Gundolfs Bibliothek

Das Erbe Ibelins – Teil 2 – Vertreibung aus dem Paradies – online

Updated: 18. März 2019

*Kapitel 34, Epilog und Testament neu, Geschichte beendet*

Ab 12 Jahren

Prolog

 

Man schrieb den 2. Oktober 1192. Ein Monat war vergangen, seit Balian von Ibelin im Auftrag König Richards von England und König Henris von Jerusalem mit Sultan Saladin einen Waffenstillstand für drei Jahre ausgehandelt hatte, den beide Könige akzeptiert hatten. Ebenso waren einige Monate vergangen, seit Isabella von Jerusalem ihrer Tochter Maria das Leben geschenkt hatte. Die kleine Maria von Montferrat würde als Erstgeborene der Königin von Jerusalem die Krone eines Tages erben – es sei denn, Henri und Isabella würden noch einen Sohn bekommen.

 

In Akkon kam ein Schiff an, dem ein Bote aus England entstieg. Das Schiff war böse ramponiert, die Besatzung und ihr Passagier ebenfalls.

„Ihr seht übel zugerichtet aus, Mylord“, bemerkte ein Johanniter-Sergeant*, der die Zollformalitäten des ankommenden Schiffes erledigte.

„Kunststück!“, seufzte der englische Bote. „In Toulon bin ich mit knapper Not auf das Schiff gekommen, weil mich die Franzosen fast erwischt hätten, die Straße von Messina ist abgeriegelt für alles, was nicht unter französischer Flagge fährt, zwischen Malta und Rhodos gibt es fast mehr Piratennester als Inseln … Wir haben was hinter uns, sag’ ich Euch! Ich habe Nachrichten für König Richard von England. Wo finde ich ihn?“

„Er ist beim König von Jerusalem. Den Palast seht Ihr dort drüben, Mylord“, erwiderte der Johanniter. Der Engländer dankte und machte sich auf den Weg zum Palast. Der Bote kannte den Inhalt seiner Botschaft. Sie kam aus Poitiers, wo Eleanor von Aquitanien lebte, die von dort aus nominell die Regentschaft über England ausübte – und sie war ein lauter Notruf.

 

Im Palast fand ein Gastmahl statt, das Richard von England ausrichtete, was konkret hieß, dass er das Essen bezahlte. Außer Richard von England und den Hausherren Isabella und Henri von Jerusalem waren auch Balian und Sibylla von Ibelin anwesend. Der eigentliche Anlass für das gemeinsame Essen der Könige mit dem Grafen von Ibelin und seiner Gemahlin war eine Art Entschuldigung von Richard gegenüber Graf Balian.

Balian hatte in der relativ kurzen Zeit von kaum vier Wochen den Waffenstillstand mit Saladin verhandelt. Es war nur deshalb so schnell gegangen, weil er das Vertrauen des Sultans genoss, das Saladin ihm auch nach gescheiterten Verhandlungen ein Jahr zuvor nicht entzogen hatte. Er hatte 1191 sogar noch ein besseres Ergebnis erzielen können, hätte seine verlorenen Besitzungen zurückhaben können, doch hatte Richard das Verhandlungsergebnis nicht angenommen, hatte ihn sogar beschuldigt, dass er sich vom Sultan mit der Rückgabe seiner Ländereien hatte kaufen lassen, hatte ihn des Landes verwiesen und ihn erst zurückholen lassen, als er selbst militärisch keinen Schritt mehr weiterkam.

Der jetzige Vertrag mit Saladin enthielt auf Betreiben von mächtigen Gegnern des Sultans nicht mehr die Rückgabe der Ibelin-Lehen. Sie hatten Saladin gezwungen, entweder einen freien Zugang nach Jerusalem zu garantieren oder die Ibelin-Lehen zurückzugeben. Ihr Ziel, damit einen Keil zwischen den christlichen Verhandlungsführer und Saladin zu treiben, hatten sie dennoch nicht erreicht. Es hatte Balian wehgetan, auf sein geliebtes Ibelin verzichten zu müssen, aber er war weder gegen den Sultan aufzubringen noch käuflich. Niemals hätte er zu seinem eigenen Vorteil auf den Zugang nach Jerusalem verzichtet. Richard war klargeworden, dass er Balian grobes Unrecht getan hatte, als er ihm Bestechlichkeit vorgeworfen hatte; dass dieser schmerzhafte Stich seinem Verhandlungsführer nur deshalb hatte versetzt werden können, weil er – Richard – die Anerkennung des Verhandlungsergebnisses von 1191 verweigert hatte – und dass er ihm dafür einen Ausgleich schuldete.

„Ihr habt viel geleistet, Balian. Es war falsch von mir, zu glauben, dass Ihr für Ibelin mehr aufgegeben habt, als nötig war. Ihr habt mir mit Eurem gewiss nicht leichten Verzicht eindrucksvoll bewiesen, dass Ihr wirklich der vollkommene Ritter seid. Es gibt den Ort Caymon, die Sarazenen nennen ihn Qira wa Qamun. Er liegt südöstlich von Haifa und sechs Meilen nördlich des alttestamentarischen Ortes Meggido. Ich habe ihn erobern können und möchte ihn Euch als Ausgleich für den von mir verschuldeten Verlust Ibelins geben. Salahadin hat Euch dazu eine gesonderte Botschaft geschrieben“, sagte der englische König und übergab Balian eine gesiegelte Schriftrolle. Das Siegel war unschwer als das Saladins zu erkennen. Balian nahm die Botschaft entgegen, brach das Siegel auf und entrollte den Brief des Sultans.

 

„Salahudin, Beherrscher aller Gläubigen, grüßt Balian ibn Barzin*.

Ich bedaure es, mein Freund, dass es auch auf meiner Seite missgünstige Menschen gibt, die es Euch nicht gönnen, Ibelin wieder Euer Heim nennen zu dürfen. Qira wa Qamun, das Ihr Caymon nennt, gehörte zu meinem persönlichen Besitz, bis es von Franken erobert wurde, die rote Schilde mit goldenen Löwen trugen. Soweit ich weiß, sind dies die Männer des Königs von England. Ich weiß auch, dass es der König von England war, der unsere erste Vereinbarung nicht hinnehmen wollte. Daher habe ich bedungen, dass er Euch als Ausgleich für Ibelin Qira wa Qamun gibt. Ich, Salahudin, garantiere, dass Qira wa Qamun von nun an Euch gehört. In meinen Chroniken werdet Ihr von nun an Herr von Qira wa Qamun genannt. Es wird Euch auch gehören, wenn dieses Land einmal wieder zu meinem Reich gehört.

Allah sei mit Euch.“

 

Balian las die Botschaft mit einem leichten Schmunzeln.

„Ich danke Euch, König Richard“, sagte er dann schlicht.

„Werdet Ihr im Heiligen Land bleiben, Graf Balian?“, erkundigte sich Richard.

„Salahadin hat darum gebeten, mein Hierbleiben in den Vertrag aufzunehmen. Er wünscht, dass ich als der, der den Vertrag ausgehandelt hat, die Einhaltung von unserer Seite garantiere“, erwiderte Balian. Richards Miene verfinsterte sich.

„Vertraut er mir nicht?“

„Das ist es nicht, Mylord. Salahadin nimmt aber an, dass Ihr wie der König von Frankreich und der Herzog von Österreich nicht ständig im Heiligen Land bleiben werdet, weil Ihr auch Euer Königreich wiedersehen wollt“, erklärte der Graf.

„Und … was ist mit Eurem Lehen in Frankreich, Graf Ibelin?“

„Ich habe es in die Hände meines treuen Freundes Georg gegeben, der es bis zu meiner Rückkehr verwalten wird.“

„Und wann wollt Ihr nach Frankreich zurückkehren?“

Balian lächelte breit.

„Eigentlich wollte ich schon seit einem Jahr wieder in Frankreich sein. Ihr wisst, dass ich nur wegen der Krankheit meiner Gemahlin und meines älteren Sohnes hergekommen bin. Aber da Saladin selbst mich darum gebeten hat, zu bleiben, bleibe ich, solange es erforderlich ist.“

„Ihr gehorcht Saladin?“, wunderte sich Henri.

„Nein, Mylord. Ich will es etwas anders ausdrücken: Da Saladin mir erlaubt, zu bleiben, bleibe ich. Ich habe Jerusalem nach der Übergabe verlassen müssen, weil Saladin das zur Bedingung der Verschonung der Einwohner der Stadt machte. Wie sehr ich Jerusalem vermisst habe, habe ich erst richtig gemerkt, als ich mit Saladins Erlaubnis zu einer friedlichen Pilgerreise wieder hier war. Er konnte mir und meiner Gemahlin keinen größeren Gefallen tun, als mich zum Hüter des Paktes zu machen, den ich mit ihm in Eurem und König Richards Namen geschlossen habe“, erklärte Balian. Weder Richard noch Henri entging der glückliche Blick, den Balian und Sibylla tauschten. Hier saßen zwei junge Menschen, die miteinander glücklich waren und mit ihren Kindern an einem Ort lebten, den sie liebten – mitten im Paradies.

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Kapitel 1

Die Front bröckelt

 

Ein Diener erschien und flüsterte Henri etwas zu.

„König Richard, ein Bote für Euch ist eingetroffen“, wandte sich Henri an Richard.

„Lasst ihn eintreten!“, wies Richard den Diener an. Der Diener verneigte sich und kehrte wenige Augenblicke später mit dem Boten zurück. Richard wurde bleich, als er den jungen Mann als einen der Boten seiner Mutter erkannte. Eleanor, Englands Königinmutter, sandte ihre persönlichen Boten nur dann, wenn es keine andere Möglichkeit gab – und wenn es brandeilig war.

„Jefferson! Welche Nachricht bringt Ihr?“, keuchte Richard, der in großer Sorge um seine Mutter war, die in Frankreich lebte.

„Eurer Mutter geht es gut, Mylord“, sagte Jefferson, der Richards Sorge um die nach Poitou zurückgekehrte Mutter ahnte. „Aber in England geht es drunter und drüber. Euer Bruder strebt selbst nach der Krone. Er hat eine Versammlung der Barone nach Nottingham einberufen. Eure Mutter bittet Euch, rasch nach England zurückzukehren und John aufzuhalten.“

„Danke, Jefferson. Lasst Euch verpflegen und ruht Euch aus. Ich entscheide in den nächsten Tagen, was ich tun werde“, sagte Richard kreidebleich. Jefferson verbeugte sich und verließ den Saal.

„Wird John Erfolg haben, wenn Ihr nicht zurückkehrt?“, fragte Gaëlle.

„Das ist es, was mir Sorge bereitet, liebste Cousine. Ich habe England verlassen, ohne meine Herrschaft wirklich zu sichern. Wenn John den Baronen Versprechungen macht, werden sie ihn zum König erheben – und ich habe nicht mehr genügend Männer, um meinen Thron dann zurückzuerobern. Ich muss dringend zurück!“

Richards Entsetzen war echt, das war nicht zu übersehen.

„Balian … würdet Ihr … würdet Ihr mir einen Gefallen tun?“, fragte Richard.

„Welchen Gefallen, Mylord?“

„Es sind noch viele Engländer als Gefangene in den Händen der Sarazenen. Wärt Ihr bereit, um deren Freilassung zu verhandeln?“

„Ich werde Saladin dafür etwas anbieten müssen. Welche Gegenleistung kann ich ihm anbieten?“

„Ich habe keine Gefangenen, die ich im Gegenzug austauschen könnte. Ich kann ihm nur Geld bieten. Sagt ihm, ich bin bereit, für alle gefangenen Engländer Lösegeld zu bezahlen.“

„Um wie viele Männer geht es?“

„Die Zahl habe ich nicht im Kopf. Ich werde es Euch morgen oder übermorgen mitteilen lassen und Euch für jeden mir bekannten Mann fünfhundert Besant übergeben lassen. Ich vertraue Euch.“

„Ich will sehen, was ich tun kann, Mylord“, versprach Balian. „Ich gebe jedoch zu bedenken, dass Ihr seinerzeit je tausend Besant für jeden gefangenen Krieger Saladins gefordert habt. So, wie ich den Sultan kenne, wird er seine Gefangenen nicht billiger hergeben.“

Richard nickte.

„Versucht es, bitte. Solltet Ihr höhere Ausgaben haben, lasst es mich oder meine Frau Mutter wissen. Ihr werdet Eure Auslagen natürlich zurückerhalten“, versprach Richard.

„Ich bitte Euch, mir diese Zusage schriftlich zu geben, falls ich mich an Eure Frau Mutter wenden muss, sollte Euch unterwegs etwas zustoßen. Sie ist nicht anwesend, Mylord, und kennt Euer Versprechen nicht“, erwiderte Balian. Richard nickte.

„Ja, gewiss, mein Freund. Erlaubt, dass ich mich verabschiede.“

Richard zog sich zurück und verließ eilig den königlichen Palast in Akkon.

„Es ist riskant, Richard ahnen zu lassen, dass Ihr ihm nicht traut. Was soll ihm in Europa als Kreuzfahrer geschehen?“, warnte Henri.

„Ich vertraue ihm, Mylord“, entgegnete Balian. „Aber Richard hat eine weite Reise vor sich, falls er vor dem Frühling nach England zurückkehrt. Das Meer ist ein gefährlicher Ort. Ich bin selbst einmal im Herbst von Sizilien hierher gesegelt und habe dabei Schiffbruch erlitten. Hätte ich nicht mein Kettenhemd im Gepäck gehabt und hätte ich nicht schwimmen gelernt, säße ich heute nicht vor Euch.“   

Henri lächelte charmant.

„Ich an Eurer Stelle würde ihm nicht trauen …“, sagte er. „Nicht einmal gegen eine schriftliche Zusage.“

 

Am folgenden Tag kam Jefferson, der Bote der englischen Königinmutter, und überbrachte Balian eine Liste mit den Namen der vermissten Engländer. Es waren zweihundert Männer, darunter auch Robin von Locksley und Peter Dubois. Soldaten schleppten eine Kiste mit Goldstücken hinter dem Boten her.

„Mein König lässt Euch ausrichten, dass ihm leider nicht bekannt ist, ob alle vermissten Männer tatsächlich Gefangene der Sarazenen sind. Vielleicht sind auch welche gefallen. Er hofft, dass Ihr mit fünfhundert Besant je Gefangenem auskommt. Er hat für jeden Vermissten fünfhundert Besant mitgegeben. Hier ist noch seine Zusage, dass er Euch eventuelle Mehrausgaben ersetzen wird. Ich bitte um Eure Bestätigung, dass Ihr das alles erhalten habt.“

Balian zählte das Geld nach. Es waren volle einhunderttausend Besant. Er bestätigte den Empfang und gab seinerseits die schriftliche Zusage, dass er eventuell nicht ausgegebenes Geld natürlich erstatten werde.

 

Eine Woche später, am 9. Oktober 1192*, schiffte Richard sich mit diversen Begleitern nach Europa ein, um in seinem Königreich Ordnung zu schaffen und seinen Thron zu sichern. Henri, Gaëlle und Balian waren am Hafen, um den englischen König zu verabschieden.

„Balian …“, setzte Richard an, „ich … ich habe Euch falsch eingeschätzt. Ihr seid der handfeste Beweis, dass es nicht darauf ankommt, ob jemand als ehelicher Sohn geboren und als Adliger erzogen wurde, sondern ob er erfüllt, was von einem Ritter zu erwarten ist. Ich … bitte Euch um Verzeihung für die Ungelegenheiten, die ich Euch bereitet habe.“

„Gewährt, Mylord“, lächelte Balian.

„Noch etwas: Einen ehrlichen Verwalter braucht jeder König. Wenn Euch in Frankreich Steine in den Weg gelegt werden, ist in England ein Platz für Euch.“

„Ich danke Euch, Mylord – und ich hoffe, dass ich auf Euer Angebot nie eingehen muss. Aber … es ist gut, zu wissen, dass England für mich und die meinen offen ist, wenn es sein muss.“

„Richard, welche Gründe habt Ihr, dass Ihr meinem Gemahl ein solches Angebot macht?“, erkundigte sich Gaëlle.

„Ich traue Philippe nicht, Gaëlle. Ich befürchte, er will sich meine französischen Lehen aneignen, nach allem, was Jefferson mir noch berichtet hat. Ihr seid aus dem Hause Anjou, liebste Cousine. Wenn Philippe mir übel will, wird er sich rasch daran erinnern, dass Ihr, eine Anjou, mit einem französischen Vizegrafen verheiratet seid, dem ich vertraue. Sollte es zu einer Auseinandersetzung zwischen mir und Philippe kommen, werdet Ihr hineingezogen“, erklärte Richard.

„Danke für die Warnung, liebster Cousin. Ich hoffe, dass Ihr Euch irrt“, sagte Gaëlle und gab ihrem Cousin einen höfischen Kuss auf die Wange. „Gute Reise, Gott sei mit Euch.“

„Danke. Ich hoffe auch, dass ich mich irre, aber …“

Richard erzählte Gaëlle und Balian, was dem Boten widerfahren war.

„Vielleicht solltet Ihr über Italien reisen“, riet Gaëlle. „Mein früherer Schwiegervater Guillaume von Montferrat ist gastfrei. Richtet ihm Grüße von mir und Isabella aus. Wir waren beide mit einem Montferrat verheiratet, beide hatten wir nicht lange etwas von dieser Ehe – aber Kinder. Sagt ihm, dass er eine Enkelin hat, die – so Gott will – Jerusalems Krone erben wird.“

„Danke für den Rat. Wenn es sich als unmöglich erweisen sollte, Frankreich zu erreichen, werde ich das tun“, erwiderte Richard. „Lebt wohl. Gott sei mit Euch. Wer weiß, wie lange es hier friedlich bleibt?“

„Nun, für drei Jahre gilt der Waffenstillstand. Saladin wird ihn nicht brechen, und ich werde ihn von unserer Seite aus hüten“, schmunzelte Balian. „Und da Ihr Guy de Lusignan schon nach Zypern geschickt habt, ist die größte Gefahr für den Waffenstillstand an diesem Ufer des Mittelmeeres schon mal gebannt …“, setzte er mit einem Grinsen hinzu. „Gott schütze Euch, König Richard. Ich wünsche Euch eine gute Reise.“

Richard nickte und ging dann auf das Schiff. Der Kapitän ließ die Leinen losmachen, die Segel setzen und steuerte die Galeere aus dem Hafen von Akkon. Balian, Gaëlle, ihr Sohn Jean-Raymond und ihr Zögling Martin sahen dem Schiff des englischen Königs nach.

„Onkel Balian?“, fragte Martin und zupfte Balian am Waffenrock.

„Ja?“

„Wie alt ist eigentlich Sultan Saladin?“, erkundigte sich der Junge.

„Ich schätze, knapp sechzig Jahre. Wieso interessiert dich das?“

„Weißt du, ich hab‘ mich gefragt, was eigentlich geschieht, wenn er mal nicht mehr ist. Wer erbt sein Reich, wenn er tot ist?“

Balian sah noch einmal dem Schiff des englischen Königs nach, dann drehte er sich um und machte sich mit seiner Familie auf den Weg zurück zum Palast.

„Ich weiß, dass er mindestens zwei Söhne hat. Ali al-Malik al-Efdal Nur, genannt al-Efdal, ist wohl der älteste der Brüder und wird vermutlich das Reich erben“, sagte der Graf. „Ich weiß, dass Saladin lange darum gerungen hat, alle Muslime unter seiner Herrschaft zu vereinen. Ob al-Efdal diese Einigkeit erhalten kann, das weiß ich nicht. Aber es wäre ein Fehler, darauf zu spekulieren, dass Uneinigkeit der Sarazenen uns helfen würde, das Königreich Jerusalem zu festigen – oder gar zu vergrößern, verlorene Gebiete zurückzuholen. Saladin hat mir gesagt, dass al-Efdal Verträge nur dann einhält, wenn sie mit Muslimen geschlossen wurden. Ich befürchte, dass er uns sofort Schwierigkeiten machen wird, wenn er das Erbe seines Vaters antritt. Wir können nur hoffen, dass der Sultan noch viele Jahre lebt und mit ihm der Frieden.“

„Und was wird sein, wenn die Zeit des Waffenstillstands abgelaufen ist? Ist dann wieder Krieg?“, bohrte Martin weiter.

„Nur dann, wenn eine Seite es will. Ich bin gerne bereit, über einen weiteren Frieden zu verhandeln, wenn der König mich lässt“, lächelte Balian.

„Können wir einen Krieg gegen die Sarazenen gewinnen, Onkel Balian? Ich meine, wenn die den Krieg dann wollen?“, hakte Martin nach.

„Ob man einen Krieg gewinnen kann, hängt davon ab, wie man ihn vorbereitet – wie viele Männer man hat, wie gut sie ausgerüstet und geübt sind, welche Waffen in welcher Qualität man hat, ob und wie viel Proviant und Wasser vorhanden sind“, erklärte Balian.

„Haben die Sarazenen das?“

„Das weiß ich nicht“, erwiderte Balian entwaffnend ehrlich. „Der König hat mich gebeten, die Verhandlungen um den Frieden zu führen, nicht, einen neuen Krieg vorzubereiten.“

„Nun ja, du sollst auch den Waffenstillstand überwachen, Liebster. Da solltest du die Stärke des Gegners kennen, denn auch der kann den Frieden brechen.“

Balian legte Gaëlle vertraulich den rechten Arm um die Schulter und zog sie sanft an sich.

„Danke für die mahnenden Worte, meine Königin“, lächelte er.

„Balian!“, entfuhr es ihr. Da hatte er sie ausdrücklich aufgefordert, auf die Krone zu verzichten – und dann nannte er sie Königin! Er grinste schelmisch und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

Meine Königin, nicht die von Jerusalem, mein Liebling. Die Königin meines Herzens“, sagte er leise. Gaëlle sah die Wärme in seinen Augen und konnte sich nicht mehr aufregen. Dieser sanfte Hundeblick aus seinen tiefbraunen Augen ließ jeglichen Ärger sofort verfliegen. Sie verzieh ihm die schelmische Anspielung und grinste ihrerseits breit.

„Nun, mein König, dann kümmert Euch um meine Mahnung …“

„Wie meine Königin befiehlt“, lächelte Balian und küsste seine Frau.

 

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Kapitel 2

Engelszungen

 

Ein weiterer Monat verging.

Es wurde November, und mit dem 11. November nahte Martins zwölfter Geburtstag. Über ein Jahr war der junge Prinz nun in Palästina, fast vier Jahre war er nicht mehr zuhause in Steinburg gewesen. Seine Erzieher – Gaëlle und Balian von Ibelin – waren ihm inzwischen fast mehr Eltern als seine leiblichen Eltern. Er wusste sich von ihnen wie ein Sohn geliebt, und er liebte seinen Onkel und seine Tante wie Vater und Mutter. Seine beiden Cousins, der inzwischen dreieinhalb Jahre alte Jean-Raymond und Klein Balian, der gerade vier Monate alt war, waren Martin eher Brüder als sein tatsächlicher Bruder Michael, der im September gerade vier Jahre alt geworden war. Martin hatte ihn seit dem Besuch seiner Eltern in Saint-Martin-au-Bois vor genau drei Jahren nicht mehr gesehen. Dafür hatte er Freunde gefunden, denen es völlig gleich war, dass Martin ein thronerbender Prinz war. In Steinburg wäre es niemandem eingefallen, den Kronprinzen zur privaten Geburtstagsfeier eines nichtadligen Soldatensohnes einzuladen, wie es seit vier Jahren in Saint-Martin-au-Bois oder hier im Heiligen Land üblich war. Er hatte Ibelin kennen gelernt, Balians Stadthaus in Jerusalem, auch das Anwesen des anderen Familienzweigs der Ibelins in Nablus, die prächtigen Paläste in Tyrus und Akkon; Orte, von denen andere nur träumen konnten.

Lieber Gott, du hast mich so reich beschenkt; mit Menschen, die mich lieben, mit meinem Onkel Balian und meiner Tante Gaëlle, mit Freunden, von denen ich viel gelernt habe; damit, dass ich dort sein darf, wo auch dein lieber Sohn gewirkt hat. Dafür danke ich dir. Was erwartest du von mir, außer, dass ich dich liebe und dich jeden Sonntag in deinem Haus besuche? Was soll ich tun, wenn ich einmal wieder in Wendland bin?‘, betete Martin still. Dann lauschte er. Doch er bekam keine Antwort. Mit einem enttäuschten Seufzer gab er schließlich auf und suchte nach Balian. Er fand seinen Onkel nach einiger Zeit im Garten, wo er mit einem sarazenischen Boten sprach. Im ersten Impuls wollte Martin hinzu stürmen, doch die Stimme seines Freundes Mathieu ließ den Prinzen stehen bleiben:

„Der Augenblick ist nicht günstig.“

Martin sah sich verwirrt um. Mathieu war nicht zu sehen, aber er hatte ganz deutlich dessen Stimme gehört.

„Mathieu lass das und komm heraus!“, sagte er laut in der Annahme, Mathieu habe sich versteckt.

Balian hörte Martin und drehte sich zu seinem Schutzbefohlenen um.

„Was ist, Martin?“, fragte er.

„Ach … nichts … ich … Ist nicht so wichtig, Onkel“, erwiderte Martin, aber er wirkte sehr verwirrt, so, wie er sich immer wieder umsah. Balian runzelte die Stirn. Sein Neffe wirkte verstört. Er wandte sich zunächst wieder an den Boten:

„Bitte gebt dem Sultan weiter, dass ich wissen möchte, ob die Männer, deren Namen ich ihm mit der Liste vor drei Wochen gegeben habe, unter seinen Gefangenen sind“, sagte er.

„Ich werde es dem Sultan aufgeben. As-Salam ‘alaykum.“

U ’alaykum as-Salam“, verabschiedete Balian den Boten, der sich höflich verbeugte und dann das Haus verließ.

„Martin, was hast du?“, erkundigte der Graf sich dann bei seinem Zögling. Der Junge, der sich immer noch wie suchend umsah, zuckte mit den Schultern.

„Ich … ich weiß nicht. Ich kam in den Garten, weil ich dich etwas fragen wollte. Ich sah dich und wollte zu dir, aber Mathieu meinte, es wäre nicht günstig. Aber er muss sich gut versteckt haben, denn ich kann ihn nicht finden“, erklärte Martin.

„Martin, Mathieu kann nicht mit dir gesprochen haben. Er ist vor einer Stunde mit seinem Vater ins Dorf gegangen, und sie sind noch nicht wieder zurück“, erwiderte Balian.  

„Aber … wer hat mich dann angesprochen?“, fragte Martin.

„Das weiß ich nicht. Aber wer immer es war, er hatte Recht. Doch jetzt ist der Bote weg, und ich habe Zeit für dich. Was wolltest du denn?“

Martin sah seinen Onkel eine Weile an.

„Gott … spricht nicht zu mir, Onkel. Wo kann ich denn mit ihm reden?“

Balian lächelte sanft.

„Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Mir ist es genauso gegangen wie dir, Martin. Als ich zum ersten Mal nach Jerusalem kam, habe ich ihn gefragt, was er von mir verlangt, aber er sprach nicht zu mir – nicht einmal auf Golgatha, wo unser Herr Jesus starb. Inzwischen weiß ich, dass Gottes Stimme nicht unser Ohr trifft, wenn er zu uns spricht. Höre auf dein Herz, denn was Gott von dir will, ist genau darin – und in deinem Kopf“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln und umarmte den Jungen. Martin erwiderte seine Umarmung.

„Onkel Balian?“

„Hmm?“

„Bin ich … vom Teufel besessen?“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Na ja, weil … weil … weil ich jemanden höre, der gar nicht da ist.“

Balian drückte den verwirrten Prinzen fest an sich.

„Nein, mein Junge, das bist du nicht. Ganz bestimmt nicht.“

„Wieso höre ich dann Mathieus Stimme?“

„Weißt du … mir ist einmal etwas Ähnliches passiert. Es ist sehr lange her.“

„Was war denn das?“, erkundigte sich Martin.

„Ich kann es dir leider nicht zeigen, weil ich es nicht mehr habe, aber …“, setzte Balian langsam an und setzte sich auf eine Bank im Garten. Martin setzte sich daneben, vor Aufmerksamkeit gespannt wie ein Bogen vor dem Schuss. Wenn Balian ihm etwas erzählen wollte, war das immer interessant.    

„Also: Ich war etwa achtzehn, als unser Dorf von Feinden meines Onkels überfallen wurde. Mein Ziehvater, der Schmied, und ich bekamen es zum Glück sehr schnell mit. Wir wussten, dass unsere Schmiede die einzige in allen sieben Dörfern meines Onkels war. Uns war klar, dass die fremden Soldaten auf jeden Fall die Schmiede zerstören würden – und wir wussten, dass unser Leben in Gefahr war.“

„Woher wusstet ihr das, Onkel?“

„Nun, Schmiede sind wichtige Handwerker. Ohne solche Spezialisten für Metalle sind weder Rüstungen noch Schwerter herzustellen oder zu reparieren, Pferde können nicht beschlagen werden, Wagen können keine Radreifen bekommen. Mit der Zerstörung einer Schmiede kann ein geschickter Feldherr seinen Feind von einem Kriegszug abhalten oder verhindern, dass er rasch sein Heer zusammenstellen kann“, erwiderte Balian mit einem sanften Lächeln.

„Aha“, bemerkte Martin. „Dann will ich auf jeden Fall schmieden lernen, damit ich einmal als König notfalls ohne Schmied auskommen kann.“

„Das wirst du, genug Interesse hast du jedenfalls“, grinste Balian. „Mein Ziehvater und ich konnten einiges an Rohmaterial und unsere Werkzeuge in Sicherheit bringen. Mein Vater versteckte sich im Dorf, ich zunächst in den Büschen unterhalb der Straße an der Kreuzung. Weißt du, was ich meine?“

Martin nickte.

„Das ist aber ein ungünstiger Platz, Onkel Balian. Die hätten dich doch bestimmt gesehen, wenn die in Richtung Chartres weggeritten wären!“, bemerkte er dann. Balian lächelte breit.

„Stimmt. Genau das hat mir dann auch mein Vater gesagt …“

„Aber … das Dorf ist doch von der Kreuzung ein ganzes Stück entfernt!“, entfuhr es Martin. „Wie konntest du ihn denn hören???“

Balian grinste breit, zuckte mit den Schultern. Dann fuhr er fort:

„Oh, die Frage habe ich mir drei Tage später auch gestellt. Das Tollste war, dass mir die Stimme meines Vaters dringend riet, schleunigst durch die Büsche zur Burgmauer zu kriechen und mich unter dem Brombeerbusch an der Steilmauer zu verstecken, die vom Dorf abgewandt ist. Ich kroch dorthin – und fand unter dem Brombeerbusch ein kleines hölzernes Tor, an das ich anklopfte. Ein ziemlich verblüffter Soldat meines Onkels Hugo öffnete das kleine Schlupftor, und ich hatte einen Weg in die Sicherheit der Burg gefunden.“

„Und das hat dein Vater gewusst?“, fragte Martin erstaunt.

„Nein, eben nicht. Als ich ihm davon erzählte, sah er mich mit großen Augen an und meinte, das höre er zum ersten Mal.“

„Und … und … wer hat dir den Weg denn wirklich gezeigt, Onkel Balian?“

„Weißt du, Martin, langsam komme ich zu dem Schluss, dass mir dieser Weg von ganz oben gezeigt wurde“, erwiderte Balian und wies mit dem Daumen gen Himmel.

„Du meinst … vom … vom lieben Gott?“, keuchte der Junge. Balian nickte.

„Dann kann man seine Stimme also doch hören!“, schlussfolgerte Martin atemlos.

„Es sieht so aus. Aber er antwortet offenbar nicht auf Fragen, die wir ihm stellen, sondern meldet sich dann, wenn es für uns unerlässlich ist – und wenn er mit uns noch etwas vorhat“, erwiderte Balian sanft. Martin sah seinen geliebten Onkel mit großen Augen an.

„Hmm, deine Situation war gefährlich, aber meine vorhin nicht. Weder du noch der Bote hätte mir etwas getan, wenn ich dich angesprochen hätte. Wenn sich der liebe Gott nur in ganz gefährlichen Situationen an uns wendet, passt das doch nicht …“, wunderte er sich. Balian lächelte breit.

„Nun, vielleicht wird er dir eines Tages sagen, warum er sich in einem solchen, eher ungefährlichen Moment bei dir gemeldet hat. Aber … bevor du danach handelst, sprich mich am besten an, hm?“

„Das werde ich“, versprach Martin und lehnte sich an seinen Onkel an. Er war sicher dass sein Vater ihm gar nicht erst zugehört hätte …

 

Ein paar Tage später kam Martin zu Balian und fragte ihn, ob er Imad zu seinem Geburtstag einladen dürfe. Gaëlle und Balian sahen sich verblüfft an, weil Martin sonst nur etwa gleichaltrige Jungen eingeladen hatte, sah man von Balians Stellvertretern Almaric und Michel ab.

„Das ist eine gute Idee, Martin“, sagte Gaëlle schließlich. „Aber … wie bist du darauf gekommen?“

„Er ist sehr nett und außerdem ein Freund von Onkel Balian und dir. Und ich finde es gut, wenn ich nicht nur Christen einlade, sondern auch Juden und Moslems. Wir wollen doch alle im Heiligen Land in Frieden leben. Ich hab‘ mir gedacht, eine Einladung zu einem Fest kann doch nur gut für uns alle sein“, erklärte Martin. Gaëlle nickte lächelnd und strich dem jungen Prinzen liebevoll über den hellbraunen Schopf.

„Du bist ein kluger Diplomat, Martin. Dein Vater kann dir eines Tages beruhigt sein Reich übergeben. Ich werde einen Boten zu Imad senden“, sagte sie und verließ den Raum, um einen ihrer persönlichen Boten zu Imad zu schicken. Martin wartete, bis die Tür zu war.

„Du, Onkel Balian?“, setzte er dann leise an.

„Hmm?“

„Die Idee hat mir der … unsichtbare … Mathieu gegeben“, sagte der Junge fast atemlos. Balian sah ihn eine Weile an. Dann nickte er.

„Höre auf den … Engel …, Martin“, sagte er dann.

„Engel?“, wunderte sich Martin. Balian nickte mit einem sanften Lächeln.

„Ja, ein Engel. Vielleicht spricht Gott nicht selbst zu uns, aber manchmal seine Engel – und der dürfte Balduin heißen.“

„Balduin?“

„Ja“

„Wieso?“

„Dein Cousin Balduin hatte eine sehr ähnliche Stimme wie Mathieu. Das hat mich drauf gebracht.“

„Hast du ihn auch erzogen?“, fragte Martin. Balian schüttelte den Kopf.

„Nein, aber die Gründe weshalb, die sage ich dir jetzt nicht. Dafür ist es noch zu früh, Martin.“

 

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Kapitel 3

Schwierige Verhandlung

 

Martins Geburtstagsfeier war ein fröhliches Fest, bei dem Imad zur Freude des jungen Prinzen als Gast anwesend war.

Er hatte – mit Balians Erlaubnis – noch eine Tanzgruppe mit gebracht, die sonst fast ausschließlich vor dem Sultan tanzte. Der junge Prinz und seine Gäste klatschten begeistert Beifall über die artistische Vorführung der Tänzer. Imad saß bei Gaëlle und Balian am Tisch und lächelte versonnen. Wenn ihm noch vor wenigen Jahren jemand gesagt hätte, er werde eines Tages mit einem Kreuzritter nicht nur befreundet sein, sondern sogar zu einer privaten Feier von dessen Neffen eingeladen, er hätte denjenigen für verrückt erklärt. Sein Blick fiel auf den zufrieden lächelnden Balian. Ihm war anzusehen, wie sehr er sich hier wohl fühlte. Er war hier in Arsuf wirklich zu Hause, wurde von den Menschen hier ebenso geliebt wie damals in Ibelin.

Dann dachte Imad daran, dass al-Efdal, Saladins ältester Sohn, der seinen Vater beerben sollte, nur drei Tage zuvor bei Allah und allen Engeln Gottes geschworen hatte, augenblicklich den Ungläubigen den Krieg zu erklären, sofern er das Erbe seines Vaters angetreten hatte. Er wollte sie nicht nur aus Palästina vertreiben, sondern restlos vernichten, und obendrein gleich ganz Europa zum Islam bekehren. Imad ad-Din war hin- und hergerissen zwischen der Loyalität zum Hause Saladins und seiner Freundschaft zu Balian, der für den Sultan und seinen General ein Friedensgarant war. Der Sarazene fühlte sich unwohl, weil er ihm klar war, dass der ausgehandelte Waffenstillstand nur dazu diente, genügend Truppen zu sammeln. Er sah Balian eine Weile an, bis dieser den Blick seines Freundes spürte.

„Was ist mit dir?“, fragte der Graf.

„Ich würde dich gern kurz allein sprechen, Shadiq*“, erwiderte Imad. Balian nickte und bedeutete ihm, ihm in das Arbeitszimmer zu folgen, ohne dass die übrige Gesellschaft etwas bemerkte.

„Balian, ich will dich warnen, auch wenn ich damit vielleicht einen Verrat begehe, aber ich kann dich nicht hintergehen“, eröffnete Imad.

„Sprich dich aus“, erwiderte der Franke und bot dem Freund Platz an. Er setzte sich, suchte aber noch eine Weile nach passenden Worten. 

„Du kennst uns Muslime inzwischen gut, mein Freund. Du weißt, dass wir recht geschickt feilschen können …“

Balian nickte.

„Dieser … Waffenstillstand – was glaubst du, wozu er … wirklich dient?“

„Imad, mir ist bekannt, dass ihr uns als Fremde betrachtet, die hier nichts zu suchen haben. Und du weißt, dass es eine Menge meinesgleichen gibt, die dasselbe von euch denken. Schon der Waffenstillstand zu Balduins Zeiten war eine gute Gelegenheit für beide Seiten, Truppen zu sammeln.“

„Du weißt es, oder?“

„Nein, ich vermute es. Salahadin wird den Frieden nicht brechen, aber er ist nicht mehr jung. Er hat mir selbst gesagt, dass sein Sohn al-Efdal, dem er Damaskus hinterlassen will, diesen Frieden nicht halten wird. Ich bete nur, dass Salahadin lange genug lebt, um solche Tatsachen zu schaffen, die al-Efdal nicht einfach beseitigen kann. Und es gibt genügend Fanatiker auf unserer Seite, die lieber heute als morgen den Kampf gegen euch wieder aufnehmen wollen – allen voran die Templer.“

Imad nickte.

„Salahadin lädt dich zu Verhandlungen wegen der Gefangenen nach Ibelin ein. Mache dich auf schwierige Gespräche gefasst, mein Freund, denn al-Efdal wird seinen Vater begleiten. Salahadin will ihn langsam an solche Verhandlungen heranführen. Sei vorsichtig, denn er wird dir große Schwierigkeiten machen.“

Balian lächelte.

„Ich danke für deine Warnung, mein Freund. Ich werde dich nicht verraten, sei unbesorgt. Was hast du wegen der Gefangenen erfahren können?“

„Leider wenig. Die Gefangenen, die wir gemacht haben, waren nicht sehr mitteilsam zu der Frage, wer sie sind. Es hat sich herumgesprochen, dass wir das Lösegeld ebenso nach der Herkunft festsetzen, wie ihr es tut. Da haben es manche wohl für besser gehalten, uns zu verschweigen, wer sie sind. Ich habe alle Kerker abgesucht, aber weder einen Robin von Locksley noch einen Peter Dubois finden können. Möglicherweise sind sie aber auch in den Kämpfen bereits getötet worden. Einige andere auf deiner Liste habe ich ausfindig machen können. Saladin wird eine Liste mit allen uns bekannten Gefangenen mitbringen, aber er erwartet auch von euch, dass ihr alle bekannten Gefangenen auflistet.“

„Das werde ich veranlassen. Danke für die Mühe, Imad.“

 

Drei Wochen später hatte Balian die entsprechenden Informationen über sarazenische Gefangene zusammen. Es waren etwa fünfhundert Männer, die seit dem Gefangenenmord in Akkon bei kleineren Scharmützeln Kreuzrittern in die Hände gefallen waren. Selbst die Templer hatten fünfzig Gefangene gemeldet – aber gleich dazu mitgeteilt, dass sie diese nur gegen jeweils zwei Tempelritter austauschen wollten. Balian seufzte. Noch immer stellten die Templer eine solche Macht im Königreich Jerusalem dar, dass ihnen nicht einmal der König Befehle geben konnte … Es würde nicht einfach sein, diese Gefangenen auszulösen.

 

Anfang Dezember trafen sich die Verhandlungspartner bei Imad in Ibelin.

As-Salam ‘alaykum, Balian ibn Barzin!“, begrüßte Saladin den christlichen Verhandlungsführer, umarmte ihn und gab ihm den dreifachen Friedenskuss. Der christliche Graf erwiderte die brüderliche Geste des Sultans und begrüßte ihn auf die gleiche Art.

„Mein Sohn, dieser Mann ist Balian ibn Barzin, der Herr von Qira wa Qamun. Er achtet den wahren Glauben, auch wenn er ihn nicht selbst ausübt. Er ist ein tapferer Ritter und großmütiger Gegner, von dem du viel lernen kannst. Er ist es, der den Frieden hütet, wie ich es auch von dir erwarte. Balian, dies ist mein Sohn Ali al-Malik al-Efdal Nur, genannt al-Efdal, der mein Erbe in Damaskus sein wird, wenn Allah mich in sein Reich ruft. Er wird Euer künftiger Verhandlungspartner sein.“

Balian sah den jungen Mann genauer an, der neben dem Sultan stand. Die äußere Ähnlichkeit mit Salahadin war gut erkennbar, aber der stolze Blick hinter der erhobenen Nase, der sein Gegenüber maß, deutete darauf hin, dass al-Efdal ihm nicht die gleiche Wertschätzung entgegenbringen würde, wie es Saladin selbst tat.

As-Salam ‘alaykum, edler al-Efdal, Salahudins Sohn“, begrüßte Balian ihn mit einem freundlichen Lächeln und leichten Kopfnicken. Das Lächeln al-Efdals erreichte die Augen nicht, sondern lediglich die Mundwinkel. Balian fühlte sich fatal an Guy de Lusignan erinnert.

„Dieser Gruß gebührt nur dem Gläubigen. Das bist du nicht. Dennoch wünsche ich dir einen guten Tag, Ungläubiger!“

Balian wandte sich an Saladin.

„Großer Saladin, Euch zeichnet die Achtung aus, die Ihr einem Gegner zollt. Bei Eurem Sohn ist das offenbar nicht angekommen“, versetzte er.

„Er sucht seinen Weg noch.“

„Nun, du bist nahe bei einem großen König, junger Prinz – aber du musst wirklich noch viel lernen!“, sagte Balian an al-Efdal gewandt, dem das Blut aus dem Gesicht wich, um einen Augenblick später umso heftiger wieder hineinzuschießen. Der junge Sarazene griff dorthin, wo er gewöhnlich den Dolch stecken hatte, doch der Platz war leer.

„Deine Respektlosigkeit werde ich dir heimzahlen!“, fauchte er. Balian beachtete ihn nicht, sondern wandte sich erneut an Saladin

„Vielleicht solltet Ihr ihn zu Hause lassen, bis er sich zu benehmen weiß! Unter diesen Bedingungen verhandle ich nicht um die Freilassung von Gefangenen – und es geht nicht nur um christliche Ritter, großer Saladin, sondern auch um Eure Männer. Ich kehre einstweilen nach Arsuf zurück. Ihr wisst, wo Ihr mich findet.“

Balian war aus dem Haus getreten und gerade dabei, sein Pferd zu besteigen, als Saladins Sohn ebenfalls aus dem Haus kam.

„Meine Worte waren unbedacht. Ich bitte Euch um Verzeihung, Graf Balian“, sagte er. Der christliche Graf sah den jungen Sarazenen verblüfft an.

„Woher dieser Sinneswandel?“, fragte er direkt.

„Mein Vater … hat … mir ins Gewissen geredet. Es tut mir Leid, dass ich …“

Balian überlegte einen Moment, ob der junge Mann es ehrlich meinte oder ob es eher Tarnung war, um den Verhandlungsfaden nicht reißen zu lassen.

„Nun gut, es soll nicht heißen, ich sei nicht zur Vergebung fähig“, sagte er und stieg wieder vom Pferd, um sich doch in die Verhandlung zu begeben. Saladins Lächeln konnte Balian zunächst nur schwer deuten. Ihm war bewusst, dass er den Orientalen in ihrem unglaublichen Geschick beim Feilschen nicht wirklich gewachsen war und er mit seiner Offenheit manches Mal nur Glück gehabt hatte. Aber er konnte und durfte nicht einfach aufgeben. Er musste die Gefangenen einfach freibekommen. Es kam darauf an, das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.

Beide Seiten hatten ihre Gefangenen ordentlich aufgelistet. Schnell stellte sich heraus, dass die Kreuzritter deutlich mehr Gefangene gemacht hatten als die Sarazenen. Aus der Forderung der Templer würde also schon einmal nichts werden …

„Ihr habt um Verhandlungen über die Gefangenen gebeten, Balian ibn Barzin. Macht ein Angebot“, eröffnete Saladin.

„Ich biete Euch an, dass wir die Gefangenen einfach nach der Anzahl der Personen austauschen.“

„Ihr habt mehr Gefangene gemacht als wir. Wie stellt Ihr Euch die Freilassung dieser Gefangenen vor?“, fragte der Sultan.

„Soweit ich weiß, wurde bislang für Gefangene Lösegeld bezahlt“, erklärte Balian.

„Und in welcher Höhe fordert Ihr Lösegeld?“, erkundigte sich Saladin.

„Die Templer haben mir die üblichen Tarife mitgegeben, wie sie auch von Euch gefordert wurden: Für einfache Soldaten einhundert Besant, für Kommandeure zweihundert Besant, für Männer in Imads Rang eintausend, für Emire dreitausend Besant. Frauen und Kinder sind nicht unter unseren Gefangenen“, erklärte Balian. „Wir haben zweihundert Gefangene mehr gemacht als Ihr, die nicht Person für Person auszutauschen sind. Davon sind einhundertfünfzig einfache Soldaten, fünfundzwanzig Kommandeure, zwanzig Generäle und fünf Emire. Macht fünfzehntausend Besant für die einfachen Soldaten, fünftausend für die Kommandeure, zwanzigtausend und nochmal fünfzehntausend für die Emire, unter dem Strich also fünfundfünfzigtausend Besant und alle unsere Gefangenen und wir sind quitt.“    

„Unter meinen Gefangenen sind allein achtzig Engländer. Ich tausche sie nur gegen von Engländern gefangene Gläubige aus!“, versetzte al-Efdal.

„Warum wollt Ihr es kompliziert machen, al-Efdal, wenn es auch unkompliziert geht?“

„Nun, der ungläubige Hund hat tausende von Gefangenen ermorden lassen. Ich könnte dasselbe tun!“, drohte al-Efdal.

„Ja, der englische König hätte das getan, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre, al-Efdal. Ich weiß auch, dass Richard völlig unmäßige Lösegeldforderungen gestellt hatte und ich weiß, dass ich noch ein paar Besant draufgelegt habe, um den Mord zu verhindern. Der englische König ist nicht mehr hier und seine Forderungen sind mit ihm gegangen. Kehren wir zur üblichen Praxis zurück, mein Freund. Das macht das Leben leichter.“

„Ich verlange die Gefangenen der Engländer!“

„Die habt Ihr zurückbekommen – allesamt. Alle, die Richards Männer noch gefangen genommen haben, hat er mir übergeben. Es sind gerade mal zwanzig Männer, einfache Soldaten.“

„Nun, dann zahlt Ihr mir für die überzähligen Gefangenen eben das normale Lösegeld, Ungläubiger!“

Balian nahm seine Liste zur Hand.

„Wenn das Eure Bedingung ist, al-Efdal, dann trennen wir die Gefangenen wieder auf und tauschen sie nach Nationen und einzelnen Einheiten bei Euch wieder aus. Was haltet Ihr davon? Das wird vermutlich teurer für Euch.“

„Unter meinen Gefangenen sind zwei Söhne englischer Emire. Ich will für jeden von ihnen fünfzigtausend Besant!“

„Schön. Ich habe derzeit fünfzehn Emire im Angebot. Gebt mir dafür auch je fünfzigtausend und wir sind uns einig“, lächelte Balian.

„Aber Ihr habt doch gerade dreitausend für jeden gefordert!“, ereiferte sich al-Efdal.

„Ja, wenn wir Person für Person austauschen ohne die Nationalität zu beachten. Ihr geht auf meinen Vorschlag nicht ein“, versetzte christliche Graf. „Wenn Ihr um jeden einzelnen feilschen wollt, kann ich auch anders. Dann verlange ich für jeden Sarazenen, den die Templer gefangen genommen haben, zwei gefangene Templer.“

„Wir nehmen Templer nicht gefangen. Templer werden getötet, ebenso Johanniter!“, grollte al-Efdal.

„Na schön, dann für jeden, den die Templer gefangen haben, den doppelten Preis, wenn Ihr keine Templer mehr herausgeben könnt. Ihr könnt die Gefangenen natürlich umbringen. Was meint Ihr, was dann mit den gefangenen Sarazenen geschieht?“

„Ihr werdet teuer für jeden getöteten Gläubigen bezahlen, Ungläubiger! Für jeden werden wir zehn von Euch umbringen.“

„Wollt Ihr über die Freilassung von Gefangenen verhandeln oder wollt Ihr mir nur drohen?“, fragte Balian.

„Ihr habt ein Angebot gemacht. Ich nenne Euch meines. Ich habe nicht um Verhandlungen gebeten.“

„Oh, ich kann die Sache abkürzen. Ich lasse es, al-Efdal. Unsere Gefangenen bleiben unsere Gefangenen und Eure bleiben Eure. Ihr habt anscheinend keinerlei Interesse daran, Eure Leute zurückzubekommen.“

„Und wie … wollt Ihr wieder zurück nach Arsuf?“, grinste al-Efdal maliziös. „Ihr allein seid schon mindestens zweihunderttausend Besant wert.“

„Al-Efdal! Der Bote ist unverletzlich!“, mahnte Saladin.

„Ich verletze ihn nicht, Vater, ich nehme ihn nur gefangen!“

„Mein Sohn, du wirst diesen Gedanken augenblicklich verwerfen und Graf Balian um Entschuldigung bitten! Er hat Verhandlungen vorgeschlagen, ich bin darauf eingegangen. Es ist selbstverständlich, dass jemand, der zu Verhandlungen erscheint, nicht selbst mit Gefangennahme bedroht wird!“

„Er ist ein Ungläubiger, Vater! Denk an Mahmut, den du als Boten zum König von Jerusalem gesandt hattest. Seinen Kopf haben sie uns zurückgeschickt!“

„Genug! Das war ein anderer König, der keinen Frieden wollte!“

„Vater, Nachgiebigkeit kostet uns das Gesicht!“

„Das hast du eben gerade verloren, mein Sohn! Geh! Auf der Stelle!“

Kreidebleich erhob sich al-Efdal und verließ den Raum.

„Ich bitte Euch um Vergebung, Graf Balian“, keuchte Saladin.

„Sie ist gewährt. Was ist … Euer … Angebot, großer Saladin?“, fragte Balian.

„Steht Ihr weiterhin zu Eurem Angebot?“, fragte der Sultan.

„Ja.“

„Dann werde ich die Gefangenen zu den von Euch genannten Bedingungen freilassen. Wisst Ihr jetzt, was auf mich folgen wird?“

„Ja“, erwiderte Balian. „Bitte, großer Saladin, sagt mir, weshalb es einem Vater wie Euch, einem großen, weisen und großmütigen König, versagt ist, dass sein Nachfolger ebenso denkt und handelt wie er selbst.“

„Das, mein Freund, wüsste ich auch gern. Vor Euch muss ich keinen Gesichtsverlust befürchten. Ihr seid ein weit verständigerer Mann als die meisten Franken. Insofern darf ich Euch gegenüber eingestehen, dass ich als Vater wohl versagt habe. Jetzt kann ich es nicht mehr ändern, dass mein Sohn ein hochmütiger und unverständiger Mann geworden ist. Ich will dafür sorgen, dass die Gefangenen umgehend an Euch überstellt werden und Ihr auch das entsprechende Lösegeld erhaltet. Balian, wenn ich nicht mehr bin, wird mein Sohn alles, was ich ausgehandelt habe und was noch nicht erfüllt wurde, umgehend als ungültig erklären, wenn Ihr nicht jemanden auftreibt, der auf Eurer Seite ein bedeutender Muslim ist.“

„Ihr wisst um die Unmöglichkeit, großer Saladin. Unter meinen Dienern sind viele Muslime. Ihr wisst aber auch, dass es einfache Menschen sind, die Euer Sohn in seinem Hochmut niemals als gleichberechtigte Gesprächspartner ansehen würde. Er erinnert mich in seiner Haltung – bitte, missversteht das jetzt nicht – an König Guy.“

Saladin sah den christlichen Grafen eine Weile an.

„Jedem anderen würde ich eine solche Bemerkung übelnehmen, Euch nicht. Aber das liegt an meiner persönlichen Wertschätzung für Euch und Euer sicheres Urteil über andere. Ja, Ihr habt Recht. Bitte helft mir, dass alles so geht, wie wir beide es uns vorstellen.“

„Ich tue, was in meinen Kräften steht und ich bete, dass sich auf meiner Seite alle Beteiligten an das halten, was sie mir zugesagt haben.“

Saladin schmunzelte.

„Wir stehen beide vor dem gleichen Problem, Balian – wie schon früher … Friede sei mit Euch.“

U ’alaykum as-Salam“, erwiderte Balian mit freundlichem Lächeln und erhob sich. Auch Saladin stand auf und umarmte den christlichen Grafen.

„Lebt wohl“, sagte er leise. „Ich hätte mir einen Sohn wie Euch gewünscht. Kühn und tapfer im Kampf, aber verständig und großmütig.“

„Vielleicht besinnt er sich, wenn er sieht, dass er mit Eurer Art mehr erreicht als mit seinem Hochmut.“

„Euer Wort in Allahs Ohr.“

 

 

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Kapitel 4

Querschüsse

 

Mitte Dezember hatte Balian allen Beteiligten das Ergebnis der Verhandlung mitgeteilt.

Bis auf die Templer hatten nun alle christlichen Beteiligten, die Gefangene gemacht hatten, dem Ergebnis zugestimmt. Der Bote, den Balian zur Hauptburg der Templer entsandt hatte, war noch nicht zurück. Der Graf entschloss sich, den Großmeister der Templer, Robert de Sablé, in Akkon persönlich aufzusuchen und ihm die Gefangenen notfalls abzukaufen.

Als er in Akkon eintraf, ließ der Großmeister ihm ausrichten, er habe nicht persönlich Zeit, aber der Komtur* der Komturei Akkon stehe ihm zur Verfügung. Balian war klar, dass der Verweis auf den Komtur von Akkon ein harscher Affront gegen ihn als Grafen des Königreichs Jerusalem und Verhandlungsführer des Königs war. Jeden anderen hätte die kalte Wut gepackt, doch nicht Balian von Ibelin. Andererseits wusste er, dass Gefangene für die in Gelddingen ausgesprochen versierten Templer eine gute Geldanlage waren – in dem Fall war der Verwaltungsobere vielleicht doch der beste Ansprechpartner, wenn es um die Freilassung von Gefangenen ging …

„Ah, der Bastard!“, giftete der Komtur, als er die Treppe herunterkam und Balian erkannte.

„Ah, der nichterbende fünfte Sohn – oder doch der zweite?“, grinste Balian mit beißendem Spott zurück.

„Ihr seid doch Godfreys unehelicher Sohn, oder?“

„Das bin ich und habe daraus auch nie ein Geheimnis gemacht. Soviel ich weiß, seid Ihr einer der jüngeren Söhne Eures Vaters, oder?“, konterte Balian. Schnaufend nickte der Komtur.

„Was wollt Ihr?“, fragte er schließlich.

„Eine Antwort auf das Verhandlungsergebnis zu den Gefangenen“, erwiderte Balian.

„Der Großmeister hatte Euch unsere Bedingungen genannt. Sie sind nicht erfüllt. Wieso sollten wir die Gefangenen dann überstellen?“

„Nicht jede Bedingung, die gestellt wird, ist erfüllbar. Ihr wisst, dass gefangene Templer grundsätzlich von den Sarazenen hingerichtet werden. Wenn die Sarazenen keine Templer in Gefangenschaft behalten, dann kann ich dort auch keine freihandeln. Ich denke, der Großmeister ist lange genug hier, um das zu wissen.“

„Dann habt Ihr Verhandlungen aufgenommen, obwohl Ihr wusstet, dass die Bedingung nicht zu erfüllen war. Dann ist es Eure Sache, das dem Sultan zu erklären“, versetzte der Komtur.

„Seltsam … wieso habt gerade Ihr mir die üblichen Lösegeldtarife mitgegeben?“, fragte Balian.

„Ihr solltet wissen, was wir zu zahlen bereit sind, deshalb.“

„Und wann habt Ihr zuletzt gegen Lösegeld Mitglieder Eures Ordens freigekauft?“

„Das … ist schon eine … Weile her“, räumte der Komtur ein. Balian nickte.

„Das ist so lange her, das ist bald nicht mehr wahr“, versetzte er. „Das dürfte so um 1130 gewesen sein, schätze ich mal, als die Templer noch nicht der Staat im Staate waren“, mutmaßte er dann. „Ihr habt Gefangene, die nach Eurer eigenen Liste insgesamt zwölftausend Besant wert sind. Ich gebe Euch im Auftrag des Sultans zwölftausend Besant und Ihr gebt mir Eure Gefangenen“, schlug Balian vor.

„Sie sind fünfzehntausend wert!“, entgegnete der Komtur.

„Gebt Ihr sie für den Lösegeldwert heraus oder nicht?“, fragte Balian, ohne auf die Korrektur einzugehen.

„Nein.“

„Und was wollt Ihr dann mit ihnen machen?“

„Das hat Euch nicht zu interessieren. Es sind nicht Eure Gefangenen!“

„Es hat mich zu interessieren, denn ich habe im Auftrag des Königs wegen der Gefangenen verhandelt!“

„Der Orden der Armen Ritter des Tempels zu Jerusalem ist im Auftrag des Papstes im Heiligen Land!“, schnauzte der Komtur. „Der König von Jerusalem interessiert uns nicht!“

„Und Ihr meint, der Papst wäre damit einverstanden, dass Ritter dieses Ordens Gefangene nur deshalb nicht herausrücken, weil sie nicht gegen Angehörige des Ordens ausgetauscht werden können? Obwohl ihnen das übliche Lösegeld dafür geboten wird?“

„Ginge es nach dem Papst, hätten wir keine Gefangenen gemacht.“

„Nun, Ihr habt Gefangene gemacht – wohl wissend, dass die Sarazenen Templer stets töten“, stellte Balian fest. „Gegen Lösegeld wollt Ihr die Gefangenen nicht hergeben. Was, also, wollt Ihr dann mit ihnen tun? Diese Frage würde der Papst auch stellen.“

„Das ist dann zwischen uns und dem Papst zu klären“, beharrte der Komtur.

„Und wann habt Ihr den Papst danach befragt, was Ihr mit den Gefangenen tun sollt?“

„Auch das geht Euch nichts an!“

„Na schön, ich werde dem König vortragen, dass der Templerorden sich endgültig aus dem Königreich Jerusalem verabschiedet hat“, seufzte Balian.

„Die Templer sind die einzigen im Heiligen Land, die für den rechten Glauben kämpfen! Der König soll es wagen, den Templern die Unterstützung zu entziehen und er wird exkommuniziert!“

„Mir wäre neu, dass der Großmeister der Templer die Befugnis hätte, den vom Patriarchen von Jerusalem zum König von Jerusalem gekrönten König – wohlgemerkt zum König von Gottes Gnaden und nicht von Gnaden der Templer – zu exkommunizieren“, versetzte Balian kalt. „Ich werde Saladin das Geld zurücksenden, das er für die Gefangenen der Templer gegeben hat – und ich werde dem König empfehlen, die königlichen Privilegien der Templer zu überdenken.“

Balian nickte knapp und drehte sich um.

„Bestellt dem König, dass der Templerorden sich ihm niemals unterwerfen wird – und dass Bastarde künftig nicht mehr als Boten anerkannt werden.“

Balian blieb stehen und drehte sich wieder um.

„Das wird den König gewiss interessieren, denke ich“, sagte er. „Und sagt dem Großmeister, dass künftig kein Soldat des Bastards seinen Hals für Templer riskieren wird. Templer, werter Komtur, lasse ich künftig bei den Sarazenen auflaufen. In meinen Besitzungen werden Templer keinen Schutz mehr finden.“

„Der Papst wird erfahren, dass Ihr die Solidarität der christlichen Ritter aufkündigt!“

„Ihr beruft Euch auf Solidarität und hintertreibt sie, wo Ihr nur könnt. Solidarisch wäre es, wenn Ihr die Gefangenen gegen das ausgehandelte Lösegeld herausgebt. Das wollt Ihr nicht und werft mir, dem Boten des Königs, obendrein an den Kopf, Euer Umgang mit den Gefangenen gehe mich, genauer den König, nichts an. Der Papst sollte erfahren, wie es um die Solidarität im Heiligen Land bestellt ist, ja – und zwar auch, wie die Einstellung der ihm so unglaublich treuen Templer zur christlichen Solidarität ist: dass sie für Euch offensichtlich überhaupt keine Bedeutung hat, wenn Ihr dafür etwas geben müsst. Er sollte auch erfahren, dass Templer schon vor Jahren einen bestehenden Waffenstillstand mit allen Mitteln hintertrieben haben und dass drei Templer einen einzelnen Mann überfallen haben, um ihn umzubringen; dass Templer Karawanen überfallen haben, die nichts Schlimmeres getan hatten, als sich als friedliche Händler auf Handelsstraßen zu bewegen. Und sollte er Euch den Befehl dazu gegeben haben, so zu handeln, ist er von Christus weiter entfernt als die Muslime!“

„Seht Euch vor, Bastard!“

„Templer haben mehrfach versucht, mich zu töten. Bis jetzt ist es denen, die es versuchten, nicht gut ergangen. Ich schwöre Euch: Daran wird sich nichts ändern. Versucht, mich zu töten und Ihr seid selbst tot“, grollte Balian und verließ die Templerburg.

Ein Stockwerk höher kamen der Templergroßmeister und König Guy von Zypern an die Brüstung des Treppenhauses.

„Er muss weg! Tötet ihn!“, beschwor Guy den Großmeister. Der Großmeister nickte nur.

„Die Gefangenen sollten besser auch getötet werden“, fuhr Guy fort. „Nur dann ist sichergestellt, dass sie nicht freigepresst werden können. Außerdem … nützt der Waffenstillstand nur den Sarazenen …“

„… und dem Ansehen dieses Bastards beim König und den Ungläubigen“, vollendete der Großmeister. „Sorgt dafür, dass der Bastard Arsuf gar nicht erst erreicht!“, befahl er.

Von den Zinnen der Templerburg in Akkon aus sah der Großmeister, dass der Graf von Ibelin es offenbar nicht sehr eilig hatte, in sein doch relativ weit entferntes Haus zu kommen. „Bertrand, nehmt den Weg am Hafen entlang. Ihr wisst, was Ihr zu tun habt“, wies er Bertrand of Hastings an. Der Ritterbruder nickte und winkte einigen anderen Brüdern, ihm zu folgen.

 

Balian ritt ohne besondere Eile von der Templerburg fort, aber er schäumte vor Wut. Offensichtlicher konnten sich die Templer nicht gegen einen Waffenstillstand richten. Balian überlegte, ob er König Henri nicht sogar empfehlen sollte, die Templer insgesamt unter Arrest zu stellen, um zu verhindern, dass sie den Waffenstillstand brachen, kaum dass er überhaupt geschlossen war. Entgegen der Annahme der Templer ritt er jedoch nicht direkt zu seinem Akkoner Stadthaus, sondern zum königlichen Haus, um den gerade in Akkon weilenden König über das wenig erfolgreiche Gespräch mit dem Temperkomtur zu unterrichten.

„Die Templer widersetzen sich?“, entfuhr es König Henri, nachdem Balian ihm berichtet hatte.

„Ja, mein König – wie so oft“, seufzte er.

„Ich schließe aus Euren Worten, dass das nicht zum ersten Mal geschehen ist.“

„Gott ist mein Zeuge: Nein.“

„Ihr kennt dieses Land länger und besser als ich, Graf Balian. Was empfehlt Ihr mir?“

„Entzieht den Templern deren Privilegien, stellt sie unter Arrest, damit sie keinen Unfug anrichten können, der den Waffenstillstand stört“, riet Balian.

„Und wie soll ich das anstellen? Die Templer sind neben den Johannitern die größte Einzelstreitmacht! Sie sind verteilt auf viele Burgen!“, widersprach Henri heftig. „Ich kann es mir nicht leisten, auf ein Viertel unserer Truppen zu verzichten!“

„Dann bitte ich Euch um die Erlaubnis, Templer, die den Frieden stören, festsetzen zu dürfen.“

Henri stand auf und begann eine unruhige Wanderung.

„Isabella, geliebte Königin, was könnt Ihr mir dazu sagen?“, wandte er sich schließlich an seine Gemahlin, die bisher schweigend zugehört hatte.

„Graf Balian hat Recht, Mylord. Die Templer haben stets den Frieden zu verhindern gewusst, den von meinem Bruder beschworenen Waffenstillstand bewusst gebrochen. Salahadin wusste zwar genau, dass dies eine eigene Entscheidung der Templer war und nichts mit Jerusalem selbst zu tun hatte, aber letztlich hat er auf Drängen seiner Fanatiker diese Tatsache genutzt, um Jerusalem anzugreifen und zu erobern. Wenn al-Efdal seinen Vater beerbt, wird er sich im Falle eines Friedensbruchs damit herausreden, dass Kreuzritter eben Kreuzritter sind und die Guten von den Bösen nicht wirklich zu unterscheiden sind, weil sie fast alle Kreuze auf den Wappenröcken tragen – wenn er überhaupt nach Ausreden suchen wird. Solche Herrscher wie Saladin haben unter den Muslimen ebenso großen Seltenheitswert wie mein Bruder oder Ihr unter den Christen.“

Henri sah den Grafen von Ibelin eine Weile an.

„Genaugenommen empfehlt Ihr mir einen Krieg gegen die Templer, um keinen Krieg gegen die Sarazenen führen zu müssen“, stellte er fest.

„Nein, ich empfehle, sie unter Kontrolle zu halten.“

„Hat König Balduin das geschafft?“, fragte Henri weiter.

„Nein“, räumte Balian ein.

„Wenn ein König mit sehr viel mehr Land und Truppen diesen Orden nicht unter Kontrolle gebracht habt, wie soll ich es dann schaffen, wenn ich weniger Land und Soldaten habe, die mir dabei helfen könnten? Der König von Zypern steht mit einem großen Anteil unserer Truppen hinter den Templern. Glaubt Ihr ernsthaft, dass König Guy ruhig zusehen wird, wie die Templer, denen er nahesteht, an die Kandare genommen werden?“, fragte der König.

„Wenn Ihr die Templer und Guy mit seinen Zyprioten gewähren lasst, Mylord, dann wird dieser Waffenstillstand keine drei Jahre halten – nicht einmal drei Wochen“, warnte Balian.

