heran. Sie legte den Kopf auf seine Brust und strich sanft über die Narbe.
„Du weißt, dass wir mit Wilzarien häufig Streit um die Provinz Aventur haben“, begann er seine Erklärung. „Als ich beim Militär war, brachen wieder solche Streitereien aus. Ich war nach Eberhards Meinung nicht gerade ein Mustersoldat und habe mir eine Strafversetzung nach Aventur eingehandelt. Auf einer Grenzpatrouille geriet ich mit drei Mann an ein leider recht großes Wilzarenkommando. Es kam zum Kampf, bei dem ich den Säbel des gegnerischen Leutnants quer über die Brust gezogen bekam. Das Ergebnis dieses Kampfes war, dass zwei meiner Leute tot waren und der andere und ich in Gefangenschaft gerieten. Drei Monate habe ich in der Zitadelle von Buchenberg geschmachtet, dann konnte ich mit Hilfe einer zauberhaften Dame ausbrechen. Zu Hause habe ich dann noch weitere zwei Monate in der Festung Palparuva gesessen – wegen Patrouillenvergehens. Deshalb erinnere ich mich nicht gern an diese Geschichte“, erzählte Alexander.
„Eins begreife ich nicht: Was konntest du dafür, dass man dich auf der Patrouille geschnappt hat?“
„Nichts. Wir haben getan, was wir konnten, aber das war meinem Bruder Eberhard ziemlich egal. Ein wenglischer Offizier ergibt sich nicht – auch wenn er verwundet ist, hieß es. Er war damals mein Divisionschef und vertrat die Ansicht, er könne mich nicht besser behandeln als andere Leutnants, nur weil ich zufällig sein Bruder wäre. Also habe ich gebrummt. Leider konnte Eberhard schalten und walten, wie er wollte, weil mein Vater damals sehr krank war. Als Paps endlich gesund war, hat er als erste Amtshandlung meine Entlassung aus der Festungshaft verfügt. Ich habe meinen Abschied genommen, blieb aber auf Wunsch meines Vaters Reserveoffizier.“
„Eberhard und du – ihr könnt euch nicht leiden, oder?“
„Eberhard hat die Befürchtung, ich könnte als Ausgleich dafür, dass ich weder die Krone noch den Grafentitel erbe, ein hohes Amt bei der Armee oder gar bei der Polizei bekommen. Ich strebe es nicht an, aber Eberhard nimmt das nicht zur Kenntnis“, sagte Alexander leise.
„Diese Frau, die dir geholfen hat: Wer war das?“, fragte Simone nach einer Weile, in der sie über Alexanders Erklärung nachgedacht hatte.
„Warum willst du das wissen?“
„War sie eine Oppositionelle oder gar eine Spionin?“, fragte Simone ohne auf seine Gegenfrage einzugehen.
„Weder noch. Livaria war die Tochter des Königs Livor von Wilzarien“, gab Alexander zurück. Er küsste sanft Simones weiches Haar.
„Eine richtige Königstochter?“
„Das soll es geben, Liebste.“
„Aber warum hat sie dir geholfen?“
„Livaria war in mich verliebt“, antwortete er. In seiner Stimme war ein leichtes Zittern.
„Hast du sie auch geliebt?“
Alexander seufzte.
„Livaria war meine erste richtige Liebe“, gestand er dann.
„War es schön mit ihr?“, bohrte Simone unnachgiebig weiter.
„Simone – ein Gentleman genießt und schweigt“, gab er zurück.
„Was ist aus ihr geworden?“
Wieder ein tiefes Seufzen des Prinzen.
„Soviel ich weiß, ist sie zum Tode verurteilt worden, weil sie mir zur Flucht verhalf“, sagte er.
„Du sagst das so kühl“, bemerkte Simone.
„Ich muss es so ausdrücken! Simone – verdammt, warum zerrst du diese Erinnerung ans Licht?“, entfuhr es ihm. Sie richtete sich auf und sah ihn an.
„Ich bin unheilbar neugierig, Hoheit“, erwiderte sie spitzbübisch.
„Weißt du, dass solche Erinnerungen sehr weh tun können?“, fragte er leise. Erschrocken sah Simone ihn genauer an. In seinen braunen Augen spiegelte sich eine Qual, die sie noch nie an ihm gesehen hatte.
„Ich hatte es mit Mühe überwunden: Die Tatsache, dass die Frau, die ich liebte, umgebracht worden war; die Tatsache, dass diese Liebe eine war, die meine Eltern trotz aller Toleranz nie geduldet hätten. Ein wenglischer Prinz kann heiraten, wen er will, nur eine Wilzarin nicht. Es war verdammt schwer, das alles zu überwinden Und jetzt …“
Simone strich ihm sacht über das Gesicht und küsste ihn.