„Wird al-Efdal die Zusagen seines Vaters überhaupt einhalten? Was geschieht, wenn er Saladin vor Ablauf des Waffenstillstands beerbt und wir durch innere Zwistigkeiten nicht in der Lage sind, ihnen standzuhalten?“

„Al-Efdal ist ein Risiko, das weiß ich, Mylord. Aber wir vergrößern das Risiko, wenn wir den Sarazenen auch noch Anlass dazu geben, uns anzugreifen.“

„Spielt Ihr Schach?“

„Ja, ich habe es von König Balduin gelernt.“

„Behindert ein Schachspieler seine eigenen Figuren?“

„Nein, Mylord, aber ein Schachspieler hat die Kontrolle über seine Figuren und keinen Mitspieler auf der eigenen Seite, der seine Pläne zunichtemacht“, erwiderte Balian. „Ich bin der Ansicht, dass es über die Truppen des Königreichs Jerusalem nur einen Befehlshaber geben kann: den König von Jerusalem. Wenn die Templer das nicht anerkennen, sind sie keine Hilfe, sondern eine Gefahr für dieses Königreich.“

„Ich werde mir die Treue der Templer bestätigen lassen“, entschied der König. „Ich danke Euch, Graf Balian. Ihr könnt gehen“, komplimentierte er ihn dann hinaus. Balian verneigte sich leicht und verließ wortlos den Palast. Er konnte dem König nur einen Rat geben; was der daraus machte, lag nicht in seiner Hand.

 

 

 

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Kapitel 5

Intrigen

 

Balian trat aus dem Palast und wurde gewahr, dass es bereits kurz vor Sonnenuntergang war.

Seine Familie war in Arsuf, das er zwar innerhalb weniger Stunden von Akkon erreichen konnte, aber er würde dort mitten in der Nacht ankommen. Da gerade Neumond war, würde es bald stockfinster sein. Weil Gaëlle mit dem gesamten Haushalt in Arsuf war, war sein Stadthaus in Akkon obendrein leer. Er würde dort nicht einmal ein Bett vorfinden. Balian beschloss, die Nacht im Johanniterhospital von Akkon zu verbringen und am folgenden Tag nach Hause zu reiten.

Er hatte keine Ahnung, dass seine Entscheidung ihm das Leben rettete, denn die von de Sablé ausgesandten Templer waren in das leere Stadthaus der Ibelins in Akkon eingebrochen, um dem Hausherrn dort aufzulauern. Weil Balian nicht kam, sondern bei den Johannitern übernachtete, warteten sie vergeblich auf ihr ahnungsloses Opfer. Als sie sich am folgenden Morgen auf den Weg nach Arsuf machten, um Balian unterwegs abzufangen, war der längst vor ihnen fortgeritten und erreichte unangefochten die Burg in Arsuf.

„Was willst du tun?“, fragte Gaëlle, als er ihr von der Weigerung der Templer berichtete, die Gefangenen gegen Lösegeld freizulassen.

„Ich frage mich, welchen Sinn es macht, dass ich im Namen des Königs Verhandlungen mit Saladin führe, wenn der König nicht willens ist, alle christlichen Streitkräfte dazu zu verpflichten, ein von mir ausgehandeltes Ergebnis auch zu akzeptieren?“, fragte Balian. „Welchen Sinn macht es, dass Saladin die Verhandlungen führt und nicht sichergestellt ist, dass al-Efdal das Ergebnis nicht hintertreibt? Ich traue dem Bengel nicht.“

„Damit bist du nicht allein, Liebster. Imad hat mir gegenüber einmal erwähnt, dass er dem Sohn seines Herrn nicht vertraut. Al-Efdal sieht in jedem, der nicht völlig unterwürfig ist, eine ernsthafte Gefahr. Er wird alles, was du mit Saladin vereinbart hast, als ungültig ablehnen. Und niemand kann ihn daran hindern, nicht einmal Salahadin selbst, denn er wird ihn beerben“, warnte sie. Er sah sie schulterzuckend an.

„Also: Welchen Sinn macht es, dass ich verhandle?“, fragte er. Sie lächelte traurig.

„Keinen“, bestätigte sie. Sie kam nahe zu ihm und umarmte ihn. „Es tut mir Leid, dass du die Gespräche umsonst geführt hast.“

„Warum sollte ich das eigentlich tun? Wozu? Kannst du mir das sagen?“

„Das Jerusalem, das ich geliebt habe, Balian, das gibt es nicht mehr. Henri ist nicht mein Bruder Balduin. Balduin meinte, was er sagte – du meinst, was du sagst, Raymond von Tiberias auch, Salahadin ebenfalls. Aber bei allen anderen glaube ich das nicht. Wozu Verhandlungen? Um Truppen zu sammeln, Balian, um den Krieg fortzusetzen, sofern sich beide Seiten halbwegs erholt haben. Das und nichts anderes war der Grund für Verhandlungen“, bestätigte sie die Befürchtungen, die ihn bereits beschlichen hatten.

„Was hält uns eigentlich noch hier?“, fragte er leise und küsste sie.

„Die ausdrückliche Bitte Salahadins, dass du der Hüter des Friedens bist“, erwiderte sie, als sie sich aus dem Kuss löste.

„Der Hüter eines Friedens, den sowieso keiner will …“, ergänzte er und küsste sie erneut. Gaëlles Umarmung wurde fester; für Balian ein untrügliches Zeichen, dass seine Frau ebenso große Sehnsucht nach ihm hatte wie er nach ihr. Er hob sie hoch.

„Diesmal ein Töchterchen?“, fragte sie mit spitzbübischem Lächeln.

„Ich versuche es, meine Königin“, grinste er zurück und trug sie gleich zum Schlafgemach.

 

Al-Efdal ging unruhig auf und ab. Die Ärzte waren jetzt schon Stunden bei seinem Vater. Sein Blick fiel auf Imad, der zwar mit besorgtem Blick, aber dennoch ruhig und gefasst auf einem der bequemen Sitzkissen in Saladins Palast in Damaskus saß.

„Ihr macht Euch keine Sorgen, wie?“, fragte der Sultanssohn.

„Ich mache mir Sorgen, Sidi“, erwiderte Imad mit erzwungener Kühle. „Aber meine Sorge gilt dem Sultan, nicht der Frage, wie die Ungläubigen vertrieben werden können.“

„Und Ihr glaubt, dass mir ein Kriegserfolg gegen diese Christenhunde näher liegt, als das Leben meines Vaters?“

„Wenn es Allahs Wille ist, dass er den Sultan zu sich ruft, ist es Allahs Wille. Das werde ich nicht ändern können. Doch wenn Allah ihn abberuft und Ihr sein Erbe antretet, werdet Ihr nichts unversucht lassen, den von Eurem Vater ausgehandelten Waffenstillstand umgehend zu brechen, um die Ungläubigen zu verjagen“, entgegnete Imad. Al-Efdal zeigte ein freudloses Lächeln.

„In der Tat, genau das habe ich vor. Was immer mein Vater diesen Sheitansdienern* zugesagt hat, war nur darauf gerichtet, sie in Sicherheit zu wiegen, wie er es schon vor der Eroberung Jerusalems getan hat“, erwiderte al-Efdal. „Eure … Anhänglichkeit … an diesen Ibn Barzin ist mir unverständlich, Imad. Seit wann verkehrt Ihr mit diesem Ungläubigen?“

„Seit jemand mit ähnlich radikalen Ansichten wie Ihr ihn ohne jeden Grund zu einem Zweikampf provoziert hat und den Kürzeren zog. Balian ibn Barzin ist ein tapferer Ritter, Sidi, aber auch ein großmütiger und gütiger Mann, der mir das Leben schenkte. Er hat mir gezeigt, dass wir uns dieses Land in Frieden teilen können. Wir sollten das tun.“

„Imad, ich warne Euch! Wenn ich meinen Vater beerbe und Ihr dann immer noch freundschaftlich zu Ibn Barzin steht, wird es Euch den Kopf kosten!“, grollte al-Efdal. Imad erhob sich und verbeugte sich.

Inschallah*“, sagte er. „Freundschaft ist im Islam ein heiliges Gut, wie es auch Güte und Barmherzigkeit sind. Ich habe Eurem Vater treu gedient, Sidi, ich werde auch Euch treu dienen. Aber meine Freunde suche ich mir selbst!“

„Du hast gerade dein Todesurteil ausgesprochen, du Wurm!“, zischte al-Efdal giftig.

Die Tür des Krankenzimmers wurde geöffnet.

„Er verlangt nach Euch, General!“, sagte der Arzt. Imad drehte sich um und verschwand in dem Krankenzimmer, während al-Efdal mit geballten Fäusten draußen stehen blieb.

„Mein treuer Imad!“, grüßte Saladin. „Bring mich nach Alexandria, mein treuer Imad“, bat Saladin. Er war noch grauer geworden, seit Imad ihn nur wenige Tage zuvor zuletzt gesehen hatte, nicht nur vom Haupthaar, sondern auch im Gesicht.

„Das werde ich“, versprach Imad. Saladin lächelte leicht.

„Du und Balian, ihr würdet eine bessere Welt erschaffen. Ich hätte dich als meinen Erben bestimmen sollen. Es tut mir Leid, Imad.“

Imad schüttelte den Kopf.

„Alles ist so, wie Allah es will“, sagte er. Die tiefen Falten in Saladins Gesicht wurden zu noch dunkleren Abgründen.

„Nein, Allah will Frieden, Imad. Ich habe es nicht geschafft, für Frieden zu sorgen. Hol al-Efdal!“

„Ja, Sidi.“

„Euer Vater will Euch sprechen, Sidi“, sprach er draußen al-Efdal an. Ohne ein Wort zu sagen betrat der junge Mann das Krankenzimmer.

„Vater?“

„Ich habe Imad angewiesen, mich nach Alexandria zu al-Malik zu bringen. Dort ist es wärmer, und ich werde mich bald erholen. Du übernimmst einstweilen die Regierung hier in Damaskus, al-Efdal“, erklärte der Sultan.

„Ja, Vater“, versprach al-Efdal.

„Gut, dann lass meine Reise nach Alexandria vorbereiten, mein Sohn.“

Al-Efdal verbeugte sich – auch, damit sein Vater das triumphierende Glitzern in seinen Augen nicht sehen konnte. Er eilte davon, um die Weisung seines Vaters auszuführen.

 

Imad wollte seinen kranken Herrn auf schnellstem Weg nach Alexandria bringen. Der wirklich schnellste Weg führte jedoch teilweise über christlich beherrschtes Territorium. Die küstennahe Stadt in Ägypten war am besten über die Jerusalemer Pilgerstraße zu erreichen, über Ibelin und die Karawanenstraße an der Küste entlang über Askalon. Ibelin war unter Imads Kontrolle, doch Askalon und die Karawanenstraße lagen auf christlichem Gebiet. Imad dachte sofort an Balian, der als einziger christlicher Ritter eine sichere Passage des Sultans durch christliches Gebiet garantieren würde. Er schrieb umgehend an Balian, um eine solche Zusage zu erhalten. Ein Schmunzeln umspielte Imads Züge, als er eine Einladung an einen Ort formulierte, von dem Balian es gewiss nicht erwarten würde. Er musste seinem Freund schon etwas bieten, meinte er … Saladins General hatte den christlichen Festkalender dank der Freundschaft zu Balian gut im Kopf und wusste, was der 25. Dezember für seinen christlichen Freund bedeutete. Er schickte einen Boten nach Ibelin, das für Balian nach wie vor die Kontaktadresse war.

 

Inzwischen war es nach dem christlichen Kalender zwei Wochen vor Weihnachten. Der ausgehandelte Vertrag sah keine Besuchserlaubnis für Christen in Bethlehem vor, das wusste Balian nur zu gut, aber Jerusalems Grabeskirche war ein halbwegs passabler Ersatz dafür. Balian sandte einen Boten zu Imad nach Ibelin, um ihn um Aufenthalt in seinem früheren Stadthaus in Jerusalem zu bitten, das nun Imad gehörte. Umso überraschter war der Graf, als der Bote mit einer Einladung von Imad an Balian und seine ganze Familie nach Bethlehem zurückkehrte – für Weihnachten …

„Das ist ein Weihnachtsgeschenk, anders kann ich es nicht nennen. Gaëlle, wir sind nach Bethlehem eingeladen!“, rief Balian, als er Imads Einladung in den Händen hielt.

„Was?“

„Hier, Imad lädt uns alle zu Weihnachten nach Bethlehem ein!“

„Und du wolltest ihn nur bitten, dass wir im Jerusalemer Stadthaus bleiben können!“, lachte Gaëlle. „Lass uns gleich packen, bevor er sich das anders überlegt!“

Familie Ibelin packte für eine Reise nach Bethlehem, Balian gab König Henri Nachricht, dass er auf Imads Einladung für einige Tage samt Familie nach Bethlehem reise.

 

Dank eines zuverlässigen Informanten im königlichen Palast wussten auch Robert de Sablé und Guy de Lusignan um die Reise des Bastards und seiner Familie nach Bethlehem.

„Gute Gelegenheit, dem Bastard den Rest zu geben“, frohlockte de Sablé. Doch Guy schüttelte den Kopf.

„Vielleicht wird der König uns sogar helfen, Mylord“, mutmaßte er.

„Was meint Ihr?“, fragte de Sablé.

„Nachdem der Templerorden dem König brav die Treue geschworen hat, sollten wir nicht zu offensichtlich einen so angesehenen Ritter des Reiches angreifen. Wir sollten uns darum bemühen, dieses Ansehen zu untergraben. Der Bastard reist auf Einladung eines Heiden. Daraus muss doch etwas zu machen sein …“, grinste de Lusignan.

„Nun, erst einmal müssten wir dem König dann wohl erklären, woher wir um diese Reise wissen, Mylord. Euer Informant hat dieses Wissen nur heimlich erlangt, vergesst das nicht.“

Guys siegessicheres Grinsen erlosch.

„Aber … da meine Männer sich wieder frei bewegen können, könnten sie ja ganz zufällig dem Bastard über den Weg reiten, ihn nach selbigem fragen – und das brühwarm dem König servieren …“, setzte de Sablé hinzu. „Mich würde wirklich interessieren, wie der König darauf reagiert …“

 

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Kapitel 6

Diplomatischer Fettnapf

 

König Henri hatte die Einladung zur Kenntnis genommen und auch nichts dagegen gehabt. Balian und die Seinen reisten also mit Wissen des Königs nach Bethlehem, um dort Weihnachten zu feiern. Kurz vor Erreichen des sarazenisch kontrollierten Gebietes rief Michel, der Balian und dessen Familie mit dreißig Soldaten Ibelins begleitete:

„Templer!“

Die Männer Ibelins umringten augenblicklich ihren Grafen, um ihn vor den Templern zu schützen. Jeder von ihnen wusste, wie sehr die Templer Balian hassten. Ausnahmen wie der ehemalige Templer Georg, der Saint-Martin-au-Bois für Balian in dessen Abwesenheit verwaltete, bestätigten eher diese Regel. Doch die gesichteten Templer ließen ihre Schwerter geradezu demonstrativ in den Scheiden, als sie den Hügel herunterkamen.

„Gott zum Gruße, edle Herren aus Ibelin!“, rief der führende Ritterbruder. „Wohin des Weges?“

„Ich denke, die Herren von Orden der Tempelritter geht das weniger als nichts an!“, knurrte Balian.

„Verzeiht, doch sind wir im offiziellen Auftrag des Königs von Jerusalem zur Bewachung der Grenze hier“, erklärte der Anführer und präsentierte das königliche Siegel.

„Wir sind auf dem Weg nach Bethlehem“, gab Balian angesichts des Siegels Auskunft. „Der König ist davon unterrichtet.“

„Nanu? Bethlehem konnte doch nicht für christliche Pilger zugänglich gemacht werden?“, wunderte sich der Templerführer.

„Nein. Wir sind auch nicht als Pilger dorthin unterwegs, sondern auf offizielle Einladung des Bevollmächtigten des Sultans“, versetzte Balian eisig.

„Wie passend – gerade zu Weihnachten …“

„Das hat mit Weihnachten nichts zu tun, Mylord!“, entgegnete Gaëlle ebenso bissig. „Mein Gemahl und ich gehen davon aus, dass es um die Frage des Gefangenenaustausches geht. Von Weihnachten verstehen die Heiden nun einmal nichts“, setzte sie hinzu.

„Nun denn, gute Reise“, grinste der Templerführer. Die Ibeliner passierten die Templerlinie unangefochten.

„Danke für die Lüge“, lächelte Balian seiner Frau zu, als sie außerhalb der Hörweite der Templer waren.

„Ich kenne dich und weiß, dass du nicht lügen würdest. Balian, die Templer können alles essen, aber sie brauchen nicht alles zu wissen“, erwiderte sie mit schelmischen Schmunzeln.

„Deshalb bin ich dir ja auch so dankbar für diese wundervolle Lüge.“

 

Ohne weiter belästigt zu werden, erreichten die Ibeliner ihre alte Heimat, deren Burg und Herrenhaus in Abwesenheit von Imad erneut von Asim Edin al-Bakr, dem dunkelhäutigen Mauren, geführt wurde. Asim begrüßte sie freundlich.

As-Salam ‘alaykum, Balian ibn Barzin! Und deiner Familie natürlich auch“, grüßte er.

U ’alaykum as-Salam, Asim Edin al-Bakr!“, erwiderte Balian den höflichen Gruß des Mauren. „Wir werden gleich weiterreiten, damit wir Bethlehem noch rechtzeitig erreichen, mein Freund.“         

Kaum eine Stunde später zog die Karawane nach Bethlehem weiter, das am folgenden Abend, dem Heiligen Abend, erreicht wurde. Balian und die Seinen staunten nicht schlecht, dass die Geburtskirche wieder in ein christliches Gotteshaus verwandelt war. Imad empfing die Ibeliner nicht weit von der Geburtskirche entfernt und wies nicht ohne Stolz darauf.

„Wenigstens für dieses Jahr haben wir die Moschee, die dieses Haus nun ist, wieder in das umgewandelt, was ihr eine Kirche nennt, mein Freund. Es hat sich auch ein christlicher Priester gefunden, der für euch die … ähem … Messe halten wird!“, pries er an. Balian freute sich, das war für jeden unübersehbar, der in seiner Nähe war; aber unter sein Lächeln mischte sich auch Unbehagen. Normal war das hier nicht! Er wurde langsam misstrauisch, was diese Einladung und gesonderte Umwidmung der Geburtskirche tatsächlich zu bedeuten hatte.

„Imad, mein Freund, vergib mir, dass ich nicht ausgelassen tanze“, sagte er. „Zugang für Christen nach Bethlehem wurde in der Vereinbarung zwischen Saladin und mir ausdrücklich ausgeschlossen – und dann bekommen wir, die Ibeliner, eine Einladung, ausgerechnet in Bethlehem Weihnachten zu feiern?“

„Freut es dich denn nicht?“, fragte Imad verblüfft.

„Oh doch. Doch ich frage mich auch, welche Nachwirkungen es haben wird, dass wir dieses Privileg genießen dürfen, während es anderen verwehrt bleibt.“

„Lass uns das morgen klären, mein Freund. Bitte, nimm es zunächst als Geschenk des Sultans an dich persönlich und natürlich deine Familie“, versuchte Imad Balians Misstrauen zu besänftigen.

„Ich werde deine Bemühungen nicht zunichtemachen, Imad“, erwiderte Balian mit dem ihm so eigenen freundlichen Lächeln. Dem Sarazenen fiel ein ziemlich dicker Stein vom Herzen, aber gleichzeitig wurde ihm klar, dass er mit dieser Einladung Balians Position unter den christlichen Adligen geschwächt hatte. Er würde als käuflich betrachtet werden.    

Es war eine wundervolle, sehr würdevolle Weihnachtsmesse, die der Priester in der Geburtskirche zelebrierte. Nicht nur den anwesenden Gläubigen, auch dem Priester selbst war eine tiefe Rührung und gleichzeitig Begeisterung anzumerken, die Feier der Geburt des Herrn dort zu begehen, wo sie nach der Heiligen Schrift stattgefunden hatte. Doch so feierlich die Messe war: Balian ging mit Martin und Mathieu nach der Messe in den kleinen Stall nicht weit von der Kirche.

„Wieso hast du uns hierher geführt, Onkel Balian?“, wollte Martin wissen.

„Weihnachten 1185 bin ich zum ersten Mal auf Einladung von Balduin V. in Bethlehem gewesen. Er hat mich nach der Messe hergeführt und gemeint, dieser Stall hier, der sei die eigentliche Geburtsstätte unseres Herrn. Dieser Stall ist bestimmt keine zwölfhundert Jahre alt, aber Balduin hat ihn sich immer so vorgestellt. Ich finde, er hatte Recht, denn hier ist es so einfach, wie es in der Bibel geschrieben steht. Kein weiches Bett, das mit schönem Leinen bezogen ist, sondern eine hölzerne Krippe für Tiere mit etwas Stroh darin – das ist das Geburtsbett unseres Herrn“, erklärte Balian leise. „Du wirst einmal ein König sein, Martin. Dein Vater ist ein reicher Mann, auch bei uns lebst du im Überfluss. Ich möchte, dass du dir immer wieder ins Gedächtnis rufst, in welch einfachen Verhältnissen Gottes Sohn geboren wurde und gelebt hat. Er hat in den ersten dreißig Jahren seines Lebens hart für seinen Lebensunterhalt gearbeitet, war Zimmermann und der Geselle seines Ziehvaters Josef. Jesus kannte deshalb die Sorgen und Nöte des einfachen Volkes. Dein Volk wird dir dienen, Martin, auch schon als Sohn deines Vaters. Aber diesen Dienst kannst du nicht verlangen, weil du als König etwas Besseres bist als zum Beispiel ein Zimmermann. Irgendwann einmal ist einer deiner Vorfahren als adlig anerkannt worden. Vielleicht, weil er ein guter Führer seines Volkes war, weil er dafür gesorgt hat, dass es etwas zu essen und einen sicheren Platz zum Wohnen hat. Aber er ist nicht als Adliger erschaffen worden, sondern hat sich durch seine Taten diese Anerkennung erworben. Du bist als Prinz geboren, dein Erbe ist die Krone deines Landes. Aber damit erwirbst du kein Recht auf besseres Essen oder eine bessere Wohnung als der Ärmste unter deinen Untertanen. Sie werden von dir und deinen Männern Schutz gegen Feinde erwarten. Adel ist kein Recht, es ist eine Pflicht gegenüber dem Volk. Deshalb habe ich euch das zeigen wollen, damit ihr nicht denkt, euer gutes Leben sei eine Selbstverständlichkeit.“

Martin und Mathieu nickten im Takt.

„Onkel Balian?“, setzte der Prinz vorsichtig an.

„Ja?“

„Sag mal … findest du es eigentlich gerecht, dass wir hier sein dürfen und andere Christen nicht?“, fragte der Junge.

„Nein, das ist nicht gerecht“, erwiderte Balian ernst.

„Und … wieso sind wir dann hier?“

„Imad hat uns alle eingeladen. Deshalb dürfen wir hier sein. Aber es ist nicht gerecht.“

„Wie kann man es denn gerecht machen?“, bohrte Martin weiter.

„Das ist schwierig, weil andere Christen eben nicht hierher kommen dürfen. Gerecht gegenüber anderen wäre es gewesen, wenn ich die Einladung abgelehnt hätte. Aber ich hätte mit einer Ablehnung meinen Freund Imad beleidigt. Einen Freund zu beleidigen, ist eine Beleidigung Gottes.“

„Aber ist es nicht auch eine Beleidigung Gottes, wenn wir nicht die Orte seines Lebens besuchen dürfen?“, fragte Mathieu, der bisher nur aufmerksam zugehört hatte.

„Ja, das ist es. Aber wir Christen haben Gott ebenso beleidigt, als wir den Muslimen die Moscheen auf dem Tempelberg wegnahmen und sie entweiht haben. Viele Jahre lang haben die Tempelritter auf dem Tempelberg gewohnt und haben die al-Aqsa-Moschee sogar als Stall für ihre Pferde benutzt. Das ist etwa genauso, als würden die Muslime die Geburtskirche nicht als Moschee nutzen, sondern ihre Schafe darin halten. Das ist noch viel schlimmer, als einen Freund zu beleidigen, Mathieu.“

„Du meinst … wir haben es verdient, dass wir nicht hier sein dürfen?“, fragte Martin betroffen.

„Ja“

 

Am nächsten Morgen bat Imad Balian um ein Gespräch unter vier Augen. Der Graf nickte und folgte ihm in ein anderes Zimmer.

„Mir ist inzwischen klar, dass dich meine Einladung in Schwierigkeiten bringen wird, mein Freund“, begann er. „Noch schlimmer ist, dass ich jetzt keine andere Möglichkeit mehr habe, meine Bitte an dich auszusprechen, weil die Zeit drängt.“

„Worum geht es?“

„Saladin ist erkrankt und möchte nach Alexandria reisen, weil der Arzt, von dem er sich Hilfe erhofft, selbst für eine Reise zu alt ist. Der schnellste Weg nach Alexandria wäre durch Gebiete, die wir euch zurückgegeben haben. Ich … bitte dich … um deine Fürsprache bei deinem König, dass er über euer Gebiet reisen darf.“

„Die Karawanenstraße am Jordan ist eine viel schnellere Verbindung zwischen Damaskus und Alexandria. Wieso benutzt er die nicht?“, wunderte sich Balian.

„Du erinnerst dich noch an unsere erste Begegnung, bei der Mohammed al-Faes dich zum Zweikampf herausforderte?“, fragte Imad.

„Ja“

„Die Straße führt über das Gebiet der Familie al-Faes in Daraa. Mustafa al-Faes, Mohammeds Bruder, hat es Saladin nicht verziehen, dass er den Tod seines Bruders nicht gerächt hat, sondern sogar anerkannt hat, dass du im Recht warst. Mustafa ist ein Freund von Saladins Sohn al-Efdal und würde ihn wegen seiner harten Haltung euch gegenüber lieber heute als morgen als Sultan eingesetzt sehen. Ich könnte meinen Herrn mit entsprechend vielen Reitern schützen, aber es würde zu einem Bruderkampf kommen – und ich wäre mir nicht einmal sicher, ob al-Efdals Männer nicht Mustafa al-Faes unterstützen würden.“

Balian nickte.

„Wie lange wird der Waffenstillstand halten, wenn Saladin stirbt?“, fragte er.

„Al-Efdal wird nach dem Tod seines Vaters einen Kriegsgrund suchen und er wird ihn irgendwie finden. Al-Malik, der Ägypten erhalten wird, wäre sicher anders, aber wenn al-Efdal ihm einen plausiblen Grund liefert, weshalb der Waffenstillstand nicht mehr gültig sein sollte, dann wird er ihn unterstützen, auch wenn die zwei sich nicht unbedingt lieben“, erwiderte Imad.

„Wenn Saladin durch christliches Gebiet reist, gibt es auch dort eine Menge Leute, die ihn lieber tot als lebendig sähen. Wird seine Karawane angegriffen und Saladin dabei getötet, hätte al-Efdal seinen Kriegsgrund. Schützen wir seine Karawane, könnte es bedeuten, dass Saladin das Gesicht verliert, weil er sich von Ungläubigen beschützen lässt“, mutmaßte Balian. Imad wurde bleich. Er schüttelte betroffen den Kopf.

Inschallah! Was bin ich doch für ein Schwachkopf, dass ich nicht nur meinen Freund, sondern auch meinen geliebten Sultan in solche Schwierigkeiten bringe!“, schalt er sich. Balian legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.

„Ich werde mit dem König reden“, versprach er. „Ihn kann ich wohl damit überzeugen, dass Salahadin für den Frieden ein sehr viel besserer Garant ist, als seine Söhne es sein werden, wenn sie ihn beerben.“

 

Schon am folgenden Tag zogen die Ibeliner wieder in Richtung Akkon ab, Imad verließ Bethlehem am selben Tag in Richtung Damaskus. Sowohl Balian als auch Imad war nicht daran gelegen, die Einladung nach Bethlehem noch offensichtlicher zum Freundschaftsgeschenk mit Bestechungscharakter werden zu lassen. Beide hofften, durch den kurzen Aufenthalt glaubhaft machen zu können, dass es um diplomatische Gespräche gegangen war, nicht um ein gemütliches Zusammensein guter Freunde.

 

Kaum war Balian nach mehreren Tagesreisen am 30. Dezember 1192 zurück in Akkon, als er sich bei König Henri melden ließ.

„Ihr wolltet mit mir sprechen, Graf Balian. Was ist Euer Begehr?“, fragte Henri.

„Mein König, ich komme eben aus Bethlehem, wo ich …“

„… fröhlich Weihnachten gefeiert habe!“, unterbrach Henri ihn. „Das ist doch so richtig, oder?“

„Es wäre freundlich, wenn ich …“

„Ich habe Euch etwas gefragt, Balian!“, schnauzte der König.

„Ich kann nicht bestreiten, in der Weihnachtsnacht in der Geburtskirche gewesen zu sein, Mylord“, sagte Balian. Henri schüttelte nur den Kopf.

„Und ich habe Euch vertraut!“

„Es war Euch bekannt, dass ich …“

„Ihr seid ein Verräter!“, grollte Henri.

„Vielleicht darf ich ausreden, mein König!“, erwiderte Balian ebenso scharf. „Es war Euch bekannt, dass ich von Imad ad-Din eine Einladung nach Bethlehem hatte, Ihr wisst, dass ich mit ihm befreundet bin – und Ihr wart einverstanden, dass ich zu Weihnachten nach Bethlehem reise. Woher kommt dieser Sinneswandel, mein König?“

„Ihr seid gesehen worden – in der Geburtskirche, mit Eurer ganzen Familie und Euren Rittern. Im Festtagsgewand! Erzählt mir also nicht, es sei völlig überraschend für Euch gewesen, dass die Geburtskirche sinnigerweise gerade für dieses Weihnachtsfest und nur über dieses Weihnachtsfest wieder eine christliche Kirche war!“, knurrte Henri.

„Es war überraschend, Mylord. Es war überraschend. Wir hatten allesamt keine Ahnung, dass …“

„… dass Ihr beobachtet wurdet???“

„Dann wird Euch Euer grandioser Beobachter hoffentlich auch erzählt haben, dass wir alle über die Umwidmung der Geburtskirche überrascht waren. Ich würde es begrüßen, wenn Ihr nicht auch anfingt, meine Bemühungen, den Frieden zu erhalten, in versuchten Verrat umzumünzen. Es reicht mir, dass die Templer ständig querschießen. Hätte Imad mir vorher mitgeteilt, dass er nur für diesen Tag die Geburtskirche hatte umwidmen lassen, dann hätte ich es abgelehnt, ihn dort zu treffen. Ich halte es für hochgradig ungerecht, dass meine Familie und ich in den Genuss einer Mitternachtsmesse in der Geburtskirche kommen, während es allen anderen Christen verwehrt ist.“

„Und doch habt Ihr die Messe dort gefeiert“, erinnerte Henri süffisant.

„Ja, es wäre eine Beleidigung gewesen, es an Ort und Stelle abzulehnen. Interessiert Euch eigentlich nicht, weshalb Imad mich sprechen wollte?“

„Was immer Ihr bei diesem Treffen mit ihm verhandelt habt: Ich werde es nicht akzeptieren! Ihr braucht es mir gar nicht erst vorzustellen! Geht jetzt!“, versetzte Henri scharf. Balian verbeugte sich leicht.

„Ich werde Imad mitteilen, dass seine Bitte abgelehnt ist“, sagte er und verließ den Palast.    

Caymon, Balians neues Lehen, war etwa fünfundzwanzig Meilen südlich von Akkon. Balian erreichte die Burg am Fuß des Karmelgebirges am Abend. Er war immer noch so wütend, dass er sich bisher noch nicht gefragt hatte, woher König Henri eigentlich schon wissen konnte, dass er, seine Familie und seine Männer in Bethlehem Weihnachten gefeiert hatten. Der Gedanke kam ihm, als er im Hof vom Pferd stieg.

„Du siehst nicht sehr glücklich aus, mein Liebster“, bemerkte Gaëlle, als sie ihn noch im Hof mit einem liebevollen Kuss begrüßt hatte.

„Das wäre auch glatt gelogen“, seufzte er. „Henri hat mir unseren Kirchenbesuch in Bethlehem wie ein Verbrechen vorgehalten. Wahrscheinlich sollte ich glücklich sein, dass er mich nicht gleich eingekerkert hat!“, knurrte er. „Ich frage mich nur, woher er das weiß. Wir sind gleich am nächsten Morgen weggeritten und sind auf dem schnellsten Weg hierher geritten. Auch ein stiller Beobachter hätte nicht schneller sein können.“

„Es sei denn, er hätte eine Brieftaube bei sich gehabt“, mutmaßte sie. „Balian, die Templer wollten dir schon immer schaden. Denen würde ich auch zutrauen, dass sich einer von ihnen verkleidet hinter uns hergeschlichen hat.“

Er zuckte mit den Schultern.

„Selbst, wenn ihm jemand davon erzählt haben sollte, ohne es wirklich zu wissen – als bloße Mutmaßung – ich habe es zugegeben. Was soll’s?“

„Ritterliche Wahrheitstreue! Irgendwann bringt sie dich noch mal ins Grab“, seufzte nun Gaëlle. Er rang sich ein mühsames Lächeln ab.

„Ganz, wie es der Rittereid befiehlt …“, grinste er.

„Balian – ich habe Angst um dich. Wenn jetzt auch noch Henri zu deinen Feinden zu zählen ist …“    

„Würde deine Schwester mich anhören?“

„Bestimmt. Ich schreibe ihr.“

„Und ich schreibe an Imad, dass er Saladin auf einem anderen Weg nach Alexandria bringen muss.“

 

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Kapitel 7

Reisepläne

 

Nicht nur Balian sah sich wegen seines Besuchs in Bethlehem Vorwürfen ausgesetzt, Imad ging es nicht besser.

„Bist du noch gescheit?“, fuhr Saladin ihn an. „Soll ich das Gesicht verlieren, indem ich mich in die Hände von Ungläubigen begebe?“

„Herr, Ihr wisst, dass der schnellste Weg nach Alexandria über das Gebiet der Ungläubigen geht!“, erinnerte Imad erschrocken.

„Ich reise auf der Karawanenstraße über Jerusalem und über Ibelin. Ich brauche den Christenkönig nicht um Erlaubnis zu bitten! Bereite die Reise vor!“

„Wie Ihr wünscht, Herr!“, bestätigte Imad. Sein Seufzen konnte er nicht ganz verbergen.

„Welche Einwände hast du gegen die Route?“, fragte der Sultan in einem völlig anderen Ton. Imad rechnete es der Krankheit seines Herrn zu, dass seine Stimmung so heftig schwankte.

„Wollt Ihr es wirklich wissen, Herr?“

„Ja.“

„Mustafa al-Faes hat Euch nicht verziehen, dass Ihr den Tod seines Bruders nicht gerächt habt …“

Saladin winkte ab.

„Sein Bruder Mohammed hat sein Leben selbst verspielt. Du hast es mir gesagt.“

„Ihr kennt meine Meinung zu Balian von Ibelin. Er ist mein Freund und dazu stehe ich auch. Mustafa würde ihn töten, wenn er könnte – und ich befürchte, dass er auch vor Euch …“

„Assassinen haben schon versucht, mich zu töten, da warst du noch nicht bei mir!“, versetzte Saladin. Seine Falten waren noch tiefer geworden, doch jetzt schlich sich ein leichtes Lächeln auf sein Gesicht und ließ die tiefen Furchen etwas weniger schluchtenartig erscheinen.

„Vergib mir, mein treuer Imad. Es tut mir Leid, dass ich dich so angefahren habe. Dein Bemühen weiß ich zu würdigen. Aber ich fürchte, mit dieser Bemühung hast du auch deinem Freund Balian einen schlechten Dienst erwiesen.“

Imad nickte.

„Ja, Herr. Bitte vergebt mir. Inzwischen ist mir der Fehler klar geworden“, erwiderte Imad zerknirscht.

„Imad, ich weiß, dass Uneinigkeit das Letzte ist, was wir uns leisten können. Dennoch halte ich es für besser, wenn ich auf der üblichen Karawanenroute reise, auch wenn es zu Auseinandersetzungen mit Mustafa al-Faes und seinen Getreuen kommen sollte. Meine Söhne werden spätestens dann begreifen, dass sie zusammenarbeiten müssen, wenn die Christen durch eine Uneinigkeit Erfolge erzielen.“   

„Ich verstehe Euch recht, dass Ihr möglicherweise Euer Leben opfern wollt, um Einigkeit zu erreichen?“

„Imad, was sagt dir der Begriff Dschihad?“, fragte Saladin.

„Es ist unsere Form des Heiligen Krieges, mein Gebieter“, erwiderte sein treuer General.

„Das ist richtig. Bis jetzt ist dieser Begriff aber als militärischer Kampf mit allen Mitteln gegen die Ungläubigen missverstanden worden. Das wird weiterhin der Fall sein, vielleicht noch in tausend Jahren – weil es immer Menschen muslimischen Glaubens geben wird, die es so verstehen wollen, auch wenn es falsch ist. Aber der wahre Heilige Krieg ist der, den wir mit uns und in uns selbst austragen, um den wahren Glauben zu verbreiten. Heiliger Krieg ist, wenn wir unser Leben opfern, um den wahren Gläubigen zu helfen. Er besteht nicht darin, im Kampf gegen die Ungläubigen zu sterben, schon gar nicht darin, ahnungslose Menschen – gleich welchen Glaubens – zu töten. Wenn meine Söhne sich bekriegen, wird das nur den Ungläubigen in die Hände spielen. Opfere ich mein Leben in einem möglichen Kampf gegen Mustafa al-Faes und al-Efdal, erzielen die Christen Erfolge. Dann muss selbst meinen Söhnen klar werden, dass sie nur gemeinsam gegen die Christen bestehen können.“

„Möge Allah Eure Söhne zu dieser Erkenntnis gelangen lassen, großer Saladin. Ich befürchte nur, sie werden es anders interpretieren“, wandte Imad ein.

„Nimm einmal an, Balian würde mit seinem Geschick erreichen, dass ich durch christliches Gebiet reisen darf. Es gibt genügend Ungläubige, die mich auch gegen eine ausdrückliche Erlaubnis des Königs der Ungläubigen angreifen würden. Es würde al-Efdal den Grund zum Krieg liefern. Es würde dich und deinen Freund Balian für alle Zeiten als Verhandlungspartner ausschließen. Es würde verhindern, dass al-Malik und al-Efdal über eine Zusammenarbeit auch nur nachdenken würden. Es würde einen Frieden für undenklich lange Zeit verhindern. Nein, mein treuer Imad. Es ist besser, wenn ich die Karawanenstraße östlich des Jordan benutze und eine Auseinandersetzung mit Mustafa riskiere. Ich zähle auf dich und deine Reiter.“

„Wir werden Euch mit unserem Leben beschützen, mein Gebieter“, versprach Imad mit einer Verbeugung. „Ich … ich will Euch noch darauf hinweisen, dass Euer Sohn al-Efdal mir bereits eröffnet hat, dass er mich nach Antritt seines Erbes von der Last meines Kopfes befreien wird.“

„Ja, er lässt keine Gelegenheit aus, alles zu vernichten, was ich aufgebaut habe … Inschallah!“, seufzte Saladin. „Imad, wenn Allah mich in sein Reich ruft, solltest du Zuflucht bei ibn Barzin suchen.“

„Wenn es ihn dann noch gibt …“, orakelte Imad düster.

 

Noch am selben Tag teilte Imad Balian schriftlich mit, dass er sich nicht weiter um eine Reiseerlaubnis bemühen müsse, weil Saladin sich doch für eine andere Reiseroute entschieden habe. Gleichzeitig begann er mit Vorbereitungen für die Reise seines Herrn und beschloss, anderen zu sagen, dass sein Herr über Kerak reisen würde. Nach wie vor war Kerak eine starke Burg, die einem Reisenden guten Schutz bot.

 

Einer der Diener, die von dem geplanten Reiseweg erfuhren, eilte mit dem Wissen umgehend zu al-Efdal.

„Über Kerak … Das ist interessant. Wieso so weit abseits der üblichen Straßen?“, brummte der Sultanssohn.

„Ich weiß es nicht, mein Gebieter. Aber ich könnte mir denken, dass General Imad das Gebiet von Mustafa al-Faes umgehen will“, mutmaßte der Diener. Al-Efdal bekam ein ebenso breites wie hämisches Grinsen. Unter den Umständen musste er nicht einmal einen Attentäter in die Karawane des Sultans einschmuggeln.

„Dann wird er sich aber sehr wundern … Danke, Hussein. Du hast mir einen wertvollen Dienst erwiesen.“

Hussein entfernte sich unter vielen Verbeugungen, während al-Efdal einen der benachbarten Räume aufsuchte, in dem sein guter Freund Mustafa al-Faes auf ihn wartete.

„Mustafa, mein Freund, die Stunde der Vergeltung naht“, frohlockte al-Efdal. „Mein Vater plant, nach Alexandria zu reisen – und er will über Kerak reisen. Er wird dein Gebiet dann zwar nicht durchqueren, aber er passiert es nicht weit davon. Das ist vielleicht sogar besser, als wenn du ihn innerhalb deiner Grenzen angreifst.“

Mustafa erhob sich und verbeugte sich.

„Dann will ich dafür sorgen, dass du den Thron deines Vaters umgehend erben kannst. Ich kehre sofort zurück und bereite alles vor“, sagte er. Ali umarmte den treuen Freund, der die freundschaftliche Geste mit dem dreifachen Bruderkuss erwiderte. Dann eilte er davon und ritt mit seinen Männern zurück nach Daraa.

 

Im Morgengrauen des folgenden Tages verließ die Karawane, in der Saladin reiste, Damaskus. Zunächst folgte die Karawane der Straße, die über Daraa nach Kerak führte. Erst gut zwanzig Meilen südlich der Hauptstadt wandte sich die Reisegruppe nach Westen in Richtung der Golanhöhen, um die Karawanenstraße westlich des Jordan nach Jerusalem zu nehmen. Nach Alexandria waren es auf diesem Weg gute sechshundert Meilen, die die eilig reisende Karawane dank Imads List ohne Zwischenfälle erreichte.

 

Mustafa al-Faes und weitere Männer von Ali al-Efdal warteten in Daraa auf den Sultan. Nachdem sie einen vollen Tag vergeblich gewartet hatten und auch die Späher von der etwas weiter östlich gelegenen Karawanenstraße berichteten, dass keine Karawane mit dem Sultan vorbeigekommen sei, erkannten al-Efdal und al-Faes, dass sie über den tatsächlichen Reiseweg getäuscht worden waren. Wutentbrannt kehrte al-Efdal nach Damaskus zurück und ließ Hussein kommen.

„Was hast du mir erzählt? Der Sultan reist über Kerak? Den Sheitan tut er! Wo ist er???“, fauchte Ali, als Hussein eintrat. Erschrocken warf der Diener sich zu Boden.

„Ich weiß es nicht, Sidi. General ad-Din hatte gesagt, dass der Sultan auf dem Weg reist, den ich Euch genannt habe. Ich schwöre es bei Allah und allen seinen Engeln!“, erwiderte er mit zitternder Stimme.

„Und du hast das nicht hinterfragt?“

„Nein, Sidi. Ich habe keinen Grund gesehen, dass …“

„Schweig!“, fuhr al-Efdal ihn an. „Ich verzeihe dir – unter der Bedingung, dass deine Tochter Yasmina meinen Harem bereichert.“

Sidi …“

„Was denn noch?“

„Ich habe Yasmina schon an Asim Edin al-Bakr versprochen …“

„Wie kommst du dazu, deine Tochter ohne meine Erlaubnis in die Ehe zu versprechen?“, grollte Ali.

„Ich hatte die Erlaubnis unseres Sultans, Sidi“, rechtfertigte sich Hussein. „Salahadin war damit einverstanden.“

„Aber ich bin es nicht. Du wirst dieses Versprechen lösen oder du bist des Todes!“

„J… jjja … Sss… ssidi“, stotterte der Diener angstvoll. „Sobb… bbald Sidi A… A… Asim zurück ist.“

Sidi, eben ist eine Nachricht für General Imad abgegeben worden“, meldete ein anderer Diener.

„Gib her!“, befahl al-Efdal. Ohne zu zögern händigte der Diener dem Sohn des Sultans die Nachricht aus, die an Imad ad-Din gerichtet war. Er sah das Siegel, das einen gerüsteten Reiter mit einem Schild zeigte, der typisch für die Christen im Heiligen Land war. Der Schild zeigte ein Tatzenkreuz. Umgeben war der Reiter mit einer lateinischen Inschrift: „DOM. IBELINENSIS SIGILLUM“. Al-Efdal verzog angewidert das Gesicht. Die Nachricht konnte schon dem Siegel nach nur von Balian von Ibelin sein … Er brach das Siegel auf und war mehr als nur überrascht, dass Balian nicht nur die arabische Schrift nutzte, sondern auch in arabischer Sprache schrieb.

Mein lieber Freund,

der König hat mich Deinen Vorschlag nicht einmal vortragen lassen. Ich muss Dir mitteilen, dass der von Dir geplante Weg nicht mit Zustimmung meines Königs genutzt werden kann. Es tut mir Leid, dass Deine Mühe umsonst war. Bitte, richte dem großen Salahadin aus, ich bedaure, dass ich für ihn nicht mehr erreichen konnte. Möge Allah ihm bald wieder Gesundheit schenken. Ich bete für ihn.

Friede sei mit Dir und dem großen Sultan Salahadin.

Balian

Der bedauernde Ton und das ehrliche Bemühen um eine von Imad gedachte Lösung waren unübersehbar, wie al-Efdal feststellte. Wenn es eine Möglichkeit gab, Imad des Verrates am Islam anzuklagen, war es dieser Brief, der keinerlei Einzelheiten über das enthielt, was der General mit dem Grafen von Ibelin besprochen hatte. Al-Efdal gönnte sich ein hämisches Grinsen. Die kluge Formulierung, die möglichen Spionen keine Informationen preisgab, bot andererseits die Chance, diesen Brief für jeglichen Verratsvorwurf gegen Imad zu verwenden. Doch al-Efdal wusste ebenso, dass er gegen den Vertrauten seines Vaters erst vorgehen konnte, wenn er selbst Sultan war. Da Imad Saladin nach Alexandria begleitete, konnte der Sohn des Sultans ohnehin frühestens etwas unternehmen, wenn sein Vater aus Alexandria zurückkehrte. Wenn er zurückkehrte … Und dann war da noch dieser Friedensengel aus Frankreich … Auch um den wollte al-Efdal sich möglichst bald keine Gedanken mehr machen müssen.

 

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Kapitel 8

Arsen und Apfelsinen

 

Fern davon untersuchte Saladins ältester Leibarzt Ali ibn Omar den Sultan gründlich. Ibn Omar war inzwischen deutlich über siebzig Jahre alt und deshalb nicht mehr reisefähig, lebte aus diesem Grund dauerhaft in der Residenz Alexandria. Tiefe Sorgenfalten zeichneten sich auf der Stirn des alten Arztes ab.

„Nun?“, fragte Saladin, dem die Besorgnis des Arztes nicht entging.

Sidi, Ihr seid vergiftet worden“, sagte ibn Omar schließlich.

„Was?“

Saladin und Imad entfuhr dieser Ausruf wie aus einem Munde.

„Ja, Sidi. Wer immer es war, ist sehr schlau vorgegangen, denn er hat ein langsam wirkendes Gift benutzt, das in der jeweiligen Menge vom Vorkoster nicht bemerkt wird, das sich aber über einen längeren Zeitraum im Körper vermehrt und erst dann zu Vergiftungsreaktionen führt“, erklärte Ali weiter.

„Was für ein Gift ist es, Ali? Hast du ein Gegenmittel?“, fragte Saladin.

„Es dürfte Arsen sein, Sidi. Ihr solltet reichlich Knoblauch zu Euch nehmen. Knoblauch hilft, das Gift auszuscheiden.“

„Ali, du kennst meinen Geschmack. Hammel ohne Knoblauch schmeckt mir nach gar nichts. Du solltest wissen, dass in meiner Küche schon immer sehr viel Knoblauch verwendet wurde!“, versetzte Saladin. Ali rieb sich nachdenklich den vollständig weißen Bart.

„Ich habe gehört, dass es im Land der Ungläubigen eine Pflanze geben soll, die zwar ähnlich wie Knoblauch schmeckt, aber nicht ganz die gleiche Wirkung hat. Sie kommt auch im Seldschuken-Reich in Kleinasien vor. Schon die Römer kannten diese Pflanze unter dem Namen Bärlauch. Seid Ihr sicher, dass in letzter Zeit statt Knoblauch nicht Bärlauch verwendet wurde?“

„Nein“, räumte der Sultan ein. „Ali, bereitet die Arznei. Ich werde so lange in Alexandria bleiben, bis ich die Vergiftung überwunden habe. Imad, du kümmerst dich um die Leute, die mit uns gekommen sind, besonders um die Köche. Ich möchte sichergehen, dass derjenige es nicht hier auch versucht.“

„Ja, Sidi.“

Imad eilte davon, um die mitgereisten Köche und deren Vorräte zu kontrollieren.

„Ali, wer mag mir nach dem Leben trachten?“, fragte Saladin betroffen.

Sidi, Ihr seid ein großer Herrscher. Große Herrscher haben immer Feinde – tödliche Feinde. Ihr seid schon mehrfach von Assassinen überfallen worden, denkt daran.“

„Ja, das letzte Mal in Ibelin. Wäre Balian nicht gewesen, wäre ich nicht hier.“

„Ein Ungläubiger hat Euch gerettet?“, erkundigte sich Ali erstaunt. Der Sultan nickte.

„Ja, ein Christ. Einer, der die Gebote seines Glaubens wirklich ernst nimmt. Einer, der anders ist als die anderen Ungläubigen“, erwiderte Saladin mit einem unüberhörbaren Seufzen.

„Ihr sorgt Euch um einen Ungläubigen, Sidi?“, hakte Ali ibn Omar nach, dem der tiefe Seufzer nicht entging.

„Ja, ich sorge mich um ihn. Ali, wenn es mehr Christen wie ihn gäbe, hätten mich nicht alle Mullahs dieser Welt dazu gebracht, Jerusalem zurückzuerobern.“

Ali sah den Sultan verstört an.

„Seht mich nicht so an!“, erwiderte Saladin. „Ich habe durch Balian ibn Barzin begriffen, dass wir in Palästina fremder sind als die Christen. Sie haben einen wirklich glaubwürdigen Grund, weshalb sie ihre heiligen Stätten dort haben. Wir haben lediglich eine indirekte Interpretation des Korans, die Jerusalem zur drittheiligsten Stätte des Islam macht. Wörtlich, mein lieber Ali, steht in den Suren des Korans nicht, dass Allahs Prophet seine Nachtreise gerade vom Jerusalemer Tempelberg begann.“

Sidi, lasst das nicht Khaled ibn Jubayr hören!“, warnte Ali. „Er hat Euch schon länger im Verdacht, den Islam nicht konsequent zu verbreiten!“

„Schau an! Dann gehört er auch zu der Sorte, die meinen, andere müssten mit Gewalt davon überzeugt werden, dass unsere Art des Glaubens die einzig wahre ist. Es war nie meine Art, andere gewaltsam zum Islam zu bekehren. Wahrscheinlich ist mir Balian ibn Barzin deshalb so nahe, weil er eine ähnliche Auffassung hat. Als Ibelin noch unter seiner Herrschaft war, lebten dort Juden, Muslime und Christen einträchtig miteinander.“

„Ich flehe Euch an, Sidi! Sagt so etwas nicht zu laut!“

„Wieso? Wagt es jemand, mich als Sultan in Frage zu stellen?“

„Eure Söhne, Sidi – alle! Und die Geistlichen tun es inzwischen auch, weil Ihr ihnen zu nachgiebig seid, wenn es um die Ungläubigen geht. Es gibt einige unter ihnen, die Euch im Verdacht haben, heimlich Christ zu sein.“

„Was weißt du darüber, Ali?“, fragte Saladin ungewohnt scharf nach. Ali sagte nichts, sondern ging an einen Schrank, öffnete ihn und nahm eine Schriftrolle heraus.

„Lest, Sidi“, sagte er und gab Saladin die Rolle. Verwirrt entrollte der Sultan das Dokument.

Es war die übersetzte Abschrift einer Chronik aus Tyrus, in der der Chronist behauptete, Saladin habe nach christlicher Zeitrechnung im Jahr 1173 für seinen Sohn al-Malik al-Aziz um die Hand einer Tochter Kaiser Friedrich Barbarossas angehalten und habe angeboten, sein Sohn werde zum Christentum konvertieren, wenn er dafür zum christlichen König von Jerusalem gekrönt werde. Der Chronist erwähnte weiter, dass König Richard von England dem Sultan angeboten habe, seinen Bruder al-Adil als König von Jerusalem anzuerkennen, wenn er des Königs Schwester Jeanne – die Königinwitwe von Sizilien – heirate und das Heilige Land für alle, die christlichen jüdischen und muslimischen Glaubens seien, uneingeschränkt zugänglich sei.

Die Augen des Sultans glitten mit zunehmendem Unglauben über die Zeilen.

„Beim Barte des Propheten! Wer behauptet solche Ungeheuerlichkeiten?“

„Dieser Ungläubige, der sich Chronist nennt, Sidi. Dadurch sind schlimme Gerüchte an die Ohren einiger Imame geraten. Sie sehen sich in ihrer Annahme bestätigt, dass Ihr heimlich mit den Christen paktiert. Ihr seid sehr milde mit ihnen umgegangen, nachdem Ihr Jerusalem erobert habt – nachdem sie die heilige Stadt in Blut getaucht hatten, als sie sie eroberten. Die Freundschaft Eures treuen Imad zu Balian ibn Barzin befeuert solche Gerüchte nur.“

„Das ist wohl auch der Grund, weshalb es einem von ihnen gelungen ist, mich zu vergiften“, erwiderte Saladin. Es klang müde und resigniert. Mühsam erhob er sich und begann eine unruhige Wanderung.

„Ali, ich habe alle meine Reserven in mein Versprechen gesteckt, Jerusalem zurückzuerobern. Ich habe dafür alles gegeben, sogar die zukünftigen Erträge meines eigenen Sultanats Ägypten. Alles habe ich dem Ziel geopfert, Jerusalem wieder muslimisch zu machen – mein Leben und mein Gut. Und jetzt sehe ich, wie mir alles, was ich erreicht habe, ins Gegenteil verkehrt wird – von meinem eigenen Fleisch und Blut, von denen, für die ich gekämpft habe. Und das nur, weil ich nicht ebenso grausam war wie jene, die uns einst Jerusalem entrissen. Ist das gerecht?“

„Nein, Sidi, das ist es nicht. Aber es gibt immer Menschen, die nicht genug bekommen können, die nicht wissen, wann es besser ist, aufzuhören. Ich bin sicher, dass Balian ibn Barzin ebenso unter dem Neid und der Missgunst seiner Glaubensbrüder leidet. Er ist ein guter Mensch. Freundlich und ehrenhaft.“

„Ihr kennt ihn? Das klang vorhin aber anders …“

Ibn Omar lächelte sanft.

„Ich habe mich nur gewundert dass Euch ein Ungläubiger gerettet hat, Beherrscher aller Gläubigen. Obwohl … ich hätte es besser wissen müssen, gerade, wenn es um den Baron von Ibelin geht. Ja, ich kenne Balian ibn Barzin, und er weiß, dass ich einer Eurer Ärzte bin. Es ist einige Jahre her, als er mich in Bethlehem aufsuchte, um Hilfe für einen seiner Glaubensbrüder zu erbitten – für einen Templer.“

„Habt Ihr etwa einem dieser Hunde geholfen???“, stieß Saladin mit einem Keuchen hervor. „Ich hätte ihn persönlich geköpft!“

„Ihr seht, ich habe auch meine Fehler“, erwiderte der Arzt mit einem geradezu schelmischen Grinsen. „Ja, auf die Bitte des Barons von Ibelin habe ich einem Templer geholfen. Imad hat mir später gesagt, der junge Mann, den ich rettete, sei aus dem Templerorden ausgeschieden und habe sich Balian angeschlossen. Wenn das den Tatsachen entspricht, ist er jedenfalls zur Vernunft gekommen. Ich rechne das Balian zu, Sidi.“

Saladin schüttelte den Kopf. Was hatte dieser christliche Baron nur an sich, dass jeder, der ihm begegnete, seinem freundlichen Charme erlag – nun ja, fast jeder? Al-Efdal, Mohammed al-Faes und Khaled ibn Jubayr gehörten zu den wenigen Ausnahmen auf muslimischer Seite – und manche Christen konnten ihm auch nichts Positives abgewinnen; König Guy zum Beispiel oder Reynald de Châtillon … Ein leises Lächeln schlich sich auf Saladins faltige Züge, als er an jene erste persönliche Begegnung mit Balian dachte – damals, als er nach mehreren Tagen harter Schlacht um Jerusalem Verhandlungen angeboten hatte und erstaunt gewesen war, mit welchem Mut der junge Heerführer Jerusalems verhandelt hatte. Ihm war anzusehen gewesen, dass er selbst in vorderster Reihe um die heilige Stadt gekämpft hatte. Der Sultan erinnerte sich an die aufrechte Haltung, an die klaffende Wunde im Gesicht – und an einen ebenso kühnen wie warmen Blick. Er hatte niemals diese Augen vergessen. Als er Balian dann in Ibelin wiedergesehen hatte, als der als friedlicher Pilger Gekommene im Auftrag Richards um einen Waffenstillstand verhandelte, hätte Saladin ihn am liebsten umarmt, wie man einen geliebten Sohn umarmt, so hatte er sich gefreut, diesem aufrichtigen und aufrechten Mann erneut zu begegnen. Winkelzüge waren dem christlichen Baron einfach fremd. Er meinte, was er sagte. Deshalb hatte Saladin Gewissensbisse gehabt, ihn zu hintergehen und ihn hinzuhalten

„Möge Allah ihn mit seinen Engeln beschützen, Ali.“

 

Inzwischen rückte der 13. Januar näher und damit Balians dreiunddreißigster Geburtstag. Die doppelte Drei war schon etwas Besonderes, und Balian plante eine größere Feier. Er hatte rechtzeitig eine Menge Einladungen versandt. Das Königspaar war eingeladen, ebenso der Graf und die Gräfin von Tiberias; Raymonds Bruder, Bischof Bartholomäus; Bruder Roger von Tours und Bruder Wenzel von Löwenstein, die Johanniterritter; Balians eigene Verwandtschaft im Heiligen Land; Joscelin von Courtenay, Gaëlles Onkel; zahlreiche weitere Adlige und Balians beste Freunde aus dem Reich Saladins, Imad und Asim.

Nach Balians Rückkehr aus Bethlehem und der Auseinandersetzung mit König Henri hagelte es jedoch Absagen. Imad und Asim wären gern gekommen, hatten aber mit Hinweis auf die bevorstehende Reise des Sultans nach Alexandria abgesagt, als Balian in Bethlehem gewesen war. Es blieben letztlich nur die direkten Verwandten des Grafenpaares, der Bischof und die beiden Ritterbrüder, Gräfin Yasmina und Graf Raymond von Tiberias sowie Joscelin von Courtenay, die ihr Erscheinen zusagten.

 

An Balians Geburtstag waren die Ibelins die Ersten, die ihrem Neffen und Cousin die Aufwartung machten. Balian, Barisans Sohn, und Maria hatten vier Kinder: Jean, Margarethe, Helene und Philippe. Jean war jetzt fünfzehn Jahre, Margarethe dreizehn, Philippe zwölf und Helene elf Jahre alt. Die beiden Jungen waren rasch mit Martin und Mathieu irgendwo im Hof verschwunden, die Mädchen blieben mit ihrer Mutter bei Gaëlle und ihren Kindern, Balian selbst ließ sich das neue Haus seines Neffen zweiten Grades von ihm zeigen.   

„Du hast ein schönes Haus, mein Junge“, sagte der Ältere, als sie den Rundgang beendet hatten.

„Ich bin dankbar, dass König Richard mir auf Saladins Veranlassung diese Herrschaft übertragen hat. Der Ort hier im Karmelgebirge erinnert mich an Saint-Martin-au-Bois.“

„Du hast viel erreicht, Balian“, lächelte der Ältere. Der Jüngere zuckte mit den Schultern.

„Im Moment bin ich mir nicht sicher, Onkel. Außer euch, Isabella, Yasmina und Raymond haben alle abgesagt.“

„Henri ist nicht nachtragend, Balian. Er wird zur Vernunft kommen, glaub mir. Isabella wird dafür sorgen.“

„Onkel …“

Balian, Barisans Sohn, schüttelte den Kopf.

„Du hast nichts anderes getan, als für Frieden zu sorgen. Dein Freund Raymond ist ebenfalls mit den Muslimen gut bekannt, ja sogar befreundet. Henri wird irgendwann einsehen müssen, dass dieses Land nur mit den Muslimen von uns gehalten werden kann, nicht gegen sie. Dir eine persönliche Einladung wie ein Verbrechen vorzuhalten ist unangemessen. Isabella wird dir eine gute Fürsprecherin sein, glaub mir.“

„Onkel, ich mache mir Sorgen um dieses Reich.“

„Zu Recht, Balian, zu Recht. Es ist nur noch ein Schatten dessen, was es einmal war. Und das liegt nicht dran, dass ich den Großteil meiner Besitzungen verloren habe. Es geht das Gerücht, Saladin sei krank. Weißt du etwas darüber?“

„Ja, deshalb hatte Imad mich um ein Gespräch in Bethlehem gebeten. Er wollte eine Erlaubnis, um Saladin über Askalon nach Alexandria zu bringen, wo sein bester Leibarzt ist. Im Nachhinein hat Imad sich verwünscht, das Gespräch ausgerechnet zu Weihnachten in Bethlehem zu veranstalten und dafür auch noch die Geburtskirche einmalig umzuwidmen. Henri hält mich schlicht für bestechlich. Und er wohl nicht allein“, seufzte Balian. Der Ältere lächelte leicht.

„Nun, jeder ist bestechlich – allerdings nur mit dem Dolch. Ein Ibelin und bestechlich … Wir wissen nicht mal wie man das schreibt…“, grinste der Ältere. Das entlockte auch dem Jüngeren wieder ein entspanntes Lächeln.

„Da wüsste ich noch einige mehr – aber die können wirklich nicht schreiben.“

Balian, Barisans Sohn, schlug seinem Neffen kräftig auf die Schulter.

„Godfrey wäre stolz auf dich. Ich glaube, er weiß nicht, was für ein Schmuckstück von Sohn er eigentlich hat. Ich hätte gern so einen Sohn wie dich.“

„Du hast zwei, Onkel. Und sie wachsen in deinem Hause auf. Ich glaube nicht, dass sie nicht in deine Richtung schlagen. Schließlich erziehst du sie selbst“, erwiderte Godfreys Sohn.

„Ich kann dir nur empfehlen, dass du deine Söhne auch selbst erziehst. Nur dann kannst du dir sicher sein, dass sie deine guten Sichtweisen übernehmen, mein Junge. Lass sie ja nicht aus dem Haus! Lass nicht zu, dass dir das gleiche wie Maria und mir mit Isabella passiert! Ich bereue immer noch, dass ich mich nicht dagegen gewehrt habe, sie allein nach Jerusalem zu lassen. Ich hätte wissen müssen, dass Agnes sie nicht wieder zurücklassen würde. Und ich bleibe dabei: So einen Sohn wie dich hätte ich gern. Auch als Vorbild für meine, die noch ein bisschen unfertig sind.“

Der junge Balian sah aus dem Fenster und bemerkte die Kinder in dem Orangenhain, der direkt an das Gutshaus grenzte. Jean, der älteste Sohn seines Onkels, hatte Martin auf den Schultern und hob ihn zu einem Zweig, der prall voll mit reifen Früchten war.

„Bist du sicher, dass sie unfertig sind, Onkel?“, fragte er grinsend und wies den älteren Balian auf die jungen Erntehelfer hin. Martin pflückte eine Apfelsine nach der anderen und reichte sie über Jean nach unten – erst zu den Mädchen, dann auch zu den anderen Jungen. Der ältere lächelte.

„Nun ja, Maria und ich geben uns schon viel Mühe, unsere Kinder zu anständigen Menschen zu erziehen. Zu guten Rittern und edlen Damen, die Intrigen meiden“, schmunzelte er. Dann folgte ein tiefes Seufzen.

„Wie viel Unheil hätte verhindert werden können, wenn mein Bruder Balduin Gaëlle geheiratet hätte! Dieser Schwachkopf Guy wäre gar nicht erst in die Nähe der Macht gekommen!“, entfuhr es ihm. Er sah seinen Neffen an.

„Nur – mit dir konnte sie einen noch besseren Tausch machen. Du passt sehr viel besser zu ihr. Du hast sie aus dem Intrigennetz herausgeholt, das der Jerusalemer Hof seit je her gewesen ist. Vielleicht ist es so doch besser. Balduin war eindeutig zu alt für sie. Sie war gerade mal fünfzehn, als ihr Sohn Balduin geboren wurde. Balduin war über fünfzig! Was für ein Irrsinn! Noch ein Rat, mein Junge: Suche deinen Kindern ihre Ehepartner nicht aus und zwinge sie niemals, jemanden zu heiraten, zu dem sie keine Liebe empfinden können!“

Godfreys Sohn bekam ein ebenso breites wie schönes Lächeln.

„Wem sagst du das? Gaëlle und ich haben aus Liebe geheiratet. Nein, das werden wir nicht tun. Gaëlle weiß aus eigener Erfahrung, wie schrecklich es ist, einen Mann ausgesucht zu bekommen, und ich kenne keine andere Ehe als die aus Liebe. Auch meine erste Frau Natalie habe ich aus Liebe geheiratet.“

Barisans Sohn sah seinen Neffen eine Weile an.

„Du bist wirklich anders als die anderen. Du bist deines Vaters Sohn. Und doch bist du auch anders als dein Vater. Dein Vater war ein tapferer Ritter, König Balduins Lehrer, ein bedeutender Edelmann dieses Königreichs – aber er war ein Mann, der sich aus Prunk nichts machte. Er hat Prunk geradezu gehasst. Ich kenne diese Tunika, mein Junge. Schon dein Vater hat sie mit diesem Seidengürtel getragen, sein erklärtes Lieblingsstück. Diese Stickerei am Kragen hat meine Maria ihm gemacht, damit er überhaupt mal etwas trägt, was ein wenig nach Adel aussah. Nachdem die Stickerei dran war, hat er sie nie wieder getragen. Auch diese Kurzarmtunika aus dem dunkelblauen Efeurankenstoff, den mein Bruder Balduin aus Damaskus mitbrachte, hat Maria für ihn anfertigen lassen. Es war ein Geschenk zu seinem letzten Geburtstag 1183. Denk nicht, dass er sie jemals angehabt hat! Das einzige Schmuckstück, das ich je an ihm gesehen habe, war dieser Siegelring. Du trägst diese schönen Tuniken, als wären sie dir angeboren. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der in diese edle Kleidung so hineinpasst wie du – und das nicht mal nötig hat. Weißt du eigentlich, dass dir der Adel selbst dann aus dem Gesicht leuchtet, wenn du dein schmutzigstes Arbeitshemd trägst und gerade aus der tiefsten Grube gekrochen kommst?“

„Hat Gaëlle dir das erzählt?“, fragte der Jüngere mit amüsiertem Lächeln. Der Ältere musste ebenfalls lächeln, so ansteckend war das Lächeln des jungen Balian.

„Gaëlle hat zu Maria und mir ein ähnlich vertrautes Verhältnis wie ihre kleine Schwester. Sie hat uns von ihrem Besuch bei dir in Ibelin erzählt – nicht nur von deinen Qualitäten als Liebhaber, sondern auch von einem unglaublich fleißigen und arbeitsamen Mann, der eigentlich alles kann. Am liebsten hätte sie dich auf deiner Terrasse gleich in die Badewanne gesteckt. Sie war mehr als nur überrascht, wie sauber du dich gewaschen hattest, als du dann zum Abendessen gekommen bist.“

„Wer könnte einem solchen Prinzen denn auch widerstehen, Liebster?“, hörten Onkel und Neffe Marias Stimme. Sie drehten sich um. Gaëlle und Maria waren hinter ihnen eingetreten. Balian, Barisans Sohn, zog seine geliebte Ehefrau zu sich.

„Merk dir eins, mein Junge: Ibelins heiraten immer aus Liebe. Bei Maria und mir war es ebenso wie bei euch beiden Liebe auf den ersten Blick. Es hat mich ebenso wie dich nicht interessiert, dass Maria einmal meine Königin gewesen war. Aber sie ist meine Königin geblieben – auch ohne Krone.“

Godfreys Sohn nahm Gaëlles Hand und zog sie ebenfalls nahe zu sich.

„Onkel … bist du sicher, dass ich nicht dein Sohn bin?“, fragte er mit einem verliebten Blick auf Gaëlle. „Wir scheinen uns sehr zu gleichen. Du hast eine ehemalige Königin geheiratet und ich auch. Meine allerliebste Gaëlle will mir oftmals nicht glauben, dass sie für mich ewig meine Königin bleiben wird, auch wenn ich von ihr verlangt habe, auf Jerusalems Krone zu verzichten.“

„Soll ich dir sagen, woran das liegt, Balian? Wir Ibelins haben es eher mit Apfelsinen als mit Äpfeln. Apfelsinen sind süß und aromatisch – so wie unsere geliebten Frauen. Äpfel kennen wir nur als Reichsäpfel – und die liegen uns einfach nur schwer im Magen.“

 

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Kapitel 9

Familienangelegenheiten

 

Im Lauf des Tages trafen die übrigen Gäste ein, die Balian, Godfreys Sohn, zu seinem Geburtstag geladen hatte. Es war ein fröhliches Fest, mochte es auch etwas kleiner ausgefallen sein, als der Gastgeber geplant hatte. Dafür waren aber Menschen anwesend, die er selbst schätzte und die auch ihn liebten.

Als gegen Mitternacht die letzten aufbrachen, waren es Balian, Barisans Sohn und seine Familie. Jean, der älteste Sohn, machte einen missmutigen Eindruck.

„Jean, mach‘ nicht so ein Gesicht!“, wies sein Vater ihn an. „Es ist nicht das Paradies auf Erden, ich weiß aber …“

„Was ist denn, Jean?“, fragte Gaëlle.

„Ach, das Loch in Tyrus ist wirklich unerträglich, Tante Gaëlle“, beschwerte sich der Junge.

„Meinst du das kleine Haus, dass dein Vater bewohnt, wenn er zur Haute Court nach Tyrus kommt?“, erkundigte sich Godfreys Sohn mit einem Schmunzeln. Er hatte selbst einige Tage dort verbracht, als er nach seiner Rückkehr aus Bethlehem vergeblich versucht hatte, mit Königin Isabella zu sprechen.

„Ja, seit wir Nablus und Samaria verloren haben, wohnt Vater dort, wenn er in Tyrus ist. Bislang haben wir alle im Haus des Bischofs von Beauvais in Akkon gewohnt, weil er wieder in Beauvais war. Aber jetzt ist er zurückgekehrt und wir konnten dort nicht länger bleiben. Deshalb wohnen wir jetzt alle in Vaters Ratshaus in Tyrus“, erklärte er.

„Zu sechst?“, fragte Gaëlle entsetzt.

„Ja, und mit einem Dutzend Bediensteten“, bestätigte Maria. Balian und Gaëlle sahen sich verblüfft an. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, mit achtzehn Personen in drei eher kleinen Räumen zu wohnen.

„Das ist ein Scherz, oder?“, fragte Godfreys Sohn. Barisans Sohn schüttelte den Kopf.

„Nein, das ist kein Scherz.“

„Ihr bleibt einstweilen hier“, entschied Godfreys Sohn. „Hier ist wahrhaft genug Platz für uns alle. Und morgen reden wir darüber, wie ihr wieder ein anständiges Dach über dem Kopf bekommt.“

„Das können wir nicht annehmen, Junge!“, wehrte der Ältere ab.

„Keine Widerrede, Onkel! Ich kann nicht zulassen, dass ihr euch wie die Sardinen im Netz zusammenquetscht und wir hier nicht wissen, wohin wir noch ein paar Möbel stellen sollen, damit die Räume nicht so leer sind!“, versetzte der Jüngere.

„Du bist deines Vaters Sohn!“, stellte der Ältere fest. „Nur einer wie er wäre jemals auf die Idee gekommen, Verwandtschaft im eigenen Haus aufzunehmen. Normalerweise klammert sich jeder hier an sein Lehen und gibt davon nichts her.“

„Was ich bekommen habe, Onkel, ist geliehen – vom König oder von Gott. Das war schon so, als ich noch der Dorfschmied in Saint-Martin-au-Bois war und keine Ahnung hatte, dass mein Vater ein Baron Jerusalems war. Als meine erste Frau sich das Leben nahm und mein Bruder mich dazu bringen wollte, nach Jerusalem zu gehen, habe ich mich noch dagegen gewehrt, mein Land herzugeben. Damals lag es eher daran, dass ich nicht gewusst habe, was daraus wird. Mein Bruder war Priester, weder Bauer noch Handwerker. Er hätte es verkaufen müssen, weil er es selbst gar nicht bewirtschaften konnte. Von dem Geld hätte er als Priester nicht einmal etwas gehabt, weil er nun einmal Besitzlosigkeit gelobt hatte. Auf Umwegen wäre es entweder an die Kirche gefallen oder an meinen Onkel Hugo. Hier ist mir so viel Land gegeben worden, dass ich es allein schon nicht mehr bewirtschaften kann. Wenn ich irgendwann gehe, hoffe ich, dass Jean-Raymond oder Balian es bekommt, aber es ist nicht mein Eigentum.“

„Du denkst daran, das Heilige Land zu verlassen, Balian?“, fragte Barisans Sohn verblüfft.

„Eigentlich hatte ich im Moment eher von einem Erbe gesprochen, das einem meiner Söhne nach meinem Tod zufallen sollte. Aber es wäre auch nicht falsch gedacht, das Heilige Land zu verlassen. Ich bin geblieben, weil Saladin mich als Garanten für den beschworenen Waffenstillstand haben wollte und weil Henri mich als Verhandlungsbevollmächtigten mit arabischen Sprachkenntnissen wünschte. Aber nach dem letzten Gespräch mit Henri sehe ich mich hier nicht mehr als willkommen an – weder bei den Christen noch bei den Muslimen.“

„Das bildest du dir ein, Junge“, widersprach Barisans Sohn.

„Nein, Liebster, unser junger Neffe hat den christlichen Adel hier gut durchschaut. Denk daran, wie man dich zum Narren gehalten hat, als du von unseren hochgeschätzten Adelsfreunden Land kaufen wolltest, um neu zu bauen, nachdem Henri nicht willens war, dir ein anderes Lehen zu geben“, warf Maria ein. Barisans Sohn sah sie eine Weile an.

„Ja, du hast Recht, Maria“, bestätigte er mit einem melancholischen Lächeln. „Vielleicht haben wir Ibelins den Fehler, zu lange zu loyal zu sein. Aber ich würde lieber in der Hölle braten, als dem König die Loyalität aufzukündigen.“

Balian zuckte mit den Schultern.

„In diesem Fall, Onkel, haben nicht du oder ich die Treue aufgekündigt, der König hat sie uns aufgekündigt“, sagte er. „Verstehst du, weshalb ich mit dem Gedanken spiele, nach Frankreich zurückzukehren?“

Balian, Barisans Sohn, nickte und umarmte seinen Neffen.

„Ja. Und wir nehmen dein Angebot an, Junge.“

 

Ein Monat verging, ohne dass es größere Ereignisse gegeben hatte – weder in Saladins Reich noch im christlich beherrschten Anteil Palästinas.

Mitte Februar hatte Balian, Godfreys Sohn, endlich Gelegenheit, mit Königin Isabella zu sprechen, um die gegen ihn gerichteten Vorwürfe aus der Welt zu schaffen. Er hatte sich seine Geburtstagsfeier nicht mit Streitigkeiten verderben wollen.

„Euer Besuch ist eine Freude, liebster Schwager“, empfing ihn die Königin und umarmte ihn. Balian erwiderte die Umarmung vorsichtig, um sich nicht in noch größere Schwierigkeiten zu manövrieren, als er durch die Bestechungsvorwürfe ohnehin schon hatte.

„Danke, meine Königin. Doch ich befürchte, Eure Freude zu trüben.“

„Wieso?“

„Ich bin gekommen, um zu erfahren, weshalb mir Bestechlichkeit vorgeworfen wird, obwohl ich die Reise nach Bethlehem mit dem Einverständnis Eures Gemahls unternommen habe.“

„Ich habe diesen Vorwurf nie erhoben, Balian. Weshalb kommt Ihr damit zu mir?“

„Weil ich mir erhoffe, dass Ihr Euren Gemahl davon überzeugen könnt, dass ich es nicht bin.“

Isabella lächelte.

„Ihr nehmt den Rittereid offenbar ernst, Graf Balian“, sagte sie.

„Das tue ich“, erwiderte er. „Und deshalb will ich diesen ungerechten Vorwurf ausgeräumt haben. Wann immer ich im Namen Eures Gemahls oder seines Vorgängers verhandelt habe, habe ich niemals etwas für mich selbst gefordert oder angenommen.“

„Sagt mir, was geschehen ist“, bat die junge Königin. Balian berichtete ihr wahrheitsgemäß über die Einladung, die keinen Hinweis auf eine persönliche Gunst enthalten hatte und die in Bethlehem erfolgte überraschende Eröffnung der einmaligen Umwidmung der Geburtskirche. Er verschwieg keineswegs, dass die Familie auch ohne die Einladung die Gelegenheit genutzt hätte, die Geburtskirche zu besuchen. Sie schwieg einige Zeit und dachte über das nach, was ihr der grundehrliche Balian gerade gesagt hatte.

„Eure Wahrheitsliebe, die auch nicht davor zurückschreckt, Euch selbst schutzlos dastehen zu lassen, ist eine Einmaligkeit unter Jerusalems Rittern, Mylord“, sagte sie schließlich. „Balian, Ihr habt Feinde. Jeder von ihnen wird es gnadenlos ausnutzen, dass Ihr niemals verschweigen werdet, einen Moslem als Freund zu haben und diese Freundschaft im Interesse des Friedens zu pflegen.“

„Mylady, es war Eurem Gemahl bekannt, dass ich mit Imad gut befreundet bin“, gab der Graf zu bedenken.

„Das ist es, liebster Schwager. Doch ich sage Euch: Was immer Euch an reiner Freundschaft entgegengebracht wird – besonders von muslimischer Seite – werden Eure Feinde immer wieder gegen Euch verwenden. Sie werden nicht nachlassen, Euch anzuschwärzen, Euch nachzusagen, dass es Feigheit sei, die Euch zum Freund eines Sarazenen macht. Sie haben kein Interesse am Frieden. Das wisst Ihr so gut wie ich. Die Templer wollen nach wie vor die Sarazenen gewaltsam aus Jerusalem vertreiben. Inzwischen sind sogar die Johanniter nicht mehr an einem friedlichen Zusammenleben mit den Sarazenen interessiert. Auch ihr Großmeister fordert eine gewaltsame Befreiung Jerusalems. Dass wir das nicht können, ist ihnen völlig gleich.“

„Kurz: Ich stehe ihnen allen mit meinem Friedenswillen im Weg“, fasste Balian ernüchtert zusammen. Er verbeugte sich vor seiner Königin.

„Ich danke Euch für die ebenso ehrliche Aufklärung, meine Königin. Nun weiß ich, woran ich bin.“

Er drehte sich um und wollte gehen, aber Isabella hielt ihn zurück. Sie ahnte, was er vorhatte.

„Nein, geht nicht! Verlasst nicht das Heilige Land!“

„Was soll ich noch hier? Ich bin nicht hergekommen, um zu bleiben. Eure Schwester und unser Sohn waren krank. Nur deshalb bin ich mit Saladins Einverständnis hergekommen. Geblieben bin ich bisher nur, weil der Sultan dies ausdrücklich wünschte und Euer Gemahl und sein Vorgänger mein Ansehen bei Saladin als nützliche Eigenschaft ihres Verhandlungsführers ansahen. Wenn Jerusalem gewaltsam zurückerobert werden soll, bin ich wohl überflüssig, meine Königin, denn ich werde mich daran nicht beteiligen.“

„Balian, Gaëlle ist wie ich in Jerusalem geboren. Wie wollt Ihr sie nach Frankreich bringen, wenn sie sich weigert?“

„Das weiß ich noch nicht. Aber das heißt nicht, dass ich es nicht versuchen werde“, versetzte Balian. „Verzeiht, dass ich Euch kostbare Zeit gestohlen habe.“

„Nein, nein! Ihr bleibt noch! Hört mir erst zu“, stoppte sie erneut seinen Versuch, den Raum zu verlassen.

„Meine Königin?“

„Balian, wenn Ihr wirklich keine andere Möglichkeit seht, als das Heilige Land zu verlassen, dann geht um Himmels Willen nicht in Unfrieden mit Henri!“, warnte sie. „Henri ist mit Eurem Lehnsherrn Louis de Blois eng verwandt.“

„Ist das eine Drohung?“, fragte Balian. Seine sonst so sanften braunen Augen verdunkelten sich.

„Nein, es ist eine Warnung von einer Frau, die Euch sehr gern hat“, erwiderte Isabella. „Balian, ich liebe meine Schwester, ich liebe meine Mutter und meinen Ziehvater. Ich bin viel mehr eine Ibelin als dass ich eine Anjou bin, denn ich bin im Hause Ibelin aufgewachsen, erzogen von einem Stiefvater, der mir ein unendlich liebevoller Vater war – so ein Vater, wie Ihr es Euren Söhnen seid. Es käme mir nicht in den Sinn, meinen Schwager, meinen Bruder im Gesetz, den ich wie einen leiblichen Bruder liebe, zu bedrohen. Ihr seid mein Schwager, durch meinen Stiefvater mein Cousin – die Anzahl der Ecken, um die herum wir tatsächlich verwandt sind, interessieren mich nicht. Ich betrachte mich als Eure Cousine, als Tochter Eures Onkels, denn Euer Vater und mein Stiefvater waren von ihren Ansichten her eher Brüder als Euer Vater und dessen tatsächlicher Bruder. Ich sorge mich um Euch, um meine Schwester und um meine Neffen, auch um Euren Neffen. Ihr seid in Gefahr, Balian.“

Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen.

„Ich glaube, das war ich, seit unser Dorf von Feinden meines Onkels überfallen wurde und ich den Häschern nur knapp entkommen bin. Seither habe ich keine Ruhe mehr gefunden“, sagte er.

„Ich meine mich zu erinnern, Ihr hättet mir erst vor kaum zwei Wochen gesagt, wie wunderbar ruhig Eure Zeit in Ibelin war“, erinnerte Isabella an ein Gespräch während seiner Geburtstagsfeier.

„Habe ich dabei auch erwähnt, wie lange ich dort war?“, fragte er. Die Königin schüttelte den Kopf.

„Es war nicht einmal ein halbes Jahr, meine Königin. Ein halbes Jahr in nunmehr fünfzehn Jahren, seit Saint-Martin-au-Bois während der Fehde meines Onkels mit seinem Feind überfallen und geplündert wurde. Ehrlicherweise muss ich die zwei Jahre hinzurechnen, in denen ich mein französisches Lehen entwickeln durfte. Vermutlich habe ich auch deshalb wieder Sehnsucht danach. Dort plagt mich niemand mit der Vorstellung, ich solle über einen Waffenstillstand verhandeln, während alle anderen Lehensleute desselben Königs danach trachten, ihre Truppen zu sammeln, um den Krieg fortzuführen.“

„Ihr wisst es, nicht wahr?“

„Ich habe eine kluge Gemahlin, die mit … nein, ich spreche es nicht aus. Ich will es mir nicht endgültig verderben.“

„Sprich immer die Wahrheit, selbst wenn es deinen Tod bedeutet!“, mahnte eine männliche Stimme von der Tür. Balian drehte sich um und verneigte sich leicht vor König Henri.

„Der Eid des Ritters verlangt allerdings nicht, den Tod bewusst herbeizureden, mein König“, erwiderte Balian.

„Indem Ihr was tut?“, fragte Henri und trat näher.

„Mein Vater lehrte mich, die Wahrheit zu sprechen, das ist richtig. Es gibt zwei Arten von Wahrheiten, mein König: Die, die eigene Verfehlungen nicht verschweigt und die, die andere beleidigt, indem man ihnen unangenehme Gedanken auf den Kopf zusagt, die nicht einmal zutreffend sein mögen. Ich bevorzuge die erstere Variante, während andere die letztere wählen“, erklärte Balian. Henri nickte.

„Eure Ehrlichkeit ehrt Euch, aber sie bringt Euch eines Tages ins Grab.“

„Meint Ihr, weil mich andere als bestechlich verleumden, weil ich eine Euch bekannte Einladung eines guten Freundes muslimischen Glaubens annehme? Weil ich versuche, einen Waffenstillstand zu erhalten, den außer mir vermutlich keiner will?“

„Wer behauptet so etwas?“, entfuhr es Henri.

„Meine Ehrlichkeit zu meinen eigenen Verfehlungen mag mich naiv erscheinen lassen, vielleicht auch mein hartnäckiges Beharren auf die Erfüllung des ganzen Rittereides und nicht nur von genehmen Teilen davon. Aber ich habe zwischen meinen Ohren auch ein denkendes Gehirn, Mylord. Inzwischen ist mir klar geworden, dass beide Seiten diesen Waffenstillstand nur dazu nutzen, ihre Truppen zu verstärken, um loszuschlagen, sofern sie sich stark genug fühlen.“

„Wie war das? Ihr zieht es vor, die Wahrheit zu Euren eigenen Verfehlungen zu sagen, statt harte Gedanken von Euch zu geben, die unzutreffend sein können?“, versetzte Henri spöttisch.

„Dass ich das eine vorziehe, bedeutet nicht, dass ich das andere für alle Zeit ausschließe, Mylord. Meine Gemahlin ist mein Zeuge dafür, dass ich derartige Gedanken sogar ihr an den Kopf geworfen habe. Es mag sein, dass ich mich bei ihr geirrt habe; aber es kann auch sein, dass meine Worte Mahnung genug waren, dass sie den Frieden ihres Bruders erhalten wollte.“

Henri nickte.

„Dann werde ich Euch auch eine ritterliche Wahrheit sagen: Ja, wir sammeln Truppen. Aber nicht, um Eure Bemühungen zu hintergehen, sondern weil ich dem möglichen Nachfolger Saladins nicht traue. Euer Bericht über die Verhandlungen lässt al-Efdal nicht im glaubwürdigsten Licht erscheinen“, erwiderte der König.

„Mein König, weshalb haltet Ihr mich für bestechlich?“, fragte Balian direkt.

„Eure Reise nach Bethlehem war mir bekannt, das stimmt. Aber dass die Geburtskirche ganz speziell für Euch, Eure Familie und Gefolgsleute für diesen einen Tag wieder in eine christliche Kirche verwandelt wurde, schien mir deutlich.“

„Wer hat Euch darüber unterrichtet, mein König?“

„Weshalb sollte ich die Quellen meiner Information preisgeben?“

„Weil ich Euch meine noch nie verschwiegen habe.“

„Ein König ist seinem Lehnsmann keine Rechenschaft schuldig, Graf Balian!“

„Ihr erwartet, dass ich Euch stets die Wahrheit sage. Das tue ich, Mylord. Doch ich erwarte von denen, die diese Ehrlichkeit von mir verlangen, dieselbe Ehrlichkeit mir gegenüber. Auch Ihr seid ein Ritter, Mylord.“

„Sir Randolph Cunningham“, antwortete Isabella für ihren eisern schweigenden Ehegatten. Balian nickte.

„Sir Randolph ist Tempelritter. Er gehörte zu einer Gruppe Templer, die uns auf dem Weg nach Bethlehem begegneten. Da sie sich als in Eurem Auftrag unterwegs bezeichneten, habe ich ihnen wahrheitsgemäß Auskunft gegeben, dass wir auf dem Weg nach Bethlehem waren. Die Templer sind in Richtung Akkon fortgeritten. Dass einer von ihnen uns gefolgt wäre, um uns nachzuspionieren, ist unwahrscheinlich, denn wir haben Bethlehem noch am ersten Weihnachtstag verlassen und sind auf dem schnellsten Weg nach Akkon zurückgekehrt. Wir hätten die Spuren finden müssen, denn die Nacht war windstill und trocken. Das haben wir aber nicht. Wenn Sir Randolph Euch dies gesagt hat, hat er zwar klug spekuliert, dennoch war es purer Zufall, dass er zutreffend spekuliert hat. Er wollte mich verleumden, doch konnte ihm dies nur gelingen, weil ich Euch über diesen Besuch weder etwas vorenthalten wollte noch lügen wollte. Ich bedaure nur, dass meine Ehrlichkeit dazu missbraucht wurde, mir Bestechlichkeit zu unterstellen. Ich bin nicht bestechlich, mein König. Ich bin ein treuer Diener des Königs von Jerusalem.“

„Aber Euer Freund wird doch gewiss einen Grund gehabt haben, Euch so reich zu beschenken …“, mutmaßte Henri. Balian lächelte schief.

„Ja, den hatte er. Er wollte mich in der Tat bestechen, nur hätte er es gar nicht nötig gehabt, auch nur den Versuch zu unternehmen. Was er von mir wollte, hätte ich Euch auch ohne diesen Bestechungsversuch als Bitte unterbreitet.“

„Und das wäre gewesen?“

„Saladin ist schwer erkrankt. Er wollte nach Alexandria reisen, um sich dort behandeln zu lassen. Dazu wollte Imad eine sichere Passage über christliches Gebiet, weil er Rache der Familie al-Faes wegen einer lange zurückliegenden Entscheidung des Sultans befürchtete. Ihr habt zweifellos Recht, dass al-Efdal eine ernsthafte Gefahr für uns darstellen wird, wenn er die Nachfolge seines Vaters antritt. Genau deshalb hätte ich Euch diese Bitte unterbreitet und dafür geworben, denn Saladin ist lebend ein besserer Garant für einen langanhaltenden Waffenstillstand als sein heißblütiger Sohn.“

„Und … was habt Ihr Eurem Freund geantwortet?“

„Dass seine Bitte von Euch abgelehnt wurde. Er hat mir inzwischen mitgeteilt, dass Saladin von seiner Idee nicht sehr angetan war und er auf einem anderen Weg gereist ist.“

„Also war der ganze Aufwand Eures Freundes umsonst?“

„So ist es.“  

Henri lief schon eine Weile auf und ab. Nun blieb er stehen.

„Ich … bitte Euch um Verzeihung für meine Vorwürfe, Graf Balian. Sie waren nicht gerechtfertigt.“

„Sie ist gewährt, Mylord“, erwiderte Balian sanft.

„Was habt Ihr weiter vor?“

„Ich sehe ein, dass ich hier nicht mehr gebraucht werde. Ich bete, dass Saladin noch lebt. Sollte er sterben und al-Efdal ihn beerben, wird es Krieg geben, das ist unvermeidbar. Ich werde nach Frankreich zurückkehren.“

„Und Eure hiesigen Lehen?“, fragte Henri.

„Ich bitte Euch, diese meinem Onkel Balian zu übertragen. Er hat wie ich alle Besitzungen verloren, weil diese im Sarazenengebiet liegen. Er war König Balduin ein treuer Diener, er ist es auch Euch.“

„Nein, Balian, ich werde Euch nicht aus dem Lehnseid entlassen. Ich erwarte weiter Euren Rat. Für den Fall, dass al-Efdal Saladin beerbt, seid Ihr einer der wenigen verbliebenen erfahrenen Heerführer. Ihr habt Jerusalem verteidigt. Ihr kennt Euch mit den Sarazenen aus. Ihr seid verlässlich. Jerusalem braucht Euch.“

Balian verbeugte sich leicht.

„Wie mein König wünscht“, bestätigte er.

 

 

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Kapitel 10

Lauscher an der Wand

 

Das Gespräch zwischen dem Königspaar und Balian wurde von aufmerksamen Ohren verfolgt. Sir Randolph, Tempelritter und Guy de Lusignan nahe stehend, ging im königlichen Palast ohne Schwierigkeiten ein und aus – bisher jedenfalls. Randolph war Guys bester Informant aus dem Königshaus. Was er jetzt gehört hatte, musste er Guy rasch mitteilen, damit der eine Entscheidung treffen konnte. Randolph verließ eilig den Palast.

„So, so … der Bastard weiß also, dass er nur der nützliche Idiot ist, der die Sarazenen lange genug ruhig hält, damit wir sie vernichten können“, grinste de Lusignan, als Sir Randolph ihm berichtet hatte. Als König von Zypern hatte er den Rock der Templer mit seinem persönlichen Wappen getauscht, das von weiß und blau zehnfach geteilt war, die Teilungen von einem roten, auf den Hintertatzen erhobenen, rechts gewandten Löwen überlagert. Wie schon zu der Zeit, als er König von Jerusalem gewesen war, trug er das Wappen als golden umrandetes Brustwappen seines Waffenrocks, der himmelblau war wie der Waffenrock Jerusalems.

„Und er möchte eigentlich nach Frankreich zurückkehren, Mylord“, ergänzte Randolph. „Er hat den König gebeten, seine hiesigen Lehen auf seinen Onkel Balian zu übertragen. Der König will das jedoch nicht.“

„Wir sollten etwas nachhelfen – auf beiden Seiten. Wenn Saladin tot ist, wird al-Efdal keinen Moment mehr zögern, loszuschlagen. Je eher der Sultan in der Hölle schmort, desto eher haben wir den Krieg, den wir wollen“, bemerkte Großmeister de Sablé. „Eure Intrige hat nicht gezogen. Versuchen wir es auf meine Weise“, insistierte er. Guy zögerte eine Weile.

„Wie lange braucht Ihr, um die Assassinen loszulassen?“, fragte er schließlich.

„Einige Tage schon. Der Bote muss erst einmal die Burg Masyaf in Syrien erreichen. Das ist ein Problem für sich.“

„Dann löst dieses Problem umgehend, Mylord“, versetzte Guy eisig.

„Es wird geschehen, Majestät“, versprach der Templergroßmeister mit einer leichten Verbeugung.

 

Balian unternahm nach seiner Rückkehr aus Akkon einen neuen Versuch, wegen des Gefangenenaustausches einen Verhandlungstermin zu erhalten und schrieb einen Brief an Imad, mit dem er seinen Boten nach Gadara zu dessen Anwesen schickte. Es waren etwa fünfundvierzig Meilen bis dorthin. Der Bote konnte in dem verlassenen Johanniterkloster von Tabor Station machen, das hatte Balian mit Imad vereinbart. Zum Nachweis dessen, dass ein Bote in Balians Auftrag unterwegs war und unter dem Schutz des Sultans stand, hatte Imad seinem Freund ein Siegel Saladins übergeben, das die Boten mit sich führen sollten. Alle sarazenischen Posten und Karawansereien in den nach dem Fall Jerusalems für den Islam zurückeroberten Gebieten des Heiligen Landes waren angewiesen, Boten mit einem solchen Siegel zu bewirten und ihnen Unterkunft zu gewähren. Balian sandte dennoch nur Leute zu Imad, die Araber und Muslime waren. Nach wie vor setzten sich seine Untertanen aus Christen, Juden und Muslimen zusammen. Das königliche Siegel garantierte den in einfacher Kleidung reisenden Boten eine sehr zuvorkommende Behandlung im Machtbereich Saladins.

In Gadara wurde Hamit, Balians Bote, von Asim Edin al-Bakr, Imads treuem Gefolgsmann, freundlich empfangen.

As-Salam ‘alaykum, mein Freund. Wer seid Ihr?“

U-’alaykum as-Salam, edler Asim. Mein Name ist Hamit, ich komme im Auftrag meines Herrn Balian von Ibelin und habe eine Botschaft für Herrn Imad.“

„Mein Herr ist bei unserem geliebten Sultan in Alexandria, Hamit. Ich habe heute gerade einen Boten zu ihm gesandt. Er ist vor kaum sechs Stunden fortgeritten.“

„Dann bitte ich um die Erlaubnis, Eurem Boten folgen zu dürfen, um ihm meine Botschaft mitzugeben.“

„Harun!“, rief Asim.

„Herr?“, verbeugte sich der auf den Ruf erscheinende Diener.

„Sattle mein Pferd. Ich folge Halef mit Hamit. Beeile dich!“

„Sofort, Herr!“

 

Wenig später verließen Asim und Hamit gemeinsam Imads Haus und ritten eilig auf dem Weg, den Asims Bote nach Alexandria nehmen sollte. Am Abend erreichten sie Beisan, eines der ehemaligen Ibelin-Lehen, die Imad übertragen worden waren. Zu Hamits und Asims großer Überraschung fanden sie dort nicht nur den von Asim ausgesandten Boten, sondern auch Imad selbst – und Saladin. Durch seine Vertrauten in Damaskus war er unterrichtet, dass sein Sohn al-Efdal nicht so agierte, wie Saladin es wünschte. Trotz seines immer noch durch das Gift angeschlagenen Gesundheitszustandes hatte er entschieden, nach Damaskus zurückzukehren.

Sowohl Asim als auch Hamit warfen sich unaufgefordert zu Boden, als sie den Sultan erkannten.

„Erhebt Euch“, winkte Saladin die Männer wieder hoch. Seine Stimme klang matt und brüchig. Er sah richtig krank aus, erkannte Hamit.

„Mein Gebieter, dies ist Hamit, der im Auftrag des Grafen von Ibelin eine Botschaft für Euch hat“, stellte Asim Balians Boten vor. Saladin rang sich ein schwaches Lächeln ab.

„So gib mir die Botschaft deines Herrn“, sagte der Sultan zu dem ehrfürchtig vor ihm verharrenden Hamit. Zögernd stand er auf und übergab Saladin das gesiegelte Schreiben. Er sah darauf und las, dass Imad der Adressat war.

„Das ist für dich, Imad“, sagte er und reichte die Schriftrolle an seinen General weiter, der das Siegel auch gleich aufbrach.

„Balian schreibt zwar an mich, aber die Bitte ist an Euch gerichtet, mein Gebieter. Er möchte mit Euch wegen der Gefangenen sprechen und ersucht um ein Treffen“, erklärte Imad.

„Hamit, kehre heim zu deinem Herrn und übermittle ihm meine Grüße. Sag ihm, dass ich im Moment nicht in der Lage bin, zu verhandeln, so gerne ich ihn noch einmal sehen möchte. Ich bin auf dem Weg nach Damaskus. Sofern ich genesen bin, werde ich ihm Nachricht zukommen lassen, wann wir uns treffen können. Wenn Allah mich noch lässt …“

„Ich werde es meinem Herrn bestellen, großer Saladin“, erwiderte Hamit und verbeugte sich tief.

„Dann reise rasch heim zu deinem Herrn“, lächelte Saladin. „Ich werde morgen nach Damaskus weiterreisen.“

 

Unbemerkt von Saladin und seinen Getreuen löste sich ein Schatten von dem Herrenhaus, das einmal zu den reichen Besitzungen der Familie Ibelin gehört hatte, und stieg auf ein gesatteltes Pferd, verließ leise das Gut und gab erst einige hundert Klafter* außerhalb des Gutsbereiches dem Pferd die Sporen. Er galoppierte eilig nach Norden in Richtung Damaskus.

 

In derselben Nacht pirschte ein in arabischer Kleidung steckender Tempelritter vorsichtig um den Berg, auf dem die Burg Masyaf gebaut war, die den zentralen Sitz der Assassinen-Sekte beherbergte. Er war dennoch nicht vorsichtig genug, wie er zu seinem Entsetzen feststellen musste, als sich aus dem Nichts gefühlte zehn Männer auf ihn warfen. In wenigen Augenblicken war er stramm gefesselt, bekam eine Kapuze über den Kopf gezogen und wurde ohne viel Nachsicht in die Festung geschleppt.

Die Posten warfen den Gefangenen grob auf den Boden und rissen ihm die Kapuze vom Kopf. Er fand sich in einem Saal wieder, der von einem kostbar geschmückten Thron beherrscht wurde. Auf dem Thron saß ein Mann mit grauem Bart, der in kostbare Gewänder gehüllt war und einen schwarzen Turban trug – Raschid ad-Din, der geistliche und weltliche Führer der schiitischen Sekte der Assassinen.

„Wer bist du?“, fragte der Mann auf dem Thron.

„Ich bin ein Bote des Königs von Zypern“, erwiderte der Gefangene. Der Mann auf dem Thron runzelte skeptisch die Stirn.

„Du sprichst arabisch mit dem Akzent der Ungläubigen. Aber weshalb verkleidest du dich als Araber? Wir haben mit diesen sunnitischen Ketzern nichts im Sinn!“

„Es erschien mir klüger, nicht als christlicher Ritter hier zu erscheinen, mächtiger Raschid. Meine eigenen Brüder hätten mich daran gehindert, vor dich zu treten“, erwiderte der Bote.

„Wie ist dein Name?“

„Fernando de Samargo; ich bin aus Spanien, mächtiger Raschid.“

„Welche Nachrichten bringst du, Fernando de Samargo?“

„Wir haben einen gemeinsamen Feind, den Grafen von Ibelin. Ihr habt sicher gehört, dass er mit Euren sunnitischen Feinden gut Freund ist und insbesondere zu Imad ad-Din und Salahadin gute Beziehungen pflegt. Wir wollen diese sunnitischen Ungläubigen ebenso beseitigen, wie Ihr es wollt. Balian von Ibelin ist dabei, den Waffenstillstand, den Richard von England mit seiner Hilfe ausgehandelt hat, in einen dauerhaften Frieden umzumünzen. Wenn erst Frieden ist, wird Salahadin genügend Zeit haben, sich auch um Euch zu kümmern. Wegen der guten Beziehungen zu Euch wollen wir diesen Frieden verhindern. Deshalb bittet mein Herr, der König von Zypern, um Eure Hilfe bei der Beseitigung des Grafen von Ibelin“, erklärte Fernando seinen Auftrag.

„Und was bietet er mir dafür?“

„Ihr entrichtet Tribut an uns. Er würde Euch den Tribut für die nächsten drei Jahre erlassen, wenn Ihr mit Euren Leuten dafür sorgt, dass Balian von Ibelin seine Orangenbäume und Melonen von unten wachsen sieht – und wenn Ihr es schafft, diesen Friedensengel Salahadin aus dem Weg zu räumen.“

Raschid schmunzelte.

„Ich habe durchaus ein eigenes Interesse daran, Salahadin tot zu sehen. Dieser sunnitische Ketzer ist eine schreckliche Bedrohung für die wahren Muslime, die Erben des Kalifen Ali. Wir werden Euch helfen“, versprach Raschid. „Wo hält sich der Graf von Ibelin auf?“

„Er ist jetzt meist in seinem neuen Lehen in Caymon“, gab Fernando Auskunft.

„Caymon? Wo soll das sein?“

„Am Fuß des Karmel-Gebirges, etwa zehn Meilen östlich der Siedlung Cafarlet“, gab Fernando Auskunft.

„Ich weiß, wo das ist, Gebieter“, meldete sich einer der Männer zu Wort, die mit einer Wasserpfeife im Mund auf weich gepolsterten Diwanen lagen.

„Mein guter Dschafar, ich danke dir“, lächelte Raschid. „Wir werden uns um diesen ungläubigen Grafen von Ibelin kümmern. Richte deinem Herrn aus, dass er mit der Hilfe Raschid ad-Dins rechnen kann“, versprach der Assassinenführer. Fernando verbeugte sich und verließ Masyaf. Die Männer, die ihn gebracht hatten, verbanden ihm wieder die Augen und setzten ihn dort ab, wo sie ihn aufgegriffen hatten.

Raschid ad-Din sah Dschafar eine Weile an.

„Mein guter Dschafar, wenn du dich auf den Grafen von Ibelin stürzt, kommst du nicht wieder. Ich könnte deine Dienste bei bedeutenderen Feinden besser gebrauchen“, sagte er. Dschafar erhob sich und warf sich dem Sektenführer vor die Füße.

„Mein geliebter Gebieter, es gibt nicht nur den Grafen von Ibelin, es gibt auch einen Baron von Ibelin. Sie heißen beide Balian …“

„Graf ist bei den Ungläubigen ein höherer Titel, Dschafar. Er wird erhoben worden sein“, mutmaßte Raschid.

„Nein, Herr“, kam es vom Fußboden. „Es gibt zwei: Balian, Barisans Sohn, den Baron von Ibelin, und Balian, Godfreys Sohn, den Grafen von Ibelin. Der Graf von Ibelin hat vor gut fünf Jahren Jerusalem zehn Tage lang gegen die Ketzerscharen von Salahadin verteidigen können – ohne Ritter! Er kann uns gefährlich werden, Herr, denn er ist seither mit Salahadin und seinem General Imad sehr gut befreundet. Außerdem ist er jung und gilt als sehr ideenreich. Wenn es wirklich Frieden gibt, sehe ich die Gefahr, dass Salahadin sich der Ideen des Grafen von Ibelin bedient, um uns zu vernichten. Lasst mich diese Gefahr für unsere Gemeinschaft, die Gemeinschaft der wahren Erben Mohammeds, zum Sheitan in die Hölle jagen.“

„Mein guter Dschafar …“, brummte Raschid mit deutlichem Zögern in der Stimme. „Es ist dein Los, Allah als einer seiner Märtyrer zu dienen. Dennoch wollte ich dich nicht so früh in dieses Schicksal senden.“

„Ich habe lange gelernt, mein Gebieter. Zehn Jahre diene ich Euch, zehn Jahre habe ich mich in allen Künsten geübt, unsere Feinde zu bekämpfen. Ihr wisst, dass ich den Tod nicht fürchte. Ich opfere mein Leben für Euch im Namen Allahs, wenn ich den Grafen von Ibelin töte“, bettelte Dschafar. „Er wird mir nicht entkommen!“

„Es sei“, sagte Raschid, stieg von seinem Thron und zog Dschafar an der Hand wieder auf. Er umarmte ihn und küsste ihn rechts und links auf die Wange. „Allah sei mit dir. Er nehme dich auf in den siebenten Himmel, wenn du deine Aufgabe erfüllt hast. Siebzig Jungfrauen harren deiner und werden dich belohnen.“

 

Während Dschafar sich noch einige Männer aussuchte und sich nochmals den harten Übungen unterzog, die die Assassinen für ihre Opfer mehr als nur lebensgefährlich machten, erreichte der Lauscher aus Beisan Damaskus und ließ sich Ali al-Efdal melden. Gehorsam warf er sich vor dem Statthalter des Sultans auf den Boden, als dieser ihn vorließ.

„Mein Gebieter, Euer Vater kehrt zurück!“, keuchte er.

„Was?“, stieß Ali erschrocken hervor.

„Er ist auf dem Weg hierher und muss in Kürze eintreffen. Ich habe ihn in Beisan gesehen und gehört, wo ich auf dem Weg nach Alexandria einkehren wollte.“

„Lebt er etwa noch?“

„Ja, Herr. Aber es geht ihm schlecht. Er kann nicht mehr selbst reiten, sondern wird in einer Sänfte getragen. Er hat einen Boten von Balian ibn Barzin empfangen und will ihn nach Damaskus einladen, wenn er genesen ist, um mit ihm über die Freilassung von Gefangenen zu verhandeln.“  

„So, so … wenn er genesen ist …“, grinste al-Efdal böse. „Dann werde ich dafür sorgen, dass es dazu nicht kommt. Wie lange braucht er noch bis nach Damaskus?“

„Ich bin schnell geritten, Herr. Aber er wird in vier Tagen hier sein – vielleicht in fünf.“     

„Dann werden wir für den großen Salahadin einen würdigen Empfang vorbereiten“, lächelte al-Efdal.

 

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Kapitel 11

Himmelfahrt

 

Saladin erreichte nach christlicher Zeitrechnung am 19. Februar 1193 wieder Damaskus, vier Tage nach dem schamlosen Lauscher. 

Durch einen vorausreitenden Boten war al-Efdal von der nun unmittelbar bevorstehenden Ankunft seines Vaters unterrichtet und hatte alle Truppen zur Begrüßung seines Vaters antreten lassen. Die Bürger von Damaskus erwarteten ihren geliebten Sultan mit Palmwedeln in den Händen und jubelten ihm zu.

Al-Efdal empfing seinen Vater auf den Stufen des Palastes, eilte hinunter, um seinem in der Sänfte sitzenden Sultan die ihm gebührende Ehre zu erweisen.

„Vater, ich bin froh, Euch lebend und gebessert wiederzusehen! Gepriesen sei Allah!“, sagte er. „Ich will ein Willkommensmahl für Euch herrichten lassen.“

„Danke, mein Sohn. Doch ich habe beschlossen, jetzt das Fasten des Ramadan nachzuholen“, erwiderte Saladin müde. Er hatte sich lange überlegt, wie er den Giftmischern in seinem Palast entgehen konnte. Schließlich war es ihm nützlich erschienen, das wegen der Verhandlungen um den Waffenstillstand und den Gefangenenaustausch praktisch ausgefallene Ramadan-Fasten des Vorjahres als Ausrede vorweisen zu können.

„Vater, seid Ihr soweit erholt, dass Ihr das schon könnt?“, fragte al-Efdal verblüfft.

„Ja, ich denke schon. Und nach dem Fastenbrechen will ich lediglich Wasser trinken. Du brauchst dich darum nicht zu bemühen, mein Sohn. Mein guter Imad wird sich darum kümmern“, erwiderte der Sultan.

„Wie Ihr wünscht“, sagte al-Efdal mit einer tiefen Verbeugung, die dieses mal kein triumphierendes Glitzern in seinen Augen verbergen sollte, sondern abgrundtiefe Enttäuschung. Wasser ließ sich mit den bekannten Giften nicht geschmacksneutral versetzen …

Doch schon am folgenden Tag entspannten sich al-Efdals Züge wieder, als sein Vater erneut Fieber bekam. Die Reise war doch strapaziöser gewesen, als Saladin sich selbst hatte eingestehen wollen.

„Ihr müsst etwas essen, mein Gebieter!“, drängte sein Leibarzt Hussein.

„Nein, ich habe keinen Appetit. Nur Wasser, sonst nichts“, erwiderte der Sultan.

Sidi, das ist zu wenig, um Eurem erschöpften Körper Besserung zukommen zu lassen!“, warnte Imad.

„Imad, wenn ich hier etwas esse, kann mir wieder Gift gegeben werden. Dann überlebe ich keine fünf Tage! Nein, ich muss vermeiden, dass al-Efdal wieder Gelegenheit bekommt, seine Intrigen weiterzuspinnen.“

„Ihr beschuldigt Euren Sohn, Euch nach dem Leben zu trachten??“, entfuhr es dem Arzt.

„Der Gedanke ist mir gekommen, Hussein – besonders, nachdem Ali in Alexandria eine schleichende Vergiftung festgestellt hatte. Ich bin nur zurückgekehrt, um meinen Sohn daran zu hindern, erneut einen Krieg gegen die Franken zu führen. Nein, ich muss mich bei Wasser weiter erholen.“

„Wie Ihr wünscht“, bestätigte Hussein.

 

Doch der Zustand Saladins besserte sich nicht. Das Fieber stieg am folgenden Tag weiter. Hussein und sechs weitere Ärzte des Herrschers sahen sich die Entwicklung drei weitere Tage an. Es wendete sich nicht zum Besseren.

Sidi, Euer Fieber wird nicht geringer. Ich hoffe, dass ein Aderlass Linderung bringt“, schlug Hussein am vierten Tag vor; nach christlicher Zeitrechnung war es der 23. Februar 1193. Saladin nickte nur müde. Er fühlte sich einfach elend. Seine Ärzte ließen ihn zur Ader. Danach fühlte Saladin sich noch schlechter, aber die Temperatur sank geringfügig.

Doch der Erfolg war von kurzer Dauer. Drei Tage ging es Saladin etwas besser, dann, am 26. Februar, stieg das Fieber erneut. Von einem nochmaligen Aderlass wollte der Sultan nichts wissen.

„Nein, lasst meinen Körper selbst entscheiden!“, wehrte er ab.

Sidi, die Säfte des Körpers denken nicht“, warnte Hussein.

„Ich habe Nein gesagt, Hussein!“, fuhr Saladin den Arzt an. Es sollte bestimmt klingen, doch es kam nur ein heiserer, kraftloser Protest zustande. Hussein wollte sich nicht beirren lassen, doch Imad griff ein.

„Wenn du ihn gegen seinen Willen zur Ader lässt, ist der nächste Aderlass bei dir selbst!“, bremste er den Arzt in scharfem Ton. Hussein verstand.

„Ich tue es nicht, Sidi. Aber macht mich nicht dafür verantwortlich, wenn es schlimmer wird!“

„Das wird nicht geschehen, Hussein“, versprach Saladin matt.

 

In den folgenden zwei Tagen wurde der Sultan immer schwächer. Er ließ Imad nicht mehr von seinem Lager.

„Imad …“, flüsterte er am Abend des zweiten Tages. Es war der 28. Februar 1193.

„Mein Gebieter?“

Saladin sah den treuen Gefolgsmann eine Weile an. Tränen stiegen ihm in die Augen.

„Imad, mein Guter, ich habe so viel falsch gemacht …“, sagte er schließlich mit versagender Stimme.

„Nein, das habt Ihr nicht“, beruhigte Imad. „Ihr habt die Muslime geeint, Ihr habt Jerusalem zurückerobert, Ihr habt den Franken einen solchen Schlag versetzt, dass sie davon immer noch ganz verschreckt sind. Ihr habt nichts falsch gemacht, Herr.“

„Doch, Imad, das habe ich. All das, was du als … gelungen … aufzählst, waren Fehler. Ich habe die Muslime geeint. Das … stimmt. Doch ich habe alle aus dem Weg geräumt, die mir ebenbürtig waren. Ich tat es, weil sie die Einheit gefährdet hätten, und jetzt gibt es keinen, der nach mir die Muslime zusammenhalten kann. Al-Efdal wird in seinem Stolz alles zerstören, was ich aufgebaut habe. Ich hätte vor langer Zeit auf mein Herz hören sollen und dich zu meinem Nachfolger erklären sollen. Du hast … diplomatisches Geschick. Deine Freundschaft zu Balian ibn Barzin hätte die beste Brücke zwischen den Muslimen und den Franken sein können.

Jerusalem zu erobern, war der größte Fehler … den … ich machen konnte. Es … es hat nur zu neuem Krieg geführt. Vieles ist verloren, was ich gewonnen glaubte. Die Ungläubigen geben nicht einfach her, was sie uns genommen haben. Ich habe den besten aller Franken verjagt, deinen Freund Balian; den Einzigen, der einen für beide Seiten annehmbaren Frieden tragen würde. Bitte Imad, vergib mir, was ich euch beiden angetan habe.“  

„Ich habe Euch nichts zu verzeihen. Balian ist in Palästina. Er wird den Frieden auf christlicher Seite hüten“, beruhigte Imad den aufgewühlten Sultan. Saladin schüttelte den Kopf.

„Ihr beide seid in ungeheurer Gefahr, mein guter Imad. Al-Efdal wird dich nicht am Leben lassen. Du bist ihm zu gefährlich, weil du mir so nahe bist. Er weiß, dass ich dich wie einen Sohn liebe, mein guter Imad.“

„Ihr solltet nicht so viel reden, Herr. Ihr seid geschwächt.“

„An meinem Tod ist nichts mehr zu ändern, Imad. Ob ich heute sterbe oder in einigen Tagen, das macht wenig Unterschied“, entgegnete Saladin, der offenbar seine letzten Kräfte zusammennahm, um mit seinem engsten Vertrauten zu sprechen. Er packte Imads Arm mit erstaunlicher Kraft.

„Imad, wenn ich tot bin …“

„Herr …“

„Unterbrich mich nicht!“, fuhr der Sultan mit letzter Kraft den General an. Imad senkte ergeben den Blick.

„Wenn ich tot bin, wirst du nicht meine Bestattung abwarten. Du musst … sofort … fliehen. Zögere keinen Augenblick mehr. Geh zu Balian. Er ist deine einzige Rettung. Versprich mir das!“

Imad sah die Panik in den Augen seines geliebten Herrn. Er wusste, dass sein Leben kein Sandkorn mehr wert war, sofern Saladin die Augen für immer schloss.

„Das werde ich. Ich verspreche Euch, ich werde zu Balian gehen und werde ihn um Hilfe bitten“, versprach er. Saladin lächelte sanft.

„Gib mir den Kaftan“, sagte er. Imad reichte ihm gehorsam den kostbar bestickten Kaftan, der über einer Truhe lag. Saladin fingerte aus einer Innentasche einen goldenen Ring, dessen Siegelfläche einen Halbmond zeigte, in dessen Halbkreis statt des vielfach üblichen Sterns ein Tatzenkreuz eingefügt war. Die arabische Umschrift titulierte den Eigentümer als Herrn von Qira wa Qamun, Balians Lehen Caymon, und als Statthalter von Jerusalem in Saladins Auftrag.

„Gib dies Balian ibn Barzin. Ich … hatte die Absicht … ihn in Jerusalem als meinen Statthalter einzusetzen. Er hätte es wohl nie angenommen, weil … weil er ein treuer Ritter des christlichen Königs ist. Aber … er … soll wissen, dass ich auch ihn wie einen Sohn liebe. Erst war es Respekt vor seiner Tapferkeit und seinem Ideenreichtum. Inzwischen ist er mir so sehr ans Herz gewachsen, dass ich es nur schwer ertrage, ihn nicht noch einmal gesehen zu haben.“

Der todkranke Sultan holte noch einen zweiten Ring aus der Innentasche, der spiegelverkehrt das gleiche Emblem zeigte, jedoch mit einer lateinischen Inschrift: Nemo vir est qui mundum non reddat meliorem. Es war der Wahlspruch des Balian von Ibelin, den dieser mit Was für ein Mann ist ein Mann, der nicht die Welt verbessert? übersetzt hatte.

„Dieser, mein guter Imad, ist für dich. Du und Balian, ihr hättet eine bessere Welt erschaffen. Tut es! Macht sie besser! Ver… versöhnt Christen und Muslime!“, bat der Sultan inständig. Imad schaute auf den Ring, dann auf den erschöpften Saladin. Er wollte eigentlich noch fragen, weshalb ausgerechnet ein Kreuz einen von einem tiefgläubigen Sultan gegebenen Ring zierte, doch Saladin schien seine Gedanken gelesen zu haben.

„Das Tat… Tatzenkreuz hat mit dem Christen… glauben nichts zu tun. Es ist Balians persönliches … Zeichen“, sagte er. Imad nickte und beschloss, es so hinzunehmen.

„Ich werde zu ihm gehen und ihm Euer Geschenk mit Euren Grüßen geben. Ich nehme Euer Geschenk an und werde es in Ehren halten. Das verspreche ich Euch“, sagte Imad. „Ihr … habt uns vielleicht besser durchschaut, als wir selbst es tun.“

Saladin sah Imad an. Sein sanftes Lächeln bekam einen weisen Zug.

„Das ist oftmals so, mein guter Imad. Dieses Land wäre ohne euch beide sehr viel … ärmer.“

Er sackte zurück, der Druck an Imads Hand ließ plötzlich nach. Der General steckte die beiden Ringe in eine innere Tasche seines Gewandes, erst dann schüttelte er seinen Herrn. Er reagierte nicht. Imad klingelte, zwei der Leibärzte des Sultans erschienen umgehend.

„Ihr habt geklingelt, Herr?“

„Der Sultan reagiert nicht …“, erwiderte Imad bleich. Die Ärzte versuchten, ihn zu wecken, doch es halfen alle Bemühungen nicht.

„Er hat das Bewusstsein verloren“, konstatierte Hussein schließlich. „Jetzt können wir nur noch beten.“ 

 

Drei Tage lang wachte und betete Khaled ibn Jubayr, der Imam, der Saladin 1187 bei der Eroberung Jerusalems begleitet hatte, mit Imad an Saladins Lager. Saladin rührte sich nicht, aber er atmete und sein Herz schlug. Im Morgengrauen des 3. März 1193 ließ Khaled sich das kostbare persönliche Koran-Exemplar des Sultans geben und las daraus vor.

Als Khaled den 129. Vers der 9. Sure* vorlas, in der es heißt: „Doch wenn sie sich abwenden, so sprich: Allah allein soll mir genügen. Es ist kein Gott außer Ihm. Auf Ihn vertraue ich, und Er ist der Herr des gewaltigen Throns“, lächelte Saladin noch einmal. Wenige Augenblicke später atmete er nicht mehr, sein Herz stand still. Saladin, Sohn des Ayyub, erster Sultan aus der Familie der Ayyubiden, Sieger von Hattin, Sieger von Jerusalem, war tot.

Leibarzt Hussein stellte den Tod des Sultans offiziell fest. Er selbst, Amir, der weitere anwesende Leibarzt und Imad brachen in heiße Tränen aus.

„Ich werde Prinz Ali informieren“, sagte Khaled, der als Einziger halbwegs unberührt schien. Er hatte gelegentlich Meinungsverschiedenheiten mit Salahadin gehabt und trauerte längst nicht so heftig um ihn wie die beiden vollkommen auf den Sultan fixierten Leibärzte und sein erklärter Liebling Imad ad-Din. Doch Khaled wusste auch, dass al-Efdal die ganz besonderen Vertrauten seines Vaters beseitigen wollte. Er schätzte den integeren Imad zu sehr, um ihn der Wut des Erben zu überlassen.

„Ich warte noch einen Moment. Ihr müsst fort, Imad – sofort. Ich warte bis ihr eure Pferde gesattelt habt und das Tor passiert habt. Länger kann ich es nicht verzögern“, sagte er.

„Ich danke Euch, ehrwürdiger Imam. Wir werden uns beeilen“, erwiderte Imad und winkte den beiden Ärzten.

„Wohin werdet Ihr Euch wenden?“, fragte Khaled.

„Zu Eurem eigenen Schutz sage ich Euch nicht, was ich vorhabe. Ob Hussein und Amir das gleiche Ziel haben, weiß ich ohnehin nicht“, erwiderte Imad. „Kommt!“, rief er den beiden Ärzten zu. Eilig schlüpften alle drei durch eine geheime Tür, die Imad als besonderem Vertrauten des Sultans bekannt war.

Khaled ibn Jubayr fuhr fort, aus dem Koran vorzulesen, um ihnen Zeit zu verschaffen. Ihm war durchaus klar, dass er selbst mit seinem Leben spielte, wenn er die Flucht des Generals und der beiden Leibärzte deckte.

Vom Fenster des Gemachs konnte Khaled sehen, dass Imad und die beiden Ärzte aus dem Tor des Palastes ritten. Erst, als das Tor geschlossen war, trat er vor das Gemach und ließ den Posten Ali al-Efdal informieren, dass der Sultan ihn noch einmal zu sehen wünsche.

Ali ließ sich Zeit. Als er eine halbe Stunde später eintraf und seinen Vater tot vorfand, machte er dem Imam keine Vorwürfe. Khaled wertete dies als Eingeständnis, dass Prinz Ali ein gewisses Interesse am Tod seines Vaters gehabt hatte.

„Wo sind General Imad ad-Din und die Ärzte Amir und Hussein?“, fragte Ali.

„Euer Vater hat sie fortgeschickt, um neue Arznei zu holen“, schwindelte Khaled, wohl wissend, dass der Islam keine Lüge duldete. Ali lächelte hintergründig. Er selbst hatte Imad angekündigt, ihn von der Last seines Kopfes zu befreien. Ihm war völlig klar, dass Imad das Weite gesucht hatte – und er hatte auch einen Verdacht, wohin er sich gewandt haben könnte.

„Er hat nicht … zufällig … den ungläubigen ibn Barzin erwähnt?“, fragte er listig.

„Nein. Die Ungläubigen haben keine Medizin, die weiter ist als die unsere. Wohin er wollte, hat er nicht gesagt.“

Ali nickte. Er drehte sich zu den Wächtern um.

„Bringt den Imam in den Kerker!“, wies er sie an. „Ihm wird schon einfallen, wohin der General geflohen ist.“

„Was …?“

Ali wandte sich ihm wieder zu.

„Haltet mich nicht für dümmer als ich bin, ehrwürdiger Imam! Imad ist geflohen, weil er wusste, was er zu erwarten hatte!“

Er wandte sich an die Wächter, die den Imam in Ketten legten:

„Und gebt meinen Reitern weiter, sie sollen alle Straßen nach Westen sperren. Ich will Imad hier haben!“

„Überlegt Euch, was Ihr tut, Sidi!“, warnte der Imam. „Ich habe nichts Unrechtes getan, doch Ihr sündigt gegen Allah!“

Ali al-Efdal grinste.

„Ob Ihr nichts Unrechtes getan habt, werde ich wissen, wenn Ihr auch morgen früh noch behauptet, nicht zu wissen, wo Imad ist. Unsere Henker haben mehr oder weniger elegante Methoden, eine verkrampfte Zunge zu lösen“, erwiderte er maliziös und nickte den Wachen zu.

Als die Wachen Khaled in den Kerker schleppten, verbreiterte sich Ali al-Efdals Grinsen noch mehr. Imad konnte nur zu seinem Freund ibn Barzin geflohen sein. Kein anderer würde es wagen, ihm vor dem neuen Sultan Schutz zu gewähren. Imad hatte mit seiner Flucht zu den Ungläubigen den allerbesten Grund geliefert, die Christen nun anzugreifen … Und er hatte ihm genug Gründe gegeben, noch ein paar Leute zu beseitigen, die seinem Vater gar zu ergeben waren …

 

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Kapitel 12

Flucht

 

Imads schneller Araber jagte außerhalb von Damaskus wie vom Sheitan persönlich gejagt in Richtung Gadara. Er wollte aber nicht nach Gadara, sondern aus dem Einflussbereich al-Efdals so weit wie möglich fort. Er verließ bald die Straße und ritt querfeldein in Richtung Jordan und Libanon-Gebirge. Die beiden Ärzte hatten sich gleich nach der Stadtgrenze von ihm getrennt und wollten ihr Glück bei Saladins Bruder al-Adil versuchen.

Dass sie fast eine volle Stunde Vorsprung hatten, ahnte Imad nicht im Geringsten. Er gönnte seinem Pferd nur kurze Pausen. Während der Nacht konnte er nicht weiterreiten, weil der Mond kurz vor dem Neumond war und in dieser schmalsten möglichen Sichel nicht genug Licht gab, um den Weg zu finden. Seine Verfolger hatten jedoch dieselben Schwierigkeiten – und sie mussten erst herausfinden, wohin er sich gewandt hatte.  

Erst im Libanon-Gebirge fühlte Imad ad-Din sich einigermaßen sicher. Lange Zeit hatte er dort für seinen Sultan Wege ausgekundschaftet, die es dem Heer Saladins ermöglicht hatten, die Franken häufig zu überraschen und sie in kleine Scharmützel zu verwickeln. Er kannte deshalb jeden noch so versteckten Winkel und jede Wasserstelle. Fünf Tage benötigte er, um die Grenze des von Christen kontrollierten Gebietes zu erreichen.

Die ersten Christen, auf die er am Abend des fünften Tages am Ruinenberg von Yodefat im Karmel-Gebirge stieß, waren Tempelritter. Nur zu gut wusste Imad, dass diese Ritter fast ebenso erbitterte Feinde Balians waren wie der neue Sultan in Damaskus. Er hatte sie bemerkt, bevor sie ihn entdeckten und blieb in Deckung, konnte aber belauschen, was sie sprachen – und was er hörte, ließ ihn blass werden.

„Sei gegrüßt, Fernando!“, hörte er. Vorsichtig lugte er über den Felsrand, hinter dem er sich vor ihnen verborgen hielt. Er sah, dass einer neu hinzugekommen war.

„Seid gegrüßt, meine Brüder!“, antwortete der, den einer als Fernando angesprochen hatte. „Dem Herrn sei Dank, dass ich auf euch treffe und nicht einen dieser verfluchten Ibeliner.“

„Woher kommst du, Bruder Fernando?“

„Von Burg Masyaf. Ich konnte nicht früher hier sein, weil ich einige Zeit verborgen bleiben musste. Der Alte vom Berg wird uns helfen, den Bastard aus dem Weg zu räumen“, sagte Fernando und nahm mit einem dankbaren Kopfnicken eine Schale Wasser entgegen, die er durstig leerte.

Imad wurde unwohl. Er konnte bei dem jetzigen Licht nicht weiter, er musste sogar warten, bis die Templer am folgenden Morgen abgezogen waren, wenn er unerkannt bleiben wollte. Aber je länger er wartete, desto größer wurde die Gefahr für seinen Freund Balian.

 

Der Morgen kam. Imad hatte kaum ein Auge zugetan, musste er doch jederzeit damit rechnen, dass ihn entweder die Templer entdeckten oder dass seine vom neuen Sultan beauftragten Verfolger ihn aufspürten. Bis Caymon waren es noch mindestens fünfzehn Meilen – allerdings dem Vogelflug nach. Am Boden waren es wegen der verschlungenen Wege im Karmelgebirge wenigstens zwanzig Meilen, wenn nicht mehr.

Hinter dem Felsrand, hinter dem er die Nacht verbracht hatte, wurde es unruhig. Imad spähte über den Felsen und bemerkte zu seinem Schrecken, dass einer der Männer, die er am Vorabend belauscht hatte, genau in seine Richtung den Felsen erklomm, wohl um unbeobachtet sein Morgengeschäft zu verrichten. Imad zog sich leise zurück, nahm sein Pferd am Zügel und schlich weiter nach unten zum Weg, wo er nicht sofort von oben gesehen werden konnte.

Der noch etwas verschlafene Templer, der den Felsrand überquerte, bemerkte zunächst auch nichts, legte außer Sicht seiner Ordensbrüder die Kettenhose ab, ließ die Bruche* herunter und hockte sich gähnend zwischen die Felsen. Während er sich erleichterte, fiel sein Blick auf niedergedrückten Staub und frisch aussehende Stiefelspuren. Er erledigte sein Geschäft so schnell wie möglich, zog Bruche und Kettenhose wieder an und stieg den Spuren nach. Fast im selben Moment kam weiter unten auf einem schmalen Pfad zwischen Felsen und Büschen ein Mann in arabischer Kleidung in sein Blickfeld, der sein Pferd am Zügel den Bergweg hinunter führte. Eilig hetzte der Templer wieder hinauf und über den Felsrand.

„Alarm! Sarazenen!“, schrie er. Die Templer auf der anderen Seite sprangen auf.

„Was?“

Hastig berichtete er, was er gesehen hatte.

„Wenn der gehört haben sollte, was wir gestern gesprochen haben, haben wir ein Problem …“, sagte Fernando de Samargo. „Wir müssen ihn einfangen. Was hast du gesagt? Er geht einen Pfad hinunter?“

„Ja“, bestätigte der, der Imad entdeckt hatte. De Samargo nickte. „Der Pfad führt nach Süden. Der Einzige, für den es einen Wert hat, was wir geredet haben, ist der Bastard von Ibelin. Er ist gut Freund mit einigen Sarazenen. Dieser Weg hier führt um das kleine Massiv herum, Mit etwas Glück kriegen wir ihn zu fassen. Auf die Pferde, Brüder!“

Die Templer ließen nur drei Männer zurück, die das Lager abbrachen, Decken und Zeltbahnen auf die Packpferde verluden und die Schlachtrösser als Handpferde vertäuten. Die anderen zehn einschließlich Fernando de Samargo und Sir Randolph Cunningham stiegen rasch auf die Pferde und jagten in die Richtung, die Fernando ihnen wies.

Eine Viertelstunde später kamen sie an die Stelle, an der die beiden Wege südlich um den Tell Yodefat zusammentrafen. Imad, der den etwas beschwerlicheren Fußweg hatte, hatte die Abzweigung nur Minuten vor ihnen erreicht, wie deutliche Fußspuren verrieten. Der Mann, den die Templer suchten, war hier auf sein Pferd gestiegen und von hier aus geritten.

 

Imad seinerseits hatte die Rufe gehört, hatte sich beeilt, an eine Stelle zu kommen, von der aus er reiten konnte. Der Pfad zu seinem nächtlichen Versteck war zu steil und zu schmal, um ihn hinunterreiten zu können. Pferde gehen jeden Weg samt Reiter hinauf, einige aber nur hinunter, wenn der Reiter sie am Zügel führt. Dieser Weg gehörte zu der Art, die ein Pferd nicht mitsamt Reiter im Sattel hinunterging.

Er hörte die eiligen Hufschläge vieler Hufe, die von rechts näherkamen, als er die Verzweigung erreichte. Er sprang in den Sattel.

Jallah! Jallah!“, feuerte er seinen schwarzen Araber an, der Stimme und Schenkeldruck seines Herrn gehorchte und mit weitausgreifenden Galoppsprüngen und hochgestelltem Schwanz dem Weg in Richtung Caymon folgte.

Er war kaum um die nächste Biegung verschwunden, als die Templer an die Abzweigung kamen und seine Spuren fanden.

„Nach links, Brüder!“, schrie Randolph, als er die Spur erkannte. Die Ritter trieben ihre leichteren Reisepferde zu schnellem Galopp an, um den Sarazenen einzuholen, den ihr Ordensbruder entdeckt hatte.

 

Die Straße wurde breiter, führte am Nordrand des Bergs Azmon entlang, traf an dessen östlichem Ende auf eine etwas ebenere Gegend. Imad jagte um den Bergfuß herum und ließ seinen Araber noch ein bisschen schneller rennen, um den nächsten Hügel südlich des Azmon zu überqueren, der noch fast zweieinhalb Meilen entfernt war. Es dauerte nur kurze Zeit, bis hinter ihm etwa zehn Tempelritter ebenfalls um den Bergfuß galoppierten. Die schwere Panzerung der Templer machte sich bemerkbar. Ihre Reisepferde waren zwar gut trainiert, hatten die Nacht über ruhen können, aber Imads schwarzer Hengst war ebenfalls ausgeruht und trug weit weniger Gewicht. Der Abstand vergrößerte sich langsam. Der Sarazene ließ seinen Rappen erst hinter dem nächsten Hügel etwas langsamer werden, aber er strebte weiter eilig in Richtung Südwesten, in Richtung Caymon. Es war immer noch eine lange Strecke bis dort.

Auch die Tempelritter gönnten ihren Tieren etwas mehr Ruhe, aber sie folgten beharrlich den Spuren, die der Sarazene hinterlassen hatte.