„Verzeih’ mir, das wollte ich nicht. Ich werde dich nicht wieder drängen, wenn du mir eine knappe Erklärung gibst. Entschuldige bitte.“
Simones Liebe half Alexander, wieder zu vergessen. Die junge Frau schenkte ihm so viel Zärtlichkeit und Liebe, dass der junge Prinz keine Parallele dazu fand. Zwei Tage nach Weihnachten heirateten die jungen Leute in der schönen Kirche von Andermatt in Anwesenheit von Alexanders Arbeitskollegen. Zur Hochzeit schenkten sie dem Paar zwei großformatige Fotografien: Die eine zeigte Alexander bei den Vermessungsarbeiten, die andere war eine Gruppenaufnahme des gesamten Vermessungstrupps.
Die Arbeiten an der Gotthardbahn wurden nach Ende der allzu strengen Frostperiode fortgesetzt. Als der Sommer kam, lief Alexanders Einjahresvertrag aus. Sein Oberingenieur wollte ihn zu einer Vertragsverlängerung überreden. Alexander bat sich Bedenkzeit aus. Simone schien großes Heimweh nach Wengland zu haben. Als er am Abend heimkam, schlug er Simone vor, noch ein weiteres Jahr in der Schweiz zu bleiben. Sie schüttelte traurig den Kopf.
„Sascha, ich möchte heim. Die Schweiz ist ein schönes Land, ja, aber ich habe Heimweh.“
„Und du möchtest, dass ich mitkomme?“
„Sascha, du bist mein Mann. Ich werde nicht ohne dich nach Wengland zurückgehen.“
Alexander zog sie an sich.
„Paps hat dich geschickt, das hast du mir verraten, als wir auf dem Gotthardhospiz waren. Sei jetzt bitte ehrlich: Wolltest du mich wirklich ohnehin besuchen oder hat Paps dich irgendwie dazu gebracht?“
Simone sah Alexander erschrocken an.
„Wie meinst du das?“
„Liebling, ich bin dir nicht böse, wenn du nicht von allein gekommen bist. Aber ich wäre sehr enttäuscht, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst.“
Simone suchte eine Weile nach Worten. Alexander ließ ihr Zeit.
„Ja, es stimmt“, sagte sie schließlich. „Dein Vater hat mich gebeten, dich zurückzuholen. Ich wollte zwar wirklich von selbst zu dir kommen, aber ich war noch nicht mit mir im Reinen. Ich habe deinem Vater die Bedingung gestellt, dass er meinen Vater begnadigt, wenn ich dich zur Rückkehr bewegen kann.“
„Wahrlich – du hast gelernt!“, seufzte Alexander leise.
„Sascha, du bist der Einzige gewesen, der mir je geholfen hat, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Für dich, Alex, tue ich alles, ohne etwas zu verlangen. Aber bei anderen hat Hilfe ihren Preis“, erwiderte sie. Alexander lächelte schief.
„Was immer ich jetzt tue, es ist falsch. Bleibe ich hier, habe ich mit dir Streit, weil du an deinem Vater hängst. Gehe ich heim, wird dein Vater freigelassen und wird nichts Eiligeres zu tun haben, als mir wieder Knüppel zwischen die Beine zu schmeißen. Er mag den Adel nun einmal nicht, auch wenn er selbst dazugehört. Was soll ich tun, Mausi? Gib mir einen Rat“, bat er. Simone sah ihn an.
„Es war eigennützig von mir, deinem Vater diese Bedingung zu stellen. Ich weiß auch, dass mein Vater nicht zu Unrecht sitzt. Deshalb habe ich bisher nichts davon gesagt und ihn schmoren lassen. Bitte, Sascha, komm nach Hause. Wenn es jemanden gibt, der es fertigbringt, die Bahn weiterzubauen, dann bist du das. Dein Vater hat es wohl endlich begriffen.“
„Zumindest hat er noch nie eine so wirksame Waffe in der Hand gehabt“, seufzte der Prinz. Er rang eine Weile mit sich, das war ihm anzusehen. Simone ließ ihm Zeit, so wie er ihr Zeit gelassen hatte.
„Es ist ein Fehler, aber ich gebe unseren Vätern noch eine Chance. Ich beuge mich der liebevollen Erpressung.“
Statt etwas zu sagen, küsste Simone ihn einfach.