Einen längeren Moment lang überlegte Imad, sich an der nächsten Wegekreuzung nach Nazareth zu wenden, um sich dort mehr oder weniger unsichtbar zu machen, andererseits war Nazareth wieder Einflussgebiet des Sultans. Nein, dort konnte er nicht unterschlüpfen. Er blieb auf der Straße und trieb seinen Rappen nach einiger Zeit wieder zu einer schnelleren Gangart an, um den Templern nicht die Möglichkeit zu geben, ihn doch noch abzufangen.

Tatsächlich gaben auch die Templer ihren Pferden wieder die Sporen, doch der Sarazene blieb vor ihnen; es gelang ihnen nicht, ihn einzuholen.

Imad wagte es nicht, eine wirkliche Pause einzulegen. Auf dem Weg, den er einschlug, waren es bis Caymon noch knapp siebzehn Meilen, wie er aus verschiedenen Landmarken ablas. Jetzt gönnte er seinem Hengst keine Pause mehr, sondern ließ ihn so schnell laufen, wie er konnte.

 

Etwa drei Stunden, nachdem er den Tell Yodefat verlassen hatte, sah er vor sich eine Burganlage aufragen, die in mancher Hinsicht Ibelin ähnelte. Trotz seiner Nervosität, ob er die Verfolger endgültig abgeschüttelt hatte, musste er lächeln. War es wirklich Zufall oder hatten die Häuser, die Balian von Ibelin übertragen bekam, die Eigenschaft, sich von selbst so zu verändern, dass sie seinem geliebten Ibelin stets ähnlich wurden?

 

Noch eine Stunde später lagen sich Imad und Balian in den Armen.

„Willkommen, mein Freund!“, begrüßte der Hausherr den Sarazenen. Dann erst fiel ihm der etwas derangierte Zustand seines Freundes auf.

„Was ist geschehen? Bist du Templern begegnet?“, fragte er. Imad seufzte tief.

„Ja, aber die haben mich zwar verfolgt, doch ich sah vorher schon so aus. Ich musste aus Damaskus fliehen. Balian – Salahadin ist tot.“

Das Entsetzen aller, die dies hörten, war echt.

„Um Himmels Willen!“, entfuhr es Balian. „Al-Efdal wird den Frieden nicht bewahren. Es wird Krieg geben!“

Imad nickte.

„Im Augenblick sammelt er noch Truppen. Vielleicht wird er auch zunächst alle beseitigen, die seinem Vater nahestanden – so wie seinen Vater selbst“, sagte er.

„Was?“, keuchte Gaëlle, die hinzugekommen war.

„Ihr erinnert euch, dass Saladin nach Alexandria gereist ist, weil er schwer krank war?“, fragte Imad. Balian und Gaëlle nickten.

„Ali ibn Omar, sein Leibarzt in Alexandria, stellte dort fest, dass der Sultan – Allah sei ihm gnädig – schleichend vergiftet worden war. Sein Sohn al-Efdal hat ihn mit Arsen langsam vergiftet. Saladin kehrte nach Damaskus zurück, um ihn daran zu hindern, doch es war zu spät. Die Ärzte konnten ihn nicht mehr retten. Ich bin unmittelbar nach seinem Tod mit Saladins Leibärzten Hussein und Amir geflohen. Ali al-Efdal hatte mir schon vor längerer Zeit angekündigt, dass ich nach Saladins Tod einen Kopf kürzer wäre.“

Imad sah Balian direkt an.

„Balian ibn Barzin: Ich erflehe deine Hilfe. Gewähre mir Zuflucht. Noch immer schulde ich dir mein Leben. Ich werde dir ein treuer Gefolgsmann sein“, sagte er und sank in die Knie, bevor Balian ihn daran hindern konnte.

Kopfschüttelnd nahm Balian ihn an der Hand.

„Komm wieder hoch“, sagte er. „Imad, du bist mein Freund. Bei Freunden muss man nicht um Hilfe und Zuflucht betteln. Bleib bei uns. Du bist hier willkommen und unter Freunden.“

Imad umarmte ihn erneut, diesmal unter Freudentränen.

„Danke!“, flüsterte er mit versagender Stimme. „Balian“, fuhr er fort, als er sich wieder in der Gewalt hatte, „ich muss dich warnen. Ich konnte gestern Abend einige Templer belauschen. Einer von ihnen sagte, er käme von Burg Masyaf. Sie haben Assassinen auf dich angesetzt.“

„Danke, mein Freund. Wir werden verstärkt Acht geben“, erwiderte Balian.

 

Fern davon, in Damaskus, kehrten die ausgesandten Reiter ergebnislos zurück. Sie hatten tagelang gefahndet, aber weder Imad noch die beiden Ärzte finden können. Ali al-Efdal ließ zehn von ihnen vor Wut sofort köpfen. Dann ließ er den nach seiner Rückkehr eingekerkerten Anführer der Truppe zu sich bringen. Die Wächter schubsten ihn auf die Knie.

„Du hast versagt“, grollte Ali. „Aber ich gebe dir die Möglichkeit, mich zu versöhnen.“

„Was verlangt Ihr, mein Gebieter?“, fragte der Gefangene.

„Zerstöre Ibelin und nimm alle gefangen, die sich dort befinden!“, befahl der neue Sultan.

„Es wird geschehen, wie Ihr befehlt, mein Gebieter“, versprach der Gefangene.

 

In Ibelin ging das Leben seinen gewohnten Gang. Asim Edin al-Bakr, Imads Vertrauter, führte das Lehen in der gleichen Weise, wie es schon zu Zeiten Balians des Alten gewesen war, wie Godfrey es fortgesetzt hatte und wie Balian, Godfreys Sohn, es übernommen hatte. Christen, Juden und Muslime lebten und arbeiteten friedlich miteinander, wenngleich es nur noch wenige Christen waren. Die meisten waren mit Balian fortgegangen. Asim genoss unter den Bewohnern Ibelins ein ähnlich hohes Ansehen wie seinerzeit Balian, Godfreys Sohn.

Es mochte Mitte März 1193 sein, als die Nachricht vom Tod Saladins hier eintraf. Nicht nur Asim war zutiefst schockiert, den Einwohnern ging es nicht besser. Besonders die Christen, die hier noch verblieben waren, fürchteten nun, ebenso vertrieben zu werden wie aus anderen von den Sarazenen eroberten Gebieten Christen verjagt worden waren.

Paul, der Schafhirte, der älteste noch in Ibelin lebende Christ, war von seinen Glaubensbrüdern zum Vertreter gegenüber dem Herrn gewählt worden. Er fragte im Namen aller in Ibelin lebenden Christen, was nun mit ihnen geschehen würde.

„Ich will ehrlich sein, Paul: Ich weiß es nicht“, sagte Asim mit unüberhörbarem Seufzen. „Doch ich hoffe, dass der neue Sultan mich hier bleiben lässt. Dann habt ihr nichts zu befürchten.“

„Und wenn nicht …?“, fragte Paul vorsichtig nach. Asim seufzte erneut.

„Dann sei Allah euch allen gnädig.“

Paul nickte und verließ das Herrenhaus.

 

Am Abend berieten die Christen, was sie tun wollten.

„Wir sollten fortgehen. Wenn Asim uns schützt, schaffen wir es sicher bis nach Jaffa. Vielleicht kommen wir von dort nach Caymon weiter, wo unser früherer Herr Balian lebt“, schlug Joseph vor. Einen Moment war Stille. Dann nickten alle Anwesenden beifällig.

„Ich werde morgen zu Asim gehen und ihn bitten, uns gehen zu lassen“, sagte Paul.

 

Als er am folgenden Morgen Asim das Anliegen der verbliebenen Christenfamilien vortrug, sah der dunkelhäutige Maure ihn traurig an.

„An mir soll es nicht liegen, das weißt du, Paul. Ihr könnt bleiben. Aber wenn ihr Ibelin verlassen wollt, dann werden meine Männer euch bis zur Grenze des christlichen Landes begleiten. Übermittelt Graf Balian meine Grüße und sagt ihm, dass ich euch angeboten habe, zu bleiben.“

Paul lächelte verlegen.

„Das weiß ich, Mylord Asim. Wir alle wissen das. Aber wenn Saladin nicht mehr lebt und sein Nachfolger Christen vielleicht nicht mehr in seinem Reich duldet, gehen wir lieber freiwillig, bevor wir dazu gegen Euren Willen gezwungen werden.“

„Allah sei mit euch“, wünschte Asim. „Meine Männer bringen euch nach Jaffa“, versprach er.

 

Die verbliebenen Christenfamilien packten ihre Sachen, verluden, was sie besaßen, auf ihre Ziegen und Esel und machten sich auf den Weg nach Jaffa. Es waren gute fünfzehn Meilen bis Jaffa selbst, das christlich beherrschte Land begann jedoch schon ein paar Meilen vor Jaffa. Zwanzig Reiter Asims gaben ihnen Geleitschutz bis an die Grenze des von Christen kontrollierten Gebietes.

Dort trennten sich die Wege der Christen Ibelins und der Männer Asims endgültig.

„Übermittelt Sidi Asim unsere guten Wünsche, Ibrahim. Allah sei mit ihm“, verabschiedete sich Paul im Namen der Christen.

„Ich werde es ihm bestellen“, versprach Ibrahim. „Grüßt Ihr bitte Sidi Balian von uns.“

„Das werden wir.“

Die Christen setzten den Weg nach Norden fort, die Reiter Asims kehrten zurück nach Ibelin.

 

Als sie am Nachmittag die Abzweigung von der alten Pilgerstraße in Richtung Jerusalem nach Ibelin erreichten, sah Ibrahim am Horizont aus Richtung Jerusalem eine Staubwolke.

„Was ist das, Sidi?“, fragte einer seiner Reiter. Ibrahim zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht.“

 

Imad erholte sich in Caymon in Gesellschaft seines Freundes Balian und dessen Familie von den Strapazen seiner Flucht. Ihm war klar, dass niemand sicher war, der Saladin oder dessen treuen Gefolgsleuten nahe war.

Am Tag nach seiner Ankunft hatte er sich ausgeschlafen, hatte ein Bad genommen und saß mit Balian, Godfreys Sohn und Balian, Barisans Sohn, nach dem gemeinsamen Frühstück der ganzen Familie noch bei einem Früchtetee.

„Sein letzter Gedanke galt dir, mein Freund. Er sagte, es sei ihm sehr schwer, dass er dich nicht noch einmal sehen konnte. Dies hier sendet er dir als Erinnerung an ihn“, sagte der Sarazene und gab Balian den Ring, den Saladin für ihn als Herrn von Qira wa Qamun und Statthalter Jerusalems im Namen des Sultans vorgesehen hatte.

„Ich danke dir und über dich auch Saladin. Er … war ein großer Mann, den ich stets respektiert habe. Er war großmütig im Sieg, ganz anders, als ich es befürchtet hatte, als ich ihm Jerusalem übergab“, erwiderte Balian. „Aber … so schön dieser Ring ist: Ich werde ihn nicht tragen können, ohne den Makel des Verrats auf mich zu laden. Bitte versteh‘ es nicht als Ablehnung dieses wunderbaren Geschenks. Er wird einen ehrenvollen Platz erhalten.“

Imad nickte.

„Was immer wir beide tun, es wird als Verrat betrachtet, obwohl wir beide nie etwas anderes getan haben, als unseren Fürsten treu zu dienen und in ihrem Namen ein friedliches Zusammenleben aller in Palästina organisieren zu wollen“, seufzte Imad.

„Imad, gerade das, was euer beider Ziel ist – Frieden im Heiligen Land – ist für andere der jeweiligen Religion schlicht Verrat“, sagte Barisans Sohn.

„Ist es Verrat, die Welt besser machen zu wollen?“, fragte Imad. Balian, Barisans Sohn nickte.

„Ja, für jeden, für den der aktuelle, schlechtere Zustand der Welt einen Vorteil bedeutet, ist es Verrat, sie besser machen zu wollen.“

„Ich überlege jetzt wirklich ernsthaft, das Heilige Land zu verlassen, Onkel. Ich habe hier nichts mehr zu suchen“, sagte Balian, Godfreys Sohn. Sein Onkel schüttelte den Kopf.

„Nein, renn nicht ständig hinter irgendwelchen Pflichten her. Du hast jetzt lange genug immer nur für andere etwas getan“, sagte er. Balian lächelte schief.

„Nun ja, ich betrachte das, was mir gegeben wurde, nicht als Privileg, sondern als Aufgabe und Pflicht“, erwiderte er.

„Ich weiß, mein Junge, ich weiß. Aber auch als Ritter, als Baron, als Graf hast du nicht nur Pflichten. Was dir gegeben wurde, ist auch ein Ausgleich für die Pflichten. Und es gibt Zeiten, da darfst du diesen Ausgleich einfach mal genießen“, stellte der Ältere klar. Balian sah ihn zweifelnd an, aber Imad nickte dazu.

„Er hat Recht“, sagte er.

„Na schön – überredet“, erwiderte der Jüngere lächelnd.

„Dennoch: Sorglos solltest du nicht sein“, warnte Imad erneut. „Denk an das, was ich mitgehört habe: dass ein Templer die Burg Masyaf in Syrien aufgesucht hat. Der Alte vom Berg, Scheich Raschid ad-Din, wird Assassinen zu dir senden, um dich zu töten. Sei auf der Hut, mein Freund.“

„Das werde ich, mein Freund“, erwiderte Balian.

 

 

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Kapitel 13

Verbrechen

 

Viele Meilen weiter südlich schälte sich aus der Staubwolke eine große Anzahl von Reitern heraus, die auch Belagerungsgeräte mit sich führten. Ibrahim, der damit rechnete, dass sein Herr aufgefordert werden würde, einem Kriegszug des Sultans zu folgen, befahl seinen Reitern, nach Ibelin hinunter zu reiten.

Asim, der auf dem Turm der Burganlage im Herrenhaus nach seinen Reitern Ausschau gehalten hatte, bemerkte die Staubwolke auf der alten Pilgerstraße ebenfalls. Er steckte sein Fernrohr aus Leder und zwei Linsen zusammen und schaute nach der Staubwolke. Auch er entdeckte außer Reitern Belagerungsgeräte.

„Mustafa!“, rief er hinunter. Der Haushofmeister, der Schwager Latifs, kam aus seinem Haus und fand seinen Herrn auf den Zinnen der Burg.

„Ja, Sidi?“

„Der Sultan scheint uns zum Kriegszug rufen zu wollen. Gib Omar Bescheid, dass die Männer sich rüsten sollen!“, rief Asim von oben. Mustafa bestätigte den Auftrag und eilte davon, um die Weisung seines Herrn auszuführen.

Wenig später kamen die Begleiter der Christen die Abzweigung von der Pilgerstraße herunter. Ibrahim winkte schon von weitem.

„Der Sultan kommt!“, rief er. „Sieht aus, als wäre er auf einem Kriegszug“, setzte er hinzu, als er das Tor passiert hatte und auf den vom Turm herunter gestiegenen Asim traf. „Ich habe Belagerungsgeräte gesehen. Ob wir Jaffa angreifen?“

 

Die Verblüffung der Sarazenen in Ibelin war groß, als der ganze Heerbann von der Straße abbog, nicht nur ein kleiner Teil, der ausgereicht hätte, um die Ibeliner zum Kriegszug aufzurufen. Die Belagerungsgeräte wurden ebenfalls von der Straße heruntergebracht. Verwirrt trat Asim vor das Tor der Herrenhausanlage.

„Ich bin Asim Edin al-Bakr, den General Imad ad-Din mit der Verwaltung der Gabe von Sultan Saladin beauftragt hat, bis er zurückkehrt. Was wünscht Ihr?“, fragte er. Der Anführer der Reiter kam zu Pferd näher.

„Ich bin Raschid al-Hussein. Sultan Ali al-Efdal sendet mich, um dich und alle Bewohner dieses Fleckens als Gefangene nach Damaskus zu bringen. Dieses Dorf und die Burg werden zerstört“, erklärte er.

„Und … wieso?“, fragte Asim, immer noch verwirrt.

„Weil der Sultan dies so befiehlt. Nach Gründen habe ich ihn nicht zu fragen.“

„Ich werde aber nicht zulassen, dass du die Menschen dieses Dorfes, meine Männer und mich ohne jeden Grund zu Gefangenen erklärst und Ibelin zerstören willst“, versetzte Asim.

„Ich bin ein treuer Diener des Sultans. Ich frage ihn nicht nach Gründen.“

„Ich bin ebenfalls ein treuer Diener des Sultans und seines Generals. Als solcher habe ich diesen Ort verwaltet und bin mir keiner Gesetzesübertretung meinerseits, eines meiner Männer oder der Menschen dieses Dorfes bewusst, die es rechtfertigen würde, uns zu Gefangenen zu erklären und Ibelin zu zerstören.“

„So meinst du, dass der Sultan im Unrecht ist?“

„Wenn mir nicht eröffnet wird, was ich oder andere getan haben sollen, was gegen unsere Gesetze verstößt, muss ich das annehmen.“

„Ihr seid also nicht willens, uns das Dorf zu übergeben und euch in Damaskus vor dem Sultan zu verantworten?“, hakte Raschid nach.

„Nenne mir Gründe, weshalb wir das tun sollten!“, forderte Asim erneut.

„Du hast gewählt!“, versetzte Raschid. Er gab ein Zeichen, seine Reiter schwärmten mit brennenden Fackeln aus und setzten die ersten Häuser, die sie erreichen konnten, in Brand. Einen Moment war Asim wie gelähmt vor Schreck. Was, zum Sheitan, sollte das? Dann reagierte er. Das breite, geschwungene Sarazenenschwert, das er an der Seite trug, flog ihm fast in die Hand und von dort direkt weiter auf den willenlos gehorsamen Raschid. Al-Efdals Gesandter wurde getroffen und stürzte tot vom Pferd. Die anderen Reiter in der Nähe griffen Asim an, der ihnen aber ausweichen konnte.

Asims eigene Reiter attackierten die Schergen des Sultans mit einer Macht, mit der diese gewiss nicht gerechnet hatten. Die Geschützbedienungen lösten die Sperren der Wurfmaschinen. Dicke Steinbrocken krachten in die Mauern des Herrenhauses von Ibelin. Die eher dünnen Lehmziegelwände gaben rasch nach, mochten es auch zwei Wände sein, die im Abstand einer knappen Handbreit aufgerichtet waren. Dazwischen war nur Luft, keine stabilisierende Sandschicht. Die Ecktürme und der zweite Torturm waren stabiler, aber auch sie waren für die massiven Steinbrocken, die mit hoher Geschwindigkeit und damit heftiger Durchschlagskraft geschleudert wurden, nicht stark genug.

Jeder, der Ibelin bislang angegriffen hatte, hatte keine Wurfmaschinen in Stellung bringen können, sondern die Mauern nur mit Leitern berennen können.

Das Herrenhaus sank in Trümmer. Bald waren nur noch Lehmziegelruinen übrig von dem, was Godfrey und Balian von Ibelin als zwar rustikales, aber auf eigene Weise schönes Heim geliebt hatten.

Asim, seine Männer und die muslimischen und jüdischen Bauern des Dorfes hatten letztlich keine Chance, sich gegen die Zerstörung ihres Dorfes und der Burg zu wehren. Der Maure hatte hundert Männer unter Waffen, doch etwa die Hälfte davon waren eigentlich Kleinbauern, die das Gut bewirtschafteten und nur in Ausnahmefällen als Soldaten dienten. Es waren zwar immer noch knapp hundert Familien, die das Dorf bewohnten, doch sie alle zusammen brachten kaum einhundertzwanzig Kämpfer auf. Raschid al-Hussein war mit dreihundert gut bewaffneten und kampferprobten Männern erschienen, hatte die Überraschung und auch noch Kampfmaschinen auf seiner Seite …

Al-Husseins Leute setzten alles in Brand, was brennbar war, rissen jedes Haus ein, töteten das Vieh und vernichteten die Ernte. Es blieb keine Palme stehen. Wer sich wehrte, wurde erschlagen – Männer, Frauen, Kinder, Alte. Dass Asim selbst nicht unter den Toten war, obwohl er mit dem geschwungenen Breitschwert wie ein Berserker unter den Leuten al-Husseins wütete, lag daran, dass der Sultan ihn lebend haben wollte …

 

Nach mehreren Stunden Kampf lagen etwa hundertfünfzig tote Ibeliner und wenigstens hundert Männer al-Husseins und er selbst in ihrem Blut, aber dreißig Menschen, überwiegend Frauen und Mädchen, aber auch Asim Edin al-Bakr und Mustafa, der Haushofmeister, waren Gefangene der zornigen Soldaten des Sultans. Die wenigen überlebenden Männer wurden an Viehjoche gefesselt, bekamen Fußfesseln, die ihnen zwar erlaubten, zu gehen, die aber eine Flucht verhinderten. Frauen und Mädchen banden die Soldaten des Sultans zu langen Reihen zusammen. Schließlich trieben sie die Gefangenen auf die Pilgerstraße und in Richtung Jerusalem.

Zurück blieben ein vollkommen zerstörtes, teilweise brennendes Dorf und zwei brennende Burgruinen, in denen sich kein Leben mehr regte.

 

Erst eine gute halbe Stunde nach Einbruch der Dunkelheit bewegte sich wieder etwas in den Ruinen des Herrenhauses. Ganz unten, in der Badestube, hatte sich der junge Suleiman in einem geheimen Versteck neben dem gemauerten Herd verstecken können – es war einst das geheime Gelddepot der Familie Ibelin gewesen. Bis hier waren die Steinbrocken nicht durchgebrochen, das Feuer hatte sich nicht durchfressen können, weil das Herrenhaus unterhalb der Herrenwohnung komplett aus Stein gebaut war und dem Feuer keine Nahrung bot. Suleiman wühlte sich durch die Trümmer des eingestürzten Treppenhauses hinaus auf den Hof, suchte sich im Schein der brennenden Bäume und Hütten und des inzwischen zum Vollmond gewachsenen Boten der Nacht die Reste dessen, was man noch als essbar ansehen konnte. Dann schlich er auf der Pilgerstraße in Richtung Jaffa davon.

Bis Jaffa waren es nur wenig mehr als zehn Meilen, aber Suleiman benötigte die ganze Nacht, weil er von Deckung zu Deckung schlich und sich erst gute fünf Meilen nördlich des zerstörten Lehens traute, auf der Straße zu gehen. Die Hafenstadt erreichte er eine Stunde nach Sonnenaufgang. Umgehend suchte er in jeder Karawanserei nach den Christen Ibelins. In der dritten, schon fast am nördlichen Ende Jaffas, bekam er den Hinweis, dass seine christlichen Mitdörfler zwei Stunden die Stadt zuvor in Richtung Norden verlassen hatte.

Suleiman war klug genug gewesen, sich den noch vorhandenen Inhalt des geheimen Gelddepots – immerhin vierhundert Besant – einzustecken. Es war Imads Geld. Davon kaufte er sich einen Esel, um nicht die ganze Strecke laufen zu müssen. Der Junge hoffte, den Esel am Ziel mit etwas Gewinn verkaufen zu können, um die volle Summe bei seinem Herrn abliefern zu können.

  

Während Suleiman mit dem in Jaffa gekauften Esel in Richtung Caymon strebte und gegen Nachmittag des folgenden Tages die Christen Ibelins einholte, erreichte die Karawane mit den gefangenen muslimischen Ibelinern Jerusalem. Asim wurde von den anderen getrennt und fand sich in einem Massenkerker wieder, in dem der Statthalter des Sultans die Kreuzritter gefangen hielt, an deren Gefangennahme Asim als treuer Gefolgsmann Imads beteiligt gewesen war. Ihrer Sprache nach waren es Engländer. So zottelig und zerzaust die seit langem gefangenen Männer waren, an zweien von ihnen klebte immer noch englische Ritterlichkeit. Asim bekam aus den leise geführten Gesprächen mit, dass einer der beiden Robin und der andere Peter hieß.

Die Wärter in diesem Kerker taten alles, um den Gefangenen den Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu machen. Tägliche Auspeitschungen gehörten ebenso zu ihrem Repertoire an Misshandlungen wie offensichtlich unbegründete Beschuldigungen von Diebstahl oder auch Unzucht. Wer des Diebstahls beschuldigt wurde, dem wurde eine Hand abgehackt. Zuerst die rechte, bei zusätzlichem Bedarf auch die linke. Wer der Unzucht beschuldigt wurde, war ein toter Mann – völlig gleich, ob der Vorwurf zutraf oder nicht.

Asim bekam allein in der ersten Woche seiner Gefangenschaft im Kerker von Jerusalem täglich eine Tracht Prügel mit dem Stock. Nach drei Wochen wurde er erstmals in eine Einzelzelle weiter oben in der Zitadelle verlegt. Drei Tage war er dort ohne Essen, bekam aber immerhin Wasser.

Am dritten Tag erschien ein prächtig gewandeter Mann, der sich als Osman al-Saif vorstellte und sich als Statthalter von Jerusalem bezeichnete.

„Weißt du, weshalb du hier bist?“, fragte al-Saif den Gefangenen.

„Nein, es wurde mir nicht gesagt“, erwiderte Asim. Ein Stockschlag warf ihn zu Boden.

„Ob du ja oder nein sagst, du Wurm, du hast ein Herr hinzuzufügen!“, fauchte al-Saif. „Also?“

„Ich bin Asim Edin al-Bakr. Mein Herr ist Imad ad-Din, der General Salahadins! Kein anderer ist mein Herr!“, grollte Asim zurück und bezog erneut Prügel, dass ihm Hören und Sehen verging. Doch er blieb standhaft, jemand anderen Herrn zu nennen als Imad oder Salahadin persönlich.

Als Osmans Schergen endlich von ihm abließen, war Asim mehr tot als lebendig, aber er hatte nicht das Gesicht verloren – und er wusste noch immer nicht, weshalb man ihn in den Kerker geworfen hatte. Wochenlang ließ man ihn in der Einzelzelle schmachten; er bekam zwar Essen, aber es war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.

 

Während Asim ohne Anklage im Kerker von Jerusalem saß, erreichten die christlichen Flüchtlinge aus Ibelin mit dem ihnen gefolgten Suleiman Caymon. Suleiman berichtete Balian unter bitteren Tränen, wie Ibelin zerstört worden war.

„Es war so schrecklich, Sidi! Sie … sie haben alle umgebracht, meine … Eltern … meine kleinen Geschwister … Mich haben sie nicht gefunden, weil ich mich unter dem gemauerten Herd in der Badestube versteckt hatte“, schloss er bitterlich weinend. Balian nahm den hemmungslos weinenden Jungen tröstend in die Arme.

„Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun, als dich nur zu trösten, Suleiman. Worte allein helfen dir jetzt nicht, das weiß ich nur zu gut“, sagte er leise.

„Ich bin so froh, dass Ihr noch da seid, Sidi. Ihr seid alles, was ich noch habe!“, schluchzte der Junge und presste Balian fest an sich.

„Suleiman, du bist doch mit Latif verwandt, oder?“, fragte Balian.

„Ja, Sidi. Er ist ein Onkel von mir.“

„Wenn wir nach Frankreich zurückgehen, komm mit uns. Dein Onkel kann junge Unterstützung sicher gut gebrauchen – und irgendwann brauche ich auf Château Ibelin in Saint-Martin-au-Bois einen neuen Kastellan. Willst du das sein, mein Junge?“, bot der Graf an.

Suleiman sah verweint auf. Er schaute in die pure Güte, als sein Blick in den Balians tauchte.

„Ja, Sidi, wenn Ihr mich annehmt, tue ich alles für Euch“, versprach er. Balian lächelte.

„Vorsicht mit solchen Versprechen, Suleiman. So ein unbedachter Satz hätte mich beinahe Schwierigkeiten gebracht. Nein, er hat mich in Schwierigkeiten gebracht, denn er hat mich fast die Liebe meines Lebens gekostet. Du kannst dich schon bei Yussuf einarbeiten, was meinst du?“

„Ja, Sidi!“, erwiderte der Junge und wischte sich die Tränen ab. „Wann darf ich anfangen?“

„Du hast es aber eilig“, schmunzelte der Graf. „Du darfst dich gerne noch erholen. Fang bei Yussuf an, wann immer du magst.“

„Danke, Sidi, danke!“

Mit vielen Verbeugungen zog Suleiman sich aus dem Herrenhaus zurück. Aus den bitteren Tränen war unendliche Dankbarkeit geworden.

„Wie machst du das?“, fragte Imad verblüfft. „Wie verwandelst du derart abgrundtiefe Trauer in solche Freude?“

„Ich wünschte, ich könnte es dir genau sagen, mein Freund. Eigentlich bin ich nur für sie da und versuche, ihnen Halt zu geben. Sie wissen, dass Religion für mich nur eine zweitrangige Bedeutung hat. Ich beurteile sie nicht nach ihrem Glauben, sondern danach, was sie tun.“

Imad sah ihn eine Weile an.

„Du bist ein so großmütiger, gütiger Mensch mein Freund. Würden dich dein König und der Sultan gewähren lassen, wäre dieses Land jenes Gelobte Land, in das die Juden von Ägypten her zogen. Und doch scheiden sich an dir die Geister. Entweder man liebt dich oder man hasst dich. Aber ich werde jene nie begreifen, die dich hassen“, sagte er. Balian schlug ihm freundlich auf die Schulter.

„Ich auch nicht“, erwiderte er. „Ibelin zerstört!“, entfuhr es ihm dann, als sich der von Suleiman gegebene Bericht vom sachlich wahrnehmenden Gehirn bis in sein Herz gegraben hatte; dorthin, wo die Sehnsucht nach Ibelin immer noch vorhanden war. Er ließ sich auf die am nächsten stehende Bank fallen, weil ihm die Beine schlicht den Dienst versagten, und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Oh, mein Gott! Herr im Himmel, was haben Imad und ich eigentlich wider dich gesündigt, dass nicht einmal unser geliebtes Ibelin, nicht einmal Menschen, die dort schon seit langer Zeit einfach nur wohnen, gleich, wer der Herr war, vom Zorn seiner und meiner Widersacher verschont werden?“, klagte er.

Imad setzte sich zu ihm und legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Es war nicht nur Mitgefühl. Imad empfand den Verlust dieser liebgewonnenen Heimstätte nicht weniger schlimm als sein christlicher Freund. Der Araber war zutiefst geschockt. Der treue Asim, seine Männer, die Dorfbewohner … Er wusste nicht, wo er mit seiner Trauer eigentlich anfangen sollte. Aber, was Sünde betraf, hatte er jemand anderen im Verdacht, gesündigt zu haben – und gewiss weder Balian noch sich selbst.

„Nicht wir haben gesündigt, mein Freund. Al-Efdal hat gesündigt, wenn er dein altes und mein neues Zuhause zerstören ließ. Ich bin nahe daran, meinen Glauben an Allahs Gerechtigkeit zu verlieren, wenn er dies ungesühnt lässt“, sagte er kreidebleich.

 

Die Wochen vergingen. Balian und Imad beruhigten sich nur langsam über den endgültigen Verlust Ibelins. Für Imad war es klar gewesen, dass er irgendwann dorthin hatte zurückkehren sollen. Er wäre auch noch weit genug weg von Damaskus gewesen, wenn al-Efdal ihn schon nicht in seiner Nähe hätte haben wollen. Balian erwischte sich dabei, ganz tief in seinem Inneren immer noch die leise Hoffnung gehabt zu haben, Ibelin doch noch zurückzuerhalten. Jetzt war das wirklich nicht mehr möglich.

Doch nun brauchten die geflohenen Dorfbewohner ihn hier in Caymon, ihren früheren Herrn, der sich nie als Herr gefühlt und aufgeführt hatte. Mit seiner und Imads Hilfe nahmen sie ihre Plätze in der Dorfgemeinschaft ein, passten sich verblüffend reibungslos in die bestehende Gemeinschaft ein und ergänzten sie. Suleiman wich dem Haushofmeister Yussuf kaum von der Seite und sog begierig auf, was dieser ihm beibrachte. Als Haushofmeister kannte Yussuf nicht nur die Herrschaft, sondern auch die Dienerschaft und die Soldaten. Was immer an Tätigkeiten rund um den Haushalt anfiel: Bei Yussuf liefen diese Fäden zusammen. Der Junge lernte gut und war schon zwei Wochen nach seiner Ankunft – es war Mitte April – schier unentbehrlich für den Haushaltsvorsteher.

Der April verging, es blieb friedlich; die Assassinen, vor denen Imad so eindringlich gewarnt hatte, hatten sich nicht bemerkbar gemacht. Gewohnt, mit allen seinen Untertanen gut auszukommen, gut beschäftigt mit dem weiteren Ausbau seines Hauses, dem Fruchtanbau und den Vorbereitungen zum Pfingstfest, dachte Balian, God-freys Sohn, bald ebenso wie Balian, Barisans Sohn, kaum noch an die Gefahr, die dem Jüngeren drohen konnte. Auch Imad, der seinen Freund selbst gewarnt hatte, kam langsam zu dem Schluss, dass vielleicht doch ein anderer Bastard gemeint gewesen sein könnte. Die Templer hatten Balian vor seinen Ohren ja schließlich nicht namentlich erwähnt.   

Unmittelbar vor Pfingsten war der bislang fast ungenutzte Seitenflügel des Herrenhauses fertig, den Balian, Barisans Sohn, und seine Familie dauerhaft bewohnen sollten. Seit sie zu ihrem Neffen gekommen waren, hatten die älteren Ibelins mit dessen Familie im großen Haupthaus gewohnt. Die beiden Ehepaare hatten jeweils ihre eigenen Schlafzimmer gehabt, die drei größeren Jungen – Jean, Philippe und Martin – hatten sich ein Zimmer geteilt, ebenso die beiden Mädchen, das dritte Zimmer hatten die beiden kleinen Jungen – Jean-Raymond und Balian junior – bewohnt. Der große Saal im Erdgeschoss war – mit einigen Raumteilern versehen – Wohn und Speiseraum beider Familien gewesen. Mit dem Umzug der älteren Ibelins in den Seitenflügel würden die Kinder den Luxus eines eigenen Zimmers genießen.

Godfreys und Barisans Sohn besichtigten den fertigen Seitenflügel mit den arabischen Bauleuten, die noch die letzten Mosaiken angebracht hatten.

„Ja, das ist sehr schön geworden“, lobte der Jüngere. „Ihr habt großartige Arbeit geleistet. Yussuf wird euch zusätzlich zum vereinbarten Lohn eine gesonderte Belohnung auszahlen. Wenn ihr einen Wunsch habt, dann äußert ihn, Ich will sehen, ob ich ihn erfüllen kann.“

Er drehte sich zu den Bauleuten um. Die vier Männer hatten sich im Halbkreis um die beiden christlichen Adligen gestellt, standen vor der Tür. Der Vorarbeiter lächelte auf eine Weise, die Balian nicht recht deuten konnte.

„Wir haben da einen sehr unbescheidenen Wunsch, Sidi“, sagte er.

„Und der wäre?“

„Euren Kopf – und den Eures erhabenen Onkels!“, lächelte der Bauleiter. „Allahu akbar!“, rief er dann. Alle vier rissen Dolche aus den Gewändern und stürzten sich gleichzeitig auf die Franken. Die beiden Balians waren nicht bewaffnet – und in dem noch ungenutzten Gebäudeflügel allein.

„Assassinen!“ schrie Godfreys Sohn. Er konnte einen der Angreifer aus dem Sprung auffangen und ihn dem zweiten entgegen schleudern. Der kurze Moment verschaffte ihm etwas Platz, aber ein Assassine ließ seine Mordwaffe um nichts in der Welt los.

„Alarm! Assassinen!“, schrie auch Balian, Barisans Sohn. Gegen jeweils zwei dieser geübten Mörder hatten die beiden Europäer eigentlich keine Chance, dennoch wehrten sie sich heftig, wenn auch mit bloßen Händen. Godfreys Sohn gelang es, einem der gedungenen Mörder einen zweiten Dolch zu entreißen, doch fast gleichzeitig spürte er einen furchtbaren Schmerz im Rücken. Mehr im Reflex keilte er mit dem Fuß nach hinten aus und warf den Angreifer zu Boden, aber der stach gleich noch mal zu und traf Balian auch am rechten Bein. Von vorn bekam er einen dritten Stich, der ihn in die linke Brusthälfte traf und einen Schlag auf den Kopf. Dann war es dunkel um ihn. 

 

 

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Kapitel 14

Konsequenzen

 

Die Alarmrufe der beiden Balians blieben nicht ungehört. Die Angreifer machten mit sehr irdischen Schutzengeln Bekanntschaft, als die alarmierten Männer Ibelins in den Nebenflügel stürmten. Innerhalb weniger Minuten lagen die vier Assassinen in ihrem Blut – aber die beiden Balians lagen ebenfalls blutüberströmt am Boden und rührten sich auch nicht mehr.

„Nein! Nein! Nein!“, schrie Almaric, als er bemerkte, dass sie zu spät gekommen waren. „Nein, Herr, lass das nicht wahr sein!“

Er fiel neben Balian, Godfreys Sohn, auf die Knie und weinte nur noch. Seinen Männern ging es nicht besser.

Die Kinder, die nicht weit von dem Ort des Geschehens gespielt hatten, waren durch den Lärm aufmerksam geworden und kamen hinter den Soldaten in den Raum. Die Mädchen rannten schreiend davon, Jean und Philippe waren wie erstarrt und wagten nicht mehr, sich zu bewegen, als sie sahen, dass ihr Vater reglos in einer riesigen Blutlache lag.

„Onkel!“, entfuhr es Martin entsetzt, als er seinen geliebten Onkel blutend am Boden liegen sah. Michel, der ihn gerade noch daran hindern wollte, zu seinem Verwandten zu stürzen, griff ins Leere, als der Junge an ihm vorbeischlüpfte. Keuchend warf sich der kleine Prinz neben Godfreys Sohn zu Boden.

„Onkel Balian! Sag‘ doch was!“, rief er verzweifelt und schüttelte ihn. Es geschah etwas, was Almaric und Balians übrige Männer nicht mehr erwartet hatten: Ihr Graf hustete und verzog vor Schmerz das Gesicht, als Martin ihn rüttelte.

„Aahrrgh!“, schrie er auf. Der Junge hörte sofort auf. Almaric wollte ihn wegziehen, aber Martin schüttelte ihn ab. Balian schlug die Augen auf.

„Assass… Assass…“, japste er.

„Still, Balian! Beweg‘ dich nicht!“, wies Almaric ihn an. Eilig riss er sich den Gambeson vom Leib, drehte ihn zusammen und schob ihn seinem Herrn unter den Kopf.

„Michel! Hol‘ sofort die beiden Johanniter!“, befahl er. „Los, seht nach, ob Barisans Sohn noch zu helfen ist! Los, worauf wartet ihr?“ 

Martin zog sich seine Tunika aus, zerrte sich auch das Leinenhemd vom Körper und riss es in Stücke. Mit den Rupfen versuchte er, die Blutung an der linken Brustseite seines Onkels zu stillen.

„Du darfst nicht sterben, Onkel!“, rief er. Balian presste Lippen und Zähne zusammen. Er hatte wahnsinnige Schmerzen im Rücken und im rechten Bein. Mit der linken Hand schüttelte er matt seinen Neffen.

„Da … da hinten, Martin!“, presste er heraus. Der Junge folgte dem Zeichen seines Onkels, Almaric ebenso. Wortlos riss der kräftige Almaric die Tunika seines Herrn auf, nahm Martin die Leinenfetzen ab und drückte sie auf die Stichwunde im Rücken und bemerkte dann auch die blutende Wunde im Bein.

„Halt‘ hier mal fest, Martin!“, sagte er, riss einen der Leinenfetzen in dünne Streifen und band damit eine dreifache Lage von Leinenfetzen fest.

„Danke“, flüsterte Balian.

„Bitte, Onkel, nicht sterben!“, flehte Martin. Der Graf rang sich ein mühsames Lächeln ab.

„Wenn ER mich noch lässt …“, ächzte er. „Was … was …“

Almaric schüttelte den Kopf.

„Du solltest nicht sprechen“, sagte er. Balians Blick ging in Richtung seines eigenen Onkels. Almaric folgte dem Blick und sah den inzwischen eingetroffenen Johanniterbruder Roger nur bedauernd den Kopf schütteln. Balian, Barisans Sohn, war nicht mehr zu helfen. Almaric schüttelte ebenfalls den Kopf und Godfreys Sohn verstand.

„Es ist ein Wunder, dass du noch lebst, Balian“, sagte Almaric leise. Bruder Wenzel wandte sich ihnen zu und bemerkte, dass Martin nur noch seine Hose trug.

„Du solltest dir die Tunika wieder überziehen, Martin“, empfahl er. „Ist es dein Hemd, womit ihr das Blut deines Onkels stillen wolltet?“

„Ja“, sagte der Junge tonlos. Wenzel klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

„Deine schnelle Reaktion war hilfreich, mein Prinz. Du und Almaric, ihr konntet die starken Blutungen stoppen. Mit Gottes Hilfe wird dein Onkel leben“, sagte er.

„Und was ist mit meinem anderen Onkel Balian? Dem Vater von Jean und Philippe?“, fragte Martin.

„Auch die schnellste Hilfe kann zu spät kommen, wenn Gott es so will“, sagte Wenzel leise. „Seine Seele ist auf dem Pfad zum Himmel.“       

 

Stunden später kam der Graf von Ibelin wieder zu sich. Er fand sich in seinem Bett wieder, an seiner Seite eine völlig verweinte Gaëlle, auf der anderen Seite saß der nicht weniger verheulte Martin.

„Dem Himmel sei Dank! Du erwachst!“, keuchte sie.

„Si… Gaëlle?“,

„Ja, mein Liebling!“

„Wie geht es Onkel Balian?“, fragte er matt. Gaëlle wusste nicht, wie sie es ihrem geliebten Mann beibringen sollte, dass sein Onkel den Anschlag nicht überlebt hatte.

„Bruder Wenzel sagt, seine Seele sei auf dem Pfad in den Himmel“, meldete sich Martin. Balian nahm die Hand seines Neffen vorsichtig in die seine.

„Martin, ich danke dir. Danke für deine schnelle Reaktion“, flüsterte Balian. „Du hast mein Leben gerettet. Danke, mein … mein Sohn.“

Gaëlle und Martin sahen Balian verblüfft an, der sich aber ein mühsames, schelmisches Lächeln abrang.

„Ich wünschte, du wärst es tatsächlich, mein kleiner … mein junger Prinz. So einen Sohn wie dich kann … kann sich jeder Vater nur wünschen.“

Gaëlle atmete tief durch.

„Du verstehst es, Leute zu erschrecken“, schnaufte sie. Balians Lächeln wurde noch etwas breiter.

„Ich konnte euch noch nicht allein lassen. Da oben wurde mir gesagt, ich stünde noch nicht auf der Liste“, grinste er. „Was … was ist mit … mit den Assassinen?“

„Alle tot“, seufzte sie. Er nickte.

„Das war … zu erwarten. Sie hätten … ohnehin … nichts verraten“, bemerkte er.

„Onkel Balian?“

„Hmm?“

„Bist du … bist du wirklich … wirklich am Himmelstor gewesen?“

Balian drückte die Hand seine Neffen sanft und lächelte.

„Jedenfalls habe ich … davon geträumt, dort zu sein“, erwiderte er. „Es war ein … schöner … Traum. Aber ich bin lieber wieder bei euch.“

„Dann … weißt du nicht …?“, stotterte der Junge. Balian zog ihn an sich und drückte ihn.

„Nein, ich weiß es nicht, Martin. Aber ich weiß, wie … wie sehr ich … meine Familie liebe.“

Er ließ ihn los.

„Du musst mir einen Gefallen tun, Martin“, bat er.

„Und der wäre?“

„Dass du von jetzt an keinen Schwertunterricht mehr schwänzt. Du und Mathieu, ihr seid die, auf die ich mich nach Almaric und Michel verlassen können muss. Du bist ein wunderbarer, sehr hübscher Junge geworden. Deine Cousinen haben ein Auge auf dich geworfen. Gib Acht, mein Prinz. Zuhause wird bald von dir erwartet, dass du dich in Turnieren bewährst.“

„Balian … heißt das, dass wir …“

„Nach Frankreich zurückkehren, genau das. Sofern ich halbwegs gesund bin, verlassen wir das Heilige Land. Wir haben hier wirklich nichts mehr zu suchen. Guy wird nicht locker lassen. Dieses Mal haben die Mörder nicht ausgereicht …“

Gaëlle verbot ihm mit einem sanften Streicheln, weiterzusprechen.

„Maria braucht Unterstützung“, erinnerte sie.

„Sie bekommt Caymon – genauer: Jean bekommt es als Erbe seines Vaters, samt allen Einnahmen, sofern sie uns die Kosten für die Heimreise gibt. Dann muss Maria nicht wieder heiraten.“

„Du … du willst dich einfach zurückziehen?“, fragte sie erschrocken.

„Ja. Ich hätte … längst … gehen sollen. Onkel Balian ist nur deshalb tot, weil ich den richtigen Zeitpunkt zur Umkehr verpasst habe. Wir sind schon viel zu lange hier. Ibelin gibt es nicht mehr. Es gibt nichts, was mich hier noch hält.“     

Ohne es bewusst zu wollen, nickte sie. Er hatte Recht; ihr Inneres bestätigte, was ihr Verstand noch nicht wirklich wahrhaben wollte. Der Druck seiner Hand an ihrer verstärkte sich.

„Liebling, halte Imad von Dummheiten ab.“

„Was meinst du?“

„In seinem orientalischen Ehrbegriff ist er imstande, Guy umzubringen, um den Anschlag auf mich und Onkel Balian zu rächen. Aber … ich … ich will ihn nicht verlieren. Er ist … mir ein zu guter … Freund, um ihn an den … Tod … zu verlieren.“

„Balian, du solltest die Orientalen inzwischen kennen“, erwiderte sie. „Du hast ihm das Leben geschenkt, als du hier zum ersten Mal angekommen bist, du hast ihn jetzt als Flüchtling aufgenommen. Er wird dabei bleiben, dass er dir sein Leben schuldet. Mit nichts wirst du ihn davon abhalten können zu tun, was er seiner Meinung nach tun muss. Und außerdem …“

„… möchtest du Guy sowieso längst lieber tot sehen. Ich weiß“, unterbrach er sie. „Ich habe ihn wohl einmal zu oft geschont, ich sehe es ein. Aber er ist König von Zypern. Wer einen König umbringt, stirbt nicht unter dem Beil oder am Galgen. Mit dem möchte ich nicht tauschen wollen … Bitte, sag ihm wenigstens das.“

„Das werde ich“, versprach sie und verließ das Zimmer. Martin lieb etwas ratlos bei seinem geliebten Onkel sitzen.

„Was meint ihr?“, fragte er nach einer Weile.

„Weißt du, hier im Orient gibt es den ungeschriebenen Brauch, dass jemand, der sein Leben einem anderen verdankt, diesem anderen ein großes Opfer schuldet. Das größte Opfer. Das eigene Leben. Ich erzähle es dir, wenn dazu in der Lage bin, einverstanden?“

Martin nickte.

„Entschuldige. Ich sollte dich nicht so viel reden lassen. Dabei hatte Bruder Wenzel es mir extra gesagt …“, murmelte er. Balian lächelte sanft.

„Du bist einsichtig. Bleibe auf diesem Weg und du wirst ein großer König werden.“

„Wirst du mir dabei helfen?“

„Ich werde dich so oft besuchen, wie es irgendwie geht. Das verspreche ich dir.“

 

Wie sehr ihn das Gespräch anscheinend angestrengt hatte, zeigte sich in derselben Nacht, als Balian hohes Fieber bekam, das weder Bruder Wenzel noch Balians Hausarzt Harun in den Griff bekamen. Gaëlle und Maria wechselten sich mit den Wachen bei ihm ab, Martin, Jean und Philippe schlichen bedrückt um das Krankenzimmer herum.

Erst vier Tage später fanden die beiden Ärzte beim Verbandwechsel den tatsächlichen Übeltäter: Eine abgebrochene Klingenspitze, die noch im Rücken des Grafen steckte. Sie nutzten die erneute Bewusstlosigkeit ihres Patienten aus, um den Fremdkörper herauszuschneiden und die Wunde gründlich zu reinigen. Von da an ging es ihm langsam besser.

Die Beisetzung von Balian, Barisans Sohn, ließ sich nicht länger verzögern. Maria und Gaëlle beschlossen, ihn nun zu beerdigen, auch wenn sein Neffe an der Beisetzung nicht teilnehmen konnte. Der Umstand, dass der Graf von Ibelin nicht bei der Beerdigung war, löste Unruhe unter den Dörflern aus. War er etwa doch gestorben?

Am Morgen des sechsten Tages nach dem Mordanschlag war Balian endlich soweit bei sich, dass er wieder ansprechbar war.

„Liebster …“, setzte Gaëlle an, „ich … ich weiß, dass dir das nicht …nicht gefallen wird, aber …“

„Aber?“, flüsterte er.

„Wir haben deinen Onkel gestern schon beigesetzt. Es ist einfach zu heiß gewesen, um ihn noch länger …“

Er nickte und nahm ihre Hand.

„Danke“, sagte er. „Danke für alles, meine geliebte Gaëlle …“

„Du … du wirst dich doch nicht etwa verabschieden wollen?“, keuchte sie. „Balian, ich würde es nicht überleben, wenn du stirbst!“

Mit einem etwas gequälten Lächeln schüttelte er den Kopf.

„Nein, das will ich keineswegs. Aber ich wollte es dir sagen, falls … nun ja … aber … mir kommt da eine Idee. Hol bitte Maria her, wenn sie nicht schlafen sollte, bitte, Liebling.“

„Nein, du wirst dich nicht wieder übernehmen!“, bremste sie. „Du wirst jetzt schlafen!“

„Wie … meine Königin befiehlt!“, grinste er matt. Sie lächelte sanft.

„Wenn du mich schon wieder neckst, geht es dir wirklich besser“, sagte sie. Statt einer Antwort zog er sie an der Hand zu sich und küsste sie. Es war ein intensiver, langer Kuss, der unter … nun ja, normalen … Umständen der Auftakt zu einem frühsommerlichen Schäferstündchen gewesen wäre.

„Aber du solltest nicht gleich wieder unvernünftig werden!“, mahnte sie, als sie sich endlich aus dem Kuss lösen konnten. Er erwiderte ihr Lächeln auf seine unnachahmliche Art, die Gaëlle fast schmelzen ließ.

„Ich liebe dich“, flüsterte er. Sie beugte sich wieder über ihn und tupfte ihm noch einen beinahe scheuen Kuss auf die Lippen.

„Ich dich auch“, erwiderte sie. Ein Räuspern ließ Gaëlle herumfahren, Balian in Richtung Tür schauen. Bruder Wenzel stand dort und war wohl kurz davor, einen Kopf so rot wie die Granatapfelblüten draußen an den Bäumen zu bekommen.

„Verzeihung, Mylord“, sagte er. „Ich störe nur ungern, aber Eure Verbände sollten gewechselt werden.“

Balian nickte grinsend, Gaëlle ließ den Arzt an das Bett. Sie blieb im Zimmer und assistierte Wenzel bei seinem ärztlichen Tun.

„Es sieht schon besser aus, Mylord“, sagte er, als er den Verband um die breite Brust des Verletzten schloss. „Aber Ihr solltet Euch noch nicht übernehmen.“

Balian grinste breit.

„Ihr habt ein Keuschheitsgelübde abgelegt, mein lieber Bruder Wenzel. Wenn Ihr das nicht getan hättet und wie ich eine Frau lieben würdet, wüsstet Ihr, dass solche Liebkosungen nur der Genesung dienen und nicht wirklich anstrengend sind“, erwiderte er. Jetzt war es Wenzel, der grinsen musste.

„Mylord, ich bin der jüngere Sohn meines Vaters. Ich habe durchaus Kenntnis in dem, was Ihr so treffend Liebkosungen nennt. Da ich aber nichts zu erben hatte, gab mein Vater mich zu den Johannitern, bevor ich noch mehr Dummheiten gemacht hätte, als ich schon angerichtet hatte. Mir sind durch meine Gelübde diese wunderbaren Erfahrungen für die Zukunft abgeschnitten, und mein Prior würde mich sicher auch etwas abschneiden, wenn ich mich nicht beherrschen könnte. Aber glaubt mir, dass ich weiß, wovon Ihr redet.“

„Was meint Ihr? Wann kann ich aufstehen?“, fragte der Graf. Wenzel sah ihn an, als wären ihm Hörner gewachsen.

„Das vergesst für die nächsten Wochen, Mylord. In drei, vier Wochen können wir vielleicht mal drüber reden“, versetzte er.

„Wenzel, es war ein Mordanschlag. Wenn derjenige, der meinem Onkel und mir diese Mörder auf den Hals gehetzt hat, erfährt, dass ich das überlebt habe, wird er es ein zweites Mal probieren. Ich sollte mein Glück und Gottes Güte nicht noch mehr versuchen, als ich es bisher schon getan habe“, entgegnete Balian.

„Was habt Ihr vor?“

„Das Heilige Land zu verlassen – und zwar möglichst unauffällig.“

„Heimlich davonschleichen? Ihr???“, entfuhr es dem Johanniter mit offensichtlichem Entsetzen.

„Wir haben guten Grund zu der Annahme, dass König Guy von Zypern hinter diesem Anschlag steckt. Er hasst meinen Gemahl bis aufs Blut und hat schon mehrfach versucht, ihn zu töten oder durch andere umbringen zu lassen“, erklärte Gaëlle. „Mein Gemahl ist wahrhaft kein Feigling, Bruder Wenzel. Er hat seinen Mut so oft bewiesen, dass es keines weiteren Belegs dafür bedarf!“

„Ich … bitte um Verzeihung, Mylord. Es … ist nur ungewöhnlich, dass …“

Balian nickte.

„Schon recht. Verzeihung gewährt.“

„Ihr möchtet für Guy als tot gelten, versteh‘ ich Euch recht?“

„Genau“

„Dann rate ich zu einer Schiffsreise mindestens bis Marseille, wenn nicht noch besser bis an die Loire. Die solltet Ihr aber bald antreten. Nehmt einen gut gepolsterten Sarg als Lager für Euch mit. Bei Bedarf sollte der Deckel nicht zu weit weg sein“, schmunzelte Wenzel.

„Wir verstehen uns, Bruder. Ich werde meine Angelegenheiten hier regeln und dann werden wir abreisen – und zwar alle. Wollt Ihr mit uns kommen?“

„Nun, da sicher möglichst niemand hier wissen sollte, dass Ihr noch unter den Lebenden weilt, wäre es sicher besser, wenn ich Euch als Mitwisser begleite.“

„Abgemacht“

Balian hielt dem Johanniterbruder die rechte Hand hin, der einschlug und sie kräftig drückte.

„Das Haus Ibelin sollte niemals ohne einen Johanniter sein“, sagte er. 

 

 

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Kapitel 15

Vorbereitungen

 

Es gab nur wenige Mitwisser im Hause, die über das kleine Komplott des Grafen und seiner Frau informiert waren: Wenzel, Almaric und Michel. Balian wollte seinen engsten Freund Imad selbst einweihen und bat ihn zu sich.

„Imad“, sagte er, als der Araber die Tür geschlossen hatte, „ich habe hier nichts mehr verloren. Seit es Ibelin nicht mehr gibt, hat mich mein Wille, dieses Land irgendwie noch zu retten, verlassen. Ich will nach Frankreich zurück. Willst du mit uns kommen?“

Saladins ehemaliger Vertrauter setzte sich auf den Stuhl, der am Krankenbett des Grafen stand und drehte eine Weile unschlüssig die Hände.

„Weißt du …“, setzte er schließlich an, „nach allem, was uns beiden an Steinen in den Weg geworfen wurde, nur weil wir für ein friedliches Zusammenleben der Religionen hier in Palästina eingetreten sind … Ich weiß nicht, wie der König in Frankreich reagieren würde, wenn du mich mitbringst. Dort bin ich der Ungläubige; Heiden nennt ihr uns Muslime wohl. Ich fürchte, das würde nur wieder neue Scherereien für uns beide bedeuten. Hier bin ich auch nicht sicher, das ist mir klar. Aber ich werde dich nicht in Schwierigkeiten bringen, mein Freund.“

Balian sah ihn eine Weile an. Er war enttäuscht, das war ihm anzusehen; andererseits sagte ihm sein Verstand, dass Imad wahrscheinlich Recht hatte. Christentum und Islam waren sich inhaltlich so nah, dass sie feindliche Brüder geworden waren, von denen einer dem anderen nicht das Schwarze unterm Nagel gönnte, die sich schlimmer um das Erbe Gottes stritten, als Zwillinge, deren Vater ohne Nachlassregelung dahingegangen war. Die Fanatiker auf beiden Seiten hatten das Heft in der Hand. Wer immer sich für einen gerechten Ausgleich beider Religionen einsetzte, war durch eben diese Fanatiker beider Seiten in akuter und ständiger Lebensgefahr.

Er überlegte, wie oft man ihm seit seinem Aufbruch mit seinem Vater ins Heilige Land ans Leben gegangen war: Da war Nicolas gewesen, der ihn wegen des Mordes an Balians eigenem Bruder Michel hatte töten wollen – und Godfrey gleich nebenbei mit, um an dessen Erbe zu kommen. Da war Mohammed al-Faes gewesen, der ihn in Syrien gleich mit einer tödlichen Herausforderung begrüßt hatte. Imad hatte seinen Untergebenen Mohammed damals zwar in seiner Herausforderung unterstützt, doch hatte er sich eines Besseren besonnen, nachdem Balian sich großmütig gezeigt hatte, war Balians Freund geworden. Da war Guy de Lusignan, der Godfrey, seine Familie und seine ihm treuen Männer als Verräter betrachtet hatte. Er hatte Balian von seinen verkleideten Templern in einen Hinterhalt locken lassen, er hatte ihn nach dem Fall Jerusalems selbst angegriffen.

Nach seiner Rückkehr ins Heilige Land hatte Guy ihm erneut die Templer auf den Hals gehetzt, hatte – wahrscheinlich – die Assassinen auf Konrad angesetzt, die Balian ebenfalls hatten töten wollen. Zwar war das eher Zufall gewesen, aber es passte Guy gut ins Konzept, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können. Der von Guy durch die Mordanklage gegen Gaëlle verursachte gerichtliche Zweikampf hatte auch die Motivation gehabt, Balian zu töten, am besten Gaëlle auch. Jetzt der Mordanschlag gegen ihn und seinen Onkel Balian …

Nicht zu vergessen, die reinen Kriegshandlungen, die sich zwar nicht gegen ihn persönlich gerichtet hatten, in denen er aber als Ritter und Lehensinhaber sein Leben mehrfach riskiert hatte: der Abwehrkampf gegen Imads Reiter, die Schlacht um Jerusalem, der Kampf um den englischen Königsthron auf französischem Boden.

Wenn er nicht noch etwas vergessen hatte, war der Assassinen-angriff der achte Versuch gewesen, ihn ganz persönlich aus dem Weg zu räumen. Und von diesen acht Mordversuchen, die Balian im Gedächtnis hatte, gingen fünf bis sechs auf die Rechnung von Guy de Lusignan. Dass es noch einen siebenten Versuch de Lusignans gegeben hatte, nämlich dass Templer nach Verhandlungen mit Saladin Balian in seinem leeren Haus in Akkon aufgelauert hatten und er nur deshalb dem Anschlag entgangen war, weil er in jener Nacht im Johanniterhospital geschlafen hatte, wusste er naturgemäß nicht.     

Doch die fünf oder sechs Male, die Balian Guy wirklich zurechnen konnte, reichten ihm. Ihm war bewusst, dass Guy als König von Zypern eine Position hatte, die ihn praktisch unangreifbar machte. Es war wieder einer der Tage, an denen er ganz nach Gaëlles Prophezeiung bereute, sich damals nicht als Grund für de Lusignans Hinrichtung hergegeben zu haben … Er wollte jetzt einfach nur noch seine Ruhe haben, sich aus der Politik heraushalten und ausschließlich für das Wohlergehen seiner Familie und seiner Untertanen in Saint-Martin-au-Bois sorgen. Damit würde er gut beschäftigt sein und war nicht wieder in Gefahr, sich tödliche Feinde einzuhandeln, gegen die er und seine Männer irgendwann keine Verteidigung mehr finden würden.

Er nickte schließlich.

„Wie gut kannst du ein Geheimnis bewahren, mein Freund?“, fragte er. Imad sah ihn verblüfft an.

„Eigentlich gut. Es kommt aber sehr darauf an, wie gefährlich das Geheimnis für dich selbst ist, wer Interesse an dem Geheimnis hat und wer diese Kenntnis bei mir vermuten könnte. Ich will dir offen gestehen, dass ich einer Folter nicht widerstehen könnte und dann vermutlich alles munter ausplaudern würde.“

„Dann würde es dich aber nicht retten, wenn ich es dir vorenthielte, oder?“, mutmaßte der Franzose.

„Das nicht. Aber du wärst nicht noch zusätzlich in Gefahr“, gab Imad zu bedenken. „Wenn … wenn du nicht mehr hier bist, werde ich sicher auch nicht bleiben können. Ich würde mir eine neue Heimat suchen. Vielleicht auf Sizilien, wo Muslime gelitten sind, wenn sie die Steuern bezahlen.“

Balian nickte erneut.

„Gut, dann werde ich zum ersten Mal ein Geheimnis vor dir haben, mein Freund; denn es wäre in diesem Fall für mich sehr gefährlich, wenn ein ganz bestimmter Jemand davon erfährt. Und ich fürchte, er würde diese Kenntnis auch bei dir vermuten.“

„Dann will ich es auch nicht wissen“ lächelte Imad.

 

Wenige Tage später hatte Balian sich soweit erholt, dass er in der Lage war, sein Testament bezüglich seiner Besitzungen im Königreich Jerusalem zu ändern. Ursprünglich hatten Jean-Raymond und Balian junior sich die Lehen teilen sollen, jetzt überschrieb er Caymon Marias Sohn Jean, Arsuf sollte an Philippe gehen. Maria wurde für ihre Söhne als Verwalterin eingesetzt. Damit hatte die Familie seines Onkels genügend Einkünfte, die eine nochmalige Heirat Marias unnötig machen würde. Sie hatte ihren Balian so sehr geliebt, dass eine erneute Ehe ihr wie blanker Ehebruch vorgekommen wäre.

Imad bedachte er mit dem Stadthaus in Jerusalem, das Saladin seinem treuen General gleich nach der Eroberung der heiligen Stadt überlassen hatte. Ferner erließ er Imad den Tribut, den der bislang immer noch geleistet hatte. Ibelin existierte nicht mehr, also konnte dafür auch kein Tribut mehr verlangt werden.

Beide Testamentsbestimmungen waren oberflächlich betrachtet reine Formalien, die einen ohnehin bestehenden Zustand testamentarisch anerkannten und legalisierten. Doch dieses formale Anerkenntnis des Alteigentümers, dass sein an Saladin gefallener Besitz einen rechtmäßigen Neueigentümer hatte, der ihm dafür nichts mehr schuldete, war der endgültige Schlussstrich unter der Präsenz der Familie des Barons Balian von Ibelin, Godfreys Sohn, im Heiligen Land. Balian wusste, dass er damit zum zweiten Mal in seinem Leben die Brücken hinter sich abbrach und auch seiner Frau und seinen Kindern eine Rückkehr nach Palästina verwehrte. 1187 hatte er das Land verlassen, ohne eine Rückkehrabsicht gehabt zu haben, aber er hatte sich seinerzeit unbewusst eine Hintertür offengelassen, indem er nicht formal auf seine Besitztümer verzichtet hatte.

Nach einer solchen winzig kleinen Hintertür sah die Bestimmung aus, dass der Titel des Barons von Ibelin an Jean-Raymond gehen sollte und auch in der Familie weitervererbt werden sollte. Doch er wollte den Titel hauptsächlich des Familiennamens wegen behalten und in seiner Familie weitergeben, damit Gaëlle nicht zu einer du Puiset wurde – ein Name, an den sie ungute Erinnerungen hatte.

Zuallererst aber bestimmte er, dass er in Frankreich beigesetzt werden wollte.

  

Bruder Wenzel und Almaric hatten inzwischen die Abreise der jüngeren Familie Ibelin soweit vorbereitet – einschließlich sehr heimlicher Beschaffung eines Sarges –, dass es nur noch des vorgeblichen Todes des Grafen bedurfte, um aufbrechen zu können.

Was dann folgte, war eine schauspielerische Glanzleistung Balians, der eine massive Verschlechterung seines Zustandes simulierte. Den wenige Tage zuvor geänderten Testamentsentwurf ließ er von Bruder Wenzel in eine Reinschrift mit einer Kopie für die in Outremer* verbleibenden Familienmitglieder umsetzen, der das Testament* schließlich auch laut vor der an Balians Lager versammelten Familie, Imad, Almaric und Michel vorlas. Balian unterschrieb beide Ausfertigungen und siegelte sie. Dann ließ er sich matt in die Kissen fallen und schloss die Augen.

„Mylord, Ihr solltet noch beichten, bevor Ihr von uns geht“, bat der Bruder. „Bereut Ihr all Eure Sünden?“, fragte er – die kürzeste Form der Beichte, die überhaupt möglich war. Balian rief sich den Moment des Todes seines Vaters ins Gedächtnis. Wenzel schien wenigstens geistig dabei gewesen zu sein, denn es waren präzise Jeans Worte, der Godfrey unmittelbar vor seinem Hinscheiden auf diese Weise die Beichte abgenommen hatte. Vielleicht war es aber auch die im Johanniterorden übliche Kurzform der Beichte, um sterbenden Rittern und Soldaten auf dem Schlachtfeld noch die Absolution erteilen zu können.

Balian schlug noch einmal träge die Augen auf und fixierte Maria und Imad, die mehr zufällig nebeneinander standen. Er belog sie gerade beide nach Strich und Faden – eine Sünde …

„Alle … bis auf eine“, brachte er mit einem halb jenseitigen Lächeln und versagender Stimme hervor. Den Umstehenden blieb überlassen, sich ihren Reim darauf zu machen und über die Sünde zu rätseln, die der „Sterbende“ wohl meinte.

Er schloss die Augen, sein Kopf sank zu Gaëlle, er regte sich nicht mehr.

Bruder Wenzel stellte als Arzt den Tod fest und spendete dem „Toten“ die letzte Ölung, sprach ihn von seinen Sünden los. Schon der Text des Testamentes war geeignet gewesen, zu Tränen zu rühren. Jetzt brachen die Familie, Imad und die beiden führenden Soldaten in heiße Tränen aus – die meisten in Tränen ehrlicher Trauer um einen großen Ritter und wahrhaft noblen Adligen, vielleicht des größten seiner Zeit.

Gaëlle gab nun ihrerseits eine schauspielerische Darstellung, die jeder antiken Tragödie Ehre gemacht hätte. Verzweifelt schluchzend sank sie über ihm zusammen und ermöglichte ihm damit, wieder Luft zu holen, ohne dass die anderen es bemerkten.

Almaric und Michel schoben schließlich die uneingeweihten Familienmitglieder und Imad aus dem Raum, nahmen auch Martin und die beiden kleinen Söhne Balians und Gaëlles mit. Gerade die Kinder durften nicht bemerken, dass ihr Vater und Onkel keineswegs so tot war, wie es schien. Es war Balian unmöglich erschienen, sie davon abzuhalten, die Wahrheit laut heraus zu posaunen.