Der Oberingenieur war regelrecht enttäuscht, als Alexander ihm seine Entscheidung mitteilte, den Vertrag nicht zu verlängern.
„Ich hatte so gehofft, Sie halten zu können, Herr von Steinburg. Haben Sie eine noch bessere Aufgabe?“
„Zum einen hat meine Frau heftiges Heimweh, zum anderen habe ich erfahren, dass ohne meine Mithilfe die Wenglandbahn einfach nicht weitergebaut wird. Das Projekt ist meinem Vater sehr wichtig.“
„Und Ihnen?“
„Ich habe eine Menge Vorarbeit geleistet, damit die Arbeiten beginnen konnten. Insofern ist auch mir das Projekt sehr wichtig“, erklärte Alexander.
„Könnte die Wenglandbahn eine Konkurrenz zur Gotthardbahn sein?“, fragte der Oberingenieur.
„Glaube ich nicht. Dazu ist sie zu weit entfernt. Außerdem überquert sie die Alpen nicht, sondern ist eine reine Regionalbahn. Vielleicht ist eine Ergänzung für alpenquerende Bahnen, aber keine Konkurrenz“, beruhigte Alexander den besorgten Ingenieur.
„Es ist schade, Sie zu verlieren, Herr von Steinburg. Ich hätte Sie gern behalten. Aber ich wünsche Ihnen viel Glück beim Bau Ihrer Bahn.“
Alexander bedankte sich höflich und verließ das Eisenbahnbüro. Auf dem Heimweg telegrafierte er nach Steinburg, dass Simone ihn überredet hätte, heimzukommen. Er wollte noch eine Bestätigung, dass er, falls er die Bahn wieder übernehmen sollte, nicht eines Tages wieder durch Eberhard ersetzt werde. Zu seinem Erstaunen ließ sein Vater sich zu einer schriftlichen Erklärung hinreißen, dass Alexander Direktor der Eisenbahn werden sollte, dass Eberhard nie wieder dafür zuständig sein sollte und dass Friedrich keine Ambitionen in dieser Richtung habe. Diese Bestätigung war für Alexander das Zeichen zum Aufbruch.
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Kapitel 17
Rückkehr
Der Haushofmeister der Steinburg hatte ein Leuchten in den Augen, als er den Prinzen Alexander und die Baronesse von Haldenstein anmelden konnte. König Wilhelm hielt nichts mehr auf seinem Platz bei Tisch. Er sprang auf und eilte seinem Sohn entgegen.
„Alex!“
Glücklich umarmte er seinen Jüngsten. Die herzliche Begrüßung ließ Alexanders anfängliche Reserviertheit schwinden. Seine Eltern waren sehr froh, ihn wieder zu Hause zu haben. Die gleiche Begrüßung wurde auch Simone zuteil. Königin Annette hielt Simone noch umarmt, als sie Alexander fragte:
„Wann heiratet ihr?“
Alexander zwinkerte Simone zu.
„Ist das euer Einverständnis zur Hochzeit?“, fragte er dann seine Mutter.
„Aber ja!“, erwiderte Annette. „Ich habe deinen Vater schon gefragt, weshalb er Simone nicht ganz offiziell zu deiner Verlobten erklärt hat, als sie hier war und versprach, dass sie versuchen wollte, dich zur Rückkehr zu bewegen. Und ich hätte es gern gesehen, wenn du mir an einem gewissen elften Juli deutlicher gesagt hättest, dass du Simone liebst und sie heiraten willst. Du hättest mir manche schlaflose Nacht erspart.“
„Mama, ich habe es dir gesagt – aber das hast du bestimmt in deinem Schrecken, dass ich gehen wollte, nicht mitbekommen“, erwiderte Alexander lächelnd. „Ach so, da ist noch etwas. Papa: Das hier könntest du ins Stammbuch heften“, setzte der Prinz hinzu, nahm die Heiratsurkunde aus der Tasche und gab sie seinem Vater. Der König nahm die Urkunde an sich, überflog sie kurz und stockte. Er las sie noch einmal, diesmal aufmerksamer.
„Wie bitte? Du hast …?“
Alexander nickte.
„Wir haben in Andermatt geheiratet. Ganz offiziell, standesamtlich wie kirchlich“, erklärte Alexander.
„Du glaubst doch nicht, dass ich als dein König diesen ausländischen Wisch hier in unser Stammbuch hefte! Was ist das für eine Hochzeit? Heimlich, still und leise irgendwo in der Bergwildnis der Schweiz! Kommt ja überhaupt nicht in Frage! Ihr heiratet noch einmal. Hier in Steinburg im Dom, wie es sich für anständige wenglische Adlige gehört!“, versetzte Wilhelm mit einem breiten Grinsen.