 

Eilig richteten die Eingeweihten nun die Abreise her. Balian selbst, dem es zwar deutlich besser ging, der aber noch weit von endgültiger Genesung entfernt war, schlüpfte in die Rolle eines Leprakranken, womit er mit Binden umwickelt wie eine ägyptische Mumie unerkannt blieb und gebeugt schon wieder kleine Lasten trug, um die Wagen zu beladen. Er hatte Balduin recht genau beobachtet, stellte Gaëlle fest, die die Bewegungen ihres verstorbenen Bruders über Jahre hinweg miterlebt und studiert hatte. Dass er so überzeugend hinkte, hatte aber durchaus auch etwas mit der noch nicht verheilten Beinwunde zu tun.

Sie spannte Martin und Mathieu, Almarics Sohn, beim Beladen der Wagen mit ein, hielt beide aber bewusst von Balian fern.

 

Als der Wagenzug von zehn Wagen sich am 1. Juni 1193.zur Küste in Bewegung setzte, blieben eine hemmungslos weinende Maria von Ibelin, ihre Kinder und ein zutiefst erschütterter Imad ad-Din zurück.

„Was … werdet Ihr jetzt tun, Imad?“, fragte sie, während ihr die Tränen ohne Unterlass über das Gesicht liefen.

„Es ist außer Suleiman niemand aus Ibelin übrig, um den ich mich kümmern könnte. Alle anderen Muslime wurden in Ibelin umgebracht oder als Gefangene verschleppt. Al-Efdal hat nicht den Ruf, mit Gefangenen gnädig zu sein. Es werden also auch keine zurückkehren“, seufzte er. „Guy de Lusignan hat den Tod meines besten Freundes zu verantworten. Die Assassinen kamen auf seine Veranlassung. Er bedient sich dieser schiitischen Heuchler. Nun, dann werde ich ihn mit den Waffen der Assassinen schlagen. Sie haben sich bei uns eingeschlichen, sind über Monate folgsame Knechte gewesen und haben fleißig gearbeitet. Ich wäre nicht darauf gekommen, dass es gerade die Steinmetze waren, die über so lange Zeit täglich mit Balian und seinem Onkel am Ausbau des Seitenflügels gewerkelt haben. Aber sie haben mich gelehrt, wie man sich verbirgt. Ich werde es ebenso handhaben.“

„Mein Neffe wollte nicht, dass Ihr das tut, Imad. Assassinen wollen einen Anschlag nicht überleben. Aber wenn Ihr Guy angreift, einen König, wird Euer Tod furchtbar sein. Ein Königsmörder stirbt nicht unter dem Beil oder am Galgen. Ihr würdet Euch wünschen, nicht geboren worden zu sein, so werden sie Euch martern!“, warnte Maria erschrocken.

„Mylady, ich habe alles verloren, was ich hatte. Ich habe meinen Sultan verloren, den ich wie einen Vater geliebt habe und für den ich wie ein Sohn war. Ich habe mein Lehen verloren, als al-Efdal Ibelin zerstören ließ. Ich habe mit Asim Edin al-Bakr meinen besten Freund unter den Moslems und mit Balian von Ibelin meinen besten Freund unter den Christen verloren. Es gibt nichts, was mich auf dieser Welt noch hält. Wofür sollte ich noch hierbleiben wollen, wenn ich meine Freunde im Paradies wiedersehe? Balian konnte in seiner ehrlichen Ritterlichkeit nicht, was ich tun will: die Welt von Guy de Lusignan befreien. Er hat genug Unheil gestiftet. Nicht nur Allah wird es mir danken, viele andere auch, sogar Christen. Ihr habt Recht, ein Assassine will einen Anschlag nicht überleben. Das würde ich auch nicht wollen. Macht Euch kein Sorgen, dass ich meinen Feinden lebend in die Hände fallen würde. Dafür werde ich sorgen, seid gewiss. Kann ich mich auf Euch verlassen, dass Ihr mich nicht verratet?“

„Die Assassinen haben mir den Mann geraubt, den ich geliebt habe. Imad, ich bin Byzantinerin, eher Griechin als alles andere, auch wenn ich einen Mann zutiefst geliebt habe, der französische Wurzeln hatte; Wurzeln, die von Byzantinern noch immer gern als barbarisch betrachtet werden …“

Imad musste – trotz der Trauer um seinen Freund – doch lachen.

„Das ist eine Meinung, die nicht nur ich mit Euch teile, Mylady. Mein Freund Balian war die Ausnahme, die die von Euch sehr treffend beschriebene Regel nur bestätigt“, prustete er, bevor die Erinnerung an seinen ermordeten Freund ihn wieder packte.

„… und als Byzantinerin lege ich durchaus Wert auf eine angemessene Rache“, fuhr sie so ungerührt fort, dass Imad schlucken musste. Wer sich diese Frau zum Feind machte, konnte sein Testament machen – wenn er dazu noch kam …

„Ich gestehe, dass ich also nicht ganz so große Skrupel habe, den Mann tot zu wissen, der dies veranlasst hat. Ich werde Euch nicht hindern und Euch ganz gewiss nicht verraten. Aber trefft Eure Vorkehrungen, dass Ihr nicht einen entsetzlichen Tod sterben müsst.

„Das werde ich“, erwiderte Imad mit einem sanften Lächeln, das Maria beinahe an Balian erinnerte. Wie furchtbar, dass diese wunderbare Freundschaft auf Erden so enden musste und erst im Himmel würde fortgesetzt werden können …   

 

 

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Kapitel 16

Heimwärts

 

Der Wagenzug fuhr in Richtung Hafen von Jaffa, wo Michel als Vorbote drei Schiffe organisieren wollte, mit denen alles Volk und auch Pferde und Wagen transportiert werden konnten. Dass die Ibeliner nicht vom sehr viel näheren Akkon aus fahren wollten, lag daran, dass der König derzeit in Akkon war, Gaëlle und Balian aber einer Beileidsbekundung des Königspaares aus dem Weg gehen wollten. Es hätte die Öffnung des Sarges bedeutet. Daran war dem Grafen nicht gelegen. So große schauspielerische Fähigkeiten traute er sich dann doch nicht zu.

Martin drückte sich regelmäßig um den Wagen herum, in dem der Sarg seines geliebten Onkels befördert wurde. Gaëlle reiste ebenfalls mit in diesem Wagen. Der junge Prinz staunte immer wieder darüber, wie sorglos seine Tante mit dem leprakranken Fahrer ihres Wagens verfuhr, ihm auch erlaubte, sich täglich wenigstens zwei Stunden auf den bequemen Polstern neben dem Sarg hinzulegen und zu schlafen. In dieser Zeit bat Gaëlle meist Almaric, die Zügel des Wagens zu übernehmen.

„Wieso lässt Tante Gaëlle diesen Aussätzigen ihren Wagen fahren?“, grollte Martin. „Wieso darf er da auch noch schlafen?“

Melisende, Almarics Frau, die außer ihren eigenen drei Kindern auch noch die Kinder ihrer Herrin und den jungen Prinzen aus dem Wengland in ihrem Wagen hatte, wusste mehr als andere, aber sie war ebenso verschwiegen wie ihr Ehemann. Schon lange dienten beide den Ibelins: Almaric als Hauptmann der Soldaten Ibelins, Melisende als weibliches Pendant zum arabischen Haushofmeister. Beide waren der Familie Ibelin absolut treu ergeben und taten für diese wunderbare Herrschaft alles – einschließlich der Erfindung haarsträubender Lügen, wenn es darum ging, das Leben eines Ibelin zu bewahren oder zu retten …

„Deine Tante kann mit Leprakranken umgehen, mein junger Prinz. Ihr Bruder hat viele Jahre an Lepra gelitten und war ebenso dick von Binden vermummt, wie unser Knecht Roland“, erwiderte Melisende mit einem leisen Schmunzeln. „Sie weiß, wie man jemanden mit dieser Krankheit pflegen kann, ohne sich selbst daran anzustecken.“

„Aber … ist … ist ihr vertrauter Umgang mit diesem Roland nicht blanker Verrat an meinem Onkel, der gleich daneben im Sarg schläft?“, ereiferte sich Martin.

„Deinem Onkel geht es dort, wo er jetzt ist, gut, Martin. Er war ein gütiger und großmütiger Mann. Er wird verstehen, was sie jetzt tut. Bleib bitte weg von dem Wagen, Martin. Du bist ein künftiger König. Tu es deinem Reich nicht an, so unvorsichtig zu sein, wie es Balduin IV. und der V. waren. Beide sind leprakranke Könige gewesen, beide sind unendlich jung gestorben. Wäre Balduin IV. gesund gewesen, hätten wir diesen Schlamassel nie gehabt. Also halte dich fern davon. Und für dich, Mathieu, gilt dasselbe!“

Die Jungen verständigten sich mit Blicken. Sie hatten noch nicht die Stufe erreicht, die Balian und Almaric hatten, die einander blind und ohne Worte verstanden, aber weit waren sie davon nicht mehr entfernt. Sie würden schon herausfinden, was es mit diesem seltsamen Knecht auf sich hatte, den vorher noch niemand in Caymon gesehen hatte. Zwei Tage nach Balians Tod war er plötzlich dagewesen, schier wie aus dem Nichts. Da stimmte doch etwas nicht!

 

Die Jungen ließen sich nicht bremsen und schlichen weiter um den Wagen der Gräfin herum, die mit dem aussätzigen Knecht täglich vertrauter wurde und sogar lachte, wenn er mit ihr sprach. Seine Sprache war nur ein heiseres Flüstern, aber Gaëlle liebte es offenbar. Am Tag vor der Ankunft in Jaffa traf Martin ein unsagbarer Schock: Er erwischte seine Tante dabei, dass sie den wie üblich über die Mittagszeit schlafenden Leprakranken geradezu zärtlich küsste, als sie einen Verband um dessen Leib gewechselt hatte.

„Tante!“, platzte der Junge entsetzt heraus. Gaëlle zuckte erschrocken zusammen.

„Martin! Was machst du hier?“

„Und was tust du da? Denkst du überhaupt nicht mehr an Onkel Balian?“, fuhr er sie an. Sie wurde rot und bleich und wieder rot. Der Schlafende im Wagen wachte auf.

„Was ist?“, fragte er – mit einer Stimme, die Martin mehr als nur bekannt vorkam. Mit einem Satz war er im Wagen.

„Das gibt’s doch nicht!“, keuchte er. Der mit Binden verhüllte Mann bekam ihn zu fassen und hielt ihm gerade noch den Mund zu, bevor der kleine Prinz einen Namen laut herausschreien konnte.

„Nein, sprich diesen Namen nicht aus!“, zischte er. Martin wehrte sich gegen den harten Griff, aber er kam nicht frei.

„Und hör auf zu zappeln wie ein Fisch. Ich lasse dich doch nicht los.“

Aus Martins Augen schossen braune Blitze. Dann begriff er, was hier gespielt wurde und stemmte sich nicht mehr gegen den sicheren Griff seines Onkels.

„Wieso versteckst du dich da drin?“, zischte er flüsternd und tippte auf die Binden. Mathieu bekam immer größere Augen, auch ihm wurde langsam klar, was vorging. Doch auch er steckte in einem harten Griff fest, der seinen Körper fesselte und ihm den Mund recht gewaltsam verschloss. Gegen die Kraft seines Vaters hatte Mathieu keinerlei Chance. Er hing hilflos in Almarics Armen und gab ebenfalls den Widerstand auf.

„Es gibt Situationen, in denen darf sogar ein Ritter zu Tricks und Lügen greifen. Kriegslist nennt man das, Martin. Ich bin für das Heilige Land gestorben – und das Heilige Land ist für mich gestorben“, erklärte Balian. „Warum ich mich hierin verstecke? Weil ich zwei kleine Kinder habe und nicht will, dass sie ohne Vater aufwachsen müssen. Ich bin noch lange nicht gesund. Es wird noch Wochen dauern, bis ich wirklich genesen bin. Und wenn die Assassinen jetzt erfahren, dass ich noch lebe, aber nicht in der Lage bin, mich zu wehren, werden sie erneut versuchen, mich zu töten. Sie kämpfen nicht offen, wie wir Ritter es tun. Gegen einen solchen Anschlag wie in Caymon sind auch meine Männer machtlos. Sie würden mich nicht beschützen können. Ich war vollkommen unvorbereitet, obwohl Imad mich gewarnt hatte. Und dann gibt es noch den, der die Assassinen auf mich und meinen Onkel gehetzt hat. Der erfährt besser auch nicht, dass sein Plan zum fünften oder sechsten Mal fehlgeschlagen ist.“

Er spürte, dass Martin sich beruhigte und keine weitere Aktion machen würde, die ihn verraten würde.

„Aber warum hast du uns alle denn so belogen? Wir sind doch nicht deine Feinde!“, fragte Martin mit unüberhörbarer Bitterkeit – aber ganz leise.

„Je weniger davon wissen, desto geringer ist die Gefahr, dass jemand etwas verrät“, erwiderte der Graf leise. Martins Erwiderungsansatz verhinderte eine leichte Handbewegung seines Onkels.

„Verrat ist nicht immer böse Absicht, Martin. Kinder zum Beispiel sagen meistens ohne zu zögern die volle Wahrheit. Ich wollte euch aber nicht zum Lügen nötigen. Schließlich lehre ich euch, die Wahrheit zu sagen. Es mag dir feige vorkommen, dass ich jetzt so handle. Nenne es von mir aus auch Angst. Aber ich trage nun einmal die Verantwortung für alle diese Menschen, dafür, dass es ihnen gutgeht. Also sollte ich anstreben, möglichst lange zu leben und für sie da zu sein“, fuhr er fort. Der Junge nickte. Er hatte verstanden.

„Wir beide werden dich nicht verraten, Onkel … Roland. Versprochen und geschworen. Ritterehrenwort!“, versprach er mit kindlicher Ernsthaftigkeit. Balian sah durch einen schmalen Schlitz der Gesichtsbinden zu Mathieu, den sein Vater immer noch so fest in den Armen hatte, dass er sich nur knapp bewegen konnte. Den rechten Unterarm hatte er aber frei und hob diesen zur Schwurhand.

„Und … und wer ist der, der die Assassinen zu dir geschickt hat?“, fragte Martin.

„Guy de Lusignan.“

„Du hast ihn schon so oft geschont. Begreift er das denn nicht?“

„Er hasst mich, Martin. Ich habe ihm seine Frau weggenommen, ich bin mit Tante Gaëlle sehr glücklich. Das macht ihn neidisch. Ich habe ihn … zu lange geschont. Das ist mir jetzt klar, aber jetzt ist er König von Zypern. Wir werden in Lemesos* auf Zypern wohl Proviant und Wasser aufnehmen müssen, wenn wir jetzt mit dem Schiff fahren. Wenn Guy herausbekommt, dass ich lebe und auch noch in die Höhle des Löwen fahre, dann bin ich tot. Er darf es auf keinen Fall erfahren.“

Martin nickte erneut.

„Das wird er nicht. Das verspreche ich dir. Du bist Roland, Tante Gaëlles allerbester Knecht – und du hast ganz scheußliche Lepra.“    

Die beiden Jungen – Martin nicht ganz dreizehn Jahre alt, Mathieu gerade vierzehn – nickten ernsthaft und waren erkennbar stolz, in das Komplott ihres Grafen nun eingeweiht zu sein, so etwas wie seine Schutzengel zu sein. Zum ersten Mal in ihrem Leben übernahmen sie Verantwortung gegenüber einem anderen. Beide hatten die Folgen des Mordanschlags gesehen und wussten, was Balian drohte, wenn sie nicht schweigen konnten.

 

Am Tag darauf, es war der 6. Juni, erreichte die Karawane der Ibeliner Jaffa. Michel empfing sie am Hafen. Bei sich hatte er den Kapitän eines der Schiffe, die er hatte organisieren können.

„Seid gegrüßt, Mylady!“, begrüßte er Gaëlle. „Das ist Maurizio Vanini aus Genua. Ihm gehören drei Galeeren, die nach Genua auslaufen wollen. Er war der Einzige, der innerhalb des nächsten Monats nach Westen fahren will. Es tut mir Leid, dass ich nicht gleich eine Fahrt bis nach Marseille bekommen konnte.“

Gaëlle nickte.

„Sprecht Ihr französisch?“, fragte sie den Kapitän.

„Ja.“

„Wann könnt Ihr mir Euren Schiffe auslaufen?“

„Mit der Flut, Mylady, aber …“

„Aber?“

„Ich habe mit Eurem Beauftragten einen Fahrpreis von eintausend Besant für alle einschließlich Wagen und Pferden ausgemacht. Ich erwarte noch eine Ladung Gewürze aus dem Süden, die mir in Genua wohl zweitausend Besant einbrächte. Darauf würde ich noch warten wollen. Wenn Ihr unbedingt sofort abfahren wollt, verliere ich dieses Geld natürlich …“

„Ihr wollt also, dass wir Euch die zweitausend Besant dazugeben“, stellte sie fest. Vanini lächelte und verbeugte sich leicht.

„Nun, Ihr sagt, sie brächte Euch wohl zweitausend ein. Das heißt, Ihr habt sie noch nicht verkauft und müsst sie erst noch unter Eure Kunden bringen; das ist doch so, oder?“

„Ihr habt es erfasst. Aber Gewürze werden in Europa fast mit Gold aufgewogen, edle Dame. Ich bin sicher, dafür mindestens zweitausend zu bekommen.“

„Was habt Ihr noch geladen?“

„Oh, Zitrusfrüchte, Datteln, Melonen, Seide …“

„Und wie lange könnt Ihr warten, bis Euch die Früchte verderben?“, hakte Gaëlle nach. „Zwei oder drei Tage, schätze ich, denn Ihr wollt sie ja schließlich noch genießbar in Genua abliefern. Karawanen kommen von Süden wieder nur schwer durch, weil Ali al-Efdal gerade eine der wichtigsten Karawanenstationen – Ibelin – hat zerstören lassen. Es kann sein, dass er die Karawanen sogar daran hindert, nach Jaffa oder Akkon zu ziehen. Ich schätze, Eure Gewürze könnt Ihr abschreiben. Wir fahren für den vereinbarten Preis oder wir suchen uns doch einen anderen Schiffseigner, der nicht jede Gelegenheit nutzt, noch ein bisschen mehr Kapital aus einem Geschäft zu schlagen. Dann allerdings fehlen Euch auch unsere tausend Besant.“

„Nun gut, ich bin einverstanden“, erwiderte der seefahrende Kaufmann mit einem Seufzen. „Es wird noch eine Zwischenstation auf Zypern zum Nachfassen von Frischwasser und Proviant erforderlich sein. Wir werden in etwa zwei Wochen dann in Genua sein.“

„Gut. Ich nehme an, Michel hat Euch gesagt, dass wir bei Abreise die Hälfte bezahlen und die andere Hälfte bei Ankunft?“

„Das hat er Mylady. Üblich ist das nicht gerade …“

„Nein, aber sicherer. Bringt uns dorthin, wohin wir wollen und Ihr erhaltet den vollen vereinbarten Fahrpreis.“ 

Vanini nickte.

  

Die Ibeliner schirrten ihre Zugtiere aus, brachten sie an Bord der drei genuesischen Galeeren, luden die Wagen aus, brachten die Inhalte der Wagen in die Frachträume.

„Ein Sarg?“, sagte der genuesische Kapitän, als er vier der Ibeliner Soldaten mit dem Sarg von Gaëlles Wagen kommen sah.

„Ja. Mein Gemahl wurde von Assassinen ermordet. Er hatte noch so viel Zeit, zu bestimmen, dass er zuhause in Frankreich beerdigt werden will“, erklärte die Gräfin. „Deshalb habe ich es auch etwas eilig, Capitaine.“

„Verständlich. Sagt, Mylady, wer seid Ihr?“

„Gaëlle von Ibelin.“

Vanini wurde bleich.

„Ibelin? Dann können wir auf Zypern keinesfalls Proviant fassen! Porca miseria!“, entfuhr es ihm. Er drehte sich zu seinem Steuermann und Lademeister um.

„Alessandro! Dieci barile acqua di più! Pronto! Rapido!“

Alessandro und noch einige Männer verließen eilig das Schiff, um nach der Anweisung des Schiffseigners rasch weitere zehn Fässer Wasser aufzutreiben, damit der Halt auf Zypern entfallen konnte.

„Verzeihung, Mylady. Ich schreie in Anwesenheit von schönen Frauen eigentlich nicht so, aber wenn es eilig ist, werde ich gelegentlich auch laut.“

„Wieso wisst Ihr, dass Zypern für uns Ibeliner gefährlich sein könnte?“, hakte sie nach. Maurizio Vanini lächelte sanft, fast verführerisch.

„Eure Geschichte ist bekannt, Mylady. Der König von Zypern war Euer Gemahl. Wenn wir dort landen, wird er Euch sicher beanspruchen. Ich nehme nicht an, dass dies in Eurem Sinne wäre …“, säuselte er. „Mein Beileid zum Tod Eures letzten Gemahls. Er war ein großer Mann.“

„In der Tat. Deshalb kehre ich auch auf unseren französischen Besitz zurück. Der … Bruder meines Gemahls wird mich unterstützen. Ich habe ihm bereits die Ehe angetragen“, versetzte Gaëlle eisig. Diese Art von Blick und sanftem Säuseln kannte sie.

„Ihr bekommt natürlich meine Kajüte“, bot der Kapitän an.

„Danke, nein. Ich bleibe bei meinen Leuten. Roland, mein persönlicher Diener, wird sich um mich kümmern“, bremste sie die allzu offensichtliche Absicht des Kaufmanns aus, mit ihr ein Techtelmechtel anzufangen. Sie schwebte an Maurizio vorbei. Balian, der schwer bandagiert ihr eher leichtes Handgepäck hinter ihr her trug, musste sich sehr beherrschen, Vanini nicht einen kleinen Schubs zu geben, damit er sich gar nicht erst auf einen Flirt mit der scheinbar verwitweten Frau einließ.

 

Ein stetiger Ostwind trieb die drei Schiffe mit etwa acht Knoten* Geschwindigkeit gen Westen. Sofern der Wind nachließ, befahl Vanini seine Männer an die Riemen*, damit die Schiffe keine Geschwindigkeit verloren.

Weil die Genueser Zypern in respektvollem Abstand passierten und direkten Kurs auf die Meerenge zwischen Kreta und Kasos nahmen, wurden die Galeeren von Zypern aus nicht einmal bemerkt. Capitano Vanini und die Schiffsführer der beiden anderen Galeeren kannten die Gewässer hier auch so gut, dass sie es wagen konnten, auch bei Nacht zu fahren, sofern sie den Sternenhimmel sehen konnten. Zwar benutzten sie auf allen drei Schiffen eine relativ neue Erfindung – die schwimmende Magnetnadel, die stets nach Norden zeigte – aber die Nadeln waren so klein, dass sie mit den zur Verfügung stehenden Leuchtmitteln wie Fackeln oder Kienspänen im Dunkeln nicht zu sehen waren.

Zweieinhalb Tage später durchquerten die Galeeren die Meerenge. Der Seebereich nördlich von Kreta war weitgehend frei von Inseln oder Riffen. Die drei Kapitäne riskierten es dennoch nicht, hier auch nachts zu fahren und gingen im Hafen von Rethymno vor Anker, wo sie auch Proviant und Wasser ergänzten. Am darauffolgenden Morgen, es war der 11. Juni 1193, setzten die Schiffe wieder Segel und nahmen erneut Fahrt in Richtung Westen auf. Zwischen der Insel Andikythira nordwestlich von Kreta und der Nordwestspitze der großen Insel vor der afrikanischen Küste schlugen die Galeeren den Kurs Richtung Straße von Messina ein. Westlich von Kreta gab es bis nach Sizilien weder Inseln noch Riffe, so dass die Kapitäne die Nacht durchfahren konnten.

Drei Tage später, am 14. Juni, legten sie am Morgen in Messina an und verließen den Hafen am 15. Juni im Morgengrauen. Dass die Genueser einen Tag in Messina geblieben waren, lag am Stapelrecht der wichtigen Kreuzfahrerstadt Messina. Das Stapelrecht bedeutete, dass sämtliche zum Verkauf transportierten Waren zunächst in dieser Stadt angeboten werden mussten. Mit dem, was nach einer bestimmten Zeit nicht verkauft war, durften die Händler ihrer Wege ziehen. Nach einem vollen Tag ließ man die Galeeren mit den Ibelinern weiterfahren. Sie segelten weiter nach Norden und erreichten kurz nach Sonnenuntergang die Baia Arena, wo die Galeeren vor Anker gingen. Einen Hafen gab es hier nicht, also auch keine Verzögerung.

Die felsenreiche Westküste des italienischen Stiefels hinderte die Genueser jedoch, bei Nacht zu fahren. Sie sahen sich deshalb genötigt, sich an der italienischen Westküste stückweise nach Norden zu arbeiten, immer gerade so weit, wie sie vom Morgengrauen bis Sonnenuntergang segeln oder pullen* konnten. Bei etwa acht Knoten je Stunde und höchstens sechzehn Stunden Tageslicht war keine größere Strecke als knapp einhundertfünfzig Meilen* möglich. Die meisten italienischen Hafenstädte waren als Handelsstädte des Heiligen Römischen Reiches in der Regel mit dem Stapelrecht privilegiert, so dass jeder Hafenaufenthalt mindestens einen zusätzlichen Tag Aufenthalt bedeutete.

Amalfi und Neapel, Hafenstädte, die nur eine halbe Tagesreise nördlich der Baia Arena lagen, mussten sie nicht anlaufen, sondern konnten mit dem allerletzten Tageslicht des 16. Juni Anzio im Kirchenstaat anlaufen, das als einer der wenigen Häfen unter päpstlicher Hoheit ebenfalls Stapelrecht hatte. Folglich konnten die genuesischen Schiffe mit ihren französischen Passagieren erst am 18. Juni weiterfahren. Der Weg führte an der Küste der Toskana entlang zur Insel Elba, wo sie im Hafen von Porto Azzurro anlegten – und ihre Handelswaren wiederum ausladen durften.

„Das soll doch wohl ein Scherz sein, oder?“, grollte Gaëlle über den erneuten Aufenthalt. Maurizio Vanini lächelte wieder einmal sehr verführerisch.

„Selbst Eure Wut ist wie ein wunderschöner Sonnenuntergang im Tyrrhenischen Meer, holde Gaëlle!“, flötete er. „Nein, es ist kein Scherz, leider“, fuhr er erheblich ernster fort. „Aber wenn wir übermorgen weiterfahren, erreichen wir mit Sonnenuntergang des 20. Juni den Hafen von Genua. Abgefahren sind wir am 6. Juni, so dass meine Prognose von zwei Wochen Fahrt genau hinkommt. Ich habe Euch also weder belogen noch betrogen oder übertrieben. Die Riviera, die Westküste Italiens, schöne Frau, ist ein sehr gefährliches Seegebiet. Es gibt unendlich viele Inseln und Riffe. Wir konnten beim besten Willen nicht nachts fahren.“

„Nun gut, dann sei Euch verziehen“, erwiderte Gaëlle mit einem Gesichtsausdruck, den ein heißblütiger Genuese wie Maurizio Vanini als einladendes Lächeln interpretieren konnte. Er wollte die scheinbare Einladung keineswegs unvergolten lassen und zog die überraschte Gaëlle an sich, um sie zu küssen.

„Nein!“, wehrte sie sich, aber Vanini ließ nicht locker.

„Natürlich meint Ihr ja. Ich kenne euch Frauen besser, als ihr euch selbst. Sei nicht so schüchtern …“, grinste der Kapitän und festigte seinen Griff um sie. Wer würde sich wohl gegen den Kapitän eines Schiffes wenden, der eine verwitwete Frau glücklich machen wollte?

 

 

 

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Kapitel 17

Tarnung

 

Vanini hatte nicht mit dem jungen Neffen Gaëlles gerechnet, der die Szenerie beobachte hatte, und den „aussätzigen Leibdiener“ alarmierte, der gerade auf dem Hauptdeck die Waffen der Seeleute schliff.

Entsetzt prallte Vanini zurück, als ihn eine kräftige Hand von der scheinbar verwitweten Gräfin wegzog.

„Finger weg!“, grollte es aus den Binden.

„Verschwinde, Aussätziger! Sei froh, dass ich dich nicht noch in Ketten legen lasse!“

Mon Capitaine, meine Gräfin hat Euch gesagt, dass sie vergeben ist! Ich werde nicht zulassen, dass Ihr sie gegen ihren Willen …“

„Verschwinde, habe ich gesagt. Du Nichtsnutz hast noch weniger Recht dazu, sie zu küssen!“

„Das, Mylord, trifft nicht zu!“, versetzte der angebliche Aussätzige eisig und entfernte die Binden. Verblüfft bis erschrocken sah der Kaufmann aus Genua, dass unter den Binden nicht die Spur von Lepra war.

„Wer, beim Bart des heiligen Nikolaus, seid Ihr?“

„Ich bin Roland von Ibelin; der Gemahl dieser schönen Frau. Und jetzt sagt mir nochmal, dass ich weniger Recht habe, sie zu küssen, als Ihr.“

Maurizio versagten die Beine den Dienst. Er musste sich setzen und fand zum Glück eine Taurolle, die ihn auffangen konnte.

„Aber wieso … wieso diese Maskerade?“, stotterte er.

„Ihr habt es selbst gesagt, dass es für uns als Ibeliner unmöglich gewesen wäre, Zypern anzulaufen, um dort Wasser und Proviant aufzunehmen“, erinnerte ihn der Graf. „Aber nicht, weil König Guy eventuell Gaëlle zurückgefordert hätte, sondern weil er mir massiv nach dem Leben trachtet. Er hat mir die Assassinen geschickt, die mich beinahe umgebracht hätten. Als ich auf Euer Schiff kam, war ich noch nicht von den Folgen des Attentats genesen. Meine Leute sind auf drei Schiffe verteilt. Wenn Ihr mich gegen gutes Kopfgeld an Guy hättet ausliefern wollen, hätte ich mich dagegen kaum wehren können, weil meine Männer Euren gegenüber jeweils etwas in der Unterzahl sind. Sie sind erfahrene Kämpfer, aber seefahrende Händler müssen sich so oft mit Piraten herumschlagen, dass ich Euch ebenfalls für erfahrene Kämpfer halte. Deshalb habe ich mein Inkognito bisher nicht aufgegeben. Jetzt bin ich gesund …“

Die unterschwellige Warnung in den Worten des Grafen war nicht zu überhören. Auch Vanini erkannte, was er damit gemeint hatte. Er entschloss sich zum Rückzug.

„Dann … dann bitte ich Euch um Vergebung, dass ich mit Eurer Frau anbandeln wollte.“

„Bittet sie um Verzeihung, denn sie hat Euch deutlich gesagt, dass sie nicht will“, versetzte Balian. Vanini verbeugte sich vor Gaëlle.

„Ich bitte Euch für meine Unverschämtheit um Vergebung, edle Gräfin“, sagte er.

„Sie ist gewährt, Monsieur Vanini.“

 

Zwei Tage drauf liefen die Genueser in ihren Heimathafen ein. Michel ging ohne jegliches Abzeichen des Hauses Ibelin an seiner Kleidung von Bord zur nächsten Filiale der Templerbank, um dort eine Geldanweisung einzulösen. Dass sich das Haus Ibelin mit den Templern nicht vertrug, bedeutete nicht, dass man die kluge Erfindung der Templer ausschlug: die Möglichkeit, Geldsummen von einem Ort an den anderen zu verschieben, ohne das Geld gegenständlich mitzuführen. Überall in Europa, besonders natürlich an den Hauptrouten der Kreuzfahrer, hatten die Templer Bankhäuser aufgebaut, in denen Pilger Geld hinterlegen konnten. Sie bekamen dafür einen Depotschein, den sie am Zielort in einer anderen Filiale wieder zu Bargeld machen konnten. Gegen Geldverlust durch Überfälle gab es kaum etwas Besseres, denn diese Scheine konnten noch in den letzten Lumpenecken verborgen werden, wo kein Räuber sie vermutete.

Mit dem Geld kehrte er zum Schiff zurück, Maurizio Vanini bekam seine restlichen fünfhundert Besant, während die Ibeliner ihren Wagenzug schon wieder zusammenbauten, die Wagen beluden und die Zugtiere einspannten. Nachdem alles verstaut war, beschafften sie sich noch Proviant und verließen die Hafenstadt, um gute fünf Meilen außerhalb der Stadt ihr erstes Nachtlager auf europäischem Boden aufzuschlagen.

 

Fast zur selben Zeit, zu der die Ibeliner wieder europäischen Boden erreichten, wurde Asim Edin al-Bakr in Damaskus vor den Sultan gebracht. Die Wächter warfen ihn Ali al-Efdal zu Füßen.

„Wessen klagt man mich an, Beherrscher der Gläubigen?“, fragte er.

„Das weißt du nicht?“, fragte al-Efdal, scheinbar verblüfft.

„Nein, Gebieter. Sie kamen nach Ibelin, forderten mich und die Meinen auf, uns als Gefangene in ihre Gewalt zu begeben. Keiner von uns hatte auch nur eine Ahnung, dass …“

„… euer Verrat längst bekannt war?“, schnaubte al-Efdal. 

„Wir waren dort im Auftrag des Sultans Salahadin; wir haben unsere Pflicht dort erfüllt. Ich weiß nicht, was an unserem Tun Verrat gewesen sein soll“, wehrte sich Asim.

„Ihr habt Ungläubigen Zuflucht geboten!“, fuhr ihn Osman an.

„Zuflucht? Wann sollten wir Ungläubigen Zuflucht geboten haben? In Ibelin gab es keine hilfesuchenden Ungläubigen. Ja, es gab Christen, aber die haben dort schon immer gelebt – mit Wissen und Willen Salahadins. Als wir ohne Warnung angegriffen wurden, waren sie außerdem nicht mehr da. Sie waren bereits in christliches Land abgezogen.“

„So, so … sie waren nicht mehr da. Und wo waren sie?“, fragte Osman, der Atabeg* von Jerusalem, der Asim nach Damaskus gebracht hatte.

„Sie wollten in christliches Gebiet. Wohin sie genau gegangen sind, weiß ich nicht.“

„Du lässt Diener deines Sultans gehen, ohne dich zu vergewissern, was sie tun?“, fauchte Osman.

„Ach, jetzt sind sie plötzlich Diener des Sultans! Eben waren sie noch Zuflucht suchende Ungläubige!“, donnerte Asim zurück. „Mein Gebieter: ich habe nichts Unrechtes getan!“

Al-Efdal winkte ab, als Osman den Mauren niederknüppeln lassen wollte. Der junge Sultan erhob sich. Alle Anwesenden warfen sich zu Boden, auch Asim. Ali trat zu ihm und hob sein Kinn an, bis er ihm in die Augen sehen konnte

„Du … hast geheiratet?“, fragte er.

„Ja, Sidi.“

„Ohne mein Einverständnis einzuholen?“

„Ich hatte das Einverständnis Eures Vaters, Sidi. Yasmina und ich haben noch vor seinem Tod geheiratet.“

„Und ihr Vater Hussein hat das zugelassen?“, fragte Ali spitz.

„Ja, Sidi.“

„Du lügst! Hussein hat die Zusage an dich zurückgezogen und sie mir versprochen!“

„Mir gegenüber nicht. Der Kadi ist mein Zeuge, dass Hussein sie mir zur Frau gegeben hat“, wehrte sich Asim. Das böse Lächeln des Sultans verhieß nichts Gutes, fand er.

„Nun ja, Hussein hat die Spalten in seiner Zunge bereits mit dem Leben gebüßt. Und seine mir untreue Tochter Yasmina ist für ihren Ehebruch nach der Scharia gerichtet worden. Bleibst noch du …“, sagte Ali.

„Ehebruch? Gebieter …“

„Schweig!“, brüllte al-Efdal Asim an. „Yasmina war mein Weib! Die fünfte Ehefrau zwar, aber meine Ehefrau. Auf Ehebruch steht Steinigung, wie du weißt. Osman, ich will nicht, dass das Blut dieses … afrikanischen … Negers … den Boden von Damaskus befleckt. Bring ihn zurück nach Jerusalem. Er soll dort außerhalb der Stadt gesteinigt werden. Es wäre sicher ein besonderes Geschenk an die Gläubigen von Jerusalem, wenn dieser Ehebrecher zum Fest des Fastenbrechens am Ende des Ramadan* unter den Steinen der Rechtgläubigen sein verdientes Ende findet.“ 

Der heilige Fastenmonat des Islam endete in diesem Jahr – nach christlicher Zeitrechnung 1193 – am 28. September. Ali al-Efdal hatte das Urteil Ende Juni 1193 gefällt. Das bedeutete, dass Asim nachdem Rückweg nach Jerusalem noch fast zwei Monate Kerkerhaft im Massenkerker von Jerusalem bevorstanden – vorausgesetzt, er überlebte den Fußmarsch von fast vier Wochen und die eigentlich unhaltbaren Zustände dort.

 

Asim war ein zäher Mann. Er überstand den Rückweg einigermaßen. Der Gestank des Jerusalemer Massenkerkers nach den ungewaschenen Männern, die in ihrem Dreck so an die Wand angekettet waren, dass sie weder richtig sitzen noch liegen oder stehen konnten, raubte dem reinlichen Mauren allerdings glatt den Atem. Er selbst bekam einen Stehplatz genau im Blickfeld des Oberaufsehers und war – anders als die Engländer – mit Lederriemen gefesselt. Die Zustände hatten sich keineswegs verbessert, sie waren noch schlimmer geworden. Die Reihen der englischen Gefangenen hatten sich noch etwas gelichtet. Von denen, die noch vorhanden waren, waren nur noch wenige ohne die entstellenden Beweise islamischer Körperstrafen.

Die beiden, die ihm schon bei seinem ersten Aufenthalt aufgefallen waren, waren immer noch da – und immer noch ganz. Asim fiel bei dem der beiden Männer, den der andere gelegentlich leise als Robin ansprach, unbändiger Überlebenswille auf. Der andere, der Peter genannt wurde, wirkte deutlich schwächer. Auch ihn hielt nur der schiere Wille am Leben. Wenn es in diesem traurigen Verlies überhaupt jemanden gab, der den verzweifelten Mut aufbringen könnte, einen Fluchtversuch zu wagen, dann waren es diese beiden.

Asim musste nicht lang warten, bis sich die Gelegenheit bot, die Robin und Peter konsequent nutzten, für ihre Misshandlungen eine gewisse Rache nahmen. Dass sie sich zunächst etwas zierten, Asim freizulassen, der immerhin zu ihren Kriegsgegnern zählte, war nur zu verständlich. Aber der Maure konnte ihnen klarmachen, dass er den Weg aus dem Kerker kannte. Sie taten sich zusammen und flohen. Auf der Flucht wurde Peter tödlich verwundet, aber Asim und Robin gelang es, nicht nur aus Jerusalem herauszukommen. In einem Dorf einige Meilen westlich der heiligen Stadt konnte Robin sich vom größten Teil seiner während der langen Gefangenschaft gewachsenen wilden Mähne und des nicht weniger wild wuchernden Bartes befreien. Asim hatte dem Bauern, der sie bereitwillig aufgenommen hatte, vorgelogen, Robin sei zum Islam konvertiert und deshalb aus dem Kerker von Jerusalem entlassen worden. Damit kam ihm eine Idee für tarnende Kleidung, die er auch gleich beschaffen konnte. Es waren je zwei einfache, ungesäumte, weiße Tücher, in die sie sich nach einem gründlichen Bad einwickelten.

„Nun ja, immerhin bedeckt es die Blöße“, meldete sich bei Robin der erste Ansatz englischen Humors zurück, als er die Tücher sah, die er eher als Bettlaken klassifiziert hätte. Asim lächelte.

„Von der Umra hast du sicher noch nichts gehört, mein Freund, oder?“

„Nein, was ist das?“

„Eine Pilgerfahrt nach Mekka, dem wichtigsten Zentrum unseres Glaubens. Jeder Muslim ist verpflichtet, wenigstens einmal in seinem Leben nach Mekka zu pilgern – so wie deine Glaubensbrüder nach Jerusalem pilgern …“

„… das ihr uns einfach weggenommen habt und uns daran hindert, diese Pilgerfahrt zu machen“, unterbrach Robin den Mauren.

„Wir unterscheiden die Haddsch, die an den zwölften Monat unseres Kalenders gebunden ist, den Dhu-I-Hiddscha, und eben die Umra, die wir tun können, wann immer es uns möglich ist“, fuhr Asim ungerührt fort. „Dhu-I-Hiddscha ist erst in einem halben Jahr, also können wir das nicht behaupten. Dann sind wir eben auf der Umra. Diese Tücher – ganz einfach, ungesäumt und weiß – sind das äußere Zeichen des Mekka-Pilgers. Wir sind jetzt gebadet und zum letzten Mal bis zum Ende der Pilgerfahrt rasiert und geschoren. So kommen wir unbehelligt nach Ibelin – oder dem, was davon wohl noch übrig ist. Vielleicht finden wir in den Ruinen noch etwas Brauchbares. Von dort ist es nicht sehr weit nach Jaffa, von wo wir sicher eine Passage in dein Land finden werden.“

„Sagtest du gerade Ibelin?“

„Ja.“

Das Ibelin?“

„Welches meinst du? Ich kenne nur eins.“

„Ich meine das, was einmal Balian von Ibelin gehört hat.“

Asim sah den jungen Engländer verblüfft an.

„Kennst du ihn?“

„Ich bin ihm begegnet. Er hat mir die Augen geöffnet, was die Kreuzzüge betrifft. Vielleicht kann er uns weiterhelfen. In Jaffa werden wir sicher erfahren, wo er sich jetzt aufhält“, mutmaßte Robin. „Und woher kennst du ihn?“

„Ich bin ihm ebenfalls begegnet. Mein früherer Herr Imad ad-Din ist ein guter Freund von ihm“, erwiderte Asim mit verhaltenem Lächeln.

„Wie kommt es, dass Balian ein Freund eines Heiden ist?“, fragte Robin, ohne den indignierten Gesichtsausdruck des Mauren zu bemerken.

„Zum Beispiel, indem er von Muslimen nie als Heiden spricht, Christ“, versetzte der eisig. Zunächst packte beide ein heftiger Schrecken, dass Asim so offen von Robin als Christ gesprochen hatte. Reumütig linste er aus dem Badeschuppen Sie waren allein. Der Bauer und seine Familie waren weit entfernt auf einem Melonenfeld, zwei Kinder saßen noch vor dem wenigstens zehn Klafter entfernten Haus und lasen konzentriert Kichererbsen aus. Sie bemerkten nicht einmal, dass einer der beiden Gäste den Kopf aus dem Badeschuppen steckte.

„Aber ihr glaubt doch nicht an unseren Gott …“, bemerkte Robin mit ungespielter Verständnislosigkeit, als Asim aufatmend zurückkam.

„Christ, in meiner Sprache bedeutet Allah Gott. Ich glaube, ihr habt auch keinen anderen Namen für den, den ihr Gott nennt. Ich mache dir einen Vorschlag: Solange wir gemeinsam unterwegs sind, lassen wir die Differenzen beim Glauben beiseite.“

Robin sah ihn einen Moment an.

„Es tut mir Leid. Ich bitte dich um Entschuldigung. Ich wollte dich nicht beleidigen“, sagte er. Asim lächelte.

„Ich vergebe dir.“

 

So als Pilger getarnt machten sie sich am nächsten Tag auf den Weg die alte Pilgerstraße entlang. Zwar mussten sie zu Fuß gehen, aber ihre Verkleidung war perfekt. Das wiederum hatte zur Folge, dass sie gastlich aufgenommen wurden, wo immer sie darum baten. Asim nannte Robin respektvoll Sahib, Herr; es war eine indische Sonderform der arabischen Bezeichnung Sidi, damit er ihn nicht mit seinem Namen anreden musste, der ihn unweigerlich als Christen verraten hätte. Asims Reisen hatten ihn auch nach Indien geführt, wo er diesen Begriff erfahren hatte.

Vier Tage später erreichten sie die Ruinen von Ibelin, die Asim die Tränen in die Augen trieben. Er stand eine ganze Weile da und weinte einfach.

„Hier, mein Freund, siehst du, was geschieht, wenn jemand über Glaubensgrenzen hinweg Brücken schlagen will. Solange es auf beiden Seiten Fanatiker gibt, die nichts anderes hinnehmen als ihre eigene Auffassung, wird es ewig Krieg zwischen uns geben“, schluchzte er. „Robin, ich kenne Balian von Ibelin, ich habe jetzt dich kennen gelernt. Wieso können wir uns dies Land nicht einfach teilen?“

Robin seufzte.

„Weil zu viele von uns nicht wirklich des Glaubens wegen kommen, sondern, um Macht und Land zu bekommen. Dort, wo ich herkomme, ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Landbesitzer seinen Nachbarn angreift oder beim König verleumdet, um sein eigenes Land zu vermehren. Land bedeutet Reichtum. Dafür sind die meisten bereit, zu töten. Ich kam wegen des Glaubens, doch ich habe hier Menschen vorgefunden, die nur vordergründig des Glaubens wegen kämpften. Nein, deshalb bin ich nicht hergekommen. Und ich habe feststellen dürfen, dass ihr nicht weniger gläubig seid als wir. Ihr nennt euren Gott anders, aber im Grunde nennt ihr ihn auch nur Gott, wie du mir gesagt hast. Es war verrückt, des Glaubens wegen gegen euch kämpfen zu wollen. Und es war unfein, herzukommen, um euch Land wegzunehmen. Balian wäre jemand, der dafür sorgen könnte, dass wir uns das Land friedlich teilen. Aber so, wie es hier aussieht, gibt es zu Mächtige, die das verhindern wollen. Du hast Recht. Hier wird noch lange kein Frieden sein“, sagte er.

 

In den Ruinen konnten sie zwar einigermaßen schlafen, sich auch mit Wasser versorgen, aber sonst fanden sie außer ein paar verstreuten Münzen im Wert von nicht einmal zehn Besant nichts Verwertbares mehr. Am folgenden Tag gingen sie weiter. Das christliche Einflussgebiet war nicht mehr weit entfernt. Ab dort konnten sie nicht mehr als islamische Pilger auftreten. Sie brauchten neue Kleidung. Das wenige Geld, was sie hatten, reichte gerade für zwei Honigmelonen und ein paar Kleidungsstücke, die Robin wieder in einen christlichen Reisenden und Asim in einen muslimischen Gesandten verwandelten.

In Jaffa erfuhren sie, dass Balian von Ibelin in Caymon von Assassinen umgebracht worden war und seine Familie das Land vor fast zwei Monaten verlassen hatte – und dass für die Überfahrten nach Europa eher viel Geld verlangt wurde. Unter fünfzig Besant pro Person ging gar nichts.

„Jetzt haben wir ein Problem: Wie bezahlen wir die Überfahrt nach England oder nach Frankreich?“, fragte Robin. Asim zuckte mit den Schultern. Wie sie das Geld auftreiben sollten, wusste er in diesem Moment auch nicht.

 

 

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Kapitel 18

Überraschungen

 

Wie schon auf dem Hinweg zwei Jahre zuvor wollten das Ehepaar von Ibelin und seine Gefolgsleute Gaëlles ehemaligen Schwiegereltern, dem alten Markgrafen von Montferrat und seiner Gemahlin Judith, einen Besuch abstatten. Umso trauriger waren sie, als sie in Casale Monferrato von Markgraf Bonifatius IX. von Montferrat erfuhren, dass seine Eltern – Judith und Guillaume – 1191 verstorben waren.

„Aber … Balian … Gott sei gepriesen! Ihr lebt! Wir hörten, Ihr wäret von Assassinen ermordet worden – wie mein geliebter Bruder Konrad.“

„Es wäre beinahe soweit gekommen, Mylord. Mein Onkel, er hieß ebenfalls Balian, ist dabei tatsächlich ums Leben gekommen. Im Moment bin ich nicht so unglücklich, dass ich ebenfalls als tot gelte – nun, für die meisten Menschen jedenfalls, weshalb ich meinen zweiten Namen Roland nun als Rufnamen angenommen habe. Keinesfalls will ich für jene tot sein, die ich als Verwandte oder Freunde betrachte. Dennoch wäre es mir lieber, wenn Ihr mich bei meinem zweiten Namen nennen würdet.“

„Ba… Roland, was wisst Ihr über den Tod meines Bruders?“, fragte Bonifatius, den neuen Namen eher zögernd aussprechend.

„Ich war dabei, Mylord. Es tut mir Leid, dass ich allein nicht in der Lage war, Euren Bruder zu retten, der mir nicht nur König, sondern Freund war.“

Bonifatius sah ihn lange an.

„Bitte, sagt mir, was geschehen ist“, bat er. Balian berichtete so schonend wie möglich von Konrads Tod.

„Glaubt mir, ich hätte es gern verhindert, aber …“, schloss er. Markgraf Bonifatius winkte ab.

„Ihr habt getan, was Ihr konntet. Ich danke Euch, dass Ihr es überhaupt versucht habt, Graf Roland“, sagte er. „Und wie geht es Euch jetzt? Seid Ihr vollständig genesen?“

„Nein, noch nicht ganz. Ich habe auf der Rückfahrt ein wenig hochstapeln müssen, um Gaëlle vor einem zudringlichen Genueser Kaufmann zu schützen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich die Folgen dieser List hätte tragen können, wenn er es auf einen Kampf hätte ankommen lassen.“

„Dann bleibt doch noch eine Weile hier und erholt Euch erst endgültig“, bot Bonifatius an. „Hier seid Ihr sicher. König Guy hat hier keinen Einfluss. Reist erst weiter, wenn Ihr wirklich dazu in der Lage seid. Ach, es sind so böse Zeiten …!“, fügte er hinzu. „Nicht einmal mehr königliche Pilger sind vor Überfällen geschützt.“

„Wieso?“, fragte Gaëlle.

„Wir hatten einen königlichen Gast. Der König von England hat auf seinem Rückweg hier eine Rast gemacht. Er wollte ebenso wie Ihr meine Eltern besuchen und bestellte noch schöne Grüße von Euch beiden“, antwortete der Markgraf. „Hier bekam er die Nachricht, dass es wohl nicht möglich sei, durch Frankreich zu ziehen, weil ihm der französische König feindlich gesinnt sei. Da hat er beschlossen, über die Alpen und durch die deutschen Lande zu ziehen. Ihr wisst, meine Mutter war eine Tochter des Hauses Babenberg, dem auch Herzog Leopold V. angehört. Er ist der Neffe meiner Eltern, mein Cousin. Auch er war hier, als er vom Kreuzzug zurückkehrte. Bevor er uns verließ, bat er, ihm Nachricht zu geben, wenn einer der anderen Könige, die mit ihm im Heiligen Land waren, hier vorbeikäme. Nachdem Richard sich hier ausgeruht hatte und weiterzog, habe ich Leopold in Kenntnis setzen lassen. Richard hatte es weit, der Weg über die Berge ist schwierig. Ich wollte ihm einen Gefallen tun – aber der Bolzen ist in die falsche Richtung geflogen. Leopold hat Richard gefangen nehmen lassen und fordert ein ungeheures Lösegeld, wie er mir geschrieben hat. Mir ist das alles äußerst peinlich. Keiner von beiden hat auch nur mit einem Wort erwähnt, dass sie sich vor Akkon arg verfeindet hatten. Das hat Leo mir jetzt erst mitgeteilt, nachdem er Richard abgefangen hat. Hätte ich das geahnt, hätte ich Leo gegenüber nie etwas über Richards Besuch erwähnt. Es verstößt gegen den päpstlichen und kaiserlichen Schutz des Pilgers! Ich fühle mich schuldig, dass Richard jetzt buchstäblich in der Klemme ist. Noch viel schlimmer ist, dass Leo Richard an meinen Lehnsherrn, den Kaiser, ausgeliefert hat. Erst hat er in Burg Dürnstein an der Donau gesessen, jetzt hat man ihn nach Burg Trifels am Rhein geschafft, wie ich gehört habe. Der Kaiser macht ihm wohl gerade den Prozess, weil Richard Jerusalem aufgegeben hat.“

Balian lächelte schief.

„Ob es ihm helfen würde, wenn ich beim kaiserlichen Gericht erscheine und dem Kaiser sage, dass ich der Frevler war, der diesen Vertrag ausgehandelt hat?“, fragte er, leicht spöttisch. Bonifatius nahm den keinesfalls ernst gemeinten Vorschlag für bare Münze.

„Nein, tut das nicht!“, warnte er. „Richard wird wenig geschehen. Er ist zu wertvoll, um ihn zu töten. Ihr seid ein politisch wenig bedeutsamer Graf. Euch könnte so ein Geständnis den Kopf kosten.“

„Richard ist mein Cousin, Bonifatius. Ich bin aus dem Hause Anjou und schulde ihm grundsätzlich Treue“, warf Gaëlle ein. „Wieso meint Ihr, Richard würde nichts geschehen? Es ist schon ein Verbrechen, einen Kreuzfahrer, der unter dem Schutz der Kirche und des Kaisers stehen sollte, einfach gefangen zu nehmen und ihm derlei Vorwürfe zu machen!“

„Ja, das ist es zweifellos, liebste Schwägerin. Wisst Ihr, Europa ist zerrissen. Hier in Italien ist es ganz übel, denn hier bekriegen sich die freien italienischen Städte mit dem Kaiser und dessen Gefolgsleuten, die wir hier nach dem Stammsitz der Staufer, Waiblingen in den deutschen Landen, Ghibellinen nennen und dann mischen noch die Guelfen mit. In anderen Sprachen sind sie als Welfen bekannt. Sie sind das andere große Herrschergeschlecht hinter den Alpen in den deutschen Landen. Hier kämpfen ihre Stellvertreter, hinter den Bergen bei den deutschen Zwergen fechten sie selbst um Reich und Krone. Richard von England ist mit dem Herrn des Welfenhauses, Heinrich, genannt der Löwe, verwandt und unterstützt ihn gegen den Kaiser. Der Kaiser ist auch nicht gut Freund mit König Philippe von Frankreich, aber immer noch besser als mit Richard. Euer König will wohl auch noch ein Hühnchen mit Richard rupfen. Der Kaiser droht, ihn an den Franzosen auszuliefern. Ja, es ist ein Verbrechen, aber jene, die mächtig genug sind, sich mit dem Papst zu zanken und dabei meist Sieger zu bleiben, schrecken vor einem solchen Verbrechen nicht zurück, wenn es ihren politischen Zielen dient. Und die bestehen darin, die Gegner auf Distanz zu halten, deren Ansehen zu untergraben oder sie gleich ganz zu vernichten. Und damit bin ich bei Euch, Gaëlle: Wenn Ihr nach Frankreich zurückkehrt und zu laut bekundet, dass Ihr zum Hause Anjou gehört, dass Ihr Richard in irgendeiner Weise gewogen seid, dann geratet Ihr zwischen diese Mühlsteine. Tut das nicht!“, warnte der Markgraf erneut.

 

Etwas später hatten sich die Gäste zur Ruhe zurückgezogen. Gaëlle war seit der eindringlichen Warnung ihres Schwagers sehr still geworden. Jetzt saß sie auf Balians Seite am Bett und wechselte den Verband um seinen Leib. Noch immer war die tiefe Stichwunde im Rücken nicht ganz verheilt.

„Wir haben kaum noch etwas von der Kräutersalbe, die Harun gemischt hat. Hoffentlich gibt es diese orientalischen Kräuter überhaupt hier in der Alten Welt“, seufzte sie. „Wie fühlt sich die Wunde an?“

„Wenn du sie berührst, scheint sie vor Wonne zu schnurren, mein Liebling. Gegen deine sanften Finger kommt kein Schmerz an“, erwiderte er leise. Sein sanfter Hundeblick bewies sein schon wieder viel zu lange unbefriedigtes Verlangen nach seiner geliebten Frau. Er sehnte sich so sehr danach, sie genussvoll zu lieben, mit ihr vor Wonne so richtig zu vergehen. Und wenn sie ihn so wie jetzt zärtlich berührte, wurde es schier unerträglich.

„Bist du für das, was ich in deinen Augen lese, wirklich wieder gesund genug?“, fragte sie.

„Ich bin gesund genug, die Folter zu ertragen, dich nur ansehen, aber nicht berühren zu können. Wieso sollte ich für die Erlösung von dieser Qual nicht gesund genug sein? Bitte, quäl mich nicht noch länger.“

Gaëlle bekam ein schelmisches, verführerisches, ja, ein wenig böses Lächeln, als sie sich über ihn beugte, eben gerade seine Lippen berührte und sich dann wieder zurückzog.

„Du kennst mich“, flüsterte sie, vor Erregung leicht heiser. „Ich spiele gern mal mit dem Feuer, und es macht mir Spaß, dich mit Erwartung zu foltern. Und wenn deine Sehnsucht so groß ist wie jetzt, lasse ich dich gern noch ein bisschen länger zappeln. Deine Freude wird umso größer sein, wenn ich dir erlaube, meinen Schoß zu besuchen. Aber … in Anbetracht deiner noch vorhandenen Verwundung kann ich es leider nicht verantworten, dir noch größere Liebesqual zu bereiten, indem ich jetzt noch einen Schleiertanz wie die ruchlose Salome aufführe. Das würde dich töten. Und das … will ich auf gar keinen Fall.“

Noch halb bekleidet versanken sie ineinander, liebten sich inbrünstig und fielen in den tiefen Schlaf zärtlicher Erschöpfung.

„Himmel, war das schön!“, flüsterte er, als er nach einer Weile aus dem liebesseligen Nickerchen wieder erwachte. „Das kann ich wirklich öfter vertragen.“

Gaëlle schlug etwas mühsam die Augen auf. Nach der leidenschaftlichen Hingabe an ihren geliebten Ehemann war sie wohlig müde und fühlte sich in seiner warmen Nähe bereit zur Reise ins Land der Träume. Sie sah in liebevoll leuchtende, nussbraune Augen, bemerkte eine spöttisch hochgezogene linke Braue und ein liebevoll-schelmisches Lächeln mit äußerst dekorativen Grübchen in den bärtigen Wangen.

„Wirklich?“, fragte sie, nun auch wieder mit schelmischem Lächeln. Es war einfach wundervoll, dass er wieder in der Lage war, nicht nur mit ihr Liebe zu machen, sondern dies auch noch ebenso kraftvoll wie unendlich zärtlich zu tun.

Nicht nur er verlangte nach mehr. Sie selbst auch. Ein erneuter Akt lustvoller Zärtlichkeit trug sie davon und ließ sie schließlich in den Morgen träumen.

 

Als er am Morgen erwachte, wanderte sie schon unruhig durch das gut ausgestattete Gemach, das Bonifatius ihnen zur Verfügung gestellt hatte.

„Guten Morgen, Liebling“, begrüßte er sie. „Was ist denn?“, fragte er dann.

Sie sah zum Bett. Ihre Miene drückte schiere Verzweiflung aus.

„Guten Morgen, Liebster. Hast du gut geschlafen?“

„Ja, das habe ich. Und was treibt dich auf diese Wanderschaft, hm? Hast du schlecht geträumt, mein Herz?“

Sie schüttelte den Kopf und kam zum Bett, setzte sich zu ihm und fühlte sich von ihm umarmt. Seine starken Arme gaben ihr wieder die Sicherheit, die sie seit dem Aufwachen so vermisst hatte.

„Sag mir, was du hast“, bat er und gab ihr einen Kuss.

„Es … es geht … um … um …“

„Richard?“, mutmaßte er sanft. Sie sah ihn erschrocken an.

„Ja …“

„Du möchtest etwas und weißt nicht, wie du es anbringen sollst“, erkannte er. „Komm, sag’s mir einfach.“

Sie lehnte sich an ihn, seine Wärme genießend.

„Ich brächte dich damit wieder in höchste Gefahr. Deshalb …“

Sie brach ab. Nein, sie konnte das nicht von ihm verlangen. Sie mochte ihn nicht einmal darum bitten … Balian wurde klar, was ihr im Kopf herum spukte.

„Du hast die Idee, dass wir Ibeliner Richard aus der Burg Trifels befreien“, sprach er aus, was sie nicht sagen konnte. „Ja, das könnte gefährlich sein und uns wieder zwischen alle Stühle manövrieren. Eigentlich wollte ich mir solche Probleme nicht wieder aufhalsen …“, seufzte er.

„Eben das weiß ich. Deshalb habe ich auch so gezögert.“

Er nickte.

„Weißt du, es ist eigentlich völlig egal, ob wir Richard helfen wollen oder nicht“, sagte er. „Mein Großvater hat schon vor Richards Thronbesteigung davor gewarnt, dass du als eine geborene Anjou immer dessen Haus zugerechnet werden wirst – unabhängig davon, ob du dich für die Interessen der französischen Anjou einsetzt oder nicht. Wenn König Philippe sich mit Richard überworfen hat – was unter regierenden Königen sicher nicht schwierig ist – werde auch ich als Ehemann einer Anjou diesem Haus zugerechnet werden. Du warst Königin, ich bin nur ein kleiner Vizegraf. Insofern wird man mir unterstellen, dass ich den Interessen meiner geliebten Königin diene, auch wenn sie die Krone nicht mehr trägt. So, wie du die Königin meines Herzens geblieben bist, so werden auch andere in dir stets eine Königin sehen – und damit Konkurrenz. Wenn wir also ohnehin in Gefahr sind, dann können wir auch genau das tun, was man uns sowieso vorwerfen wird. Dann haben wir jedenfalls versucht, einem unter Schutz stehenden Kreuzfahrer zu helfen und können – falls wir scheitern – wenigstens mit reinem Gewissen vor Gott treten. Beschütze die Wehrlosen, so lautet der Rittereid. Wer ist denn hilflos, wenn nicht ein unschuldig im Kerker sitzender Gefangener?“

 

In Jaffa suchten Robin und Asim noch immer nach einem Weg, das Heilige Land gen Europa zu verlassen. Jeder Weg, den sie fanden oder der ihnen von anderen gezeigt wurde, war erheblich teurer als ihr schmaler Beutel erlaubte. Robin erwies sich zwar als ausgesprochen geschickter Dieb, aber die Geldbörsen, die er erwischen konnte, waren nicht mit Reichtümern gefüllt.

„Sollte ich je wieder stehlen müssen, werde ich Reiche bestehlen, um den Armen das zurückzugeben, was ich mir gerade unerlaubt von ihnen borge!“, schnaufte Robin, als er mit seiner dünnen Beute in ihre Unterkunft zurückkehrte. „Gott ist mein Zeuge!“, setzte er beschwörend hinzu.

„Und wieso bestiehlst du die Armen, wenn es dich hinterher reut?“, fragte Asim und schliff ein gewaltiges Sarazenenschwert, das er auf einem Basar besorgt hatte – anders gesagt: gestohlen

„Weil sie die Einzigen sind, die ihre Börsen leicht erreichbar tragen. Reiche haben so viele Innentaschen in den Gewändern, dass dort nicht heranzukommen ist. Ich müsste sie berauben. Aber ich wollte gern lebend nach England zurückkehren und nicht in Stücken.“

„Verständlich“, brummte Asim. „Ich habe heute jemanden gesehen und bin ihm gefolgt. Wir haben vielleicht noch eine Chance, ohne weitere Sünden zu dir nach Hause zu kommen. Komm mit!“

Er winkte dem Engländer, gemeinsam verließen sie ihre Unterkunft und gingen durch die Gassen des Basars bis zu einem unscheinbaren Haus, an dem der Maure anklopfte. Es dauerte einen Moment, bis jemand auf Arabisch nach dem Begehr fragte.“

Efta!“, rief Asim. „Ich bin Asim Edin al-Bakr!“

Die Tür wurde aufgerissen.

„Allah sei Dank! Du lebst!“, stieß ein zutiefst erleichterter Imad ad-Din hervor und umarmte den längst totgeglaubten Gefolgsmann unter Freudentränen. „Tretet ein! Tretet ein!“

Erst, als er das Tor geschlossen hatte, bemerkte Imad, dass er einen Christen mit eingelassen hatte.

„Wer bist du, Ungläubiger?“, fuhr er ihn an. „Wieso bringst du einen Ungläubigen hierher?“, fauchte er in Asims Richtung.

„Er ist Robin von Locksley. Ich verdanke ihm mein Leben und habe geschworen, seines zu retten“, erklärte der Maure.

„Bist du Engländer?“, wandte Imad sich, immer noch abweisend an Robin.

„Ja, das bin ich“, versetzte der eisig. „Und glaub mir: Ich bin ebenso wenig davon erbaut, in das Haus eines mir nicht bekannten Heiden zu kommen, wie du mich nicht als nach deiner Meinung Ungläubigen hier sehen willst.“

„Imad: Er ist ein Freund von Balian von Ibelin!“, beschwor Asim seinen früheren Herrn.

„Ist das wahr?“, hakte der Araber nach.

„Ja, das ist wahr. Er hat mich vieles gelehrt und mir den Kopf zurecht gesetzt, als ich Fehler gemacht habe. Damals habe ich ihn dafür gehasst, jetzt bin ich nur noch wütend, dass der König von Jerusa… äh, Zypern diesen wunderbaren Freund durch Assassinen hat ermorden lassen.“

„Das setzt die Sache in ein anderes Licht. Vergib mir bitte meine Ablehnung. Freunde von Balian sind auch meine Freunde. Ich bin Imad ad-Din“, erwiderte Imad. „Ihr könntet mir helfen, Balians Tod zu rächen. Seid ihr bereit?“

„Was hast du vor?“ fragte Robin.

 

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Kapitel 19

Durch die Alpen I

Maßarbeit

 

In Casale Monferrato bekam Markgraf Bonifatius ein hintergründiges Lächeln, als Gaëlle beim Frühstück darum bat, ihnen einen guten Weg heimwärts zu weisen.

„Es gibt zwei mögliche Wege“, sagte er. „Ihr könnt von hier aus nach Nordwesten ziehen, durch das Aostatal. Der Weg hat zwei Haken: erstens kommt Ihr durch einen Ort mit Namen Châtillon. Wenn ich recht unterrichtet bin, pflegt Ihr keine guten Beziehungen zur Familie de Châtillon. Zweitens: Der Weg führt über den Mont Blanc oder um das gewaltige, Furcht erregende Massiv dieses wohl höchsten Berges dieses Gebirges. Ich weiß nicht, ob ich Euch zu diesem Weg raten soll. Der zweite mir bekannte Weg wäre wohl der einfachere: nach Norden, über Mailand nordwärts nach Como, am Fluss Ticino aufwärts bis zum Lukmanierpass. Der ist zwar auch grausig hoch, aber er ist auch für Wagen geeignet und Teil eines bedeutenden Handelsweges in die deutschen Lande. Hinter dem Lukmanierpass reist Ihr durch das vordere Rheintal abwärts, folgt dann dem Rhein weiter bis zum Bodensee, über Constantia* dem Rhein weiter abwärts bis nach Basel. Dort könnt Ihr dem Rhein weiter abwärts folgen und im Pfälzer Wald über den Ort Annweiler, bei dem sich auch die Burg Trifels befindet, nach Westen abbiegen, dann müsst Ihr nur noch den Pfälzer Wald und Lothringen durchqueren und seid in der Grafschaft Champagne. Das ist doch Verwandtschaft Eures Lehnsherrn oder?“

„Ja, ist es. Und … so ganz nebenbei … könnten wir nachsehen, ob Richard noch in der Burg schmachtet, oder?“, schmunzelte Balian.

„Oh, wie seid Ihr nur darauf gekommen?“, klatschte Bonifatius geradezu begeistert in die Hände.