„Ist das ein Befehl, Majestät?“, fragte Alexander lächelnd.
„Allerdings! Und zwar noch vor dem elften Juli! Du hast hiermit den königlichen Befehl, deiner Simone vor dem Altar des Steinburger Doms ein zweites Mal Treue zu geloben. Und du, Simone, hast den gleichen Befehl, verstanden?“
Wilhelms Wortwahl war Befehl, aber sein Ton war es nicht; ebenso wenig wie seine Augen.
„Gedachtest du, die Hochzeit größer zu feiern?“, fragte Alexander vorsichtig an.
„Natürlich. Du bist der letzte freie Königssohn Wenglands – gewesen. Selbstverständlich möchte ich daraus ein richtig großes Fest machen. Herzog Alfons von Scharfenburg hat bereits zugesagt, Graf Manfred von Löwenstein hat ebenfalls schon bestätigt. Der wenglische Adel steht bereit, euch beiden zu gratulieren, aus dem Volk sind auch schon Grußadressen gekommen. Ich habe mir gedacht, wir könnten das mit dem Fest vor dem Nationalfeiertag verbinden“, empfahl König Wilhelm.
„Sag’ mal, Paps, du hast nicht zufällig eine Depesche aus Andermatt bekommen?“, fragte Alexander mit einem Seitenblick auf Simone.
„Nein, Simone ist unschuldig“, mischte sich Annette ein. „Diese grandiose Idee ist deinem Vater schon an dem Tag gekommen, als er Simone hinter dir her gescheucht hat.“
„Mutig, Paps“, bemerkte der Prinz. „Wie konntest du so sicher sein, dass Simone schaffen würde, was eine noch so brandeilige Depesche von Von Aschewerth nie und nimmer erreicht hätte?“
„Du hattest mir gesagt, dass du sie liebst und sie heiraten möchtest. Da Mama und ich dich und deine Brüder zu Ehrenmännern erzogen haben, habe ich fest damit gerechnet, dass du sie umgehend zu deiner Prinzessin machen würdest. Und da wir euch eingeschärft haben, eure Mädchen nicht länger als ein Jahr ohne Trauring zu lassen, konnte ich beruhigt den zehnten Juli zum Hochzeitstag erklären“, lächelte der König.
„Erklärt nicht, wie du darauf gekommen bist, ich könnte tatsächlich zurückkommen“, hakte Alexander nach.
„Alex, du bist Wengländer und ein Nachkomme der uralten Familie Von Steinburg. Viele von uns haben zeitweilig im Ausland gearbeitet, aber sie sind alle zurückgekommen. Ein Wengländer kann ohne Wengland auf Dauer nicht leben“, gab Wilhelm zu bedenken.
Einige Stunden später hatten Simone und Alexander ihre Räume in der Steinburg bezogen. Als sie alles ausgepackt hatten, machten sie einen Rundgang durch die Burg. Jetzt, nachdem Simone seine Frau war, konnte Alexander ihr auch die verschwiegensten Geheimgänge der Steinburg zeigen. Nach einer Weile standen sie wieder auf dem Balkon, von dem sie ein Jahr zuvor das Feuerwerk gesehen hatten.
„Sascha?“
„Ja, mein Schatz?“
„In drei Tagen ist doch wieder das große Feuerwerk, oder?“, fragte Simone.
„Ja“, flüsterte er in ihr weiches Haar.
„Können wir uns das wieder von hier ansehen?“
„Ich fürchte nein. Immerhin wird gleichzeitig unsere Hochzeit gefeiert. Da können wir uns leider nicht verkrümeln. Was anderes: Wann wollen wir deinen Vater aus Palparuva abholen?“
Simone sah Alexander einen Moment an.
„Ist er noch im Gefängnis?“
„Ja. Paps erzählte mir vorhin, er hätte sich geweigert, die Festung zu verlassen. Warum, weiß keiner. Er hat sich einfach gesträubt“, erwiderte Alexander. „Kannst du dir vorstellen, warum?“
„Er ist dickköpfig. Wahrscheinlich hat ihm jemand erzählt, dass der König ihn aus einem besonderen Grund begnadigt hat – nämlich weil ich deine Frau geworden bin. So wie ich meinen Vater kenne, wird er Zeter und Mordio gebrüllt haben und ist bockig geworden. Es wird ohnehin Ohrfeigen setzen, wenn ich ihm in die Nähe komme. Er wird es mir nie verzeihen, die Arbeiterklasse so verraten zu haben“, seufzte sie. Es klang beinahe niedergeschlagen.