„Wir haben schon verstanden, dass Ihr es gern sehen würdet, wenn wir versuchen würden, Euer Missgeschick zu entschärfen“, lächelte Balian. „Der Weg nach Hause ist weit – ganz gleich, ob wir uns hier nach Westen wenden und am Meer entlang ziehen, wie wir gekommen sind, oder ob wir direkt nach Norden durch die Alpen ziehen und uns erst in den deutschen Landen nach Westen wenden. Ich vermute, es macht keinen großen Unterschied. Und wenn wir nebenbei noch unserem Neffen den Gefallen erweisen können, seine Eltern zu besuchen, dann soll es mir recht sein. Danke für den Reiserat.“

 

Zwei Wochen blieben die Ibeliner in Hause des Markgrafen zu Gast. Einerseits, weil Balians Wunde endgültig heilen sollte, bevor sie weiterzogen, andererseits, weil Bonifatius darauf bestand, dass Gaëlle ihren 33. Geburtstag am 6. Juli in seinem Hause feiern sollte. Er ließ sich wahrlich nicht lumpen, was das Fest betraf.

„Ich habe eine Königin zu Gast – ob ehemalig oder nicht. Gaëlle, für mich werdet Ihr immer eine Königin bleiben, so wie für Euren Gemahl Roland. Und eine Königin verdient eine große Geburtstagsfeier!“, wehrte er jeglichen Versuch ab, in dieser Hinsicht Bescheidenheit walten zu lassen.

 

Am 8. Juli, es war ein Donnerstag, zogen die Ibeliner schließlich weiter, nahmen den Weg nach Norden in Richtung Mailand, das sie drei Tage später erreichten. In der norditalienischen Ebene behinderte nichts ihren Weg. Doch ihnen allen war klar, dass sich das in den Alpen ändern würde. Vor ihnen lag der seit ewigen Zeiten als Handelsroute genutzte Lukmanierpass zwischen Birizona* und Alivoni*. Die Tatsache, dass es diesen Pass mindestens seit den Tagen der Römischen Republik gab, bedeutete nicht, dass sich der Berg nicht gelegentlich Wanderern widersetzte.

In Mailand machten sie einen Tag Pause, beschafften frischen Proviant und Wasser und zogen am 15. Juli nach Como weiter. Es war ein Weg von zwei Tagen bis dort. In der lieblichen Umgebung des Comer Sees machten sie abermals einen Tag Pause, bevor es nach Lugano am Luganersee weiterging. Von dort gelangten sie ins Tal des Ticino, dem sie nordwärts über Birizona und Alivoni folgten. Hier waren sie bereits mitten in den Alpen.

Die gewaltigen Bergmassive, die rechts und links des relativ breiten Tessiner Tales flößten den Männern Respekt ein, den Frauen und Kindern zum Teil richtige Furcht.

Alivoni war der letzte bewohnte Ort vor dem Lukmanierpass, den der Zug von zehn Wagen am 21. Juli 1193 erreichte. Die Männer und Frauen unter dem Banner Ibelins sahen mit einigem Schrecken, in welch engen Kehren sich der Passweg nach oben wand. Sie konnten es recht gut erkennen, weil gerade ein Säumerzug den Passweg nach Süden herunterkam.

„Und da sollen wir mit den Wagen hinauf kommen?“, fragte Michel zweifelnd.

„Es ist schon spät. Wir werden die Strecke morgen erkunden!“, entschied Balian. „Michel, Martin, Mathieu: Ihr drei kommt mit mir. Wir reiten hinauf und sehen, wie es vorwärts geht. Martin, nimm dir eine Zeltstange, die mindestens so lang ist wie unser breitester Wagen breit. Wenn sie länger ist, markiere sie mit der größten Breite dieses Wagens. Mathieu, du machst das gleiche, aber für den längsten Wagen. Markiere sie mit der größten Länge des festen Wagenkastens unseres längsten Wagens. Damit werden wir feststellen, ob wir den Pass mit den Wagen überqueren können.“

Die beiden Jungen liefen zu den Wagen, um ihre Vermessungen zu machen.

„Sind sie nicht noch ein bisschen jung für eine so verantwortungsvolle Aufgabe, Mylord?“, fragte Michel erschrocken. Balian sah ihn mit sanftem Lächeln an.

„Irgendwann muss ich beide wirklich fordern. Ich habe feststellen dürfen, dass es dann, wenn es darauf ankommt, am besten funktioniert, mein Freund. Dann, wenn Fehler tödlich sind. Und deshalb möchte ich, dass du mitkommst, damit sie nicht allein vor einer wirklich schweren Aufgabe stehen.“

„Warum tust du ihnen das an?“, hakte Michel nach.

„Martin wird einmal König sein und die Verantwortung für ein ganzes Volk tragen. Er wird schrecklich einsame Entscheidungen treffen müssen. Mathieu ist sein bester Freund. Sollte er Martin nach Wengland folgen wollen, wenn er als Ritter dorthin zurückkehrt, würde ich das unterstützen, denn ein König braucht enge Vertraute, die ihm helfen können, die ihm aber auch mal den Kopf zurechtsetzen können. Sie können sich jetzt schon fast blind aufeinander verlassen. Dieser Pass wird für sie beide vielleicht das sein, was Kerak für dich, Almaric und mich war. Danach wussten wir, was der andere tut, ohne ihn anzusehen.“

Michel nickte und erwiderte das ansteckende Lächeln seines Herrn, der sich nur in seltenen Fällen überhaupt als Herr zu erkennen gab. Dass er schlichte Befehle wie diese gab, konnten seine Männer an einer Hand abzählen …

 

Am Morgen kamen die Jungen mit den markierten Zeltstangen zu den Pferden, sattelten ihre über Nacht ausgeruhten Pferde, wie die beiden Männer es auch taten. Balian nahm sie beide an den Schultern.

„Ob wir jetzt gut weiterkommen, hängt jetzt ganz allein davon ab, ob ihr jetzt ernsthaft arbeitet. Nicht nur ich – wir alle verlassen uns jetzt darauf, dass unsere jungen Knappen den richtigen Weg finden. Ihr schafft das, da bin ich sicher.“

Er drückte sie beide fest an sich.

„Los, in den Sattel mit euch!“

Das Vertrauen Ihres Herrn und Erziehers ehrte die beiden Jungen mehr, als Michel und der Rest der Ritter Balians ihnen zugetraut hatten. Martin schwang sich auf sein Pferd, Mathieu gab ihm die beiden Stangen zum Halten und saß selbst auf, nahm seinem Freund sein Längenmaß wieder ab. Sie trieben die Tiere an, die beiden Männer folgten ihnen auf ihren Pferden.

Nachdem sie den Einstieg zum Passweg erreicht hatten, nahmen sich Martin und Mathieu gewissenhaft jede Biegung vor und prüften mit ihren Maßstäben nach, ob die Wagen die Kurve nehmen konnten. Je höher sie kamen, desto enger wurde der Weg, aber schon gleich in der zweiten Serpentine nach dem Beginn des Aufstiegs gab es eine Stelle, an der jedenfalls der lange Wagen nach Mathieus Längenstab nicht um die Ecke kam. Ein Felsen versperrte hier einen Teil des Weges.

„Und jetzt, Mylord?“, fragte Mathieu verstört. Noch mehr verblüffte ihn, dass sein Herr sich auf einem Blatt Papier Notizen machte. Er war nur selten ohne Schreibkohle und Papier, mochte das erheblich teurere Pergament in Europa auch immer noch die klösterlichen Schreibstuben dominieren. Meist steckten diese Dinge in einem seiner Stiefel.

„Mylord?“, hakte er nach.

„Ich habe diese Stelle als Gefahrenstelle markiert, Mathieu. Miss noch einmal genau nach, wie lang der Wagen sein darf. Markiere das auf deinem Stab“, wies der Graf ihn an.

„Ja, Mylord.“

 

Bis zum Sonnenuntergang hatten sie die Passhöhe erreicht und fanden gastliche Aufnahme in einem von Mönchen betriebenen Hospiz. Sie hatten nur wenig über der ersten Gefahrenstelle noch zwei weitere gefunden, die Schwierigkeiten machen würden.

„Was hast du da gezeichnet, Onkel Ba… Roland?“, fragte Martin interessiert, sich nur knapp korrigierend, weil Balian ihm und Mathieu eingeschärft hatte, ihn nun bei seinem zweiten Namen zu nennen. Der Graf zog das kleine Päckchen Schreibzeug aus dem rechten Stiefel und breitete das Papier auf dem Tisch aus, an dem sie gerade ein sehr einfaches Abendessen aus Brot, Bier und einer Fleischsuppe eingenommen hatten. Es zeigte eigentlich nur eine schwarze Schlangenlinie, die unten am Papierrand begann und sich in Serpentinen nach oben fortsetzte. Am unteren Rand hatte Balian Alivoni notiert, den Ort unten am Fuß des Passweges. Jetzt schrieb er hinter die letzte Biegung der Schlangenlinie Hospiz Lukmanierpass.

„Das ist der Weg, den wir heute hier herauf geritten sind. Hier, an dieser Stelle ist die Markierung für die erste Gefahrenstelle, diese hier für die beiden weiteren. Das ist eine ungefähre Karte des Weges hier herauf. Das gleiche werde ich auch morgen machen, wenn wir auf der anderen Seite abwärts reiten“, erklärte er. „Mathieu, was hat deine Messung ergeben, wie lang der Wagen sein darf?“

„Moment, ich hole meine Stange, Mylord!“

Der Junge verschwand kurz in dem Schlafsaal, den die Mönche den beiden Rittern mit ihren Knappen zugewiesen hatten, und kehrte mit seiner Messstange zurück.

„Hier, Mylord. Es fehlt eine gute Handbreit“, sagte er.

„Handbreit ist ja so eine Sache …“, lächelte Balian. „Sieh mal“, sagte er und streckte seine eigene kräftige Hand aus. Mathieus Hand – die eines gerade vierzehnjährigen Jungen – war deutlich schmaler als die von unzähligen Hammerschlägen und vielen Kämpfen mit dem Schwert geübte Hand des erwachsenen Schmiedemeisters und Ritters.

„Michel?“, forderte er seinen zweiten Mann auf, der auch seine Hand dazulegte, die noch breiter war als Balians.

„Also – es ist deine Handbreit“, sagte der Graf. „Unter Erwachsenen wäre das eine halbe Handbreit. Nein, sieh mich nicht beleidigt an. Deine Hand wird noch wachsen und eines Tages auch so kräftig und breit sein wie meine oder die von Michel. Das ist nicht dein Fehler, Mathieu. Wir müssen uns nur auf einen gemeinsamen Maßstab einigen. Wir nehmen deinen, denn du hast das nachgemessen. Deine Hand ist halb so breit wie die von Michel. Dann hat Michel zwei Mathieu-Handbreiten. Einverstanden?“

Mathieu wuchs wieder ein Stück, stolz darauf, seinem Herrn ein echter Maßstab zu sein.

„Ja, Mylord!“

„Martin, wie hast du Mathieu eigentlich dazu gebracht, dich einfach mit dem Vornamen anzureden?“, fragte Balian seinen Neffen.

„Er hat mich nie anders angesprochen, Onkel“, erwiderte der Prinz.

„Mathieu, ich möchte, dass du mich einfach nur mit Vornamen nennst. Lass Mylord weg, gut?“

„Aber mein Vater hat mir gesagt, ich solle Euch so anreden!“, protestierte der Junge.

„Das kläre ich mit ihm, wenn wir wieder in Alivoni sind. Ab jetzt nur noch Roland, gut?“

„Ja, My … Roland.“

„Ich wusste gar nicht, dass du es nicht magst, mit Mylord angeredet zu werden, Mylord“, grinste Michel. Alle vier lachten heiter.

„Gut“, sagte Balian, als sie wieder beruhigt hatten. „Wir werden uns den Wagen nochmal genau ansehen. Wenn wir nichts abbauen können, muss der Stein weichen. Eine Handbreit von Mathieu sollte mit meinen Meißeln aus dem Stein zu schlagen sein. Der lange Wagen fährt als letzter Wagen. Alle anderen können dann schon bis zur Passhöhe fahren“, stellte der Graf seinen Plan für die Weiterfahrt vor.

„Schade, dass wir nicht drunter durch fahren können“, warf Martin ein. Er träumte von einem Tunnel unter dem Berg hindurch – ein Traum, der erst viele Jahrhunderte später unter Beteiligung eines seiner Nachfahren beim benachbarten Gotthardpass in Erfüllung gehen würde. Und ganz wie er selbst und sein Freund Mathieu würde dieser Nachfahre den richtigen Weg vermessen …

 

Am folgenden Morgen machten sich die zwei Männer und zwei Jungen die unangenehme Erfahrung, dass das Wetter über Nacht umgeschlagen war. Dichter Nebel umgab das Hospiz wie ein weißer Pelz.

„Ist der Weg eigentlich markiert?“, fragte Balian den Bruder, der ihnen das Frühstück gab.

„Nein, aber es ist der einzige Weg, Bruder“, erwiderte der Mönch. „Ihr könnt ihn nicht verfehlen.“

Der französische Ritter nahm die Erklärung zur Kenntnis und beschloss, den Weg doch lieber mit seiner Schreibkohle zu markieren. Die Ibeliner stärkten sich für den Tag, verpackten sich wetterfest und machten sich dann auf den Weg ins Tal. Mit ihren weiteren Messungen erreichten sie den Ort Disentis.

Der Ort wurde beherrscht von einem großen Klostergebäude, einer Fürstabtei, deren grundherrliche Rechte im Tal bis fast hinauf zum Oberalppass und auch jenseits des Lukmanierpasses bis in die Lombardei hinein galten. Die Mönche der Abtei nahmen die Reisenden freundlich auf und bewirteten sie.

„Ihr … kommt aus dem Heiligen Land?“, erkundigte sich einer der Mönche, der französisch sprach.

„Ja“, erwiderte Balian. „Woran erkennt Ihr das?“

„Mir scheint, Ihr seid Kreuzritter, so wie Eure Waffenröcke geschmückt sind.“

„Ja, das ist richtig“, bestätigte der Graf. 

„Weshalb kehrt Ihr zurück? Noch immer beherrschen die Heiden Jerusalem!“, ereiferte sich der Mönch.

„Was wisst Ihr von den Sarazenen?“, fragte Balian.

„Genug, Mylord, genug! Diese Abtei wurde im Jahre des Herrn 940 von diesen vom Teufel gesandten Ungläubigen geplündert und niedergebrannt. Mühsam haben es unsere uns vorausgegangenen Mitbrüder wieder aufgerichtet!“

„940? Das ist über zweihundertfünfzig Jahre her“, erwiderte der Graf. „Es ist sicher richtig, dass wir Christen vor den Muslimen im Heiligen Land waren, mein Freund. Ja, sie haben das Land etwa im Jahre des Herrn 630 erobert und unseren Vorfahren dort weggenommen. Aber es hat sich als haltlose Lüge erwiesen, dass Christen unter muslimischer Herrschaft nicht ihren Glauben ausüben durften. Es war uns Christen ebenso erlaubt wie den Juden unter der Voraussetzung, dass eine Kopfsteuer gezahlt wurde. Genauso, wie es Muslimen auf Sizilien erlaubt ist, gegen Zahlung der Steuern ihren Glauben auszuüben. Wir hatten weder Anlass noch Grund, Jerusalem gewaltsam zurückzufordern. Nun, nachdem wir es getan haben, uns dort wie die Barbaren aufgeführt haben, hat es dem Herrn gefallen, dass wir Jerusalem an die Muslime verloren haben. Dennoch, Bruder, dürfen Christen dort inzwischen wieder beten und die Messe feiern. Ich finde, das ist mehr wert, als eine weltliche Herrschaft über diese Stadt.“

„Nun, geistliche Herrschaft kommt ohne weltliche Macht oft nicht aus“, kam eine Stimme von der Tür des Refektoriums. Der Bruder, der die beiden Ritter und die Knappen bedient hatte, verbeugte sich ehrerbietig. Balian und Michel, die mit dem Rücken zur Tür saßen, weil sie in einem Kloster keine Gefahr erwarteten, drehten sich um. In der Tür stand ein reich gewandeter Geistlicher, der Mitra nach entweder der Abt des Klosters oder ein Bischof, der hier ebenfalls pausierte. Balian, Michel und die Jungen erhoben sich und verbeugten sich leicht. Der geistliche Würdenträger kam näher und bot den Männern den unübersehbaren Ring an seiner rechten Hand zum Kuss. Gehorsam küssten die beiden Ritter den kostbaren Ring, den beiden Jungen gewährte der Geistliche Segen, indem er ihnen jeweils die rechte Hand auf den Kopf legte und das Kreuzzeichen über sie machte.

„Wer seid Ihr?“, fragte er schließlich in einwandfreiem Französisch.

„Ich bin Roland von Ibelin, dies ist mein treuer Michel, Mathieu, der Sohn eines weiteren Gefolgsmannes und mein Zögling Martin“, erwiderte der Graf.

„Roland … von … Ibelin“, widerholte der Geistliche langsam. „Ich habe von einem Ibelin gehört. Mein weltlicher Herr, der König von Wengland, hieß ihn, seinen Sohn zu erziehen. Seid Ihr das?“

Balian nickte.

„Der bin ich.“

„Wo ist der Prinz?“

„Mylord, ich bitte Euch, mir zunächst Euren Namen zu nennen“, forderte Balian ihn zur Erwiderung der Vorstellung auf. Er lächelte hintergründig.

„Ich bin Bartholomäus, Bischof von Wachtelberg, Graf von Wachtelberg, Mitglied des Thronrates des Königreiches Wengland, Kanzler des Königreiches Wengland. Genügt Euch das als Legitimation?“

„Gewiss, Mylord. Exzellenz, Ihr habt Euren Thronfolger vor Euch. Dieser junge Mann hier ist Prinz Martin von Wengland“, stellte Balian seinen Neffen vor und nahm ihn liebevoll an der Schulter. Der Bischof sah verblüfft von dem erwachsenen Mann zu dem Jungen.

„Ehrlich, ich hätte ihn eher für Euren Sohn gehalten, Mylord Roland.“

„Ihr seid wahrlich nicht der Erste, der das mutmaßt. Aber ich schwöre Euch bei der Heiligen Dreifaltigkeit, dass dieser Junge hier der Sohn meiner geliebten Schwester Marie, Eurer Königin, und Eures Königs Rudolf ist.“

„Seid Ihr auf dem Weg nach Wengland?“, fragte Bartholomäus.

„Wir sind auf dem Weg nach Frankreich. Aber Wengland liegt auf dieser Route auf unserem Weg. Wir beabsichtigen, dort einen Besuch zu machen. Martin ist viele Jahre nicht mehr zu Hause gewesen. Ich denke, seine Eltern könnte interessieren, was aus ihrem kleinen Jungen geworden ist, den sie mir zur Erziehung anvertrauten“, erwiderte Balian lächelnd in einem blitzartigen Entschluss. Mit nichts konnte die eher seltsame Route, die sie von Genua nahmen, besser erklärt werden, als mit einem nach Jahren einmal notwendigen Besuch bei den Eltern seines Zöglings …

 

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Kapitel 20

Durch die Alpen II

Lehren auf dem Weg

 

Am folgenden Morgen überquerten die beiden Männer und die Jungen den Pass erneut, diesmal in Südrichtung. Weil sie auf der Nordrampe keine problematischen Stellen gefunden hatten, waren sie bereits gegen Mittag auf der Passhöhe und erreichten das Dorf Alivoni am Abend. Dabei sahen sie sich die ausgemachten Gefahrenstellen nochmals an. 

Die Sonne war an diesem 25. Juli gerade untergegangen, als der Erkundungstrupp das Lager der Ibeliner in dem Dorf südlich des Passes erreichte. Gaëlle empfing ihren Mann ebenso sehnsüchtig nach ihm selbst wie nach Nachrichten über den weiteren Weg.

„Der Weg ist gut – von drei Stellen abgesehen, die wir aber mit etwas Arbeit erweitern können. Wenn wir morgen das Lager abbrechen, können wir bis zum Abend auf der Passhöhe sein. Der Weg von dort hinunter ist einfacher als hier hinauf. In zwei Tagen sind wir in Disentis. Nachdem, was ich gesehen habe, geht es von dort wieder leicht weiter“, erklärte er, nachdem er sich aus einem intensiven Kuss mit seiner geliebten Frau gelöst hatte. Sie lehnte sich an ihn. Ihnen stand ein harter Tag bevor, aber danach wären vielleicht die größten Strapazen der Alpenüberquerung beendet.

 

Die Sonne des darauffolgenden Tages fand die Ibeliner bereits mit gepackten Wagen. Noch früher waren Balian, Almaric, Michel, Martin und Mathieu auf den Beinen gewesen. Almaric sollte den Treck führen, die anderen vier wollten die Gefahrstellen aufsuchen und nach Möglichkeit so entschärfen, dass der Wagenzug passieren konnte. Ein Anhalten in der Steigung wollte Balian möglichst vermeiden. Deshalb sollten alle ohnehin passenden Wagen zuerst fahren, die beiden in Länge oder Breite an bestimmten Stellen aus dem Rahmen fallenden Gefährte sollten als letzte fahren, um nicht den ganzen Zug aufzuhalten, wenn die Maßnahmen des Erkundungstrupps nicht fruchteten.

Der Weg war steil. Die Zugtiere hatten sich zwar zwei Tage ausgeruht, hatten gut zu fressen und zu saufen bekommen, waren geübt, aber die Südrampe des Lukmanierpasses forderte ihnen alles ab. Der Zug erklomm langsam den Passweg. Jede der steilen und engen Kurven war eine Herausforderung für sich – obwohl die erste Wagengruppe keine Probleme mit der Wegbreite hatte. Immer wieder rutschten die Tiere in den engen Windungen auf dem freigetretenen Fels aus. Stangen hinten an den Wagen, gestemmt von drei bis vier Männern, bremsten die Gefährte gegen ein Wegrutschen nach hinten.

Währenddessen hämmerte Balian auf den Meißel ein, um das störende Felsstück an der ersten Gefahrenstelle abzustemmen. Der Stein war zäh, aber schließlich gab der Brocken nach. Der Baron atmete auf und schob den abgeschlagenen Klumpen beiseite, fort vom Weg. Er vergewisserte sich noch einmal, dass die Felskante hier nicht mehr störte und stieg dann mit Martin weiter nach oben, um sich die nächste Gefahrenstelle vorzunehmen.

Als sie dort schon die nächste in den Weg ragende Felsnase bearbeiteten, kam der Zug mit den Wagen an der ersten entschärften Stelle vorbei. Martin beobachtete die Fortschritte des Wagenzuges, der besser vorankam, als sein Onkel es wegen des schmalen Weges befürchtet hatte.

„Es klappt gut, Onkel!“, meldete er strahlend. Balian lächelte matt. Er schwitzte in der heißen Vormittagssonne, während er den nächsten Felsvorsprung bearbeitete.

„Hier, trink etwas!“, sagte Martin und gab ihm den Wassersack. Das Lächeln seines Onkels verbreiterte sich.

„Danke“, sagte er, nahm den Wassersack und ließ sich Wasser in den Mund laufen. „Du warst im Orient, oder?“, fragte er spitzbübisch. Martin das ihn verwirrt an.

„Aber …“

Lachend strubbelte Balian ihm den Kopf.

„Natürlich weiß ich das. Ich habe dich ja dahin verschleppt! Glaub‘ mir, das wird die Reaktion von so ziemlich jedem sein, dem du hier in Europa unter ähnlichen Umständen Wasser anbieten wirst.“

„Wieso? Ist es denn so ungewöhnlich, jemandem, dem heiß ist, Wasser anzubieten?“, erkundigte sich der Junge verblüfft.

„Ja, denn Europa ist ein wasserreiches Land. Deshalb kommt hier kaum jemand auf die Idee, wie unendlich wichtig es ist, genügend zu trinken – genügend sauberes Wasser zu trinken. Wir werden unsere Wasserflaschen oben am Pass nachfüllen müssen. Ich werde dir dort etwas zeigen“, kündigte der Vizegraf an.

„Und was?“, fragte Martin. Balian lächelte geheimnisvoll.

„Denk schon mal drüber nach, was es sein könnte. Aber erst, wenn wir das hier erledigt haben.“

Er setzte den Meißel wieder an und schlug mit neuer Kraft den Vorsprung ab.

„Was meinst du, Onkel Ba… Roland: Ob uns Onkel Tiberias wohl vermisst?“, fragte Martin plötzlich. Der Vizegraf drosch ob dieser Frage am Meißel vorbei und traf mit dem Hammer direkt auf den Stein, der einen breiten Riss bekam. Er brauchte einige Augenblicke, um die Frage zu verdauen.

„Ja, wahrscheinlich …“, räumte er dann ein und ruckte noch einmal kräftig an dem bereits gerissenen Stein. Ein kurzer Nachschlag mit dem Meißel genügte, um den Vorsprung vom gewachsenen Fels zu trennen. Er legte ihn sorgsam beiseite, außerhalb des Weges.

„Er … weiß nicht Bescheid, oder?“

Balian schüttelte schweigend den Kopf.

„Und … wieso hast du ihn nicht …“

„… benachrichtigt? Martin, ich war längere Zeit dem Tod näher als dem Leben. Ganz ehrlich: ich hab‘ ihn schlicht vergessen. Wenn deine Tante ihm nicht eine Nachricht geschickt hat, weiß er wirklich von nichts.“

„Verstehe. Entschuldige bitte.“

Balian sah seinen Neffen einen Moment an.

„Da ist nichts, weshalb du um Entschuldigung bitten müsstest. Du hast mich an ein mögliches Versäumnis erinnert. Es ist die Aufgabe eines Ritters, an möglichst alles zu denken, was bedenkenswert ist. Und einem guten und langjährigen Freund wie Raymond von Tiberias Nachricht darüber zu geben, was man zu tun beabsichtigt, ist bedenkenswert. Ich danke dir.“

„Sag mal, wieso haben so viele Leute Angst davor, einem anderen ein Versäumnis vorzuhalten?“, erkundigte sich der Prinz.

„Nicht jeder reagiert so wie ich, mein Junge. Besonders höhere Adlige sind gegen Kritik in jeglicher Form äußerst empfindlich. Sie fühlen sich persönlich beleidigt, wenn man sie an ein Versäumnis erinnert. Es gibt Länder, in denen es tödlich enden kann, den König zu beleidigen. Und oft ist der sehr schnell beleidigt. Ein schräger Blick kann in manchen Regionen ausreichen, der Majestätsbeleidigung angeklagt zu werden. Das endet für den Angeklagten meist mindestens im Kerker, sehr gerne auch am Galgen oder auf dem Schafott.“

„Hmm – und dann soll der Ritter stets die Wahrheit sagen? Ist das nicht lebensgefährlich? Wie kann man so etwas verlangen?“

„Es gibt … zwei Arten von Wahrheit, Martin: Die eine, die eigene Verfehlungen nicht verschweigt, die andere, die dem Gegenüber schonungslos die wirkliche Meinung sagt“, erwiderte Balian und winkte seinem Neffen, um zur dritten Gefahrenstelle zu gehen. „Der Rittereid meint beides. Aber jemand anderem kann man auch halbwegs schonend klarmachen, was man von seinem Tun hält. Das nennt man Diplomatie. Es ist nicht immer nötig, mit der Tür ins Haus zu fallen.“

„Machst du das immer so?“, hakte der Junge nach.

„Inzwischen ja. Aber einmal bin ich zu wahrheitsliebend gewesen. Und möglicherweise habe ich deiner Tante damals Unrecht getan.“

„Wieso?“

Balian erzählte Martin von dem ersten Streit mit Gaëlle, als er sich geweigert hatte, der Grund für Guys Hinrichtung zu sein und er ihr an den Kopf geworfen hatte, dass sie nur wisse, dass Jerusalem ihr gehöre, dass es Krieg geben würde – und dass sie wohl der Meinung sei, er sei wie Guy und würde seine Seele verkaufen.

„Au weia!“, entfuhr es dem Jungen. „Und was hat sie gesagt?“

„Sie war schwer beleidigt. Eine Prinzessin hört sich solche harschen Worte nicht gern von einem kleinen Baron an, nicht mal, wenn sie ihn liebt. Sie meinte, ich würde es noch bereuen, nicht ein kleines Übel begangen zu haben, um etwas wirklich Gutes zu bewirken – und sie hatte Recht. Als ich dann erfuhr, dass sie kurz darauf, als sie schon für ihren Sohn Balduin regierte, an Saladin geschrieben hatte, dass der Friede ihres Bruders bewahrt werden solle und die Grenzen respektiert werden sollten, habe ich mich fast in Grund und Boden geschämt, ihr solche Vorwürfe gemacht zu haben. Das hätte ich diplomatischer anbringen können. Und außerdem – vielleicht hatte sie das ohnehin vor. Schließlich war auch sie von meinem Vater erzogen worden.“

„Also, wenn du sie erst auf die Idee gebracht hast, kann sie aber gut mit Kritik umgehen. Und wenn sie das ohnehin vorhatte, hat sie es dir wohl nicht wirklich übelgenommen. Ich finde, sie wäre in beiden Fällen eine großartige Frau.“

Balian lächelte.

„Darum liebe ich deine Tante ja auch so sehr“, erwiderte er versonnen. „Ich würde für sie sterben.“

„Ist es Liebe, wenn man füreinander sterben will?“

„Ja, jedenfalls, wenn es um einen Mann und eine Frau geht.“

„Aber kann würde man nicht auch für seinen besten Freund sterben?“

„Ja, aber das ist eine andere Art von Liebe, Martin. Liebe, das spielt sich zwischen Mann und Frau ab. Unter Männern nennt man das Freundschaft. Ich würde für Almaric oder Michel auch sterben, aber ich liebe sie nicht. Nicht so, wie ich Gaëlle liebe. Sie sind aber meine Freunde; so gute Freunde, dass wir uns blind verstehen, dass jeder weiß, was der andere tut, ohne ihn anzusehen.“

„Und … und wie gut bist du mit Onkel Tiberias befreundet?“

Balian lächelte schief.

„Raymond ist wie ein Vater für mich. Er war der beste Freund meines Vaters und hat mir sehr geholfen, mich im Heiligen Land zurechtzufinden.“

„Und dann hast du ihn einfach vergessen?“, hakte Martin ungläubig nach.

„Wie gesagt: Ich war nach dem Überfall der Assassinen lange dem Tod deutlich näher als dem Leben, Martin. Richtig erholt habe ich mich erst in Casale Monferrato. Da war es schon längst zu spät, Raymond von Tiberias noch zu benachrichtigen. Ich hoffe, Gaëlle hat ihn informiert. Wenn nicht … muss ich ihm einen Brief schreiben und ihm das alles erklären.“

Onkel und Neffe erreichten die oberste Gefahrenstelle, die Michel und Mathieu bereits entschärft hatten. Von dort beobachteten sie, wie die Wagen näher rückten.

„Es klappt“, bemerkte Balian mit erleichtertem Seufzen. „Jetzt müssen wir noch die speziellen Fälle an den riskanten Stellen vorbeibekommen. Kommt, zurück nach Alivoni.“

 

Die beiden Männer und die beiden Jungen bestiegen ihre Pferde und ritten dem Wagenzug entgegen. Der Weg bis zur ersten, der untersten Kehre des Passes, war vom Einstieg bei Alivoni weit nach Süden gezogen, um die ersten Klafter Höhe ohne zu starke Steigung zu gewinnen. Dieser Weg war zu schmal, als dass die Reiter die Wagen im Gegenverkehr hätten passieren können. Sie blieben auf der Wiese des ersten Absatzes oberhalb des Dorfes stehen, bis der letzte der normal dimensionierten Wagen vorbei war, dann setzten sie den Weg nach unten fort.

Als sie die Wagen erreichten, schlichen in einiger Entfernung schmutzige Gestalten herum, die die Fuhrwerke mit Blicken bedachten, die Balian und seine Leute nichts Gutes ahnen ließen. Die Männer schirrten die Zugtiere in die Wagen ein. Zusätzlich zu den eigentlichen Zugtieren banden sie ihre Pferde noch als zusätzliche Zughilfe vor die schweren Kaltblüter. Zwei richtig große Ochsen – eigentlich lebender Reiseproviant, aber wegen ihrer Gutmütigkeit die Lieblinge der Kinder – nahm Melisende als Hilfe zum Nachdrücken an den Führstricken.

„Melisende, was ist eigentlich auf diesen beiden Wagen drauf?“, fragte Balian, der das Packen der Wagen wegen seines Zustandes nicht wirklich mitbekommen hatte.

„Hier, auf diesem ist Almarics und mein Hausstand“, sagte sie und klopfte an die Seite des langen Wagens. „Und außerdem fahren unsere Kinder darauf mit.“

„Und auf dem anderen?“

„Euer Hausstand, Mylord – der zweite Wagen mit Eurem Eigentum. Und einer Truhe, über deren Inhalt ich nichts weiß – und auch nicht wissen will.“

Er lächelte sanft. In der Truhe war ein Großteil des Geldes der Familie Ibelin, fast einhunderttausend Besant*. Das war erstens schwer und zweitens wertvoll.

„Das erklärt mir die gierigen Blicke dieser Fremden“, seufzte der Graf.

Die beiden Wagen setzten sich schwerfällig in Bewegung. Melisende folgte den Wagen zu Fuß, um die Ochsen nötigenfalls zum Nachdrücken einzusetzen. Der leichtere Hausratwagen der Hauptmannsfamilie fuhr vor, der schwere Truhenwagen, auf dem noch einige, eher leichtere Dinge wie Bettzeug und Kleidung waren, folgte in einem Abstand, der auch ein Anhalten in der Steigung nicht zum Schreckgespenst machte. Dennoch wollten sie alle möglichst nicht anhalten müssen. Für die Zugtiere war es schwer genug, die Gefährte den trotz einer geschickten Anlage der Passstraße immer noch relativ steilen Weg hinauf zu schleppen. In der Steigung anzufahren wäre eine zusätzliche Belastung.

Die erste Gefahrenstelle war gleich die erste enge Kehre hinter dem Einstieg zum Pass. Der breite Hausratwagen kam dank der verbreiterten Einfahrt in die Kehre problemlos um die Kurve. Michel, der den Wagen fuhr, bemerkte, dass sein Fuhrwerk hinten frei war, die Kehre passiert hatte und trieb die Kaltblüter – sein eigenes und Balians Schlachtross – mit Rufen und Peitschenknallen zu schärferem Tempo an. Der Wagen ruckte und bewegte sich merklich schneller nach oben.

Der Truhenwagen war zwar schmaler, aber deutlich länger als der Hausratwagen. Hier bestand das Problem, dass das lange Gefährt fast genauso lang war wie die Kehre breit. Dafür hatte Balian am Ausgang und in der Mitte der Kehre Fels abgeschlagen. Es kratzte vernehmlich, als die Zugtiere den Wagen über den ausgetretenen Felsuntergrund zerrten und der Wagenkasten rechts innen an der Kehrenmitte entlang schliff. Balian fluchte leise. Aus Sorge, dass die Länge immer noch nicht passte, war er ein paar Fuß* zu weit rechts in die Kehre eingefahren.

„Melisende – lass die Ochsen rechts am Wagenkasten nachdrücken!“, rief er.

„Wir kommen, Mylord!“, rief die Frau des Hauptmanns.

„Hilfst du ihr, Martin?“, fragte der Vizegraf.

„Mach‘ ich“, bestätigte der Junge, sprang hinten vom Wagen und nahm Melisende den Strick des außen laufenden Ochsen ab, dem die Kinder den Namen Berthel gegeben hatten.

„Komm, Berthel, helfen wir Onkel Roland!“, forderte er das Tier auf und zog ihn näher an den Wagen heran. Folgsam schloss der Ochse zum Wagen auf, ebenso Jakob, den Melisende führte. Die Tiere stießen langsam mit den dicken Köpfen an den Kasten und drückten nach. Der Kasten wurde allmählich vom Fels weggedrückt. Ein Stein neben dem linken Hinterrad gab plötzlich nach, der Wagen sprang ein Stück nach links und war frei.

„Los! Hü!“, rief Balian auf dem Bock des Wagens, knallte vernehmlich mit der Peitsche. Die beiden Kaltblüter und die beiden Reisepferde davor machten einen kleinen Sprung und zogen das Fuhrwerk schneller nach oben.  

 

Wegen der immer wieder eintretenden Verzögerungen kamen der Hausrat- und der Truhenwagen erst vier Stunden nach allen anderen auf der Passhöhe an, obwohl sie nur eine gute Stunde später abgefahren waren.

Sie alle waren müde und erschöpft, besonders aber die Zugtiere. Die Mönche auf der Passhöhe kümmerten sich liebevoll um die hungrigen und durstigen Tiere, während die Menschen sich ihr Abendessen selbst bereiteten. Manch einer spürte erst jetzt, wie groß sein Hunger eigentlich war.

„Du wolltest mir hier noch etwas zeigen, Onkel Roland“, erinnerte Martin.

„Ja, das stimmt. Aber es ist schon dunkel. Da kannst du es nicht mehr sehen. Morgen früh, bevor wir aufbrechen“, schlug Balian vor.

„Dann sag mir wenigstens, was es ist.“

Der Graf lächelte und zog das Blatt Papier aus der Tasche, auf dem er auf beiden Seiten die Passstraße aufgezeichnet hatte. Er hielt es senkrecht, so dass im Licht des Feuers beide Seiten sichtbar waren. Mathieu rückte ebenfalls interessiert näher.

„So verläuft unser Weg“, sagte Balian. „Hier, auf der für mich rechten Seite, sind wir heute hinaufgestiegen. Und morgen werden wir auf der für mich linken Seite wieder hinabsteigen. Hier vor uns liegen zwei kleine Flussrinnen, die von dem Berg da herunterkommen. Die eine geht nach links, die andere nach rechts, die Wasser fließen dann zur einen oder zur anderen Seite hinunter.“

„Und was ist daran so besonders, dass du mir das extra zeigen willst?“, fragte Martin verblüfft. Sein Onkel lächelte.

„Du erinnerst dich noch, welcher Fluss an Liechtenstein vorbei zum Bodensee fließt?“

„Ja, das ist der Rhein“, erwiderte der Junge.

„Gut. Wohin fließt der Rhein?“

„Durch die deutschen und die niederen Lande in das Meer im Norden“, erwiderte der kleine Prinz.

„Sehr gut. Hier links hinunter geht es zum Rhein, dem wir ab morgen bis fast an unser Ziel folgen werden. Wir sind einen anderen Fluss entlang nach Birizona und weiter nach Alivoni gezogen. Wisst ihr noch wie die Flüsse heißen?“

„Der große ist der Ticino, von dem sind wir das Tal nach Alivoni hinauf gezogen. Den Namen von dem kleineren Fluss weiß ich nicht“, erwiderte Mathieu.

„Es ist der Brenno, der in den Ticino mündet. Wohin fließt der?“

„In die andere Richtung, nach Süden. Kann es sein, dass der in großen Fluss mündet, an dem Casale Monferrato liegt? Po heißt der“, sagte Martin.

„Sehr gut. Und wohin fließt der Po?“

„Nach Osten, Richtung Venedig und mündet da ins Mittelmeer“, gab Martin sein Wissen wieder, das er auf der Reise eingesogen hatte.

„Also der Rhein fließt nach Norden, der Ticino in den Po nach Süden und ins Mittelmeer. Dann stehen wir hier an einer ganz besonderen Grenze. Denn alles, was da nach Disentis hinunter fließt, läuft in den Rhein und in das Meer im Norden. Und was rechts abläuft, landet im Ticino, im Po und dann im Mittelmeer. Hier, an dieser Stelle, Kinder, scheiden sich die Wasser des Nordmeeres und des Mittelmeeres“, erklärte der Graf. „Das hier ist eines der großen Naturwunder, mit denen Gott diese Erde gesegnet hat. Merkt euch das gut, denn ihr könnt es hier mit eigenen Augen sehen – morgen früh, wenn es wieder hell wird.“    

 

 

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Kapitel 21

Durch die Alpen III

Rheinabwärts

 

Der folgende Morgen präsentierte die schroffen Felsen des Alpenhauptkammes wieder in strahlender Sommerschönheit. Das Leben in dem kleinen Lager der Ibeliner erwachte, geweckt von den warmen Strahlen der Sonne.

Die Strahlen beschienen die zum Kreis zusammengefahrenen Wagen, aus denen hier und da die ersten Köpfe herausschauten. Innerhalb des Kreises waren die Zugtiere untergebracht, damit sie sich nicht über Nacht beim Grasen zu weit entfernten oder von weniger zurückhaltenden Bergbewohnern einfach gestohlen wurden. In der Mitte des Wagenkreises war auch das heruntergebrannte Lagerfeuer, an dem die meisten Ibeliner am Abend zuvor gesessen hatten.

Nach und nach kamen alle Reisenden aus den Wagen. Einer der Mönche bemerkte die beginnende Aktivität und trat zu Balian. Der hatte sich eine Schüssel Wasser geholt, um sich an seinem Wagen zu waschen und sich den Bart nachzustutzen. Der Klosterbruder bekam einen roten Kopf, als er den Kreuzritter nur mit einer langen schwarzen Hose bekleidet an dem ausgeklappten Waschtisch seines Wagens antraf.

„Guten Morgen, Bruder“, grüßte er und versuchte verzweifelt, den Blick nicht an dem muskulösen Oberkörper seines Hospizgastes haften zu lassen.

„Guten Morgen“, erwiderte Balian mit dem ihm eigenen, sanften Lächeln und hielt in seinem Tun inne.

„Wir … äh … wir kommen gleich zur Laudes zusammen, zum Gebet um die Stunde des Sonnenaufgangs. Wollt Ihr Euch mit Euren Leuten anschließen?“

Balian sah um den Wagen herum, was an sonstiger Aktivität in seinem Lager war. So ziemlich alle waren inzwischen auf den Beinen.

„Ich denke, wir werden kommen“, erwiderte der Vizegraf. „Danke für die Einladung.“

Der Klosterbruder verbeugte sich und entfernte sich mit immer noch knallrotem Kopf.

 

Wenig später hatten sich die Brüder des Hospizes und ihre durchreisenden Gäste vor einem aus Felsbrocken errichteten Altar mit Kreuz versammelt, der wie die Apsis der Klosterkapelle nach Osten ausgerichtet war, in Richtung der aufgehenden Sonne.

Nachdem die Laudes beendet war, kehrten die Reisenden zu ihren Wagen zurück. Balian nahm Martin und Mathieu an den Schultern.

„Da, seht mal!“, sagte er und wies auf die beiden Rinnsale, von denen er am Vorabend gesprochen hatte. Die beiden Jungen folgten dem Hinweis ihres Herrn und Erziehers.

„Ganz ehrlich: besonders bedeutsam sieht es nicht aus“, sagte Martin. Es klang ein wenig enttäuscht.

„Weißt du, Martin, nicht alles, was wirkliche Bedeutung hat, muss auch bedeutend aussehen. Von unten sieht dieser Berg ganz sicher bedeutend aus. Hier oben auf der Passhöhe sehen wir dem Berg sozusagen ins Auge – und manches, was von unten unerreichbar oder sehr bedeutend ausschaut, verliert bei näherem Hinsehen einiges von seiner Abgehobenheit.“

„Onkel Roland?“

„Ja?“

„Gilt … gilt das auch für … für Menschen?“

„Ja, sogar noch viel mehr als für ein solches Naturwunder, vor dem wir hier stehen. Du wirst einmal König sein, Martin. Wenn du es sein wirst, denke immer daran, dass du weiterhin ein Mensch bist, kein völlig neues Wesen. Als König bist du bedeutend – sehr bedeutend, denn von deinen Entscheidungen wird das Wohl und Wehe deines Volkes abhängen. Deine Entscheidungen sollten von der Frage bestimmt sein: Was ist gut für mein ganzes Volk?, und nicht davon, was für dich persönlich dabei positiv sein kann.“

„Das werde ich, Onkel Roland“, versprach Martin. Balian drückte ihn und Mathieu an sich.

„Und bleibt solche Freunde, wie ihr seid. Ihr sollt einander blind vertrauen können.“

Beide nickten im Takt.

„Gut, dann sattelt eure Pferde. Ihr werdet uns ins Tal führen.“

Der Wagenzug setzte sich in Richtung Disentis in Bewegung, Martin und Mathieu ritten als Führer an der Spitze des Trecks. Weil der Höhenunterschied zwischen der Passhöhe und dem Talboden auf der Nordseite weniger groß war als auf der Südseite, war der Weg auf der Nordrampe nicht so steil wie im Süden. Deshalb waren auch keine derart engen Kehren wie auf der Südseite notwendig gewesen, die die Wagen behinderten. Der Zug kam ohne Schwierigkeiten am späten Nachmittag im Kloster Disentis an.

 

Bischof Bartholomäus von Wachtelberg sah den Zug eher zufällig den Berg herunterkommen und blieb staunend stehen, als er bemerkte, dass dem Zug zwei sehr junge Reiter vorausritten. Der geistliche Oberhirte des Königreichs Wengland blieb an dem Platz stehen und erwartete die Reisenden dort vor dem Tor und verneigte sich vor dem den Zug anführenden Martin.

„Willkommen in Disentis, mein Prinz“, grüßte er. „Euer Vater kann stolz auf seinen Sohn sein.“

„Ich grüße Euch, Bischof Bartholomäus, Graf von Wachtelberg!“, rief Martin und winkte ihm zu. Er drehte sich im Sattel um.

„Onkel Roland, wohin sollen die Wagen jetzt gefahren werden?“, rief er nach hinten. Balian, der den Passweg entlang ganz am Ende des Zuges geritten war und erst nach Erreichen des Talbodens zur Hälfte des Zuges aufgeschlossen hatte, kam nach vorn.

„Nun, das erfragt der Zugführer beim Gastgeber“, erwiderte er lächelnd. „Und das bist heute du. Also, erkundige dich beim Bruder Pförtner, ob wir aufgenommen werden und wohin die Wagen gefahren werden sollen“, setzte er hinzu. Martin stieg von seinem Pferd und ging zur Klosterpforte, um den Einlass zu erbitten; Mathieu folgte ihm umgehend. Der Klosterbruder empfing die beiden Jungen freundlich.

„Seid gegrüßt, Ihr jungen Herren und danket Gott, dass er Euch heil über den Pass geführt hat“, sagte er.

„Habt Dank für Euren Gruß. Seid Ihr der Bruder Pförtner?“, fragte Martin.

„Der bin ich. Und wer seid Ihr?“

„Ich bin Martin, Page des Vizegrafen Roland von Ibelin. Dies ist mein Freund Mathieu, ebenfalls Page beim Vizegrafen von Ibelin. Wir erbitten Nachtlager für unseren Herrn, seine Familie und das Volk, das mit uns reist. Werdet Ihr uns Obdach gewähren, Bruder Pförtner?“

„Woher kommt Ihr?“

„Wir kommen aus dem Heiligen Land und sind auf dem Weg nach Frankreich.“

„Da macht Ihr aber einen Umweg, Bruder“, bemerkte der Pförtner.

„Wir nahmen diesen Weg, weil unser Herr auf dem Heimweg noch einen Verwandtenbesuch machen möchte“, erwiderte Martin.

„Folgt mir, ich zeige Euch den Platz, an dem Ihr Eure Wagen abstellen könnt.

 

Wenig später waren die Wagen in einem Innenhof des Klosters untergebracht, die Pferde standen in besonderen Stallungen, die für Reisende eingerichtet waren. Das reisende Volk war über zwei große Pilgerhallen verteilt, in denen sie ihre Bettstätten auf Strohlagern herrichten konnten. Als alles soweit fertig war; bauten sie in der Mitte der Bettengasse in einer der beiden Hallen eine lange Tafel auf, an der alle sitzen konnten und bereiteten in der Feuerstelle am Ende der Halle einen einfachen Eintopf zu, der alle satt machen sollte.

Bischof Bartholomäus, vom Abt des Klosters über den Aufenthalt der Ibeliner informiert, kam in die Halle, um Prinz Martin, seine Erzieher und deren vornehmste Gefolgsleute an seine Tafel einzuladen.

„Onkel Roland, unser Bischof ist da. Kann er auch mit uns essen?“, bat Martin.

„Wenn er möchte, selbstverständlich. Wenn es für hundert reicht, reicht es auch für den Hundertersten. Willkommen bei uns, Exzellenz!“, begrüßte Balian den Geistlichen mit einem Kopfnicken. Bartholomäus hielt ihm die rechte Hand mit dem Bischofsring absichtlich so niedrig hin, dass er sich deutlich tiefer verbeugen musste, um den Ring gehorsam küssen zu können.

„Eigentlich … wollte ich Euch, Eure Gemahlin, Euren Zögling und zwei oder drei Eurer Ritter zu mir nach oben einladen, Mylord Roland …“, erwiderte der Bischof verblüfft.

„Eure Einladung ehrt mich sehr. Doch bitte ich um Nachsicht, dass ich auf einer Reise stets mit meinen Männern und allen Mitreisenden speise. Ihr seid uns als Gast an unserer Tafel herzlich willkommen, wenn Ihr mögt“, lud der Vizegraf ein.

„Ist es nicht unter der Würde eines Adligen, mit gemeinem Volk zu speisen?“, wunderte sich der Bischof.

„Täusche ich mich, oder hat unser Herr Jesus nicht gerade mit Bettlern und Zöllnern gespeist?“, mischte sich Gaëlle ein. „Diese Menschen – Männer, Frauen und Kinder – sind uns durch alle Gefahren gefolgt, hochwürdigster Bischof. Mein Gemahl und ich ehren diese treue Gefolgschaft, indem wir uns auf Reisen niemals von unseren Leuten trennen. Nur deshalb können wir uns auch blind auf sie verlassen. Kommt, seid unser Gast und lernt das einfache Volk Ibelins kennen, Mylord Bischof!“

Zögernd setzte sich der Bischof auf den ihm angebotenen Platz zwischen Martin und Mathieu. Balian nahm am Kopf der Tafel Platz.

„Sind alle da?“, fragte er. Ein vielstimmiges

„Ja, Mylord!“, antwortete ihm.

„Wir haben heute einen Gast bei uns: Bartholomäus, den Bischof von Wachtelberg und Grafen von Wachtelberg im Königreich Wengland, wohin wir von hier aus weiterreisen werden. Willkommen, hochwürdigster Bischof, im Kreise der Ibeliner Pilger. Erweist uns bitte die Ehre, das Dankgebet für Speise und Trank zu sprechen.“

Der Bischof stand auf, segnete die Speisenschüssel, die vor ihm stand und sprach ein lateinisches Dankgebet.

„Darf ich Euch auftun?“, bot Martin an.

„Gern, mein Sohn“, dankte der Bischof. „Aber … du, ein königlicher Prinz, bedienst bei der Tafel eines Grafen?“, bemerkte er dann.

„Ich bin meines Onkels Page. Selbstverständlich bediene ich bei der Tafel, Mylord Bischof“, lächelte der Junge. Bartholomäus nickte und ließ Martin tun, was er tun wollte. Unausgesprochen beschloss er, den König davon zu unterrichten, mit welch niederen Diensten sein Sohn gedemütigt wurde …

„Sagt, mein Freund, hättet Ihr etwas dagegen, wenn ich mich Euch mit meinen Begleitern anschließe?“, fragte er. „Wenn Ihr ohnehin nach Wengland wollt, könnten wir Euch gewiss behilflich sein. Martin kann sich sicher an viele Dinge nicht erinnern oder war selbst noch nie dort. Was meint Ihr?“

„Gut, abgemacht“, lächelte der Vizegraf.

 

Am folgenden Morgen setzten die Ibeliner und der Graf von Wachtelberg mit einer Abteilung von zwölf Johanniterrittern den Weg den Rhein abwärts von Disentis fort.

„Ich schlage vor, dass wir bis Ilanz reisen und dort die Nacht verbringen“, sagte Bartholomäus, als die ganze Karawane etwa eine Stunde unterwegs war. „Es sind gute zwanzig Meilen; das ist eine vernünftige Tagesleistung im Gebirge.“

„Danke für den Rat, den nehme ich gern an“, erwiderte Balian.

Die Straße für die Wagen führte zunächst auf der linken Rheinseite gen Osten und leicht nach Norden. Nach knapp zehn Meilen führte der Wagenweg über eine Furt auf das rechte Rheinufer. Von Süden, aus dem Hornwald kommend, mündete ein Bach in den noch schmalen Rhein. Die Furt im Rhein lag einige Dutzend Klafter östlich der Einmündung und war mit grobem Gestein nur so gepflastert. Auf dem nördlichen Rheinufer konnten die Wagen aber beim besten Willen nicht weiterfahren, weil hier Felsen im Weg waren, die bis an den noch recht schmalen Fluss heranreichten. Zwar war der Fluss wirklich nicht tief – die Männer standen kaum bis zu den Oberschenkeln im Wasser – aber sie hatten doch Mühe, die Wagen unbeschadet auf das andere Ufer zu bringen, weil der Untergrund sehr uneben war. Das Übersetzen an dieser Stelle ging nur langsam voran und nötigte die Männer zu höchster Aufmerksamkeit

Balian hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. Eine solche Stelle, an der Wagen nur mit Mühe über den Fluss setzen konnten, lud zu einem Überfall geradezu ein. Er sah den weiteren Pfad entlang, der im weiteren Verlauf immer näher an den dichten Wald heranführte und schließlich darin verschwand.

„Wohin führt dieser Weg?“, fragte er Bruder Wenzel.

„Nach oben auf den Weg nach Ilanz. Er verläuft deutlich oberhalb des Flusses, der sich hier schon tiefer in das Gestein gräbt.“

Hinter ihnen rumpelte es vernehmlich. Die Pferde erschraken und brachen aus, dass die beiden Ritter sich nur knapp im Sattel halten konnten. Erst nach drei oder vier unkontrollierten Galoppsprüngen hatten sie die Tiere wieder im Griff.

„Vorsicht!“, brüllte Wenzel, der den Stein, der sein und Balians Pferd scheu gemacht hatte, auf einen der Wagen zu poltern sah. Die Männer, die den Wagen gerade aus dem Wasser manövrierten, konnten nur noch beiseite springen. Der Felsen krachte in den Wagen und machte Kleinholz aus ihm und dem Inhalt.

Die Umstehenden rannten augenblicklich hinzu, um zu helfen. Balian konnte gerade noch vermeiden, dem Helferinstinkt zu folgen, weil ihn sein Soldateninstinkt warnte.

„Almaric! Zehn Leute helfen am Wagen, alle anderen sichern zum Wald!“, befahl er – und der Befehl wurde keinen Moment zu früh befolgt. Mit lautem Gebrüll stürzten wohl an die zwanzig wild aussehende Menschen auf den mühsam übersetzenden Wagenzug zu. Pfeile schwirrten durch die Luft, die die Ibeliner und Johanniter aber mit ihren Schilden abfangen konnten. Der Gegenangriff der Ibeliner, gedeckt von den Johannitern, vertrieb die Angreifer. Zehn wachsame Posten blieben in respektvoller Nähe zum Waldrand, der den Angreifern viel zu gute Deckung bot, um sie Erfolg versprechend zu verfolgen.

„Ist jemand verletzt?“, erkundigte sich Balian, als er zu dem zerstörten Wagen zurückkehrte.

„Nein, es war gottlob niemand darauf. Aber ein guter Teil von Michels und Jaziras Hausrat ist gerade baden gegangen“, erklärte Mathieu.

„Schirrt die Pferde aus. Die Wagenreste müssen da weg, sonst können die übrigen Wagen nicht übersetzen. Mathieu, nimm mein Pferd!“, wies Balian den Sohn seines Hauptmanns an und stieg ab. Mathieu nahm den Rappen und brachte ihn beiseite.

Während Balian und Almaric, die körperlich stärksten Männer der Ibeliner den hinteren Wagenteil unter Aufbietung aller Kraft anhoben, damit drei weitere Männer ihn auf der Hinterachse aus dem Wasser schieben konnten, sah Martin einen Korb vom Wagen vorbeitreiben.

„Halt‘ das mal!“, wies er Mathieu an, legte sich eine Leine um den Leib, warf Mathieu das andere Ende zu und sprang ins Wasser. Er bekam den Korb zu fassen und konnte ihn festhalten. Mathieu legte die Leine um den Vorderzwiesel des Sattels von Balians Pferd und stabilisierte seinen Freund damit. Er nahm ihm den Korb am Ufer ab. Martin tauchte wieder in dem kalten Wasser unter und fand noch einige Besteckteile und Becher aus Michels Besitz, die er wieder an die Oberfläche brachte und Mathieu gab. Schnell fanden sich noch einige der Ibeliner Jugendlichen, die dem Prinzen dabei helfen wollten.

„Nicht ohne Leine! Das Wasser ist reißend!“, mahnte Martin. Drei weitere Jungen leinten sich an Pferden an und suchten so gesichert den Grund des Rheins nach den Besitztümern Michels und Jaziras ab.

 

„Habt Ihr das gesehen, Graf Roland?“, platzte Bischof Bartholomäus der Kragen.

„Was?“

„Das da!“, donnerte der Kirchenmann und wies auf die anscheinend badenden Jugendlichen. Balian, Almaric und Michel sahen sich verblüfft an.

„Was wird das, junge Herren?“, fragte Balian, der nach der Bergung der Wagenreste nicht weniger triefend nass war als die jungen Leute, die an Leinen im Rheinwasser tauchten. Martin kam gerade wieder hoch und schwenkte grinsend einen silbernen Becher, auf dem Jaziras Name eingraviert war.

„Wir suchen Michels und Jaziras Eigentum wieder zusammen!“, rief er strahlend.

„Seid ihr noch gescheit?“, entfuhr es Michel. „Das ist doch alles irgendwie ersetzbar! Nein, kommt aus dem Wasser!“

Die Jungen sahen Balians Gefolgsmann verstört an.

„Aber, Michel …“, setzte Martin an, der über die augenscheinliche mangelhafte Dankbarkeit richtig enttäuscht war. Balian schüttelte den Kopf und winkte beschwichtigend ab.

„Michel, die Jungen haben das freiwillig getan, um dir und Jazira zu helfen. Du könntest wenigstens danke sagen, dass sie euch unnötige Ausgaben ersparen wollen“, sagte er. Jetzt bekam Michel einen roten Kopf.

„Tut mir Leid, Jungs. Natürlich bin ich euch dankbar für das, was ihr tut. Versteht das nicht falsch. Aber ihr setzt euer Leben für ein paar Becher aufs Spiel. Und das ist kein Silberbecher wert. Bitte, kommt aus dem Wasser.“

„Lass uns noch ein letztes Mal tauchen. Wenn wir dann nichts mehr finden hören wir auf, einverstanden, Michel?“, feilschte Martin.

„Ja, ist gut. Macht es so“, lächelte Michel. Martin und die anderen Jungen tauchten wieder unter.

„Mylord Roland! Unser Kronprinz riskiert sein Leben für ein paar lächerliche Becher!“, fauchte der Bischof. Balian sah ihn kühl an.

„Mylord Bischof, Martin ist der Sohn meiner Schwester. Sein Vater hat mich zu seinem Erzieher bestellt. Ihr mögt ein Graf seines Heimatlandes sein, aber Ihr habt keinerlei Verfügungsgewalt über mich oder meinen Neffen. Schon gar nicht hier, außerhalb Eures Landes“, versetzte Balian. „Dieser Junge, Mylord, wird eines Tages Euer König sein. Er tut gut daran, Entschlussfreude zu zeigen, denn er wird schrecklich einsame Entscheidungen treffen müssen, wenn er die Krone seines Vaters erben wird. Solange seine Ideen dazu dienen, anderen zu helfen, werde ich jede dieser Ideen unterstützen – nötigenfalls unter Einsatz meines eigenen Lebens. Und dabei ist es völlig gleich, ob er einem Bauern sein Schwein zurückbringt oder ob er einem Fürsten das Leben rettet.“

„Wir sind gerade angegriffen worden!“, erinnerte der Bischof zornig.

„Wenn Ihr meint, dass wir hier schleunigst verschwinden sollten, seht Euch bitte um. Die Hälfte der Wagen ist erst übergesetzt. Die Jungen können dabei nicht viel tun. In der Zeit, in der die restlichen Wagen auf diese Flussseite gebracht werden, können sie nach Michels Eigentum suchen, Mylord“, erwiderte der Vizegraf.

„Der König wird davon erfahren!“, drohte Bartholomäus.

„Gern, Mylord. Ich denke, es wird ihn freuen, zu hören, wie hilfsbereit sein Thronerbe ist.“

 

Während ein Teil der Reisigen* zum Wald hin sicherte und die wilden Menschen davon abhielt, den Wagenzug erneut anzugreifen, brachten die meisten anderen die noch fehlenden vier Wagen mit einiger Mühe über den Fluss. Fünf der halbwüchsigen Jungen, darunter Martin und Mathieu, fischten weiter im Rhein nach der verlorenen Habe von Michel und Jazira.

Als die Wagen endlich vollständig auf der rechten Rheinseite waren, hatten Martin und seine Freunde fast alles aus dem Fluss geborgen, was durch die Zerstörung von Michels Wagen beinahe eine silberne Variante des Rheingoldes geworden wäre …

 

 

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Kapitel 22

Durch die Alpen IV

Ruinaulta – gefährliche Schönheit am Rhein

 

Erst zwei Stunden später waren auch die verbliebenen vier Wagen auf das rechte Rheinufer übergesetzt. Die Jungen um Martin hatten den größten Teil des in den Fluss gefallenen Hausrats bergen können. Da Michel und Jazira nun keinen Wagen mehr hatten, wurde ihre Habe in gesonderten, teilweise extra freigeräumten Kisten auf die beiden Wagen der Familie Ibelin verteilt.

Der Weg führte nun in den Wald hinein und bergauf. Auch dieser Weg war mit Spitzkehren gepflastert, doch kamen die Wagen mit der entsprechenden Vorsicht gut um diese Kurven herum. Trotz der Mühen, die Wagen den Weg hinauf zu bekommen, griffen die wilden Menschen nicht nochmals an. Offenbar hatten sie vor den wachsamen und wehrhaften Rittern größere Angst als die Reisenden vor einem Überfall.

Lange nach Einbruch der Dunkelheit gelangte der Wagenzug endlich nach Ilanz, wo den Reisenden innerhalb der Gemeinde ein Lagerplatz angeboten wurde. Schon bald nach ihrem Eintreffen schliefen die Reisenden, von den Mühen der Rheinüberquerung durchaus erschöpft.

Am folgenden Tag, es war der 29. Juli 1193, brachen sie zur nächsten von Bischof Bartholomäus empfohlenen Etappe auf, nach Reichenau/Tamins. Der Weg dorthin führte oberhalb der tief eingeschnittenen Rheinschlucht, die die Einheimischen in ihrer Sprache Ruinaulta nannten. Unter Bartholomäus‘ Männern befanden sich zwei Johanniter, die ursprünglich aus Chur stammten und die Sprache der hier lebenden Rätoromanen beherrschten. Weil in Chur, der Hauptstadt der Provinz Rätien, ein sehr ähnlicher Dialekt gesprochen wurde – es gab wenigstens fünf Varianten der rätoromanischen Sprache – nannte man diese Sprache im deutschsprachigen Wengland Churer Welsch, ein Begriff, der sich in der ungenauen Sprache des einfachen Volkes zu Kauderwelsch abgeschliffen hatte …

„Diese Schlucht ist von wilder Schönheit, Graf Roland, aber sie ist auch gefährlich“, warnte Bruder Urs, einer der beiden Churer Johanniter. „Doch es gibt gegenwärtig keine andere Möglichkeit, an diesen Rheinarm entlang nach Chur zu kommen.“

„Gibt es denn mehrere Rheinarme, Bruder Urs?“, hakte Martin neugierig ein, der seinem Onkel wie üblich kaum von der Seite wich.

„Oh, ja, mein junger Prinz. Dieser Rhein hier, das ist der vordere Rhein. Bei Reichenau vereinigt er sich mit dem hinteren Rhein, der aus einer ganz finsteren Schlucht kommt. Die Menschen dort im hinteren Rheintal nennen sie nur die Via Mala, die böse Straße. Jene Schlucht ist praktisch unpassierbar. Viele haben es versucht, aber nur wenige sind zurückgekehrt. Und jene berichten von grausigen, steilen Wänden, die unbesteigbar sind. Dagegen ist die Ruinaulta geradezu harmlos. Aber es wird riskant genug werden.“

„Wieso?“

„Es gibt zwei gefährliche Stellen. Die erste erwartet uns schon nach gut zwei Meilen. Dort, bei Quadras, führt der Weg fast direkt am steilen Ufer entlang. Dort ist der Weg auch noch bergseitig im Wald, so dass sich Räuber gut verbergen können. Die zweite riskante Stelle ist der Übergang über die Rabiusaschlucht jenseits von Versam. Dort windet sich die Straße in steilen, spitzen Kehren nach unten. Auch diese Kehren liegen gefährlich im Wald und laden Räuber richtig ein.“

„Aber … für die Räuber ist es doch auch gefährlich, an solchen Stellen Reisende zu überfallen“, mutmaßte Martin.

„Gewiss, mein junger Prinz. Doch sie haben die Überraschung auf ihrer Seite, sie kennen die Örtlichkeiten sehr gut – und meistens haben sie außer einem wirklich armseligen Leben nichts zu verlieren.“

Weil die Straße eine der wesentlichen Verbindungen vom Lukmanierpass nach Chur war, war sie besser befestigt als die meisten anderen Bergwege. Die Reisenden kamen mit ihren Wagen gut voran. Bei Quadras öffnete sich der Wald auf der links von den Reisenden gelegenen Talseite und gab den Blick auf die strahlend weißen Felsen der hier beginnenden Rheinschlucht frei. Doch die Reisenden hatten nicht den Blick für die wilde Schönheit dieser Schlucht. Ihre Blicke richteten sich eher gegen den Wald auf ihrer rechten Seite – und trotzdem wurden sie heftig überrascht, als aus dem Wald plötzlich Pfeile flogen. Nur die Tatsache, dass die begleitenden Ritter vorsorglich die Schilde in der rechten Hand trugen, rettete ihnen das Leben.

Als zwei der Pferde von Pfeilen getroffen zusammenbrachen und deren Reiter stürzten, griffen die wilden Menschen erneut heulend wie die Wölfe an. Der beherzte Widerstand der Ritter und der halbwüchsigen Jungen trieb sie ohne Beute wieder in den Wald zurück. Almaric und Michel, die die stärksten Streitrösser hatten, nahmen die gestürzten Männer hinter sich auf ihre Pferde. Die Sättel waren zu wertvoll, um sie einfach in der Wildnis liegen zu lassen. Sie fanden Platz auf einem wenig beladenen Wagen. Die Kadaver der Tiere überließen die Reisenden den wilden Menschen als mögliche Proviantbeute. Vielleicht unterließen sie einen erneuten Überfall, wenn man ihnen essbares Fleisch überließ.

 

Gegen Mittag erreichte der Wagenzug den Übergang über die Rabiusaschlucht.

„Ist dies der einzige Übergang über diese Schlucht?“, fragte Balian Bruder Wenzel.

„Für Wagen, ja. Jäger zu Fuß bewegen sich natürlich ganz anders. Die könnten auch den Berg geradeaus hinunter.“

„Diesen Berg?“, hakte der Vizegraf nach. Wenzel nickte.

„Na schön, sie werden sehen, was ihre Knie dazu sagen“, grinste Balian.