„Das soll er wagen!“, entfuhr es Alexander. „Niemand wird meine Frau ungestraft schlagen.“
Königin Annette saß vor dem Spiegel in ihrem Ankleidezimmer und kämmte sich das Haar durch. Wilhelm hängte gerade seine Uniform auf dem Stummen Diener auf. Beide waren bereits im Nachthemd.
„Wilhelm?“
„Ja, Annette?“
Der König drehte sich zu seiner Frau um.
„Wenn du mir den Alex noch einmal ins Ausland graulst, werde ich sehr böse“, drohte sie.
„Keine Sorge, Netti, diesmal nicht. Zweimal habe ich den Fehler gemacht, Alexander etwas beginnen zu lassen und ihn dann durch Eberhard zu ersetzen. Nie wieder! Es gibt Tage, da zweifle ich an, dass Eberhard überhaupt unser Sohn ist.“
„Wilhelm!“, entfuhr es der Königin empört.
„Natürlich ist er unser Sohn“, beschwichtigte der König eilig. „Aber er schlägt völlig aus der Art“, gab er dann zu bedenken.
„Das ist nur zu wahr“, sagte Annette im gleichen seufzenden Tonfall.
Drei Tage später verkündete das Glockengeläut des Steinburger Doms die Hochzeit des Prinzen Alexander mit der Baronesse Simone. Der Dom war bis zum letzten Platz gefüllt. Die geladenen Gäste erwarteten mit einiger Spannung die Braut, auf die der Bräutigam mit seinem Trauzeugen bereits vor dem Altar wartete.
„Wer führt deine Braut eigentlich?“, fragte Andreas Ettinger seinen Freund Alexander. „Ihr Vater ist doch noch in Palparuva?“
Alexander sah seinen Trauzeugen an.
„Sie hat es mir nicht verraten. Ich bin genauso gespannt wie du.“
Der Organist bekam ein Zeichen.
„Die Braut ist da“, flüsterte der Küster ihm zu. Der Organist griff in die Tasten und intonierte den Hochzeitsmarsch. Unten im Domeingang erschienen sechs Herwigsgardisten, die sich als Spalier formierten. Sie gaben den Blick auf die Braut und ihren Brautführer frei. Es war Prinz Peter, Alexanders Neffe, Friedrichs vierzehnjähriger Sohn, der seine Tante mit ernster Miene zum Traualtar führte. Andreas und Alexander sahen sich an.
„Logisch“, flüsterte Alexander. „Simone versteht sich mit Anna und Fritz besonders gut. Und zum Blumenstreuen ist Peter schon ein paar Jährchen zu alt.“
Der Bischof, der die Brautmesse persönlich zelebrierte, stellte in seiner Predigt besonders heraus, dass die Ehe zwischen dem Prinzen und der sozial engagierten Baronesse der Versöhnung der gesellschaftlichen Klassen dienen solle. Er warf dabei gelegentlich einen Blick auf Simones Trauzeugen. Es war Carl Niederfeld, der stellvertretende Vorsitzende der Sozialistischen Partei Wenglands, der in Abwesenheit von Vater Haldenstein die Partei leitete. Niederfeld hatte demonstrativ Arbeiterkleidung angezogen, trug unübersehbar am linken Arm eine rote Armbinde, die eine Provokation für den anwesenden Adel sein sollte. Die meisten geladenen Adligen reagierten auch empört, aber einen Eklat wollten sie doch nicht. Die Einladung zum Hochzeitsmahl hatte Niederfeld aus rein grundsätzlichen Erwägungen ausgeschlagen, was eine peinliche Situation im Schloss denn auch vermied. Schließlich nahm der Bischof in feierlichem Zeremoniell die Trauung vor.
Eine Woche darauf traf die königliche Hofkutsche in der Festung von Palparuva ein. Alexander und Simone stiegen aus und meldeten sich beim Gefängnisdirektor. Edgar von Drechselberg zuckte verlegen die Schultern.
„Guten Tag, Hoheiten“, sagte er. „Ihr Herr Vater weigert sich leider beharrlich, entlassen zu werden, Königliche Hoheit.“
„Soll ich es mal versuchen?“, fragte Simone. Von Drechselberg sah sie an.
„Er hat mir gesagt, er würde Sie nicht empfangen.“
„Mit Verlaub, Herr von Drechselberg – das soll er mir selber sagen“, erwiderte Simone kühl.