„Mylord, diese Menschen leben hier!“

„Der Berg bei uns zu Hause in Saint-Martin-au-Bois ist ähnlich steil wie dieser, mein Freund. Ich bin ihn hunderte Male hinauf und hinunter gegangen. Glaub mir – da wackeln einem gründlich die Knie! Also, abwärts! Vorhut voraus bis zur nächsten Kehre!“

 

Auf diese Art erreichten die Reisenden den Grund der Rabiusaschlucht. Beim Übergang über den Bach hatten sie diesmal keine großen Schwierigkeiten. Auf einem etwas größeren Platz jenseits des Flüsschens sammelten sich die Wagen, bevor man den Aufstieg zur oberen Stufe des Rheinplateaus beginnen wollte.

„Wir sollten oben auf der Hochebene eine Pause einlegen“, schlug Wenzel vor. „Die Pferde können hier unten zwar trinken, aber sie brauchen nach dem Aufstieg einen Moment Pause. Und wir sollten hier unsere Wasservorräte ergänzen. So bequem kommen wir nicht mehr an frisches Wasser.“

„Ich kümmere mich darum“, bot Bischof Bartholomäus an, der inzwischen heruntergekommen war und die letzten Sätze von Bruder Wenzel mitgehört hatte. Vier seiner Johanniter füllten die Wasserfässer, die an jedem Wagen befestigt waren, mit dem frischen Flusswasser nach. Jeweils ein Drittel der begleitenden Ritter – etwa fünfzehn Männer einschließlich der Fahrer der Wagen – bildete die Eskorte für drei der noch verbliebenen neun Wagen. Die beiden Wagen der Familie Ibelin und der Wagen von Almaric und Melisende bildeten den Abschluss des Trecks, der von der Rabiusaschlucht zum Hochplateau hinauf zog.

Auf halbem Weg nach oben polterte eine Steinlawine durch den Wald. Wie durch ein Wunder blieben die Wagen davon verschont, aber den hinter dem letzten Wagen reitenden vier Johannitern und Bischof Bartholomäus wurde durch dicke Felsbrocken der Weg versperrt. Im nächsten Moment hörten die Reisenden in den letzten drei Wagen das durchdringende Geheul der Angreifer – doch sie griffen nicht etwa die Wagen an, sondern den Bischof und seine Begleiter.

„Almaric: Es sollen sofort die Begleiter der vorletzten Gruppe hierher kommen und diese Wagen nach oben bringen. Wir müssen dem Bischof und seinen Johannitern helfen!“, befahl Balian.

Einer der Reiter jagte den Weg hinauf, um die bereits oben befindlichen Begleiter zu alarmieren.

„Ihr Fünf bleibt bei den Wagen! Der Rest kommt mit mir!“, wies der Vizegraf drei Johanniter und zwei seiner eigenen Männer an. Er selbst, Almaric und zwei weitere Männer kletterten mit Schwertern und Schilden bewaffnet über die Reste der Steinlawine, um dem Bischof und seinen Leuten gegen die Angreifer zu helfen.

 

Die Angreifer droschen mit allem möglichen auf die Ritter und den Bischof ein: Dreschflegel, Sensen, Heugabeln, Spieße. Es waren keine wilden Menschen wie auf der anderen Seite der Schlucht, sondern offensichtlich unzufriedene Bauern. Was diese Leute von einem Fürstbischof wollten, dessen Bistum und Grafschaft noch relativ weit entfernt waren, war den Ibelinern nicht ganz klar. Jemand wurde angegriffen; da war ihre Hilfe selbstverständlich – unabhängig von dem Umstand, dass es sich bei dem Angegriffenen um einen wenigstens zeitweisen Reisegefährten handelte.

Bartholomäus war selbst kein Mann des Schwertes, auch wenn er auf Reisen stets bewaffnet war. Für ihn war es eher ein Mittel zur Abschreckung, als dass er es wirkungsvoll zu seinem eigenen Schutz einsetzen konnte. Der ungeübte Fechter suchte sein Heil in der Flucht, als die Ibeliner über die Steine stiegen und in den Kampf eingriffen.

Doch sein Pferd schaffte es nicht, über die Felsbrocken zu springen, blieb hängen, strauchelte und stürzte samt dem entsetzten Bischof nach links die Böschung hinunter. Im Reflex griff Bartholomäus nach einem Ast und konnte sich daran festhalten – aber der Ast war dünn und würde ihn nicht lange halten. Hilflos baumelte er wenigstens dreißig Fuß über dem Boden. Sein Pferd kollerte unkontrolliert den Hang hinunter, brach sich den Hals und sämtliche Extremitäten, blieb in unnatürlich verrenkter Stellung liegen.

Martin sah mit Schaudern, dass der Bischof seines Heimatlandes am seidenen Faden eines dünnen Fichtenastes hing. Er handelte schneller, als die bei den Wagen zurückgebliebenen Ritter es mitbekamen. Wie schon bei der Bergungsaktion im reißenden Rhein schlang er sich ein Seil um den Leib, das er Mathieu in die Hand drückte, der es in blindem Verständnis an einem Kummet der Zugpferde des nächstgelegenen Wagens befestigte, während Martin mit einem weiteren Seil bewaffnet mit einem Riesensatz die dem Weg am nächsten stehende Fichte ansprang, sich geschickt festhielt und sich auf einen kräftigen Ast arbeiten konnte, auf dem er sitzen und das zweite Seil dem hilflos am Ast hängenden Bischof zuwerfen konnte. Das andere Ende des Seils befestigte er am nur knapp weniger kräftigen Ast über sich, wand es noch einmal um den Ast, auf dem er saß, weil er ahnte, dass er das Gewicht des Bischofs allein nicht würde halten können. Ohne es zu wissen, hatte er das Seil nach dem Prinzip des Flaschenzuges um die Äste gewunden.

Die Männer am Weg sahen mit ungläubigem Blick und immer noch starr vor Schreck, dass ein Zwölfjähriger und ein Dreizehnjähriger mit einigem Geschick und der Kletterfähigkeit unbekümmerter Jugend an der Rettung des im Baum hängenden Mannes arbeiteten.

„Greift das Seil, Exzellenz!“, rief Martin. Der Bischof sah sorgenvoll auf den Ast, der sich immer weiter senkte, am Ansatz abzubrechen drohte. Martin warf das Seil, das sich über einen zum Glück festeren Ast des Baumes legte.

„Ich … ich kann hier nicht loslassen!“, schrie Bartholomäus mit hörbarer Angst.

„Mathieu: Mach das Seil los!“, rief Martin. Mathieu tat, wie ihm geheißen, bevor ihn jemand hindern konnte. Martin zog sein Sicherungsseil zu sich heran, warf das lose Ende über den Ast über sich, band es fest und ließ sich daran weit genug herunter, um zu dem Baum hin zu schwingen, an dem Bartholomäus hing. Er erreichte den Ast, über dem das Rettungsseil baumelte, stieg darauf, wickelte das Rettungsseil noch einmal um den Ast, warf das eine Ende an den Stamm, um den es sich zweimal wand und daran hängenblieb. Dann stieg er am Stamm bis zu Bartholomäus hinunter, griff das Rettungsseil, zielte, warf es, dass es sich einmal um Bartholomäus drehte und zu Martin zurückschwang. Er konnte es auffangen und es um den Bischof binden. Der Waldboden war noch gute dreißig Fuß entfernt – zu weit, um einfach hinunterzuspringen, aber er konnte an dem Seil heruntergelassen werden. Martin stieg wieder auf den kräftigeren Ast, um das Seil wieder zu sichern, als die Leute oben auf dem Weg endlich reagierten.

„Bleib dort, Martin!“, rief einer der Männer. Zwei der zurückgebliebenen Männer, zwei Johanniter, stiegen den Hang hinunter zu dem Baum, an dem Martin den Bischof vorerst gesichert hatte.

„Wirf mir das Seilende zu!“, rief einer der Johanniter. Martin löste das Seil, so dass das Ende wieder frei hing und ließ es zu den Männern hinunter, während er mit einem Fuß fest auf dem Seil stand.

„Ich hab‘ es!“, rief der Johanniter, sein Kamerad griff mit zu, womit der Bischof endgültig gesichert war.

„Jetzt lasst los, Exzellenz. Eure Männer werden Euch halten“, sagte er zu dem vor Angst zitternden Bischof. Zögernd und mit Martins Hilfe ließ er schließlich los. Die beiden Johanniter ließen ihn langsam zu Boden, während Martin sich über das Geäst wieder zurückarbeitete, um sein eigenes Seil abzunehmen und am Baum nahe am Weg wieder auf den Boden herunterzusteigen.

Gaëlle umarmte ihren Zögling und drückte ihn fest an sich. Sie hatte unglaubliche Ängste ausgestanden, als sie ihn durch die Äste hatte turnen sehen.

„Du verrückter junger Prinz!“, schalt sie, um ihm gleich einen Kuss zu geben. „Das war großartig!“, lobte sie ihn dann.

 

Balian, Almaric, die Johanniter des Bischofs und die Verstärkung hatten die Bauern inzwischen niedergerungen. Drei hatten fliehen können, einen hatten die Ritter gefangen genommen, alle anderen waren tot. Sie brachten ihn über die Lawine zu den Wagen, führten ihre Pferde vorsichtig um den Steinhaufen auf dem Weg herum. Verwirrt sah der Vizegraf, dass der Bischof zu Fuß, gestützt von zwei seiner Johanniter, quer durch den Wald zum Weg hinaufkam.

„Exzellenz!“, rief er erschrocken. Schnaufend arbeitete sich der Bischof auf den Weg hinauf.

„Ich danke Gott und der schnellen Reaktion Eures Neffen, dass ich noch unter den Lebenden weile, Mylord Roland. Ohne ihn wäre ich abgestürzt und ganz sicher gestorben“, keuchte er. „Ich danke Euch für Euer Eingreifen gegen diese Bauernbande.“

Der Bischof wandte sich an Martin:

„Martin, ich danke dir. Du hast mich gerettet. Wärst du alt genug, würde ich dich auf der Stelle zum Ritter schlagen. Wünsche dir etwas, mein Sohn. Ich werde es dir geben.“

„Danke, Exzellenz. Im Augenblick fällt mir nichts ein, was ich gerne hätte“, erwiderte der Junge. „Aber wir sind ja noch ein paar Tage gemeinsam unterwegs.“

„Ihr habt ihn großartig erzogen, Graf Roland. Euer Neffe wird einmal ein guter König meines Landes sein. Und wen habt Ihr da ergriffen?“

„Einen der Angreifer, Mylord Bischof“, erwiderte Balian. „Kennt Ihr diesen Mann?“

Bartholomäus sah den Mann näher an, der aus diversen Wunden blutete und sich nur noch knapp auf den Beinen halten konnte.

„Du bist kein Rätoromane, du Tropf! Sag mir deinen Namen!“, fuhr er ihn an.

„Ar… Arthur ist mein Name. Arthur aus Backendorf.“

„Backendorf in der Rebmark, in Scharfenburg?“, hakte der Bischof nach. Arthur nickte schweigend. Der Bischof nickte.

„Und wieso überfällst du mit den Bauern hier harmlose Reisende?“

Arthur schwieg.

„König Rudolf sollte das letzte Wort hierzu haben, Graf Roland“, sagte Bartholomäus. „Scharfenburg ist unser Nachbarland. An sich sind wir recht gut mit den Scharfenburgern. Es wäre bedauerlich, wenn vielleicht aus der Unbesonnenheit oder dem Eigensinn eines Einzelnen ein Krieg zwischen christlichen Nachbarvölkern entstehen sollte. Ich möchte dafür nicht der Grund sein.“

Balian nickte.

„Dann wirst du uns begleiten, Arthur. Bruder Wenzel wird sich deiner Wunden annehmen“, entschied er.

 

In der Abenddämmerung erreichte der Wagenzug der Ibeliner und des Bischofs von Wachtelberg Reichenau/Tamins am Zusammenfluss des Vorder- und Hinterrheins. Nicht nur der Gefangene Arthur war verwundet, drei der Johanniter hatten ebenfalls Wunden erlitten, die es ihnen verwehrten, die Reise unbehindert fortzusetzen.

„Mylord, erlaubt mir eine Empfehlung:“, wandte sich Bruder Urs an Balian.

„Sprecht, Bruder Urs.“

„In Chur ist ein Johanniterhospital. Wir sollten unseren Verwundeten – auch dem Gefangenen – dort Erholung gewähren, bis sie die Reise unbeschadet nach Wengland fortsetzen können.“

„Wie lange, schätzt Ihr, wird es dauern?“, fragte Bartholomäus mit einem Anflug von Ungeduld.

„Eine bis zwei Wochen auf jeden Fall, Exzellenz.“

„Dann wird es gerade noch reichen.“

„Wofür, Mylord Bischof?“, erkundigte sich Balian.

„Was wisst Ihr über das Königreich Wengland, Graf Roland?“

„Zugegeben, eher wenig. Als Martin zu uns kam, war er gerade acht Jahre alt und konnte uns nicht viel erzählen. Er war auch eher daran interessiert, neues zu lernen, als von seiner Heimat zu berichten.“

„Wengland besteht aus zwölf Grafschaften. Jeder Provinzgraf hat einmal im Jahr ein Turnier auszurichten. Als Graf von Wachtelberg bin ich also ebenfalls in der Pflicht, ein Turnier zu veranstalten. Ich tue es nicht gern, weil ich diese Turniere für den Ausdruck sündhafter Eitelkeit halte, aber als weltlicher Graf unterliege ich dem weltlichen Weisungsrecht meines Königs. Mein Namenstag ist der 24. August. Um wenigstens einen halbwegs passablen Grund für eine Feier zu haben, habe ich mir den Augusttermin ausgebeten und auch erhalten. In der Woche, in der der 24. August ist, findet folglich auch das jährliche Turnier der Grafschaft Wachtelberg statt. Deshalb sollte ich tunlichst spätestens eine Woche vorher zu Hause sein.“

„Verständlich“, erwiderte Balian.

„Erlaubt mir … Euch und Eure Reisegefährten als Gäste zu meinem Turnier einzuladen.“

„Danke, das ist eine Ehre, Mylord Bischof. Wir werden gern zu Euch kommen.“        

 

 

 

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Kapitel 23

Unerwartete Verbündete

 

Zur gleichen Zeit, als die Ibeliner in Chur pausierten, um ihren Verwundeten Zeit zur Erholung zu geben – Anfang August 1193 –, trafen sich in Jaffa Asim Edin al-Bakr und Robin von Locksley mit Imad ad-Din, um ihre weiteren Pläne zu besprechen.

„Kommt, geht durch und nehmt Platz“, lud Imad sei ein. „Yussuf! Tee!“, orderte er dann.

Asim und Robin gingen in einen mit Sitzkissen und niedrigen Tischen ausgestatteten Raum weiter, Imad folgte ihnen mit seinem von Balian übernommenen Diener, der das Teegeschirr brachte. Mit einer leichten Handbewegung bot Imad seinen Gästen Platz auf den Sitzgelegenheiten an, die sich auch gern niederließen.

„Wir alle drei wissen, dass Balian von Assassinen auf Veranlassung von Guy de Lusignan umgebracht wurde. Ich weiß, dass Guy unserem gemeinsamen Freund schon seit langem nach dem Leben getrachtet hat. So, wie Asim dir sein Leben schuldet, Robin, schulde ich es Balian“, begann Imad und erzählte Robin, wie er Balian kennen gelernt und schließlich dessen Freund geworden war.

„Und als ich von Damaskus fliehen musste, um der … Säuberung … al-Efdals zu entgehen, nahm er mich auf und schützte mich. Ich konnte ihn zwar warnen, dass die Templer im Auftrag von de Lusignan Kontakt mit den Assassinen suchten, aber diese heuchlerischen Hunde können sich praktisch unsichtbar machen“, schloss er seinen Bericht.

„Unsichtbar? Wie das?“, fragte Robin interessiert.

„Nun, wenn du zwanzig Fische gefangen hast und Asim die gleiche Anzahl von der gleichen Art und ihr würdet diese Fische zusammen in einer Kelter schwimmen lassen, dann würden sich eure Fische vermischen und keiner wüsste mehr, wer welche genau gefangen hat. Sie sind alle da, aber du kannst deine Fische nicht von seinen unterscheiden. Genauso ist es mit den Assassinen. Sie mischen sich unter die Menschen und verschwinden auf diese Weise einfach. Sie haben die Geduld einer Wasserschlange oder eines Krokodils. Sie beobachten dich, aber du weißt nicht, wo unter Wasser sie sich verstecken. Und dann, wenn du es am wenigsten erwartest, dann schlagen sie zu. Die Steinmetze, die Balian über Monate hinweg beim Umbau seines neuen Hauses in Caymon behilflich waren, waren Assassinen. Niemand von uns wäre auf diese Idee gekommen, mein Freund.

An diesen Assassinen werde ich mir ein Beispiel nehmen und mich in de Lusignans Palast auf Zypern anstellen lassen. Ich werde ihm brav dienen, nach Möglichkeit in einem Bereich, in dem ich ihn nicht häufig sehe, denn er kennt mich. Aber ihr könntet mir helfen, meine Identität zusätzlich zu verschleiern.“

„Und wie?“, erkundigte sich Robin.

Yussuf brachte den Tee, verbeugte sich schweigend, schenkte in die bereitgestellten Gläser die heiße Flüssigkeit ein, stellte die Kanne auf dem Tisch ab und verbeugte sich nochmals.

„Danke, Yussuf. Du kannst gehen“, sagte der Hausherr. Der Diener verbeugte sich abermals und verließ nahezu lautlos den Raum.

„Du willst nach Hause, oder?“, wandte sich Imad an Robin, ohne gleich auf die Frage des Engländers einzugehen.

„Ja, das ist  mein Wunsch.“

„Ihr braucht eine Überfahrt nach England. Die meisten Schiffe machen noch einmal in Lemesos, dem Haupthafen von Zypern, Station. Guy ist Franzose, aber seine Familie ist König Richard von England lehenspflichtig. Richard hat seinerzeit dafür gesorgt, dass Guy überhaupt wieder König wurde. Erst hat er ihn erneut als König von Jerusalem durchgesetzt, und als die Barone Guy wieder absetzten, hat Richard ihm Zypern als neues Königreich überlassen. Guy ist ihm also zu Dank verpflichtet. Wenn du dich als einer der verbliebenen Engländer in Palästina bei ihm meldest, wird er dir weiterhelfen. Asim nimmst du auf deiner weiteren Reise mit, damit er seinen Schwur dir gegenüber erfüllen kann. Und mich … überlässt du ihm als Bezahlung oder aus sonst welchen Gründen der Dankbarkeit. Wichtig ist für mich nur, dass du ihm oder seinem Haushofmeister weismachst, mein Name sei Hussein al-Saif, der dein Sklave ist. Ich bezahle euch die Reise nach Zypern – und sollte Guy euch die Weiterreise nicht bezahlen, bekommt ihr auch dafür von mir das Geld. Abgemacht?“

„Einverstanden“, sagte Robin. „Asim?

„Ich würde am liebsten bei dir bleiben und dir bei der Rache für Balian behilflich sein …“, setzte er an, doch Robin schüttelte den Kopf.

„Imad hat sicher Recht, wenn er meint, dass er allein am unauffälligsten ist. Außerdem … Guy könnte mich auch erkennen. Ich war dabei, als Balian Richard an weiteren Gefangenenmorden gehindert hat, ich war bei dem Duell dabei, das Balian um Gaëlles Ehre wegen des Todes ihres Sohnes mit Guy ausgefochten hat. Balian hatte mich gebeten, ihn im Fall seiner Niederlage mit einem Pfeil zu töten, damit er nicht lebendig verbrannt würde. Guy wird nicht entgangen sein, dass ich Balian gegenüber eher freundlich eingestellt bin. Wenn ich bliebe, bis Imad seine Rache mit deiner Hilfe ausgeführt hat, könnte es sein, dass Guy den Braten riecht. Dann würde die Rache unmöglich werden. Nein, Asim, wir werden nicht lange bleiben können, wenn Imad möglichst unauffällig bei Guy untergebracht werden soll“, erwiderte er. „Es sei denn, du willigst ein, dass ich dich aus deinem Schwur entlasse …“

„Das kannst du nicht! Das habe ich dir schon gesagt!“, erwiderte Asim scharf. Robin zuckte grinsend mit den Schultern.

„Dann wirst du mit mir kommen müssen …“, versetzte er und schlug dem Mauren herzhaft auf die Schulter. „Aber zuvor werden wir Imad im königlichen Palast von Zypern einschleusen.“

 

Weil Imad Verbündete benötigte, um unerkannt in de Lusignans Palast zu kommen, hatte er sich noch nicht um eine Schiffspassage bemüht. Als er nun Robin und Asim dafür gewonnen hatte, ihm zu helfen, suchte er nach einem Schiff, das nach Zypern fuhr. Doch die überwiegend italienischen Kapitäne waren unwillig, einen Sarazenen als Auftraggeber einer Reise zu akzeptieren. Unverrichteter Dinge kehrte er in sein Haus zurück.

„Wir haben ein Problem: Die ungläubigen Seeleute wollen ihre Schiffe nicht an einen Muslim vermieten“, seufzte er.

„Vertraust du mir?“, fragte Robin.

„Wieso?“

„Na ja, als christlicher Ritter hätte ich wohl die Möglichkeit, die Passage nach Zypern zu beschaffen. Mir mangelt es nur an Besants. Wenn du mir das Geld gibst …“

Der Sarazene kämpfte mit sich, das war ihm anzusehen.

„Würdest du Balian vertrauen, wenn er dir das gleiche Angebot machte?“, fragte Robin. Imad seufzte.

„Dem vertraue ich blind, weil ich weiß, wie verlässlich er ist.“

„Als ihr nach Jerusalem geritten seid – wusstest du es da auch schon?“

„Wieso?“

„Imad, ich verstehe dein Zögern. Du weißt nicht, ob du mir trauen kannst“, erwiderte der Engländer. „Ich meinerseits weiß auch nicht, ob ich dir trauen kann. Von Leuten, die deine Untergebenen gewesen sein könnten, wurde ich vor Jerusalem gefangen genommen – und sie haben mich nicht mit Samthandschuhen angefasst. Wir haben gute Gründe einander zu misstrauen. Aber wir sind beide Freunde von Balian von Ibelin. Wenn du ihm in dieser Situation vertrauen würdest, vertraue auch einem Freund von ihm, so wie ich einem Freund von ihm vertrauen will.“

Imad sah den jungen Engländer noch einen Moment an. Ja, er konnte diesem Mann sein Geld geben. Er würde damit nicht fliehen. Es war nur ein Bauchgefühl, keine Eingebung seines klugen Verstandes, aber das gleiche Bauchgefühl hatte ihm vor Jahren die Freundschaft Balians eingebracht.

„Gut. Hier hast du das Geld. Ich hoffe, du verstehst zu feilschen …“

„Irgendwann ist es immer das erste Mal, mein Freund“, grinste Robin und machte sich auf den Weg.

 

Am Hafen sprach er bei jedem Schiff vor, aber nur ein einziger Kapitän hatte gegenwärtig überhaupt die Absicht, in Richtung Europa auszulaufen. Alle anderen warteten auf Ladung, die mit Karawanen aus dem Fernen und Mittleren Osten erwartet wurde. Al-Efdal hatte Boten ausgesandt, die den christlichen Kapitänen wertvolle Ladung versprochen hatten, wenn sie die nächsten Wochen abwarteten. Robin hatte nur oberflächliche Erfahrung mit den Orientalen. Dass dieses Versprechen nur ein Winkelzug des neuen Sultans war, um den König von Jerusalem daran zu hindern, neue Truppen aus Europa heranzubringen, wäre ihm einstweilen nicht in den Sinn gekommen.

Robin hatte alle Schiffseigner abgeklappert, aber außer Capitano Maurizio Vanini war wirklich keiner bereit, nach Europa zu fahren, nicht mal bis nach Zypern. Als der junge Engländer zu Vanini zurückkehrte, witterte der das Geschäft. Keiner fuhr … dann konnte er seinen Verlust wettmachen, den ihm nach seiner Meinung die eilige Abfahrt der Ibeliner beschert hatte.

„Ah, da seid Ihr wieder …“, grinste er. „Signor, ich habe gerade erfahren, dass eine Gewürzladung aus Alexandria kommen soll. Ihr werdet verstehen, dass es dann ein bisschen mehr kostet, wenn Ihr morgen schon fahren wollt.“ 

„Und? Was verlangt Ihr?“, fragte Robin mit erzwungener Ruhe.

„Die Gewürze brächten mir in Genua sicher mehr als tausend Besant ein. Das muss ich natürlich einkalkulieren. Demzufolge würde Euch die Überfahrt zu dritt dann zweitausend Besant kosten.“

„Für zweitausend Besant hat König Richard in Sizilien zehn Schiffe bekommen!“, versetzte Robin eisig. „Ihr erwartet doch nicht wirklich, dass ich Euch für drei Personen bis nach Genua zweitausend Besant bezahle!“

„Nein, bis Zypern, mein Freund“, grinste Vanini. Locksley war nahe daran, den Kapitän an der Rah seines eigenen Schiffes aufzuknüpfen. Im Moment, das sah er ein, würde er hier nichts erreichen. Er verließ mit mühsam unterdrücktem Zorn das Schiff und wandte sich zur Zollstation, die von Jerusalemrittern besetzt war.

„Sagt, wer führt die Aufsicht über die Schiffe im Hafen?“, fragte er den diensthabenden Sergeanten.

„Wegen der Fahrpreise, meint Ihr wahrscheinlich“, mutmaßte der.

„So ist es.“

„Die Kapitäne sind in ihrer Preisgestaltung grundsätzlich frei. Es kommt natürlich immer drauf an, wie weit die Fahrt geht, welche Gefahren unterwegs lauern …“

„Was … ist nach Eurer Erfahrung ein normaler Preis für drei Personen, die über Zypern nach Genua wollen?“, forschte der Engländer.

„Drei Personen? So um die hundert bis zweihundert Besant, schätze ich. Das ist das, was ich hier so höre.“

„Und wenn jemand zweitausend nur bis Zypern fordert?“

Der Jerusalemsergeant sah Robin fassungslos an.

„Zweitausend? Dafür könnt Ihr ja das Schiff kaufen!“, entfuhr es dem Mann. „Das ist Wucher, schlicht und einfach. Wenn eine solche Forderung gestellt wurde, will der Kapitän nicht auslaufen. Abschreckungspreis.“

„Wer könnte besagten Kapitän auf den Boden der Tatsachen zurückholen?“

„Wendet Euch am besten an den Grafen von Galiläa, Raymond von Tiberias. Er ist königlicher Statthalter hier. Aber macht Euch keine allzu großen Hoffnungen. Ich weiß, dass er seit längerem versucht, die Kapitäne zur Rückkehr nach Europa zu bewegen, weil dort Truppen warten, die hierher verschifft werden wollen.“

Der Sergeant wies Robin den Weg zum Statthalterpalast, den Locksley auch eilig einschlug. Auf dem Weg fiel Robin ein, dass Raymond von Tiberias auch ein guter Freund von Balian gewesen war. Er hielt es nicht für wahrscheinlich, dass der ältere Graf schon über Balians Tod unterrichtet war und suchte schon nach passenden Worten, um ihm diese ungeheuerliche Nachricht einigermaßen schonend beizubringen.

 

Im Statthalterpalast musste er eine Weile warten, bis Tiberias für ihn Zeit hatte.

„Der Graf von Galiläa lässt bitten“, forderte ein Diener im Jerusalemrock Robin auf, der in einem Vorzimmer gewartet hatte.

„Seid gegrüßt, Mylord. Wie war doch gleich Euer Name?“

„Locksley, Mylord. Robin von Locksley, Sohn des George von Locksley, Lord Locksley.“

„Ihr seid demnach Engländer, Lord Locksley?“

„Ja, das bin ich.“  

„Die englischen Ritter verließen das Heilige Land mit König Richard. Wieso Ihr nicht?“, erkundigte sich der Statthalter und bot Robin Wein an, der aber dankend ablehnte. Er hatte einfach noch nicht genug gegessen, um Wein zu trinken.

„Ich gehörte zu jenen, die vor Jerusalem in Gefangenschaft gerieten“, erwiderte er. „Zusammen mit zwei Freunden konnte ich vor etwa einem Monat endlich entkommen. Einer wurde dabei so schwer verwundet, dass er noch in Jerusalem starb. Der andere und ich versuchen seither, eine Passage nach Italien oder Frankreich zu bekommen, damit wir endlich nach Hause kommen.“

„Sind noch mehr Engländer in den Händen der Sarazenen?“, hakte Tiberias nach.

„Ja – und es werden täglich weniger. Die Verhältnisse in den Kerkern sind das blanke Grauen, das kann ich Euch versichern.“

„Mir ist bekannt, dass der Graf von Ibelin im Auftrag des Königs Eure Freilassung gegen Lösegeld verhandeln sollte. Aber die Templer haben das wieder einmal gründlich zunichte gemacht … Immer dasselbe … Es tut mir Leid, dass es meinem Freund Balian leider nicht möglich war …“

Raymond brach ab, als Robin abwinkte.

„Keiner von uns wäre auf einer Liste erschienen, denn wir haben uns geweigert, unsere Namen preiszugeben. Aber … da … da ist etwas, das … das Ihr … wissen solltet.“

„Und was?“

„Mylord, mir … ich … ich habe erfahren, dass … Balian von Ibelin …“, wollte Robin die schreckliche Nachricht anbringen, aber Raymond unterbrach ihn:

„…von Assassinen ermordet wurde. Ich weiß. Seine Tante, Maria von Ibelin, hat mich darüber in Kenntnis gesetzt. Wisst Ihr noch etwas darüber?“

„Nun, ein gemeinsamer Freund hat mir zugeflüstert, er wisse, wer diese Assassinen angeheuert hat“, begann Robin und erntete einen überaus interessierten Blick des Statthalters.

„Lasst mich raten: Guy!“

Robin wurde bleich.

„Eure Reaktion bestätigt es mir“, nickte Raymond. „Jetzt wird Balian wohl endlich klar sein, dass Guy wirklich jede Möglichkeit genutzt hat, um ihn zu beseitigen. Aber jetzt ist es zu spät …“

„Mylord, mir ist bekannt, dass einer der Freunde Balians ihn rächen will und plant, den König von Zypern umzubringen“, erklärte Robin und erschrak sich im nächsten Moment, dass er dieses Geheimnis preisgegeben hatte.

„Meint Ihr, ich sollte das verhindern?“, fragte Tiberias. „Nein, mein Freund. Ich habe schon König Balduin IV. zugeraten, Guy endlich an den Galgen zu bringen, wohin er schon seinerzeit seit Jahren gehört hätte. Leider hat sich mein Freund Balian in seiner falsch verstandenen Ehrenhaftigkeit geweigert, als Grund für die Hinrichtung zu dienen. Wenn Ihr oder Euer Freund das nun endlich tun wollt, werde ich Euch keine Steine in den Weg legen. Im Gegenteil. Wie kann ich Euch dabei helfen?“

Robin musste sich setzen. Damit hatte er in keiner Weise gerechnet.

„Nun, ich habe einen Kapitän gefunden, der uns nach Zypern bringen würde. Aber er verlangt zweitausend Besant nur bis nach Zypern.“

„Wollt Ihr mit einem Heer dorthin?“, keuchte Raymond.

„Nein, zu dritt!“, grinste Robin schief.

„Nun, das fällt unter Wucher. Das kann ich nicht zulassen. Ich komme mit Euch.“

 

Maurizio Vanini glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können, als der Engländer, den er hatte schröpfen wollen, mit dem Statthalter und einem Dutzend von dessen Leuten zurückkehrte.

„Nun, Kapitän Vanini, was verlangt Ihr für drei Reisende bis nach Zypern?“, fragte Raymond.

„Bis äh … Zypern? Verehrter, edler Statthalter … nicht mehr als zweihundert Besant“, stotterte Vanini. Tiberias sah Robin schmunzelnd an.

„Solltet Ihr Euch gar verhört haben, Mylord?“, fragte er augenzwinkernd.

„Das … will ich dann nicht ausschließen. Für diesen Preis würden meine Freunde und ich natürlich umgehend fahren wollen.“

Vanini hob abwehrend die Hände.

„Aber … aber … ich erwarte noch Ladung!“, bremste er.

„Ladung? Woher soll die denn kommen?“, erkundigte sich Raymond.

„Aus Alexandria!“

„Aus Alexandria … und das glaubt Ihr wirklich?“, hakte Tiberias süffisant nach.

„Es kamen Boten vom … Sultan …“

„Es ist eine der typischen orientalischen Lügen, mit denen Ihr im Hafen gehalten werden sollt. Begreift Ihr das eigentlich nicht? Es gibt keine Waren mehr aus Ägypten! Auch keine aus Indien oder Samarkand, Cathay oder von sonst wo! Ali al-Efdal hat alle Handelswege geschlossen!“

„Aber … wie will er denn seinen Krieg weiter finanzieren?“, fragte Vanini verblüfft.

„Das weiß Gott allein, aber wir werden ihm dabei gewiss nicht helfen!“, grollte der Statthalter. „Und deshalb, mein Freund, werdet Ihr Lord Locksley hier und jetzt schriftlich bestätigen, dass Ihr ihn und seine Freunde für zweihundert Besant nach Zypern bringt.“

„Und … wenn nicht?“, fragte Vanini so harmlos wie möglich.

„Dann klage ich Euch des Verrates an, denn dann arbeitet Ihr offensichtlich mit dem Sultan gegen die Herren dieses Landes. Die Verfahren dauern derzeit etwas länger, weil König Henri sehr beschäftigt ist. Vor drei Monaten wäre kaum mit einer Gerichtsverhandlung vor dem König zu rechnen. Bedeutet: Ihr sitzt bis dahin im Kerker …“, grinste Raymond.

„Und meine Schiffe?“

„Kann es sein, dass Euch drei Monate Kerker mehr kosten als zweitausend Besant Sterntaler?“, hakte Raymond mit hinterlistigem Grinsen nach.

„Sterntaler?“, fragte Vanini konsterniert.

„Ja, so nennen wir hier Geld, das von Betrügern vom Himmel herunter versprochen wird und unten nie ankommt, weil die Sterne am Himmel nun mal nicht wirklich aus Gold und Silber bestehen“, versetzte Tiberias.

„Ihr habt gewonnen. Ich fahre für zweihundert Besant nach Zypern. Gebe ich auch schriftlich.“

„Jetzt. Hier“, knurrte Raymond. Seufzend lud der Genuese Robin und Raymond auf sein Schiff und stellte in seiner Kajüte das Angebot aus. Raymond untersuchte es genau auf versteckte Klauseln und hieß es dann gut.

„Eins noch, Vanini: Sollte mir zu Ohren kommen, dass Ihr diese Leute nicht in Zypern abgeliefert habt, sondern dass ihnen nur das Geringste passiert ist – Piratenüberfall oder so etwas – sorge ich dafür, dass Ihr nie wieder Waren aus dem Heiligen Land nach Europa bringt, verstanden?“

„Ja, Mylord!“, keuchte Vanini. 

 

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Kapitel 24

Nachforschung

 

Die Reisegemeinschaft aus Ibelinern und Wachtelbergern erreichte am 1. August 1193 die Stadt Chur, die älteste bekannte Stadt in den nördlichen Alpen. Seit über dreitausend Jahren siedelten hier, im fruchtbaren Alpenrheintal, schon Menschen. In römischer Zeit war Chur zur Hauptstadt der Provinz Raetia geworden und hatte diese Stellung auch beim Übergang in das Heilige Römische Reich behalten. Seit 1170 war der Bischof von Chur Reichsfürst und unterstand damit hinsichtlich seiner weltlichen Macht allein dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Diese weltliche Macht des Fürstbischofs reichte bis südlich des Alpenhauptkammes über den Julier- und den Septimerpass bis dorthin, wo italienisch gesprochen wurde.

In Chur fanden sich noch Einrichtungen, die die Römer schon genutzt hatten, die auch in den letzten fünfeinhalb Jahrhunderten weitergenutzt worden waren. Eine der neueren Einrichtungen war das Hospital der Johanniter. Es lag in der Nähe des aus dem Schanfiggtales kommenden Flüsschens Plessur, das das Hospital mit frischem Wasser versorgte. Dorthin brachten die Reisenden ihre Verwundeten und konnten ihr Lager etwas außerhalb der Stadtmauer rechts des Rheins aufschlagen.

Der Prior des Hospitals machte Balian und Bartholomäus wenig Hoffnung, dass die Verwundeten schon in einer Woche wieder reisefähig sein würden.

„Lasst ihnen zwei Wochen, damit die Wunden heilen können“, empfahl er. Bartholomäus bekam einen verdrießlichen Gesichtsausdruck.

„Ich mache Euch einen Vorschlag: Ihr reist weiter, damit Ihr rechtzeitig zur Turniervorbereitung zu Hause seid. Die Verwundeten bleiben hier und kommen mit uns nach Wengland, wenn sie genesen sind. Bruder Wenzel kennt sich aus, Bruder Jonathan ist sogar aus Steinburg. Sie werden uns führen können, wenn Martin sich nicht erinnern kann“, sagte Balian. Bartholomäus sah ihn zunächst zweifelnd an, nickte dann aber.

„Ihr habt Recht. Danke, dass Ihr das für meine Männer tun wollt.“

„Beschütze die Wehrlosen … so lautet ein Teil des Rittereides. Wer ist wehrlos, wenn nicht ein nicht reisefähiger Verwundeter?“, lächelte der Vizegraf. Bartholomäus erwiderte das freundliche Lächeln seines Gegenübers.

„Wahrlich, unser König tat mehr als Recht daran, Euch die Erziehung seines Thronerben anzuvertrauen“, sagte er. „Ich freue mich darauf, Euch in Wachtelberg als Gäste zum Turnier begrüßen zu können. Wollt Ihr und Eure Männer um die Krone des Turniers mitkämpfen?“

„Wir haben noch einen weiten Weg von wenigstens vier Wochen vor uns, wenn wir Wachtelberg verlassen werden, Exzellenz“, erwiderte Balian. „Turniere gehen selten ohne Blessuren ab. Auf langen Reisen wie der unseren können Verletzungen vorkommen, aber man sollte sie nicht unnötig provozieren.“

„Schade. Ich lasse Euch eine offizielle Einladung an Euch und Eure Leute hier, falls Ihr es Euch noch anders überlegt. Es wäre mir eine Ehre, Euch als Teilnehmer des Turniers begrüßen zu dürfen. Als zuschauende Gäste seid Ihr selbstverständlich ebenso willkommen“, erklärte Bartholomäus.

 

Am folgenden Tag brach Bartholomäus mit acht seiner Johanniter auf, um rasch heim nach Wachtelberg zu gelangen. Außer den verwundeten Ritterbrüdern Patrick, Paul und Bertram, die zur Eskorte des Bischofs gehörten, blieb auch der aus Steinburg stammende Bruder Jonathan in Chur, um die Ibeliner nach Genesung der Verletzten nach Steinburg zu führen.

 

Drei Tage später hatte sich der Gefangene Arthur soweit erholt, dass er fähig war, Fragen zu folgen. Balian und Jonathan suchten den jungen Mann im Hospital auf. Der hätte sich vor Angst am liebsten unter der Bettdecke verkrochen, aber Balians beruhigendes Abwinken ließ ihn etwas gelöster werden.

„Arthur, wir haben ein paar Fragen an dich“, sagte er. „Ich bin Roland von Ibelin, dieser Johanniter ist Bruder Jonathan von der Ballei* Steinburg in Wengland. Du hast Bischof Bartholomäus und seine Begleiter mit vielen anderen angegriffen. Drei seiner Begleiter wurden dabei so schwer verwundet, dass sie ebenso wie du nicht weiterreisen können. Der Bischof wünscht, dass du in Wengland vor das Gericht des Königs kommst. Ich kann nur beurteilen, was ich gesehen habe – und das ergibt keinen Grund, den Bischof auf offener Straße anzugreifen. Warum hast du das getan?“

„Der König wird mich zum Tod verurteilen. Ich kann nur beten, dass er mich wenigstens hängen lässt und ihm nichts Schlimmeres einfällt“, erwiderte Arthur. „Was sollte es mir helfen, Euch zu sagen weshalb wir Euch angegriffen haben?“

„Du bist kein Wengländer. Du hast gesagt, du bist aus Backendorf. Das liegt im Herzogtum Scharfenburg, in der Markgrafschaft Rebmark“, sagte Jonathan. „Wenn der König über dich richtet, weil du einen seiner Grafen angegriffen hast, wird er das berücksichtigen müssen. Das möchten wir ihm sagen.“

„Wir beide haben gegen dich und deine Kumpane gekämpft, aber nicht aus Feindschaft, sondern, um einem Bedrängten zu helfen. Wenn du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen hast, dann sag es uns“, ergänzte Balian.

„Das klingt, als wolltet Ihr mir helfen. Wieso?“

„Weil nicht jeder Angriff aus Bösartigkeit geschieht. Wenn es also gute Gründe dafür gibt, dann wollen wir versuchen, dem König zu verdeutlichen, dass es unterschiedliche Betrachtungsweisen ein- und derselben Tat geben kann, die nicht zum selben Urteil führen müssen. Also, weshalb habt ihr so gezielt den Bischof angegriffen?“, fragt der Vizegraf.

„Er … er schuldet meinem Lehnsherrn Geld und wollte es nicht bezahlen.“

„Wieso schuldet er ihm Geld?“

„Die Rebmark ist berühmt für ihre Weine, Herr. In ganz Scharfenburg und in Wengland wird ausschließlich Rebmärker Wein bei der heiligen Messe gebraucht“, erklärte Arthur. Balian sah Jonathan an.

„Ist das so?“; fragte er. Jonathan nickte.

„Gut. Weiter“, forderte er Arthur auf.

„Der Bischof hat ein Fuder* Messwein bestellt und auch erhalten. Aber er weigert sich, es zu bezahlen.“

„Weshalb?“, hakte Balian nach.

„Das weiß ich nicht. Ich erhielt von Markgraf Richard den Auftrag, das Geld einzutreiben. In Wachtelberg wies man mich ab. Der Bischof sei auf Reisen, hieß es. Das hat meinen Herrn nicht gefreut, wie Ihr Euch vorstellen könnt. Er schickte mich also wieder los und schärfte mir ein, ich solle ja nicht ohne das Geld wiederkommen. Er gab mir keine Männer mit, die mir hätten helfen können, das Geld mit dem nötigen Nachdruck einzufordern. Ich habe Monate gebraucht, um herauszufinden, dass Bartholomäus sich in Rätien aufhielt. Ich fand bei den Bauern an der Rabiusaschlucht Gastfreundschaft und Hilfe. Sie erboten sich, mir zu helfen. Ihr müsst wissen, die Leute in den Bergen um den Sankt Gotthard führen ein recht freies Leben. Sie hassen die königlichen Steuereintreiber, fühlen sich vom Kaiser und seinen Vasallen eher unterdrückt als beschützt. Die kaiserlichen Vögte in den Talschaften sind ungerecht und gierig. Auch die geistlichen Herren lassen zu wünschen übrig. Es gärt dort zunehmend. Sie erkundeten für mich, wo der Bischof sich aufhielt. Er war in Disentis gesehen worden, aber bereits mit Euch aufgebrochen, als ich davon erfuhr. Da haben wir den Überfall am Übergang an der Rabiusaschlucht geplant und wollten den Bischof gefangen nehmen, um ihn gegen Lösegeld in Höhe der Schulden freizulassen.“

„Um wie viel Geld geht es?“, fragte Balian.

„Fünfhundert Gulden“

„Was sagt Ihr dazu, Jonathan?“

„Das ist für ein Fuder Rebmärker Messwein der übliche Preis, Mylord.“

„Ist der Bischof für eine solche Zahlungsmoral bekannt?“

„Nein, aber Markgraf Richard für seine Behandlung von Untertanen, die er mit Aufträgen aussendet“, erwiderte Jonathan mit schiefem Lächeln.

„Bleibt nur die Frage, weshalb die Rechnung nicht bezahlt wurde, als Arthur in Wachtelberg war“, stellte der Vizegraf fest. „Mit wem hast du dort gesprochen, Arthur?“, fragte er.

„Ich bin nicht weit gekommen. Der Kastellan des Bischofs ließ mich schon nicht in den bischöflichen Palast.“

„Wann war das genau?“

Arthur sah Balian einen Moment an.

„Ihr wollt es aber genau wissen …“

„Arthur, ich bin Ritter. Es ist die Pflicht eines Ritters, die Wahrheit zu sprechen, das Unrecht zu meiden und Wehrlose zu beschützen. Das bedeutet für mich, für Gerechtigkeit einzutreten. Wenn ich sicher sein kann, dass du mir die Wahrheit sagst, werde ich tun, was in meiner Macht steht, um dich vor einem ungerechten Urteil zu schützen. Aber ich muss wirklich sicher sein können, dass du dir nicht eine Geschichte ausdenkst, um der Gerechtigkeit zu entgehen. Deshalb will ich alles so genau wie möglich wissen, um König Rudolf überzeugen zu können.“

„Der Bischof hatte den Wein zu Lichtmess* bestellt. Er wurde pünktlich geliefert. Als dann keine Zahlung erfolgte, bin ich Anfang März in Wachtelberg gewesen. Ich glaube, es war der 2. März. So um den fünfzehnten herum war ich wieder in Rebstadt und wurde gleich wieder allein losgeschickt. Seither bin ich auf der Suche nach dem Bischof gewesen.“

„Hm, das heißt, der Bischof weiß vielleicht noch nicht einmal von der Forderung. Arthur, ich werde den König um Aufschub seines Richterspruches bitten, bis ich mit dem Bischof gesprochen habe, weshalb der Wein nicht bezahlt wurde.“

„Danke, Herr. Ihr seid sehr gütig.“

„Danke. Erhol dich gut, Arthur“, erwiderte Balian. Er und Jonathan verließen das Hospital.

 

„Was haltet Ihr davon, Bruder Jonathan?“, fragte Balian, als sie den Weg zurück zum Lager gingen.

„Ihr gebt Euch viel Mühe, die Wahrheit zu ergründen, Mylord“, erwiderte der Johanniter knapp.

„Das meine ich nicht. Was haltet Ihr von Arthurs Geschichte?“

„Es wäre möglich. Der Bischof bestellt tatsächlich üblicherweise zu Lichtmess den Messweinvorrat für das ganze Jahr. Ungewöhnlich ist, dass er nicht bezahlt sein soll. Das wäre nur mit der Abwesenheit des Bischofs zu erklären“, erwiderte der Bruder.

„Wie lange begleitet Ihr Bartholomäus schon?“

„Er war in Rom bei Seiner Heiligkeit. Wir sind Mitte Januar von Wachtelberg aufgebrochen und hatten das Glück, dass wir es bis Ostern Ende März nach Rom geschafft haben. Seine Exzellenz blieb bis zum hochheiligen Pfingstfest Mitte Mai. Aber weil ihm auf der Hinreise auf dem Schiff von Genua nach Anzio immer wieder schlecht geworden ist, sind wir zurück den Pilgerweg durch die Apenninen geritten. Einen ganzen Monat haben wir bis nach Genua zurück benötigt, einen weiteren, um von dort bis nach Disentis zu kommen. Dort hat er einen Schwächeanfall bekommen, so dass wir dort bleiben mussten und so mit Euch zusammentrafen.“

„Das heißt, als der Wein geliefert wurde, war er gar nicht in Wachtelberg. Wer vertritt ihn, wenn er abwesend ist?“, erkundigte sich der Vizegraf.

„In geistlichen Dingen sein Bischofsvikar Ademar von Bauzenstein, in den weltlichen Dingen der Baron des Kreises Wachtelberg, Anselm von Ahrenstein. Für die Abnahme und Bezahlung des Messweins wäre der Bischofsvikar von Bauzenstein zuständig“, erklärte Jonathan.

„Wie loyal ist der?“

„Absolut, Mylord.“

„Weshalb sollte er dann nicht bezahlt haben?“

„Ehrlich: keine Ahnung!“

Balian seufzte. Das hörte sich nach längerem Aufenthalt in Wengland an … Aber der Teufel sollte ihn holen, wenn er zuließ, dass jemand dem Henker überantwortet wurde, der es womöglich nicht verdient hatte.

 

Eineinhalb Wochen darauf, am 14. August 1193, waren die Verwundeten alle soweit genesen, dass sie weiterreisen konnten. Am Abend kamen sie in Balzers in der Grafschaft Montfort-Bregenz an, wo sie auch den folgenden Tag, den Feiertag Mariä Himmelfahrt, verbrachten. Über verschlungene Wege lotste Bruder Jonathan die Ibeliner in den Morgenstunden des 16. August in das versteckte Hochtal oberhalb der kleinen Gemeinden der Berggrafschaft, in der der in das Fürstentum Breitenstein führende Pass lag. Dieses dreieinhalbtausend Fuß über dem Meeresspiegel liegende Tal fand nur, wer es kannte, führte der Weg doch durch eine unscheinbare Schlucht, die für Wagen fast zu schmal erschien.

Am Ende der wenigstens einhundert Klafter langen Schmalstelle öffnete sich der Berg, dahinter erstreckte sich ein langes, beidseits von gut siebeneinhalbtausend Fuß hohen Berggipfeln eingerahmtes Tal mit einem See an dem Ende, an dem der schmale Zugang war. In diesen See strömte ein Talfluss namens Bergquart, der von den Bächen aus den umgebenden Bergen gespeist wurde. Eine steile Felswand neben der Schlucht stellte das westliche Ende des Tales dar und begrenzte gleichzeitig den See. Mitten in der Wand war am Boden ein Loch, in das das Wasser aus dem See hinunterstürzte und irgendwo in den Tiefen des Berges verschwand. An der südlichen Seite des Sees führte ein Weg entlang, der kurz nach der Schlucht so breit wurde, dass sich zwei Wagen begegnen konnten.

Der See mochte gute drei Meilen lang sein. An der Einmündung des Flusses in den See lag eine befestigte Ansiedlung, zu der ein außerhalb der Mauern liegender kleiner Hafen zu gehören schien, in dem die Masten einiger Boote zu erkennen waren. 

Jenseits des Sees, am östlichen Ende des Tales, das etwa zwanzig Meilen entfernt sein mochte, öffnete es sich nach Nordosten und bildete eine etwas größer Fläche, auf der eine große Ansiedlung war, in deren Mitte sich eine beeindruckend große Burg erhob.

„Dort, wo das Tal den Knick nach Norden macht, liegt Dominiksburg, die Hauptstadt des Fürstentums Breitenstein. Das werden wir nicht mehr schaffen, es ist schon später Nachmittag. Wir werden dort unten in Breitenstein-Dorf übernachten“, erklärte Jonathan.

Die Sonne verschwand gerade hinter der steilen Westwand des Tales, als die Ibeliner ihre Wagen auf einer freien Fläche außerhalb des befestigten Dorfes zusammengefahren hatten. Innerhalb der Dorfmauer wäre für neun große Reisewagen kein Platz gewesen. Die Reisenden blieben bei ihren Wagen und ergänzten lediglich ihre Wasservorräte. Proviant hatten sie aus Chur von den Johannitern in Form von Trockenfleisch und Schüttelbrot so reichlich mitbekommen, dass es wohl bis nach Steinburg reichen würde.

 

Am folgenden Tag, dem 17. August, setzten sie ihren Weg bis nach Dominiksburg fort. Die Fürstenfamilie war allerdings mit dem größten Teil ihrer Ritter und zahlreichen Soldaten in den frühen Morgenstunden bereits in Richtung Wengland aufgebrochen, wo die Ritter und der Fürst am Turnier in Wachtelberg teilnehmen wollten.

Von Dominiksburg zogen die Reisenden am nächsten Tag weiter. Die Straße führte talaufwärts an der Bergquart entlang zum knapp achtundzwanzig Meilen entfernten Talende bei Palparuva/Breitenstein. Dort begann eine gewundene Passstraße zum Quartenpass, der das Fürstentum Breitenstein vom Königreich Wengland trennte. Etwa auf halber Höhe der sich nach Osten wendenden Passstraße zweigte eine weitere Straße nach links ab, die über den gut siebentausend Fuß hohen Palparuvapass nach Scharfenburg abzweigte, während die Palparuvastraße zum Quartenpass zwischen Breitenstein und Wengland führte, der mit knapp sechstausend Fuß etwas niedriger war.

 

Wenglische Grenzwächter hielten die Reisenden auf.

„Halt! Wer seid Ihr?“, fragte der führende Reiter. Er steckte in einem von Grün, Weiß und Rot gevierten Wappenrock, den Farben der Grafschaft Oberwengland.

„Ich bin Bruder Jonathan vom Johanniterorden, Ballei Steinburg, sowie drei weitere Brüder. Wir begleiten den Vizegrafen von Saint-Martin-au-Bois, Roland von Ibelin, seine Familie und seine Gefolgsleute, die aus dem Heiligen Land zurückkehren – und unseren Kronprinzen Martin, der von Graf Roland erzogen wird“, erklärte der führende Johanniterbruder.

„Dann seid uns willkommen. Ich bin Justus von Ermeldorf, Knappe des Burgvogtes Wilfried von Eberstein. Er wird sich gewiss freuen, Euch begrüßen zu dürfen. Folgt uns!“

Um die Burg herum waren eifrige Handwerker dabei, ein neues Feld von wenigstens hundert mal hundert Klafter Fläche mit einer Mauer zu versehen, um es in den Schutzbereich der Burg einzubeziehen. Grundrisse einiger Häuser waren ebenfalls schon erkennbar.

„Wir vergrößern den Lagerplatz, wie Ihr seht. Die Burg ist einfach zu klein geworden, um als sicherer Rastplatz zu dienen. Ihr müsst leider noch mit den alten Plätzen an der Ostseite vorlieb nehmen, aber auch die sind schon eine Verbesserung“, erklärte Justus und führte die Reisenden zu einem etwa fünfzig mal fünfzig Klafter messenden, mit einer Mauer eingefriedeten Hof mit Zugang zur Burg. Sie konnten dort ihre Wagen abstellen und den Zugtieren nach langer Zeit eine Nacht im Stall gönnen.

In der Burg waren ebenfalls Umbauarbeiten in Gange, die Balian und Gaëlle erkennen ließen, dass ihre Reaktion von ihrem Aufenthalt fünf Jahre zuvor etwas bewirkt hatte.

Nach einem freundlichen Empfang durch den Burgvogt und einem Gastmahl, das sich sehen lassen konnte, fielen die Ibeliner in ihren Wagen mehr in ihre Betten, als dass sie hineingingen.

„In drei Tagen sind wir bei dir zu Hause, Martin“, sagte Gaëlle. „Freust du dich?“

„Ja, sicher, Tante Gaëlle … aber … zu Hause … das ist bei dir und Onkel Roland. Ganz gleich, wo ihr wohnt.“

 

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Kapitel 25

Reisegeschäfte

 

Die zunächst vergebliche Suche nach einer Schiffspassage hatte Robin von Locksley, Asim und Imad viel Zeit gekostet. Inzwischen war es der 16. August. Zum gleichen Zeitpunkt, als Balian und seine Reisegefährten von Balzers in der Grafschaft Montfort-Bregenz aufbrachen, segelte Vaninis Santa Martha mit günstigem Wind nach Zypern. Capitano Vanini war über die Art, mit der Raymond von Tiberias ihn dazu gezwungen hatte, drei Passagiere für einen seiner Ansicht nach lächerlichen Betrag zu transportieren, nicht gerade erbaut. Doch Imad, Robin und Asim gaben aufeinander Acht, schützten sich gegenseitig, indem stets einer der drei Wache hielt. Robin hatte die beiden Sarazenen als seine Diener bei Vanini vorgestellt. Alle drei spielten ihre Rollen gut. Es gelang ihnen, für sich zu behalten, dass sie keineswegs ein solches Dienstverhältnis verband, sondern vielmehr eine wachsende Freundschaft.    

Von Jaffa nach Lemesos waren es fast zweihundert englische Meilen. Die drei Reisenden aus dem Heiligen Land hatten das Glück, dass Strömung und Winde auf ihrer Seite waren und sie auf direktem Weg nach Lemesos brachten. Einen vollen Tag nach dem Auslaufen von Jaffa legte die Santa Martha im Hafen von Lemesos an.

„Ihr seid Engländer, Mylord?“, hakte der diensthabende Zöllner, ein Tempelritter, nach, als er die von Raymond von Tiberias ausgestellten Reisepässe näher betrachtet hatte.

„So ist es. Und dies sind meine Diener Asim und Hussein al-Saif.“

„Mein Herr, der König von Zypern, wünscht jeden aus dem Heiligen Land zurückkehrenden englischen Ritter zu sehen. Werdet Ihr ihm Eure Aufwartung machen, Mylord?“

„Aber gewiss doch!“, stimmte Robin unverfälscht begeistert zu. „Ich würde ihm auch gerne meine treuen Diener vorstellen.“

„Moslems, oder?“, knurrte der Templer.

„Ja, meine Gefangenen, die nun meine Sklaven sind.“

„Dem Herrn sei Dank, dass es noch christliche Ritter gibt, die Gott nicht beleidigen, indem sie mit diesen verdammten Heiden gut Freund sein wollen!“

Nicht nur Robin musste sich auf die Zunge beißen, diese Unverschämtheit unbeantwortet zu lassen, der hochadlige Imad erst recht … Im Stillen schwor er sich, mindestens diesen Templer ebenfalls zu seinen Ahnen zu versammeln.

 

Eine Stunde später warteten sie im Vorraum zum Audienzsaal des königlichen Palastes. Zu ihrer Überraschung brachten Templerwachen nur kurze Zeit später auch Capitano Vanini dorthin und ließen den italienischen Schiffseigner nicht aus den Augen.

Die hohe Tür des Audienzsaales wurde geöffnet, ein Page in hellblauer Tunika mit dem neuen Wappen Zyperns – dem roten Löwen auf einem zehnfach weiß und blau geteilten Schild – auf der Brust erschien.

„Lord Locksley und sein Gefolge!“, rief er die nächsten Besucher auf. Robin, Asim und Imad alias Hussein traten vor und beugten artig das Knie vor dem König von Zypern.

„Tretet näher!“, forderte Guy sie auf. Sie kamen noch drei Schritte näher, verbeugten sich erneut.

„Ihr seid Engländer, Lord Locksley“, stellte der König in seinem üblichen, süffisanten Ton fest.

„So ist es, Majestät.“

„Ihr wollt nach England zurückkehren?“

„Das ist richtig.“

Guy nickte.

„Habt Ihr schon eine Fahrgelegenheit?“, fragte de Lusignan weiter.

„Es ist schwierig. Ich konnte gerade eine Passage hierher erhalten. Wie ich von hier nach Marseille, Toulon oder gar direkt nach England weiterkomme, weiß ich noch nicht“, erwiderte Robin wahrheitsgemäß.

„Dachte ich mir. Lord Locksley, ich werde dafür sorgen, dass Ihr eine Passage nach Genua erhaltet. Als Gegenleistung erwarte ich, dass Ihr den genauen Aufenthaltsort von König Richard von England ausfindig macht. Richard wollte über Genua heimkehren. Es gibt Hinweise, dass er wider allen Rechtes der Pilger von Leopold von Österreich festgesetzt wurde.“

„Als englischer Ritter ist es meine Pflicht, meinem König beizustehen, soweit ich es vermag. Eure Bedingung werde ich mit Freuden erfüllen, und koste sie auch mein Leben“, erwiderte Robin. „Mein Dasein als Ritter hat damit wieder eine Berechtigung. Erlaubt mir, Euch für diese wahrhaft gute Nachricht ein Geschenk zu machen, mein König.“

„Ihr nennt die Nachricht von der Gefangennahme des gemeinsamen Lehnsherrn Eurer und meiner Familie eine gute Nachricht?“, fuhr Guy den jungen Engländer an.

„Verzeiht, wenn ich mich missverständlich ausgedrückt habe, o König. Die gute Nachricht für mich ist, dass ich als Ritter etwas für meinen König tun kann, nicht, dass er gefangen ist. Das ist in der Tat eine böse Nachricht“, beschwichtigte Robin eilig. Er winkte Imad.

„Seht, Mylord: Dies ist mein treuer Hussein al-Saif. Er blieb mir sogar treu, als ich in Gefangenschaft geriet. Nun soll er Euch dieselbe Treue erweisen, die er mir zuteilwerden ließ“, bot er an. Guy betrachtete den nun ärmlich gekleideten Imad misstrauisch.

„Kennen wir uns?“, fragte er.

„Ich nicht … kennen … Euch“, erwiderte Imad radebrechend und mit massivem Akzent.

„Du siehst jemandem geradezu unheimlich ähnlich. Was sagt dir der Name Imad ad-Din?“

Imad sah Asim gut gespielt hilfesuchend an, der ihm die Frage auf Arabisch stellte. Imad antwortete in derselben Sprache.

„Verzeiht, Gebieter. Sein Französisch ist sehr unvollkommen“, sagte Asim. „Er sagt, er kenne einen Menschen dieses Namens nicht und bittet Euch untertänigst, ihm zu sagen, wer dies sein soll.“

„Schau an … Ein Sarazene kennt den bekanntesten General Saladins nicht. Ihr kommt wohl beide aus der Wüste, was?“, spottete Guy.

„So ist es, Sahib“, bestätigte Asim mit einer Verbeugung.

„Na gut. Lord Locksley, ich nehme Euer Geschenk an“, akzeptierte Guy gnädig die hinterlistige Gabe. „Haushofmeister!“

Der Haushofmeister, der irgendwo hinter dem Thron gestanden hatte, trat vor und verneigte sich.

„Mylord?“, fragte er.

„Nimm diesen … Sklaven … und gib ihm eine Arbeit, die seinen Fähigkeiten entspricht und uns nicht zu viel Mühe macht“, wies Guy ihn an. „Oh, noch etwas, Lord Locksley. Ihr habt vielleicht gehört, dass der Graf von Ibelin sehr plötzlich verstorben ist.“

„In Jaffa gab es entsprechende Gerüchte, Mylord. Dort wurde behauptet, er sei Assassinen zum Opfer gefallen.“

„Es ist mir zu Ohren gekommen, seine Witwe sei nach Frankreich zurückgereist, um ihn in seinem dortigen Lehen zu bestatten“, sagte Guy, ohne auf die Mutmaßung des Engländers einzugehen. „Sie … ist in Jerusalem geboren, müsst Ihr wissen. Ich glaube nicht, dass Frankreich der rechte Ort für sie ist, zumal auch ihr jüngerer Sohn in Jerusalem geboren wurde. Ich hatte … gehofft, sie würde hier Station machen, denn ich hätte sie gern persönlich um ihre Hand gebeten. Wenn Ihr schon durch Frankreich heimreist, erweist mir doch den Gefallen, ihr meine Werbung um ihre Hand zu unterbreiten. Sie soll an meiner Seite Königin von Zypern sein – und mit etwas Glück auch wieder Königin von Jerusalem. Wollt Ihr das für mich tun?“

„Gern, Mylord“, versprach Robin. Die Werbung konnte er ja gerne weitergeben. Gaëlle würde sich wahrscheinlich vor Lachen ausschütten …

„Wenn Ihr in Genua seid, wendet Euch nach Casale Monferrato. Gräfin Gaëlle war mit dem Markgrafen von Montferrat verheiratet, bevor er sie als schwangere Witwe hinterließ. Ich weiß, dass sie immer noch gute Kontakte zum Hause Montferrat pflegt. Sie wird dort sicher Station gemacht haben. Man wird Euch gewiss weiterhelfen“, empfahl Guy. „Dann kommen wir zur Fahrgelegenheit … Holt mir diesen verräterischen Kapitän!“

Die Wachen schubsten Maurizio Vanini in den Audienzsaal, dass er auf den Knien bis kurz vor den Thron rutschte.

„So, so … Ihr seid also der Kapitän, der lieber für Heiden Gewürze transportieren möchte als christliche Ritter ins Heilige Land zu verschiffen …“, sprach der König ihn voller Verachtung an.

„Aber …“

„Schweig!“, donnerte Guy ihn an. „Ausflüchte wie deine kenne ich zur Genüge. Ihr wollt alle nur Geld verdienen … Ihr könnt keines eurer Schiffe entbehren, um Truppen zu transportieren … Ihr führt keinen Krieg … Nein, was für Unschuldslämmer ihr seid! Wer mit Heiden Geschäfte macht, ist ein Verräter, Capitano Vanini! Und wärt Ihr nicht Kapitän eines Schiffes, würdet Ihr noch heute am Galgen baumeln! Aber da Ihr Kapitän eines Schiffes seid, beschlagnahme ich dieses Schiff mitsamt Euch und Eurer Besatzung und stelle Euch in meine persönlichen Dienste. Ihr, Capitano Vanini, werdet Lord Locksley und seinen Diener nach Genua bringen. Und in Genua werdet Ihr so viele dort wartende Truppen mit zurück nach Zypern bringen, wie auf Euer Schiff passen. Habt Ihr verstanden?“

„J… ja, mein König“, stotterte der italienische Capitano erschrocken.

„Und damit Ihr nicht Versuchung geratet, einen anderen Kurs einzuschlagen – nach Jaffa zurück oder direkt nach Alexandria zu fahren – oder Eure Fahrgäste eventuell als Sklaven zu verkaufen, um Euren angeblichen Gewinn doch noch zusammen zu raffen, werde ich eine ausreichend große Truppe meiner Ritter mit Euch mitschicken“, ergänzte der König. „Also wagt es nicht einmal, daran zu denken, mir nicht gehorchen zu wollen!“

Er winkte einem Tempelritter, der am Rand des Thronsaals stand.

„Sir Randolph, Ihr nehmt Euch neun Eurer Männer. Ihr nehmt eigenen Proviant und für jeden ausreichend eigenes Wasser mit. In Genua ergänzt Ihr Eure eigenen Vorräte. Ihr werdet diese … Seeleute … bewachen wie den Heiligen Gral. Helft ihnen, wenn sie in Schwierigkeiten geraten, aber erstickt jeden Widerstand gegen Euch und Eure Männer im Keim“, wies er Sir Randolph Cunningham an.

„Das werde ich, mein König!“, versprach der Tempelherr.

„Gut, dann lasst Euch in Euren Geschäften nicht weiter aufhalten“, entließ König Guy seine Audienzgäste.

 

„Das habe ich Euch zu verdanken!“, fauchte Vanini, als Robin und Asim wieder an Bord der Santa Martha kamen.

„Ich wünschte, es wäre so“, versetzte Robin kalt. „Wir beide sind keine Freunde der Templer, aber wenn sie gegen Euch kämpfen müssen, damit Ihr uns nach Genua bringt, dann habt Ihr nicht nur die Templer gegen Euch, sondern auch uns beide. Verlasst Euch darauf. Aber ebenso wie die Templer werden wir für Euch streiten, wenn dieses Schiff angegriffen wird. Auch darauf könnt Ihr Euch verlassen.“

Capitano Vanini sah sich um. Er hatte zehn Männer als Besatzung seines Schiffes. Sie waren kampferfahren, kein Zweifel, aber gegen gewiss nicht weniger kampferfahrene Kreuzritter, gegen Templer gar, hatten sie einfach keine Chance. Er musste wohl oder übel die zweiwöchige Fahrt nach Genua aufnehmen.

 

Dem Italiener fiel schnell auf, dass der Engländer und der Maure sich von den Templern fernhielten. Wenn es ihm gelingen sollte, sie auf seine Seite zu ziehen, so dachte er, würde er sich der Templer vielleicht entledigen können – und ob er dann noch ganz bis Genua fahren musste, war eine andere Frage …            

„Mylord Robin, ich meine aus Euren Worten vor der Landung in Lemesos herausgehört zu haben, dass Ihr nicht gerade ein Freund von König Guy seid“, sprach er Locksley an.