„Dann folgen Sie mir, bitte“, forderte Von Drechselberg sie auf. Alexander kam ungefragt mit. Zwar warf der Direktor ihm einen vernichtenden Blick zu, aber Alexander reagierte nicht darauf. Nach einem längeren Weg durch die Gänge der Festung erreichte die Gruppe den Zellentrakt. Von Drechselberg ließ die Zelle von Dr. Haldenstein aufsperren und ging hinein.
„Haldenstein – Ihre Tochter ist da.“
„Die soll mir von der Pelle bleiben!“, schnauzte es aus der Zelle. „Ich will sie nicht sehen!“
„Ihre Tochter und Ihr Schwiegersohn wollen Sie abholen. Sie sind schon seit zwei Monaten begnadigt, Haldenstein“, erinnerte der Direktor.
„Schwiegersohn? Seit wann ist das Früchtchen verheiratet? Ohne meine Erlaubnis?“
„Das ist doch nun nicht wichtig, Haldenstein. Sie sind frei und sollten sich darüber freuen, dass Sie hier nicht noch sechseinhalb Jahre schmoren müssen.“
„Mit Adelsfatzkes fahre ich nicht!“, wetterte Simon von Haldenstein. Alexander betrat die Zelle und maß seinen Schwiegervater mit einem abschätzenden Blick.
„Typisch Haldensteiner Barone“, sagte er bedauernd. Haldenstein fuhr auf.
„Nennen Sie mich nicht Baron!“, keifte er.
„Man bleibt, was man ist, Baron von Haldenstein“, gab Alexander kühl zurück. „So, wie ich ein königlicher Prinz geblieben bin, auch wenn ich mir aus dem Umstand nicht viel mache, sind Sie ein Baron geblieben, auch wenn Sie Ihre Genossen geradezu hemmungslos über Ihre Herkunft belogen haben. Sie wären nicht Wenglands Kommunistenkönig, wenn Sie sich nicht selbst verleugnet hätten.“
Haldenstein sprang auf und wollte Alexander an die Gurgel gehen, aber der Prinz hielt sich den Arzt vom Leibe.
„Hinsetzen!“, herrschte er den Vater seiner Frau an. „Und jetzt Klartext zum Mitschreiben, Doktor: Simone ist weder eine Hure noch ein geschundenes Schäflein, das gegen seinen Willen zu einer Ehe mit König Wilhelms jüngstem Sohn gezwungen wurde, um Ihnen die Ketten abzunehmen. Simone und ich haben geheiratet, weil wir uns lieben und aus keinem anderen Grunde. Ihre Begnadigung haben Sie Simones Geschäftstüchtigkeit zu verdanken, die mich nach Wengland zurücklocken sollte und dafür Ihre Freiheit als Preis verlangt hat. Wenn Sie jetzt die Bemühungen meiner Frau zunichtemachen, indem Sie an der Pritsche hier kleben, als habe man Sie festzementiert, haue ich Sie windelweich. Das dazu. Bei der Bahn, Dr. von Haldenstein, sind Sie jederzeit willkommen, wenn Sie als Betriebsarzt arbeiten wollen. Ihre Roten Garden haben dort nichts zu suchen. Falls Sie an meinem Angebot weiterhin nicht interessiert sind, eröffnen Sie Ihre Praxis in Steinburg wieder. Die entzogene Approbation ist wieder erteilt. Diese Chance gebe ich Ihnen noch, aber gewiss keine dritte!“, erklärte er zornig.
„Meine Patienten sind die geknechteten Arbeiter, Adelsscheißer! Nie werde ich einen Befehl dieser parasitären Klasse entgegennehmen. Ich werde nicht eher ruhen, bis ihr Schmarotzer endlich vom Angesicht dieser Erde verschwunden seid“, drohte Haldenstein.
Alexander beherrschte sich knapp, seinem Schwiegervater einige Ohrfeigen zu verpassen. Aber seine Augen wurden dunkel vor Zorn.
„Ich seh’s ein: Guter Wille ist bei Ihnen fehl am Platz. Beim ersten Mal habe ich für ein ordentliches Verfahren gesorgt. Zum Dank hat man mich beinahe gelyncht. Diesmal bin ich auf Simones Bitte heimgekommen, weil sie sehr an Ihnen hängt und meinem Vater die Bedingung gestellt hatte, Sie freizulassen. Wieder höre ich nur wüste Beschimpfungen, die sich nicht nur gegen mich, sondern auch gegen Simone richten. Sie haben ein seltenes Talent, jeden zu verprellen, der Ihnen wohlmeinend gegenübersteht. Weiß Gott, ich leide nicht unter Vorurteilen, aber Ihr Verhalten ist nicht dazu angetan, weiteren guten Willen bei mir hervorzurufen“, wetterte Alexander.
„Ich will keine Gnade, verdammt noch mal!“, fluchte Haldenstein.
„Nein!“, donnerte Alexander. „Sie möchten hier im Knast verschimmeln, damit Sie bei Ihren Genossen als Märtyrer dastehen, falls solche religiösen Begriffe bei Ihnen erlaubt sind – aber den Gefallen tue ich Ihnen nicht! Und jetzt kommen Sie mit, bevor ich richtig gallig werde!“
Der sonst so beherrschte und ruhige Prinz war kurz vor der Explosion. Der Ausbruch verschlug sogar Dr. Haldenstein die Sprache.
Alexander packte ihn grob und beförderte ihn hinaus in die wartende Kutsche. Simone konnte dem recht wütenden Alexander und ihrem zeternden Vater kaum folgen.
Als sie in der Kutsche saßen und Alex dem Kutscher das Zeichen zur Abfahrt gegeben hatte, begann er sich zu fragen, worauf er sich eigentlich eingelassen hatte. Die Rückfahrt verlief in eisigem Schweigen, das Simone schließlich peinlich war. Mehrfach versuchte sie, diese Stille zu durchbrechen, aber ihr Vater antwortete gar nicht, Alexander recht einsilbig. Nachdem sie Steinburg erreicht hatten, weigerte sich ihr Vater, sie zu empfangen. Auch Simone drängte sich die Frage auf, ob ihre Bedingung klug gewesen war.
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Kapitel 18
Anbruch einer neuen Zeit
Als die persönlichen Angelegenheiten soweit geregelt waren, konnte Alexander sich wieder um die Eisenbahn kümmern. Er ließ in sämtlichen wenglischen Zeitungen Anzeigen aufgeben, dass die KWE unter Leitung von Alexander von Wengland Arbeiter suche. Innerhalb von nicht einmal einem Monat hatte er wieder knapp zweitausend Arbeiter und Ingenieure zusammen – einschließlich seiner schweizerischen Planungsfachleute. Die meisten Arbeiter hatten schon damals, als mit dem Bahnbau begonnen worden war, daran mitgearbeitet. Bis zum Herbst waren die Baustellen wieder eingerichtet, das Kraut, das zwischenzeitlich gewachsen war, wieder beseitigt. Dann gingen die Bahnarbeiter daran, die Fehler, die unter Eberhards Regie gemacht worden waren, zu revidieren.
„Was kostet das?“, fragte König Wilhelm erschrocken nach, als Chefplaner Gasser einen Kostenplan über eine gute Million Gulden allein für die Fehlerbeseitigung vorlegte.
„Eine Million, nicht mehr, nicht weniger“, bestätigte Gasser ungerührt dem entsetzten König.
„Eberhard, das zahlst du – bis zum letzten Heller!“, knurrte Wilhelm zornig. „Und die weitere Strecke?“, fragte er dann vorsichtig nach.
„Da bleibt es bei den früher kalkulierten Kosten, zumal wir mit der bereits gebauten Strecke bis zum Führungswechsel deutlich unter den kalkulierten Ausgaben geblieben sind“, beruhigte Gasser den König.
Die Arbeiten schritten jetzt gut voran. Die Strecke Palparuva – Christophstein näherte sich der Vollendung. Alexander reiste nun durch Europa, um einen Maschinenpark und Wagen zu kaufen. Auf einigen Reisen begleitete ihn sein ältester Bruder Friedrich, den die Bahn sehr interessierte. Nach etwa drei Monaten hatten die königlichen Brüder ihre Bahn zusammengekauft. Die Loks und Wagen wurden zur offiziell genannten Lieferadresse Bahnhof Buchs, St. Gallen, der Vereinigten Schweizer Bahnen transportiert, dort in Einzelteile zerlegt und per Pferdewagen von dort über einen der geheimen Zugänge in die Verborgene Region über Breiten-stein nach Felsbruck, dort im neuen zentralen Bahnbetriebswerk zusammengebaut und dann auf die Eisenbahnstrecke gesetzt. Pünktlich zur Eröffnung der ersten Strecke zwischen Palparuva/Grenze und Christophstein in Aventur am 11. Juli 1874 standen Loks und Wagen bereit.
Der Bahnhof von Steinburg war ein beeindruckendes Gebäude im klassizistischen Stil geworden. Außer dem Bahnsteig vor dem Empfangsgebäude verfügte der Bahnhof über drei weitere Bahnsteige mit sechs Gleisen, die großzügig überdacht waren. Bahnhofsgebäude und Bahnsteigüberdachungen waren für den Eröffnungstag mit den grün-roten Landesfarben Wenglands geschmückt. Zum ersten Mal, seit es die Militärparade am Nationalfeiertag gab, fiel sie zugunsten einer Fahrzeugparade der Königlich Wenglischen Eisenbahn aus.
König Wilhelm und seine Familie besichtigten einen hochmodernen Fahrzeugpark und den speziell für den König gebauten Salonzug, der aus rot-golden lackierten Wagen und einer grün lackierten Schnellzuglok bestand. An allen Wagen – mit Ausnahme des Königswagens – war an beiden Seiten unterhalb des mittleren Fensters eine goldgeränderte grüne Scheibe mit der goldenen wenglischen Lilie angebracht. Den Königswagen schmückte an der gleichen Stelle das große Wappen des Königreichs Wengland.
Die Ausstattung des Zuges war bequem, allerdings nicht überladen. Die Handwerker, die mit der Gestaltung der Inneneinrichtung beauftragt gewesen waren, hatten wesentlich üppiger schmücken wollen. Die Wagen für die Küche und das Begleitpersonal unterschieden sich in der Ausstattung nur sehr wenig von den normalen Reisezugwagen Erster Klasse. Lediglich die in den Abteilen eingebauten Schränke waren dazugekommen. Im Küchenwagen war auch der Speiseraum untergebracht, der im Gegensatz zum gewöhnlichen Speisewagen eine durchgehende Tafel für zwanzig Personen hatte, die der Längsachse des Wagens folgte.
Für den Königswagen hatte Alexander zwei Ausstattungen bestellt: Eine richtig prunkvolle mit barocken Schnitzereien und einer Menge Blattgold und eine bescheidenere, die mehr auf Funktionalität und Bequemlichkeit ausgerichtet war als auf Repräsentation.
Was in beiden Fällen blieb, war der unter dem mittleren Fenster fest eingebaute Sekretär und der gleichfalls fest montierte Drehstuhl davor. Der Sekretär war keine Sonderanfertigung für die Eisenbahn, sondern König Wilhelms alter Schreibschrank, den er schon gut zehn Jahre zuvor ausrangiert hatte. Alexander hatte das Möbelstück auf eigene Kosten komplett restaurieren lassen. Es sah aus wie neu.
König Wilhelm besah sich die für den Eröffnungstag eingebaute, weniger herrschaftliche Ausstattung.
„Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir diese Variante der Einrichtung besser als die, die du mir gestern im Ausbesserungswerk gezeigt hast“, sagte er, als er versonnen über den Deckel des Sekretärs strich.
„Weiß ich, Paps“, lächelte Alexander. „Aber es gibt Situationen, in denen du die Pracht brauchen wirst. Ich habe den Hofzug des Herzogs von Scharfenburg gesehen. Gegen den ist deine Prunkeinrichtung noch ausgesprochen bescheiden. Wenn du den Scharfenburger durch Wengland kutschierst, kannst du ihm nicht diese Ausstattung bieten“, erklärte er.
„Und womit reist du, wenn du deine Eisenbahn bereist?“ fragte Friedrich seinen jüngsten Bruder.
„Ich erlaube mir zwar, Erster Klasse zu fahren, aber ich nehme einen gewöhnlichen Reisezugwagen“, gab Alexander freundlich zurück.
„Wie lange braucht man jetzt von Palparuva nach Christophstein?“, fragte Eberhard.
„Achtzehn Stunden statt sechs Tage“, antwortete Alexander. „Unser Land ist ein bisschen kleiner geworden“, setzte er hinzu.
„Hört sich an, als bedauertest du das“, bemerkte Eberhard spitz. Alexander sah ihn einen Moment an.
„Ja und nein. Zum einen bin ich froh, dass man schneller von einem Ende Wenglands zum anderen kommt, zum anderen bedaure ich, dass ein Stückchen Geschichte verlorengeht. Die Reisepost hat in Wengland viel geleistet, um die Grafschaften erreichbar zu machen. Wir müssen Sorge dafür tragen, dass die Postkutscher nicht unter der Eisenbahn leiden.“
Wilhelm sah seine Söhne mit strahlenden Augen an.
„Das werden wir“, versprach er.
– Und Wengland hatte seine erste Eisenbahnstrecke. –
ENDE DES ERSTEN BUCHES
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