„Gegenwärtig habe ich keinen Grund, ihm undankbar zu sein. Denn dank seiner Maßnahme fahrt Ihr uns doch bis nach Genua. Aber … wenn dem so wäre?“, fragte Robin.

„Dann jedenfalls würde es mich wundern, wenn Ihr für ihn eine nutzlose Werbung führt“, schmunzelte der Italiener. Robin erwiderte das Lächeln.

„Wieso? Gaëlle von Ibelin ist doch Witwe. Und wenn ein König um sie wirbt …“, erwiderte Robin. Dass er sehr wohl wusste, dass Gaëlle schon einmal Guys Frau gewesen war und ihn niemals erneut heiraten würde, musste er diesem Kapitän nicht gerade unter die Nase reiben.

„Und wenn ich Euch sage, dass sie gar keine Witwe ist?“, ließ Maurizio einen Köder fallen.

„Wieso? Hat sie schon wieder geheiratet?“, hakte Asim ein. Vanini lachte schallend.

„Nein! Muss sie auch nicht, weil sie nie verwitwet war!“, jubelte der Capitano. Robin und Asim sahen sich an.

„Leise, wenn Euch Euer Leben lieb ist!“, zischte Robin. Entsetzt sah Vanini nach unten, als er einen unangenehmen Druck am Wams spürte. Der Engländer drückte ihm einen scheußlich spitzen Dolch in die Rippen. Er schluckte hart.

„Und jetzt sagt mir leise, was Ihr davon wisst, Capitano“, fügte Robin hinzu.

„Na ja … Der Graf hat seinen Tod nur vorgetäuscht. Er ist höchst lebendig und auf dem Weg nach Frankreich“, erwiderte Maurizio grinsend.

„Mit wem habt Ihr darüber noch gesprochen?“, hakte Asim ein.

„Mit niemandem“, erwiderte Vanini. Der Maure nickte.

„Dann lasst es auch – ganz gleich gegenüber wem!“

„Und wenn nicht?“

„Sollte mir irgendwie zu Ohren kommen, dass der Graf von Ibelin durch Templer oder Ritter im Zypernrock oder durch sonst wen Schaden erleidet, dürft Ihr anfangen, Euch vor dem Schwarzen Mann zu fürchten, Capitano Vanini“, knurrte Robin.

„Wieso?“

„Weil ich dann Asim auf Eure Spur setzen werde, um Euch von Eurem Strohkopf zu befreien – und glaubt mir: er findet Euch, ganz gleich, wo Ihr Euch verkriecht!“, drohte Robin finster.

 

Vanini zog sich zurück. Hier hatte er gegen die Templer keine Unterstützung zu erwarten. Er konnte nur brav nach Genua fahren.

„Dann ist Imads Racheabsicht unnötig!“, flüsterte Robin aufgeregt. „Wie können wir ihn daran hindern …?“

„Gar nicht, Sahib. Du weißt nicht alles über Guy de Lusignan. Imad hat mehrere Gründe, ihn zu töten. Es ist nicht allein Balians angeblicher Tod“, erwiderte Asim, ebenfalls flüsternd. „Aber wir sollten dem nachgehen. Wenn er wirklich noch lebt und wieder in Saint-Martin-au-Bois ist, finden wir dort auf jeden Fall ein gutes Nachtlager.“

 

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Kapitel 26

Heiliger Eid

 

Drei Tage später, am späten Nachmittag des 21. August 1193, trafen die Heimkehrer in Steinburg, der Hauptstadt Wenglands ein. Dass Balian sich mit Roland von Ibelin melden ließ, fiel König Rudolf nur nebenbei auf. Er achtete mehr auf seinen mächtig gewachsenen Sohn Martin, der mit Balian und Gaëlle eintrat.

Erst, als seine Mutter ihn umarmte und unter Tränen des Glücks ihr in fast fünf Jahren Abwesenheit ebenso sehr gewachsenes wie schmerzlich vermisstes Kind an sich drückte, wurde Martin bewusst, dass auch er seine Eltern vermisst hatte. Doch während er seiner Mutter weinend um den Hals fiel, verbeugte er sich vor seinem Vater lediglich.

„Guten Tag, Vater“, sagte er. Rudolf spürte einen Stich im Herzen.

„Willst du mich nicht auch umarmen, Martin?“, fragte der König.

„Das wolltet Ihr doch nie“, erwiderte der Junge verwirrt. Rudolf wurde rot. Er hatte tatsächlich vergessen, dass er seinem älteren Sohn vor der Pagen- und Knappenzeit bei seinen Verwandten nie erlaubt hatte, ihn zu umarmen.

„Komm her, mein Sohn!“, winkte er ihn zu sich und umarmte ihn, gab ihm sogar einen väterlichen Kuss, aber Martin schien sich dabei nicht besonders wohl zu fühlen, das wurde ihm schnell klar. Der junge Prinz zog sich zu seiner Tante und seinem Onkel zurück, im Moment hin- und hergerissen, wohin er eigentlich gehörte.

Als Marie ihren Bruder Balian mehr als herzlich umarmte, der ihr auch nachträglich zu ihrem Geburtstag vom 15. August gratulierte, bekam Rudolf einen höchst nachdenklichen Blick. Marie hatte ihm nach seiner eigenen Rückkehr vom Kreuzzug gesagt, dass sie nichtehelicher Geburt war. Rudolf hatte das mit einem Lächeln quittiert, weil er seine Frau wirklich liebte und unendlich froh war, heil wieder zu Hause zu sein. Er hatte die Gelegenheit des Dankgottesdienstes für seine sichere Heimkehr genutzt, Marie nochmals zu heiraten …

Als er jetzt die liebevolle Begrüßung und Gratulation zwischen Bruder und Schwester sah, zwickte ihn der Stachel der Eifersucht. Marie hatte ihn nicht weniger liebevoll begrüßt, gewiss nicht, aber er fand, dass diese Art für ihn reserviert sein sollte, nicht für Gäste – nicht einmal für so enge Verwandte wie einen Halbbruder.

„Macht euch frisch und kommt dann zur Tafel!“, lächelte Rudolf. „Ich hoffe Ihr bleibt länger.“

„Martin war lange nicht zu Hause. Er wird gewiss einigen Bedarf haben, wieder hier zu sein“, mutmaßte Balian.

„Ich freue mich, Schwager, dass du inzwischen unsere Sprache gelernt hast“, bemerkte der König anerkennend. Balian lächelte.

„Nun ja, nachdem Martin zwischenzeitlich beinahe seine eigene Sprache vergessen hatte, weil er nur noch französisch und arabisch sprach, hat Yasmina von Tiberias dafür gesorgt, dass Bruder Wenzel von Löwenstein, ein Johanniterbruder aus Scharfenburg, ihm wieder Deutsch beibrachte. Sein Freund Mathieu und ich haben das genutzt, Martins Sprache mitzulernen.“

„Wirklich, das freut mich. Bitte, geht und erfrischt euch vor dem Mahl.“

 

Die Gäste zogen sich zurück, um zu baden und sich frische Kleidung anzuziehen. Auch Rudolf und Marie begaben sich in ihre Räume.

„Was hast du?“, fragte die Königin, als ihr Rudolfs finstere Miene auffiel.

„Marie, es gefällt mir nicht, wie du deinen Bruder ansiehst!“, knurrte er.

„Ich habe mich nicht weniger gefreut, als du vom Kreuzzug heimkamst“, erwiderte sie. „Ba… Roland ist mein Bruder. Wieso sollte ich meinen Bruder nicht lieben dürfen und ihm für seine lieben Glückwünsche danken?“

„Maria, mir scheint, die Liebe zwischen euch beiden ist etwas zu groß“, grollte der König. Sie sah ihn entsetzt an. Wenn Rudolf ihren Namen deutsch aussprach, stimmte etwas nicht.

„Du meinst doch nicht etwa …?“

„Doch, genau das meine ich!“, versetzte er. Er stand mit verschränkten Armen in der Tür ihrer Kemenate.

„Maria, ich weiß, dass ihr beide uneheliche Kinder seid …“, begann er. Sie wollte etwas sagen, aber seine Handbewegung hinderte sie.

„Nein, lass mich ausreden. Ihr seid uneheliche Kinder. Das mache ich weder dir noch Roland zum Vorwurf; ihr beide könnt dafür am wenigsten. Ich sehe das anders als die meisten Menschen hier und in Frankreich, das weißt du. Ich weiß aber auch, dass ihr erst spät davon erfahren habt, dass ihr Geschwister seid. Ihr seid beide zweifellos schöne Menschen, jeder gut dafür, sich in ihn oder sie zu verlieben. Wenn … wenn das vor unserer Ehe gewesen wäre … wäre es mir egal. Ich liebe dich, Maria. Aber warum … wieso, nachdem du meine geliebte Königin wurdest?“

Marie musste sich ob des ungeheuerlichen Vorwurfs setzen.

„Rudolf! Nein! Ich habe die Ehe nicht gebrochen! Weder mit Ba… Roland noch mit irgendwem anders! Wie kommst du überhaupt darauf? Doch wohl kaum, weil ich meinen Bruder umarme, wie es sich für eine Schwester gehört?“

„Es … es ist Martin …“, sagte Rudolf mit versagender Stimme. „Er sieht Roland so unfassbar ähnlich, dass ich große Zweifel habe, dass er mein Sohn sein könnte.“

Marie rang sich ein Lächeln ab.

„Du kanntest unsere Mutter nicht, Rudolf. Roland und ich sehen ihr sehr ähnlich, nicht unseren Vätern. Ebenso ist es mit Martin. Er sieht mir sicher ähnlicher als dir, aber Roland gleicht er nur deshalb so, weil wir Geschwister uns so ähnlich sehen, Liebster“, wehrte sie ab. Rudolfs Augen schwammen in Tränen.

„Bist … bist du bereit, das zu beschwören, Marie?“, fragte er.

„Bei der Heiligen Dreifaltigkeit und sämtlichen Heiligen, ja!“, schwor sie und hob die rechte Hand zum Schwur, die linke deutlich sichtbar vor den Leib haltend. Rudolf ging weinend in die Knie. Marie trat zu ihm und zog seinen Kopf an ihren Leib.

„Bitte, vergib mir den schrecklichen Verdacht, liebste Königin!“

„Ist schon gut, ich verzeihe dir. Liebling, als du Martin gezeugt hast, war tiefster Winter. Es war Februar. Da hätte ich nicht nach Saint-Martin-au-Bois reisen können und Balian nicht herkommen können. Es ist ein Weg von vier Wochen dorthin.“

„Es tut mir Leid!“, schluchzte er. Marie streichelte ihn, bis er sich wieder beruhigt hatte.

„Komm“, sagte sie leise und hob sein Kinn an. „Bis zum Mahl haben wir noch Zeit, mein geliebter König. Vielleicht … vielleicht ist ja noch ein Prinzesschen möglich, was meinst du?“

Rudolf sah auf. Er mochte nicht glauben, was er hörte.

„Wie bitte?“

„Du hast zwei hübsche Prinzen gemacht, mein Liebster. Jetzt hätte ich gern noch ein Töchterchen von dir.“

Er lächelte. So eine deutliche Einladung hatte sie noch nie ausgesprochen, obwohl sie sich als Eheleute wahrlich nichts vorenthielten. Eine wundervolle Stunde der Liebe und Leidenschaft, in der König und Königin sich ihre ganze Zuneigung schenkten, ließ die Zweifel, die Rudolf beschlichen hatten, verfliegen wie der Sonnenaufgang dunkle Träume. Marie gab sich ihm mit einer Leidenschaft hin, die er nach seinem schweren Vorwurf nicht erwartet hatte.

 

Nicht nur im königlichen Schlafgemach ging es leidenschaftlich zu. Das Bad hatte auch bei Balian und Gaëlle liebevolle Sehnsucht aufkommen lassen. Seit dem Aufbruch von Casale Monferrato drei Tage nach Gaëlles Geburtstag hatten sie nur in Disentis überhaupt in einem festen Gebäude genächtigt, dort allerdings in einem großen Schlafsaal ohne jegliche Privatsphäre. In vielen Burgen, in denen es so etwas wie Türen nicht gab – Burg Palparuva zum Beispiel – hatten zeugungswillige oder vergnügungssüchtige Bewohner meist weder eine Wahl noch große Bedenken, sich gleichwohl miteinander zu amüsieren, auch wenn andere es hören oder gar sehen konnten. Gaëlle und Balian gehörten eindeutig nicht dazu. Ihre Schlafgemächer – ob in Saint-Martin-au-Bois, in Ibelin, Arsuf oder Caymon – hatten Türen; verschließbare Türen …

 

Sehr viel später saßen das Königspaar, ihre beiden Söhne, das Vizegrafenpaar und ein Teil der Grafen des Reiches an der großen Tafel im Rittersaal der Steinburg, wie die Königsburg, die der ganzen Stadt Jahrhunderte zuvor den Namen gegeben hatte, allgemein genannt wurde. Rudolf und Marie saßen am Kopf der Tafel, der König auf dem rechten, seine Gemahlin auf dem linken Platz. Es wäre üblich gewesen, dass der Thronfolger rechts auf dem ersten Platz der Längsseite neben seinem Vater gesessen hätte, aber Martin wollte unbedingt neben seiner Mutter sitzen und hatte ausdrücklich darum gebeten, dass sein Onkel an seiner linken Seite säße. Michael, Martins knapp fünfjähriger Bruder, saß deshalb zwischen Rudolf und Gaëlle auf der rechten Tafelseite.

Wiederum fiel dem König die Ähnlichkeit zwischen Martin und Balian massiv ins Auge. Der Junge schien seinem Onkel sogar noch ähnlicher zu sein, als seiner Mutter. Es fiel jetzt noch mehr auf, weil Martin praktisch die gleiche Tunika wie sein Onkel trug. Maria von Ibelin hatte sie ihm während der gemeinsamen Zeit in Caymon aus demselben golddurchwirkten, dunkelblauen Seidenstoff schneidern lassen, aus dem seinerzeit auch Balians festliche Tunika in ihrem Auftrag für Godfrey von Ibelin gefertigt worden war. Onkel und Neffe gingen auch so vertraut miteinander um, als wären sie Vater und Sohn.

Dass dies an einer sehr familiären, liebevollen Erziehung liegen mochte, war für die Höflinge Wenglands unverständlich, erzogen sie ihre Kinder ab deren siebentem Lebensjahr doch nicht mehr selbst. Rudolf vertrieb die erneut aufkommenden Gedanken an einen möglichen Ehebruch mit Maries Eid. Sie war eine tiefgläubige Frau und hätte niemals bei der Heiligen Dreifaltigkeit und allen Heiligen geschworen, wenn es nicht die lautere Wahrheit gewesen wäre, davon war der König überzeugt.

Dafür gab es einen anderen im Saal, dem dies auffiel – und der es nutzen wollte.

„Mein König …“, begann Graf Peter von Limmenfels, „Ihr stellt uns diesen Jungen zwischen unserer Königin und ihrem Bruder als Euren ältesten Sohn und Thronfolger vor. Mit Verlaub, Majestät: Ich bezweifle, dass dieser Junge Euer Sohn ist.“

„Martin ist mein und Königin Marias Sohn!“, versetzte der König grollend. „Was ficht Euch an, Graf Peter?“

„Nun, Euer … Sohn … ist Euch nicht gerade ähnlich, mein König, wohl aber Eurer holden Gemahlin, von seinem Onkel ganz zu schweigen.“

„Peter!“, keuchte Albin von Hirschfeld. „Was erlaubt Ihr Euch? Ihr wagt es, die Königin des Ehebruchs mit ihrem eigenen Bruder zu bezichtigen?“

„Der Rittereid fordert, die Wahrheit zu sprechen. Ja, genau das tue ich!“, versetzte Peter und sah das Königspaar und Balian herausfordernd an.

„Graf Peter, mit der Vermutung, Martin könnte mein Sohn sein, werde ich seit fünf Jahren konfrontiert, seit ich zu seinem Erzieher bestellt wurde. Ich bestreite, es zu sein“, entgegnete Balian ruhig.

„Nun, das reicht mir nicht. Es geht für mich darum, wem ich eines Tages Treue zu schwören habe – meinem rechtmäßigen König oder einem untergeschobenen Kuckuck, der auch noch einen unehelich geborenen Vater hat!“

„Ich schäme mich meiner Herkunft nicht, Graf Peter. Ihr beleidigt mich nicht, indem Ihr so auf meine uneheliche Geburt verweist. Euch musste Euer Vater so nehmen, wie Ihr kamt; meiner konnte mich ganz bewusst anerkennen“, versetzte der Vizegraf. „Was wünscht Ihr, dass ich tue, um Euch davon zu überzeugen, dass Martin nicht mein, sondern der Sohn Eures Königs ist?“

Peter schnappte nach Luft. Eine solche Beleidigung, wie er sie gerade hatte fallen lassen, hätte jeden anderen zu einer Duellforderung veranlasst, die er in diesem Fall mit dem Verweis auf die uneheliche Geburt Balians hätte ablehnen können.

„Schwört einen heiligen Eid, dass Martin unseres Königs Sohn ist!“, forderte Peter.

„Ihr seid doch noch närrischer, als ich bisher glaubte, Peter!“, fuhr Albin ihn an. „Graf Roland kann allenfalls schwören, dass Martin nicht sein Sohn ist. Alles andere kann er nicht wissen, Ihr dummer Tropf! Ihr wollt ihn zum Meineid treiben!“

Peter warf dem alten Grafen – er war der älteste der zwölf Grafen Wenglands – einen vernichtenden Blick zu. Wieder hatte er ihm durch sein Eingreifen einen beabsichtigten erneuten Vorwurf zunichte gemacht.

„Albin hat Recht“, schaltete sich Daniel von Doberheim ein, der nur unwesentlich jüngere Ratgeber des Königs, den viele einen Alchimisten und Zauberer nannten, weil nie so ganz klar war, was er in seinem abgeschlossenen Reich innerhalb der Königsburg eigentlich trieb. Dort hatte nur der König selbst Zutritt … Aber niemand hätte es gewagt, Daniel öffentlich zu widersprechen, nicht einmal Peter von Limmenfels, dessen Familie seit alters her zur Opposition gegen das Königshaus neigte.

„Roland, bist du bereit, zu schwören, dass Martin nicht dein Sohn ist?“, fragte der König direkt und sehr vertraulich. Balian stand auf, hob die rechte Hand zum Schwur, ließ die linke deutlich vor sich am Gürtel seiner Tunika.

„Ich schwöre es bei Gott!“, sagte er und nahm die Hand wieder herunter. „Herr Peter, ich habe in meinem Leben genau zwei Frauen mit meinen männlichen Fähigkeiten beglückt: Meine erste, leider früh verstorbene Frau und meine jetzige Gemahlin, die mir drei Kinder schenkte. Deshalb kann ich mit gutem Gewissen diesen Eid leisten.“ 

Peter setzte sich enttäuscht.

„Nun, Ihr sagt nichts, Peter?“, hakte Rudolf nach.

„Was soll man da noch sagen?“, maulte der Limmenfelser Graf.

„Vielleicht, dass Ihr Euren Vorwurf als gegenstandslos betrachten wollt und für Eure ungerechtfertigten Vorwürfe um Entschuldigung bittet?“, fragte die Königin kühl.

„Ich sehe keinen Grund zu einer Entschuldigung. Diese Ähnlichkeit kann doch nur zu einer solchen Annahme führen!“, knurrte Peter.

„Peter, Ihr habt nicht nur meine geliebte Gemahlin beleidigt, sondern auch meinen Schwager, Vizegraf Roland. Das ist in Wengland nur durch ein Duell zu sühnen!“

Balian winkte ab.

„Mir genügt es, wenn er einfach nur sagt, dass er Martin als rechtmäßigen Thronfolger akzeptiert“, wehrte er eine mögliche Duellforderung seinerseits ab. Seine Schwester legte ihm eine Hand auf den Arm.

„Roland, er hat auch mich beleidigt, indem er mich des Ehebruches und Inzests bezichtigte. Das kann ich als Königin dieses Landes nicht auf sich beruhen lassen, das wirst du verstehen. Deshalb bitte ich dich als Ritter – und als meinen geliebten Bruder – für meine Ehre gegen den zu kämpfen, der mich beleidigt hat.“

Er sah sie eine Weile an. Ihm war anzusehen, dass er mit sich kämpfte. Duelle waren nicht seine Sache. Er hatte schon zu oft um Leben und Tod kämpfen müssen, um es nur der Ehre wegen tun zu wollen.

„Ho, seid Ihr zu feige, um einem wenglischen Grafen im Turnier gegenüberzutreten, Bastard?“, prustete Aribert von Karlsfeld. Balian wandte dem Spötter langsam das Gesicht zu.

„Wie gesagt, mich kann man mit dieser Bezeichnung nicht beleidigen. Ich bin ein Bastard, kein Zweifel. Ich leugne es nicht, sondern stehe dazu“, erwiderte er mit allmählich erzwungener Ruhe. „Wenn ich zögere, eine Duellforderung überhaupt auszusprechen, dann deshalb, weil ich es keinem zumuten möchte, unnötig Bekanntschaft mit meinem Schwert zu machen. Genügend Sarazenen haben es bereut, sich mit mir angelegt zu haben – und einige christliche Ritter auch. Euer König braucht Euch sicher noch, Graf Aribert.“

„Wenn Ihr so sprecht seid Ihr eher ein Maulheld als ein Ritter!“, zischte Aribert.

„Das könnt Ihr gern prüfen. Ich habe eine Einladung von Graf Bartholomäus zu seinem Namenstagsturnier für mich und meine Männer. Wenn Ihr, Aribert, es wünscht, stehe ich Euch in Wachtelberg zur Verfügung“, erwiderte Balian kühl. „Peter, Ihr habt die Königin beleidigt. In Ihrem Namen fordere ich dafür Genugtuung.“

Peter und Aribert, die einander gegenüber saßen, zwinkerten sich zu, was weder Albin noch Daniel entging. Auch die beiden alten Männer sahen sich verstehend an.

„Nun gut, dann stehe ich Euch ebenfalls in Wachtelberg zur Verfügung. Erwartet mich im Tjost!“, knurrte Peter. Die Forderung im Namen der Königin konnte er nicht ablehnen, auch wenn sie von einem Bastard ausgesprochen wurde, mit dem ein Ritter sich normalerweise nicht duellieren musste.

„Verzeihung, mein Deutsch ist noch nicht so gut, wie ich es möchte. Was ist ein Tjost?“, fragte Balian. Peter brach in helles Gelächter aus, das ein beinahe nebenbei versetzter Fausthieb des hünenhaften Wedigo von Südwengland buchstäblich mit einem Schlag beendete. Peter krachte mit dem Kopf auf den Platzteller und blieb bewusstlos darauf liegen.

„Ruhe!“, knurrte Wedigo, warf Aribert einen warnenden Blick zu, der genügte, um den deutlich kleineren Grafen von Karlsfeld daran zu hindern, mit dem Tischmesser auf den Provinzgrafen Südwenglands loszugehen.

„Verzeihung, mein König!“, wandte Letzterer sich dann an den schmunzelnden Rudolf.

„Auf Euch ist Verlass, Graf Wedigo. Danke“, sagte er. „Der Tjost ist ein streng reglementierter Zweikampf zu Pferd mit der Lanze. Um tödliche Verletzungen zu vermeiden, hat sie statt einer scharfen Spitze ein Krönlein aufgesetzt. Ziel ist es, den Gegner aus dem Sattel zu werfen. Wir tragen hier bis zu drei Gesteche pro Runde aus. Wer zwei davon gewinnt, ist der Sieger der Runde“, gab er seinem Schwager die erbetene Erklärung. Dann wandte er sich an einen ziemlich erschrockenen Grafen Aribert:

„Mein lieber Graf Aribert: Ihr beide, Peter und Ihr, solltet den Mund in Sachen Bastard nicht ganz so voll nehmen. Ihr seid beide zwar nach Eheschließung Eurer Eltern geboren, aber Ihr kaum fünf Monate danach, Peter sechs. Wie Ihr wisst, vertritt Bischof Bartholomäus die Ansicht, dass Kinder, die früher als neun Monate nach einer Eheschließung geboren werden, auf jeden Fall vor der Ehe gezeugt wurden und deshalb nicht ehelich sind. Schätzt Euch also glücklich, dass Ihr beide erst in Euren heutigen Grafschaften geboren wurdet und nicht in Wachtelberg, woher Eure Mütter stammen. Bartholomäus hätte Euch nur als Bastarde in sein Geburtsregister eintragen lassen. Also haltet Euch zurück, wenn jemand das Pech hatte, unehelich zur Welt zu kommen. Er hatte daran so wenig Anteil, wie Ihr an Eurem Glück, als ehelich anerkannt zu werden, obwohl Ihr beide wenigstens mutmaßlich vor der Ehe gezeugt wurdet.“

 

 

 

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Kapitel 27

Ratschläge

 

Am darauffolgenden Tag, es war Sonntag, der 22. August 1193, gingen die Familien Steinburg und Ibelin ins Hochamt in den Steinburger Dom, der der Burg geradewegs gegenüberlag. Der mächtige, dreischiffige Sandsteinbau romanischer Prägung mit den wuchtigen Türmen, die von spitz zulaufenden, grün patinierten Kupferdächern abgeschlossen wurden, hätte die Königsburg noch um zehn Klafter überragt, wäre sie nicht auf einem Hügel gebaut gewesen. Innerhalb des Domes war im Chorraum eine Loge für die königliche Familie abgeteilt. Diese Loge war groß genug, um außer der vierköpfigen Königsfamilie auch den vier Angehörigen der französischen Vizegrafenfamilie Platz zu bieten. Gaëlle, die als ehemalige Königin Jerusalems eine solche Vorzugsbehandlung durchaus zu genießen wusste, nahm das ihr gewährte Privileg gern an, während Balian dabei unbehaglich wurde. Er liebte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Es forderte Neid bei anderen geradezu heraus. Und Neid – besonders unter Adligen – verursachte nur Probleme …

Die Messe hielt Weihbischof Coelestin von Wiesenberg. Wiesenberg war ein Ort, der in Aventur lag, der westlichsten Provinz des Königreichs Wilzarien. In Wilzarien war das Christentum nach einem kurzen Anflug von Toleranz wieder verboten worden, der Kirchsprengel* mit Sitz in der Provinzhauptstadt Silla wieder aufgelöst worden. Coelestin hatte mit vielen anderen Christen fliehen müssen und hatte im benachbarten Königreich Wengland Aufnahme gefunden. Ein einmal geweihter Bischof blieb sein Leben lang Bischof, auch wenn sein Sprengel nicht mehr existierte. Fürstbischof Bartholomäus hatte Coelestin mit der Betreuung der ehemaligen Bischofskirche von Wengland beauftragt, dem Steinburger Dom, so dass Steinburg immer noch einen Bischof hatte, obwohl der Sitz des Sprengels seit mehr als dreihundert Jahren Wachtelberg war.

Nach der Messe erhielt Rudolf von einem Boten aus Wachtelberg die Klage des Bischofs gegen Arthur von Backendorf wegen des Überfalls an der Rabiusaschlucht. Er klagte ihn der Räuberei an, ein Verbrechen, das – falls der Vorwurf zutraf – mit der schrecklichen Strafe des Räderns belegt war. Rudolf seufzte. Am heiligen Sonntag waren Gerichtsverfahren kirchlicherseits nicht erlaubt. Am Montagmorgen wollte er aber eigentlich mit seinen Rittern nach Wachtelberg aufbrechen, um an Bartholomäus’ Namenstagsturnier teilzunehmen.

„Was hast du?“, fragte Balian, als sich der König nach dem gemeinsamen Mittagsmahl eher missmutig mit der Botschaft aus Wachtelberg beschäftigte. Rudolf erklärte es ihm.

„Und wenn du den Prozess in Wachtelberg führst?“, fragte Balian.

„Wozu sollte das gut sein?“, fragte der König verblüfft.

„Zum einen könntest du morgen wie beabsichtigt reisen, zum anderen könnte in Wachtelberg aufgeklärt werden, weshalb es zu diesem Überfall gekommen ist“, erklärte der Vizegraf.

„Hat er das denn schon gestanden?“, hakte der König nach.

„Nun, außer mir und Bartholomäus gibt es noch ein paar Augenzeugen für seine Beteiligung an diesem Überfall. Da gibt es wohl wenig zu leugnen. Dennoch empfehle ich dir, den Gründen nachzugehen, bevor du ein Urteil fällst“, erwiderte Balian.

„Welchen Gründen?“

Balian erklärte Rudolf, was er und Bruder Jonathan von Arthur erfahren hatten.

„Wenn du erlaubst, würde ich das, was der Junge vorgetragen hat, gern prüfen. Wachtelberg scheint mir der geeignete Ort zu sein“, schloss Balian seinen Bericht.

„Überfall auf offener Straße auf einen Bischof bleibt was es ist: ein Verbrechen!“, konterte Rudolf.

„Ja – und nein. Nimm mal an, ein Mann würde vor dich als Richter gebracht, der auf der Straße einen Mann erschlagen hat. Er kann ein Räuber sein, der einen Reisenden erschlagen hat, um ihn auszurauben. Es kann aber auch der überfallene Reisende sein, der sich erfolgreich gegen den Räuber gewehrt hat und ihn seinerseits erschlagen hat. Es ist doch aber ein Unterschied, ob sich jemand wehrt, der grundlos angegriffen wird, oder ob jemand einen anderen aus Habgier überfällt, oder? Gäbe es da keinen Unterschied, müsstest du mich, meine Männer und auch Bischof Bartholomäus bestrafen, weil wir bei diesem Kampf Leute getötet haben.“

„Der Bischof ist mir als gottesfürchtiger und ehrenhafter Mann bekannt, du ebenfalls“ entgegnete Rudolf. „Wieso willst du dich zum Verteidiger eines gemeinen Straßenräubers machen?“

„Im Augenblick ist er ein wehrloser Gefangener. Der Rittereid beinhaltet, Wehrlose zu beschützen. Wenn er aus niederen Gründen gehandelt hat, dann mag der Henker ihn ins Jenseits befördern. Wenn es vernünftige Gründe gibt und sie nicht nur vorgeschoben sind, bin ich sein Verteidiger“, stellte Balian klar. Rudolf sah ihn lange an, dann nickte er.

„Nur müssen diese Gründe geprüft werden“, ergänzte der Franzose. „Übrigens – das ist eine Idee, die Martin schon vor einem guten Jahr von allein gekommen ist. So will er einmal Gericht halten, wenn er dich beerbt hat, hat er mir gesagt.“

Rudolf lächelte.

„So lehrt mein Sohn dich? Ich dachte, er sollte von dir  …“, bemerkte er.

„Das tut er auch. Doch einen solchen Anstoß nehme ich gern zum Anlass, darüber nachzudenken, was Gerechtigkeit ist.“

„Weise Worte, eines Königs würdig. Und wie willst du herausfinden, ob Arthur die Wahrheit gesagt hat? Bischof Bartholomäus ist einem ausländischen Vizegrafen keine Rechenschaft schuldig“, warnte Rudolf.

„Nein, aber als dein Graf dir. Und du hast über Arthur zu richten. Das, was ich dir gesagt habe, sollte geeignet sein, die Angelegenheit näher zu untersuchen und den Beteiligten – auch Bartholomäus, seinem Kämmerer und Markgraf Richard – unangenehme Fragen zu stellen, bevor du einen vielleicht Unschuldigen zu einem schrecklichen Tod verurteilst.“

Rudolf sah seinen Schwager eine Weile an.

„Gaëlle, liebe Schwägerin, du hast mir und Marie schon einiges über deine Zeit als Königin von Jerusalem erzählt. Ich weiß, dass es eine Zeit gab, in der du von deinem zweiten Gemahl Guy frei warst, Roland schon dein Gemahl war und der Thron von Jerusalem vakant war. Wieso hast du, deren Anspruch dieser Thron doch war, nicht deinen geliebten Roland zum König gekrönt? Einen besseren König hättest du für das heilige Jerusalem nicht finden können!“, schmunzelte er. Gaëlle erwiderte sein Schmunzeln.

„Rudolf, liebster Schwager – erzähle das meinem lieben Roland! Er wollte es nicht – und er hat von mir verlangt, auf die Krone Jerusalems zu verzichten, sonst hätte er mich gar nicht geheiratet“, sagte sie. Balian spürte, dass er rot wurde. Rudolf nickte, während Marie Beschämung spürte.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie ihren Bruder hatte beobachten können, ohne dass sie damals geahnt hatte, dass der wohl hübscheste Junge ihres Dorfes Saint-Martin-au-Bois ihr Bruder war. Sie war – wie alle Mädchen im Dorf im passenden Alter – in den fleißigen älteren Sohn des Schmieds heimlich verliebt gewesen. Da sie aber als Tochter des Vizegrafen aufgewachsen war, hatte schon der Standesunterschied zwischen dem gewöhnlichen Untertan Balian, Sohn des Schmieds, und ihr, der Vizekomtesse Marie du Puiset, verhindert, dass sie sich näher hatten kennen lernen können. So hatte sie ihn zwar nur aus der Ferne sehen und von ihm träumen können, aber sie wusste, wie wenig er von Lob und Ruhm hielt.

„Roland, mein Freund, ich bin froh, dass ich auf die Eingebung gehört habe, unseren Sohn von dir und Gaëlle erziehen zu lassen“, sagte der König. „Wollt ihr wirklich nach Frankreich weiterziehen? Du wärst eine Zierde meiner Ritter – und die nächste freie Grafenstelle wäre deine. Wachtelberg muss nicht von einem Bischof regiert werden. Wenn Bartholomäus zu Gott befohlen wird, könnte ich auch einem weltlichen Grafen diese Würde übertragen. Dir könnte ich mein Reich bedenkenlos zur Verwaltung anvertrauen, wenn ich in einen Krieg ziehen müsste … obwohl … ich glaube, ich hätte dich in dem Fall lieber an meiner Seite, weil ich dir mein Leben ebenso bedenkenlos anvertrauen könnte.“

Balian rang sich ein Lächeln ab.

„Danke, das … ist ein wahrhaft großzügiges Angebot. Ich bin sicher, dass du das nicht jedem Gast an deinem Tisch machst. Doch ich habe eine Vizegrafenstelle – die in Saint-Martin-au-Bois“, erwiderte er. „Wir waren sehr lange nicht dort. Georg, mein Verwalter, wird mir meine Dörfer gewiss gut erhalten haben, aber letztlich trage ich für meine Dörfler die Verantwortung. Von mir erwarten sie Schutz und Hilfe. Das habe ich ihnen versprochen, das bin ich ihnen schuldig.“ Rudolf nickte abermals.

„Deine Treue ist bekannt. Denk bitte nicht, ich würde dich deinem Lehnsherrn abspenstig machen wollen. Doch ich habe König Philippe in Akkon erlebt. Zwar habe ich mich – was den Thron Jerusalems betraf – auf seine Seite gestellt und für Konrad gestimmt, aber er hat durch seine eigene Arroganz verhindert, dass Konrad König werden konnte. Hätte er damals Leopold von Österreich als wahlberechtigten Fürsten anerkannt, hätte Richard niemals Guy de Lusignan als König durchsetzen können.

Ihr wisst wahrscheinlich, dass Leopold in seiner beleidigten Ehre König Richard auf dem Rückweg vom Kreuzzug hat festsetzen lassen. Er hat ihn gegen viel Geld an den Kaiser ausgeliefert, der ihm als Staufer eher feindlich gesonnen ist. Richard ist mit den Welfen verwandt, die grundsätzlich gegen den deutschen König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches opponieren. Dass Richard in einen Streit auf dem Kontinent wohl kaum eingreifen würde, nimmt Kaiser Heinrich nicht zur Kenntnis oder will es nicht wahrhaben. Es hat einen Prozess gegeben, den der Kaiser wegen der Aufgabe Jerusalems gegen Richard angestrengt hat. Richard hat sich grandios aus der Affäre gezogen und die Unterstützung der meisten deutschen Fürsten erlangt, aber Heinrich wollte ihn dennoch nur gegen Lösegeld freilassen.

Als Richard zögerte, drohte Heinrich, ihn an Philippe auszuliefern, mit dem Richard Streit hat. Er hat dem Lösegeld danach zugestimmt, ist aber immer noch in Trifels gefangen, weil es noch nicht abgeliefert wurde. Sein Bruder John versucht, es in England zu erheben, aber es ist eine ungeheure Summe, die England auf lange Zeit arm machen wird.

Gaëlle, du bist aus dem Haus Anjou, du bist mit Richard verwandt. Du hast einen tapferen Ritter zum Gemahl, für den der Rittereid kein hohles Geschwätz ist. Euer Besuch hier bei den Eltern eures Zöglings ist eine wunderbare Ausrede, um über Trifels heimzureisen und Richard zu befreien. Wenn ich einen solchen Versuch überhaupt jemandem zutrauen würde, dann deinem Roland. Selbst, wenn das nicht eure Absicht sein sollte: Philippe wird es vermuten, einfach, weil du eine Anjou bist.

Wenn ihr nach Frankreich zurückkehrt, droht euch Gefahr. Eure Ländereien liegen nicht weit von dem Gebiet entfernt, das Richards französisches Lehen ist. Philippe will Richard demütigen. Wenn Richard das Lösegeld aufbringt, wird Philippe die Schwäche Englands nutzen, um die westfranzösischen Lehen einzuziehen. Ich weiß nicht, was er Richard vorwerfen wird, aber ich bin sicher, er wird einen vordergründig passabel klingenden Grund finden, wie fadenscheinig der auch sein mag.

Bleibt hier. Es wird sich ein gutes Lehen für euch finden, in dem ihr in Frieden leben könnt.“

Das Angebot war mehr als nur reizvoll, das gestand Balian sich ohne zu zögern ein. Er wäre samt seiner Familie in der Nähe seiner Schwester; Martin wäre nicht so furchtbar weit von Zuhause weg, der Junge würde nicht wieder Schwierigkeiten mit seiner eigenen Sprache bekommen. Andererseits: Was war mit den Menschen in Saint-Martin-au-Bois, Brechignon, Cambery, Monbartier, Restignac, Chaumur und Bonville? In allen sieben Dörfern, die zu seinem Lehen gehörten? Es waren kleine Dörfer mit je kaum hundert Einwohnern. Dafür kannte er all diese Menschen, die meisten persönlich. Nein, er konnte sie nicht einfach aufgeben, um nach Wengland überzusiedeln …

„Bitte, lass mich darüber nachdenken, Rudolf“, bat er.

„Natürlich. Du hast alle Zeit der Welt. Ich möchte es nur wissen, bevor ihr weiterzieht – wobei ich hoffe, dass ihr wenigstens bis zu Martins Geburtstag hierbleibt.“

Balian und Gaëlle sahen sich an. Martins Geburtstag war im November …

 

Sehr viel später saßen Balian, Gaëlle, Almaric, Melisende, Michel und Jazira zusammen. Er erzählte vom Angebot und der Warnung des wenglischen Königs.

„Was meint ihr dazu?“, fragte er.

„Ba… Roland, du bist derjenige, dem ein Lehen angeboten wird“, sagte Almaric. „Du weißt, dass wir dir überall hin folgen würden. Mich würdest du bis ans Ende der Welt nicht loswerden!“

„Das weiß ich. Aber darum geht es mir eigentlich nicht. Teilt ihr die Meinung Rudolfs, dass Frankreich ein gefährlicher Ort für uns sein könnte?“, präzisierte der Vizegraf. Michel seufzte.

„Ein Mann, der wie du ein durch und durch ehrenhafter Ritter sein möchte – und es auch ist – ist überall in Gefahr, wo jemand seine Macht auch gegen alle Gerechtigkeit durchsetzen oder vermehren will. In Frankreich kennst du dich besser aus als jeder von uns. Wir fünf sind allesamt im Heiligen Land geboren und kannten Frankreich nur aus Erzählungen, bis wir dir dorthin gefolgt sind. Solange wir dort waren, hat uns niemand bedroht. Im Gegenteil, der König von Frankreich hat ja sogar deinen Rat gesucht, als wir gegen König Richards Vater gekämpft haben“, sagte er.

„Apropos Richard …“, warf Almaric ein. „Wir sollten einen großen Bogen um Trifels machen.“

„Wieso?“

„Graf Montferrat hatte uns doch auf Richards Spur gesetzt. Wenn der König von England dem Lösegeld zugestimmt hat und der Kaiser nur noch auf die Ablieferung wartet, würden wir ihm einen schlechten Dienst erweisen, wenn wir versuchen, ihn dort herauszuholen“, warnte der Hauptmann. „Und wenn du mir noch einen Rat erlaubst: Wir sollten am besten einen Weg nach Hause wählen, der uns nicht mal in die Nähe dieser Burg bringt.“

„Gaëlle?“, wandte sich Balian an seine Frau.

„Er hat Recht, Liebster. Wir helfen Richard mit einem Befreiungsversuch jetzt auf keinen Fall mehr“, antwortete sie. „Wenn wir einen anderen Weg nach Saint-Martin-au-Bois nehmen, der weit an Trifels vorbeiführt, den wir nötigenfalls auch beweisen können, wird man uns nichts vorwerfen können – vor allem, wenn es stimmen sollte, dass Richard sich auch mit Philippe überworfen hat.“

„Gut. Dann ziehen wir nach dem Turnier in Wachtelberg nach Hause. Und zwar durch die Burgundische Pforte südlich der Vogesen*. Trifels liegt im nördlichen Teil der Vogesen. Wir kennen den Weg“, entschied der Vizegraf.

 

Am folgenden Tag reiste die Steinburger Ritterschaft mit ihrem Königspaar und den Gästen aus Frankreich nach Wachtelberg zum Turnier. Als sie abends vor den Toren von Katerstedt an der Grenze der Provinz Steinburg zur Provinz Wachtelberg rasteten, erklärte Balian Rudolf und Marie, dass sie nach dem Turnier nach Frankreich zurückkehren wollten.

„Roland, du hast etwas sehr wichtiges angestoßen: Die Untersuchung des Überfalls auf den Bischof. Deshalb möchte ich, dass ihr erst dann weiterzieht, wenn die Sache abschließend geklärt ist“, entgegnete Rudolf.

„Dann werden wir solange bleiben, bis die Angelegenheit erledigt ist“, versprach Balian.

„Ihr wollt uns doch schon verlassen, Graf Roland?“, erkundigte sich Albin.

„Ja, meine Vizegrafschaft wartet auf mich.“

„Sehr schade. Ich hätte Euch gern noch als Gast in Turmesch begrüßt. Die Arena solltet Ihr Euch ansehen“, sagte der alte Graf von Hirschfeld mit hörbarer Enttäuschung.

„Ganz ehrlich, Roland: Du solltest dir das nicht entgehen lassen. Du würdest wirklich etwas verpassen“, schlug Königin Marie in die gleiche Kerbe. Balian sah seine Frau und seine Freunde an, die nur nickten. Albin und Marie hatten sie jedenfalls neugierig gemacht.

„Dann werden wir Euch besuchen, Graf Albin“, versprach er mit freundlichem Lächeln.

 

 

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Kapitel 28

Respektlosigkeiten

 

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages, es war der 24. August, erreichten die Turnierbesucher aus Steinburg die Bischofsstadt Wachtelberg. Schon von weitem waren der Dom und der Palast des Fürstbischofs auf dem Hügel zu sehen, der der Stadt einst ihren Namen gegeben hatte. Wachtelberg wurde auch Dreiflüssestadt genannt, weil sich hier der Große Alvedra, der Steinburger Alvedra und der Glissa trafen. Die bischöfliche Stadt lag auf einer spitz zulaufenden Landzunge zwischen dem Großen und dem Steinburger Alvedra.

Das Turniergelände war außerhalb der Stadt auf einer Fläche aufgebaut, die Eigentum des Fürstbischofs war. Außerhalb der Turnierzeit war es Ackerland, das von zahlreichen Pächtern mit Korn bestellt wurde. Um diese Jahreszeit war die Ernte dort bereits eingefahren und die Stoppeln untergepflügt. Zwei hölzerne Gebäude – es waren Stallungen – standen im Abstand von etwa hundert Klaftern östlich und westlich an den Rändern einer Zeltstadt, die drei Kampffelder unterschiedlicher Größe einschloss. Um die Kampffelder wurden jedes Jahr hölzerne Tribünen neu gebaut und nach dem Turnier wieder abgerissen. Die Tagelöhner, die diese Arbeit verrichteten, durften das Holz mitnehmen und für sich selbst verwenden, aber nicht verkaufen.

In der großen Zeltstadt wohnten die Teilnehmer, aber auch Händler, die ihre Waren direkt von ihren Zelten oder Wagen anpriesen. Die Waren mussten nicht einmal direkt mit dem Turnier etwas zu tun haben; jeder konnte das, was er herstellen, anbauen oder einhandeln konnte, hier auch verkaufen. Es war ein buntes Durcheinander. Der Einzige, der halbwegs den Überblick zu behalten schien, war der Marktvogt, den Graf Albin mit Herwig von Wutzbach ansprach.

„Und, mein Junge, wie geht das Geschäft dieses Jahr?“, fragte Albin. Herwig seufzte.

„Ihr kennt den Bischof: er will keine Ordnung im Markttreiben haben. Es ist schrecklich! Uns wird wieder viel Geld verloren gehen, weil selbst ich nur etwa zwei Drittel der Markthändler in meiner Liste habe. Das andere Drittel kommt, stellt sich irgendwo wild dazwischen und macht Geschäfte ohne Zehnt. Aber da sind des Bischofs Ohren einfach taub“, erwiderte der Marktvogt. „Was habe ich nicht schon alles versucht, Euer Gnaden!“

„Ich weiß, mein Junge, ich weiß“, beruhigte Albin den jungen Mann. „Wo hast du denn für uns noch Platz?“

„Für Euch und für die Steinburger Ritterschaft habe ich Eure Stammplätze an den Ställen reserviert“, erwiderte der Marktvogt. „Wenn wir Glück haben, sind sie noch frei, ansonsten werden wir jemanden verscheuchen müssen. Folgt mir, bitte.“

„Mein König, spricht etwas dagegen, dass ich Graf Roland auf meinem Platz Wohnung gebe?“, wandte sich der alte Graf an König Rudolf.

„Ich gebe zu, dass es bei uns etwas knapp werden könnte. Wollt ihr bei Graf Albin eure Zelte aufschlagen?“

„Warum nicht?“, fragte Balian. „Martin, was ist mit dir? Willst du bei uns bleiben oder zu deinen Eltern?“

„Darf ich bei euch bleiben?“, fragte der Junge.

„Natürlich. Marie, was sagst du?“

Die Königin lächelte, aber ein Schatten lag darin.

„Ja, bleib nur dort, solange du magst, mein Sohn“, erwiderte sie. „Es ist gut, wenn Erzieher und Zögling sich so gut verstehen wie ihr.“

 

Martin ritt also an der Seite seiner Erzieher mit den Ibelinern und den Hirschfeldern zu den östlichen Stallungen. Marktvogt Herwig hatte den benötigten Platz für das Zeltdorf der Hirschfelder Ritter und ihres Grafen mit hölzernen Stangen abgesteckt und mit blau-gelber Kordel eingezäunt.

„Was sehen meine alten Augen? Peter!“, grollte Albin, als sie auf die provisorische Einfriedigung zuritten. Herwig gab seinem Ross die Sporen und galoppierte voraus, um den Platz zu räumen. Doch als der Zug der Hirschfelder und der Ibeliner heran war, machten die Limmenfelser immer noch keine Anstalten, den einfach gekaperten Platz wieder zu verlassen.

„Was ist los?“, fragte Albin streng.

„Ach, was wollt Ihr denn hier?“, erkundigte sich Graf Peter spöttisch.

„Unseren Platz, wie jedes Jahr!“, erwiderte Albin.

„Ihr wisst doch, dass auf diesem Turnier gilt, dass der, der zuerst kommt, zuerst mahlt. Oder seid Ihr schon so vergesslich, Albin? Und es sind doch meine Farben!“, lachte Peter in Anspielung darauf, dass seine Wappenfarben ebenfalls blau und gelb waren. Dann erlosch sein Lachen.

„Und Ihr seid nicht gerade in bester Gesellschaft! Kommt mit einem Bastard“, zischte er und spie vor die Hufe von Balians Pferd.

„Wässert Ihr immer auf diese Weise das Gras?“, grinste Balian, äußerlich von dieser gröbsten aller groben Beleidigungen unbeeindruckt. „Das bringt nicht viel …“, setzte er hinzu.

„Nochmal, Graf Peter …“, setzte Herwig an, wurde aber von Peter schneidend unterbrochen:

„Für dich immer noch Euer Gnaden!“

„Und Ihr hört ihm jetzt zu!“, donnerte Albin Peter an.

„Was fällt Euch eigentlich …“

Weiter kam er nicht. Herwig und zwei der Männer des Hirschfelder Grafen packten hart zu und zerrten Peter aus dem umfriedeten Gelände. Seine Männer griffen sofort zu den Waffen, sahen sich aber den blanken Schwertern der Ibeliner und der Hirschfelder gegenüber und stuften sich gegenüber den offensichtlich entschlossenen Kämpfern als unterlegen ein.

„Ja, Ihr fühlt Euch stark, weil Ihr in Überzahl erschienen seid!“, giftete Peter. Albin schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht.

„Ihr wisst ganz genau, dass der Platz an den Stallungen auf dieser Seite für mich und meine Männer reserviert ist – und auf der anderen für den König“, versetzte Albin, ohne auf den Vorwurf Peters einzugehen. „Dafür bezahlen wir viel Geld und kümmern uns um den Tribünenbau. Es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass Ihr versucht, diesen Platz hier zu besetzen. Ihr habt nur Glück, dass ich zu alt bin, um Euch per Zweikampf zur Rechenschaft zu ziehen. Und noch was: Der Turnier- und Marktvogt ist nach der Allgemeinen Turnierordnung dieses Königreiches jedem Turnierteilnehmer oder Besucher übergeordnet. Erstens ist seinen Anordnungen widerspruchlos Folge zu leisten und zweitens hat nicht er Euch mit Euer Gnaden anzureden, sondern Ihr ihn. Lasst Euch nie wieder dabei erwischen, einen Turnier- und Marktvogt derart respektlos zu behandeln!“

„Oder was? Was wollt Ihr denn tun, wenn Ihr nicht fähig seid, gegen mich zu kämpfen?“, spottete Peter.

„Betet, Peter, dass Rudolf als nächsten Grafen von Hirschfeld wieder einen alten Mann einsetzt und keinen, der Euch wirksamer daran hindern kann, Eure Frechheit zu leben! Und jetzt verschwindet Ihr hier!“, knurrte Albin. Seine eigenen Leute und die inzwischen hinzugekommenen Marktbüttel, die dem Marktvogt unterstanden und die gräfliche Ordnungsmacht repräsentierten, transportierten die Limmenfelser recht grob ab. Albin sah ihnen kopfschüttelnd nach.

„Jedes Jahr dasselbe Theater!“, schnaufte er.

„Das macht er jedes Jahr?“, fragte Gaëlle verblüfft. Albin nickte.

„Graf Peter von Limmenfels ist der schlimmste Finger Wenglands. Er hat vor nichts und niemandem Respekt“, sagte er. „Selbst den König geht er an. Dass er auch vor der Königin nicht Halt macht, habt Ihr ja selbst erlebt. Roland, wenn Ihr Peter im Tjost mit Wucht aus dem Sattel werft, tätet Ihr ganz Wengland einen großen Gefallen, nicht nur Eurer Schwester.“

Balian nickte schweigend. Albin schaute ihn durchdringend an.

„Sagt, mein Freund, wann habt Ihr zuletzt im Tjost gekämpft?“, fragte er.

„Noch nie, Mylord“, erwiderte der Franzose entwaffnend ehrlich. Albin bekam einen ungläubigen Blick.

„Meine Güte!“, entfuhr es ihm. „Peter ist ein guter Tjostreiter, das muss sogar ich ihm zugestehen – und ich kann ihn wirklich nicht leiden. Wenn Ihr gar keine Erfahrung mit dieser Turnierart habt, werdet Ihr ein Problem haben. Erlaubt mir den Rat, dass Ihr Euch nicht allein auf Gottes Hilfe verlasst, sondern übt.“

Balian lächelte sanft und gab seinen Leuten das Zeichen, die Wagen abzuladen.

„Es käme mir nicht in den Sinn, mich bei so etwas auf Gott zu verlassen, Mylord“, erwiderte er. Der Graf von Hirschfeld musste sich setzen.

„Wie bitte?“, keuchte er erschrocken. Balian und Michel halfen dem alten Herrn auf einen Schemel, den Martin von Balians Wagen herunterwarf und Almaric auffing, um ihn am Boden abzustellen.

„Nein, beruhigt Euch, Graf Albin“, lächelte der Vizegraf. „Ich spanne den Allmächtigen nicht gerne für solche profanen Zwecke wie Kämpfe um die Ehre ein. Er hat gewiss Besseres zu tun, als sich mit solchen Lappalien zu beschäftigen – noch dazu mit sündhaftem, menschlichem Hochmut.“

Das weißbärtige Gesicht des alten Grafen entspannte sich wieder.

„Interessante Haltung, Graf Roland. Ihr gefallt mir. Wie alle Grafen Wenglands veranstalte ich einmal im Jahr ein Turnier. Das nächste wird im Mai nächsten Jahres sein, wenn Gott will. Wollt Ihr teilnehmen?“, bot er an.

„Ich danke für die Ehre, die Ihr mir erweisen wollt, edler Albin. Nur … ich bin kein Turnierritter. Hier in Wachtelberg werde ich mich nur meiner Schwester zuliebe schlagen, die mich gebeten hat, wegen Peters Beleidigung für sie zu streiten. Sonst wären meine Männer und ich lediglich als Zuschauer hergekommen.“

„Das wäre sehr unklug gewesen, Mylord Roland. Ritter, müsst Ihr wissen, haben in diesem friedlichen Königreich nur dann Ansehen, wenn sie ihre Fähigkeiten im Turnier unter Beweis stellen“, warnte der alte Mann.

„Vielleicht habe ich schon zu oft um mein Leben kämpfen müssen, um es allein der Ehre wegen auch noch zu tun.“

„Das glaube ich Euch aufs Wort, mein Freund. Doch ich bitte Euch in eurem eigenen Interesse und im Interesse meiner geliebten Königin, dass Ihr mit meinen Rittern den Tjost übt“, beschwor Albin den Vizegrafen. „Das Gebäude dort und auf der anderen Seite sind nicht nur Stallungen, sondern auch Übungsbahnen, die ich hier habe bauen lassen. Bartholomäus ist als Geistlicher dem Turnierwesen gegenüber etwas … zurückhaltend … eingestellt, um es höflich zu formulieren. Er veranstaltet das Turnier nur, weil er muss. Herwig von Wutzbach ist der Baron von Wutzbach in der Grafschaft Hirschfeld, ein mir untergebener Herr des Landkreises Wutzbach. In meinem Auftrag und mit Unterstützung des Königs kümmert er sich um dieses Turniergelände. Deshalb genießen König Rudolf und ich samt unseren Leuten hier gewisse Privilegien. Eines davon sind eigene Übungsplätze.“

„Ich danke Euch für die Einladung und nehme sie gern an“, erwiderte Balian, freundlich lächelnd. „Kümmern wir uns jetzt erst einmal um die Dächer über den Köpfen“, empfahl er sich mit einer leichten Verbeugung, die Albin sitzend auf seinen Gehstock gestützt erwiderte.

 

Die Ibeliner – gut in Übung von ihrer langen Reise – hatten ihre Zelte rasch aufgestellt und gingen dann den Männern des Grafen von Hirschfeld zur Hand, die nicht ganz so eingespielt waren wie sie selbst. Als die Zelte nach nicht einmal einer Stunde standen, ließ Balian es sich nicht nehmen, zusammen mit Martin und Mathieu dem alten Grafen das Zelt einzuräumen. Dem alten Herrn hatte Martin auf einen Scherenstuhl geholfen, von dem aus er das Zeltinnere gut im Blick hatte und den beiden Jungen und ihrem Herrn und Erzieher ansagen konnte, wohin sie was stellen oder legen sollten.

„Martin, mein junger Prinz, mir scheint, Euer Onkel ist ein guter Organisator. Stimmt das?“, fragte er den Jungen.

„Aber ja! Ihr solltet unsere Burg Château Ibelin in Saint-Martin-au-Bois sehen, Herr Albin! Oder das erste Lehen meines Onkels in Ibelin im Heiligen Land. Da lief alles wie am Schnürchen – und keiner wurde zu etwas gezwungen! Aber keiner wollte danebenstehen und nur zuschauen!“, schwärmte Martin. Albin nickte.

„Sagt, mein Freund, es gibt eine Legende, die da sagt, im Heiligen Land habe ein tapferer Ritter mit hundert Männern zehntausend besiegt. Es heißt, er habe ein rotes Tatzenkreuz im goldenen Feld getragen – so wie Ihr. Seid Ihr dieser Ritter?“, erkundigte sich der alte Graf. Balian musste lachen.

„Meine Güte! Ist diese Übertreibung denn immer noch in der Welt?“, lachte er. „Georg, wenn ich nach Hause komme, kannst du was erleben! Ja, Mylord, die Legende stimmt – und nein, sie stimmt nicht.“

„Wie meint Ihr das?“

„Nun, wir waren nicht hundert, sondern dreißig, und wir hatten nicht zehntausend gegen uns, sondern dreihundert. Und wir haben sie nicht besiegt, sondern nur lange genug aufgehalten, damit fliehende Bauern eine sichere Burg erreichen konnten. Wir selber haben fürchterliche Prügel bezogen, die Hälfte meiner Männer hat es nicht überlebt – und die andere Hälfte wurde nur deshalb verschont, weil wir mit jemandem gekämpft haben, der meinte, mir etwas zu schulden. Mein lieber Freund Georg, der jetzt meine Vizegrafschaft für mich verwaltet, war damals noch bei den Templern und hat im Überschwang dessen, dass wir noch lebten und die Bauern den Sarazenen entkommen konnten, diese Legende in die Welt gesetzt. Hätte ich nicht so widerliche Kopfschmerzen nach einem Keulenhieb gehabt, ich hätte ihn daran gehindert“, erklärte der Vizegraf. Dann wurde er ernst und setzte sich in einen anderen Scherenstuhl, dem Grafen gegenüber.

„Graf Albin … ich sorge mich schon wegen dieses Turniers“, sagte er. „Ich bin es gewohnt, hart und tödlich zuzuschlagen, mein Schwert ist scharf geschliffen. Das könnte bedeuten, dass es nicht nur eine Helmzier kostet, sondern den Helm samt Kopf darunter gleich mit spaltet.“

Albin schmunzelte vergnügt.

„Ist das Eure ganze Angst? Dann macht Euch keine Gedanken. Halb Wengland und halb Scharfenburg werden Euch sehr dankbar sein, wenn ihr Peter aus dem Sattel werft und Aribert den Strohkopf spaltet“, kicherte er.

„Und die andere Hälfte wird mich jeweils in die Hölle wünschen, oder?“, mutmaßte Balian. Albins Grinsen verbreiterte sich noch einmal.

„Nein, sie werden Euch auf Knien anbeten, mein Junge!“, sagte er. „Es sind die übelsten Raufbolde dieses Landes, die frechsten Schandmäuler, die Wengland zu bieten hat. Zieht ihnen die Ohren bis zum Arschleder lang!“

„Arschleder?“, fragte Balian verständnislos.

„Das ist ein Lederschurz, den die Bergleute zum Schutz gegen Nässe und Schürfungen um den Allerwertesten tragen. In den Grafschaften Limmenfels und Karlsfeld, deren Herren Peter und Aribert sind, wird viel Bergbau betrieben. Dort wird Silber und Salz gefördert. Die Tatsache, dass die Bergwerke auf Initiative der gräflichen Familien erschlossen wurden und von ihnen betrieben werden, macht sie im Grunde unangreifbar. In Wengland gilt, dass derjenige, der einen Bodenschatz findet, zu seinem Eigentümer wird. Eigentum steht hier unter besonderem Schutz. Wenn derjenige auch noch der Graf der Provinz ist, ist wahrlich kein Herankommen mehr. Der König kann es ihnen nicht einfach wegnehmen, weder rechtlich noch praktisch. Und weil beide ihren Reichtum aus dem Bergbau beziehen, nennen wir sie die Arschleder-Grafen“, erklärte Albin. Balian musste schmunzeln

„Gibt es noch mehr solcher Spitznamen?“, fragte er.

„Ja. Ich werde Turniervogt genannt.“

„Und wieso?“, fragte Martin.

„Weil ich das größte Turnier in allen vier Ländern unserer Region veranstalte“, grinste der alte Graf und setzte noch ein schelmisches Augenzwinkern hinzu. „Übrigens: Ich leihe Euch gern mein eigenes Turnierschwert aus, wenn Ihr Eures nicht entschärfen und damit verhunzen wollt.“

 

Noch am selben Abend nach der Messe zu Ehren des heiligen Bartholomäus trugen sich die Ritter Ibelins und Hirschfelds gemeinsam in die Turnierliste ein. Als Turniervogt Herwig Balian wie jeden nach seiner Abkunft befragte, machte der kein Hehl aus seiner unehelichen Herkunft. Herwig sah ihn verstört an.

„Aber …“

„Ja, ich weiß. Ich dürfte kein Ritter sein, ich dürfte kein Adliger sein, ich dürfte kein Lehen haben und so weiter und so fort“, seufzte der Vizegraf. „Ich bin es aber und ich habe eine persönliche Einladung Eures Grafen, Mylord!“

„Verzeiht, Mylord!“, hustete Herwig.

„Vergeben. Wenn Ihr mir einen Rat erlaubt: denkt einmal darüber nach, wie viel ein unehelich Geborener für diesen Umstand kann. Was hat er oder sie selbst zu dem beigetragen, was man ihm oder ihr vorwerfen könnte?“, empfahl der französische Vizegraf.

 

 

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Kapitel 29

Hauen und Stechen I

Buhurt

 

Das Turnier begann am folgenden Tag mit dem Buhurt. Dabei handelte es sich um einen Mannschaftskampf, bei dem zwei Gruppen von Rittern eine Reiterschlacht simulierten. Gerade der Buhurt war aus der Notwendigkeit der Übung heraus entstanden. Reiter und Pferd mussten aufeinander eingespielt sein, der Reiter sein Pferd auch ohne Zügelhilfe allein mit den Schenkeln lenken können. Das Pferd sollte seine Angst verlieren und seinen Reiter keinesfalls im Stich lassen. Aber auch der Schwertkampf beim Turnier hatte seine Wurzeln in ritterlicher Übung.

Dass diese Übungen einen gewissen Schau- und Unterhaltungswert hatten, dass sie Publikum anlockten, war zunächst ein Nebeneffekt gewesen, der sich dann kontinuierlich verstärkt hatte und seit etwa fünfzig Jahren zu solchen regelmäßigen Schauveranstaltungen geführt hatte, für die eigene Regeln erfunden worden waren, die immer weiter verfeinert wurden – auch um das Verletzungsrisiko möglichst gering zu halten. Turnierveranstalter waren stets auch zum Schutz ihrer Untertanen verpflichtete Grundherren oder auch Gemeinwesen. Keiner von ihnen konnte es sich leisten, für die Verteidigung seiner Ländereien, seiner Bauern oder seiner Bürger dringend notwendige Ritter und Reisige bei einer Übung oder gar einer Schauveranstaltung zu verlieren. 

Deshalb waren die Turnierwaffen in der Regel stumpf, auch wenn es noch immer das Scharfrennen gab, bei dem der Tjost mit spitzen Lanzen ausgetragen wurde. Todesfälle waren beim Scharfrennen gar zu oft die Folge.

Weil die Schaukämpfe erst nach dem Mittag stattfanden, hatten Balian und seine Männer am Vormittag Zeit genug, sich im Stechen zu üben.

 

Auf Empfehlung von Graf Albin hatten sich die Ibeliner für den Buhurt angemeldet. Sie waren erst in der dritten Runde dran und hatten deshalb Gelegenheit, sich das Turniertreiben als Zuschauer anzusehen. Ihre Pferde konnten inzwischen von den Übungsstunden am Vormittag ausruhen.

„Wollt Ihr uns die Regeln erklären, Graf Albin?“, bat Balian den alten Grafen, der ihn und seine Männer unter seine Fittiche genommen hatte und sich sehr zuvorkommend zeigte. Graf Albin seinerseits mochte Balian einfach. Nicht nur, weil der französische Vizegraf der Schwager seines Königs, der Bruder der von Albin sehr verehrten Königin und der Erzieher des Kronprinzen war – sondern um seiner selbst willen. Er schätzte den Umgang des jungen Mannes mit seiner Gemahlin, mit seinem Zögling, mit seinen Gefolgsleuten. Was immer dieser Mann tat, wirkte völlig natürlich, unverstellt und ehrlich. Dass der Vizegraf erst zur Teilnahme am Turnier hatte überredet werden müssen, bewies Albin, es mit jemandem zu tun zu haben, der nicht nach Ruhm suchte – eine Seltenheit unter den Rittern. Der erbenlose Albin begann sich zu fragen, ob er dem König nicht den ihm als Roland bekannten Balian als seinen Nachfolger im Amt des Grafen von Hirschfeld vorschlagen sollte.

„Im Buhurt kämpfen zwei Aufgebote von jeweils zwölf Rittern gegeneinander. Wer gegen wen kämpft, entscheidet das Los. Die Teilnehmer erfahren erst auf dem Kampffeld, wer ihr Gegner ist. Es beginnt mit dem Stechen mit der Krönleinlanze. Jeder hat eine Lanze, wie auch in einem richtigen Kampf. Sind die Lanzen gebrochen, geht der Kampf mit dem Schwert weiter. Ziel beim Schwertkampf ist es, den Gegner zu entwaffnen. Wer vom Pferd stürzt, darf nicht mehr aufsteigen. Das Pferd wird von Knechten aus dem Kampffeld genommen. Wer sein Schwert oder seinen Schild verliert, scheidet aus und muss das Kampffeld verlassen. Dabei ist so ziemlich alles erlaubt, um den Gegner aus dem Sattel zu befördern. Entschieden ist das Kampfspiel, wenn entweder der Anführer aus dem Sattel geworfen wird oder ein Anführer ohne Kämpfer dasteht“, erklärte der alte Graf mit einem amüsierten Schmunzeln. „Diese Runde wird nicht lange dauern. Da gehe ich jede Wette ein.

 

Die erste ausgeloste Mannschaft war das Steinburger Aufgebot, das der Heermeister Bertram von Ermeldorf führte. Als deren Gegner kamen die Ritter des Bauzensteiner Aufgebotes, das Baron Irolf von Grüneichen anführte. Beide Anführer hatten in ihren Reihen Ritter, die eigene Wappen führten. Um die Gruppen kenntlich zu machen, trugen die Bauzensteiner rote Waffenröcke, die Steinburger grüne. Bertram und Irolf hatten auf Brust und Rücken eine große, gelbe Lilie aufgenäht.

Beide Gruppen nahmen einander gegenüber mit eingelegten Lanzen Aufstellung. Zwischen den Gruppen waren wohl fünfzig Klafter Platz, was eine relativ hohe Reitgeschwindigkeit ermöglichte. In der Mitte zwischen den Gruppen war ein Seil gespannt, das dort, wo es angeknotet war, über einem Hauklotz lag. Einer der Herolde Wachtelbergs gab den Kampf frei, indem er das gespannte Seil mit einer Axt durchtrennte. Das lose Seil wurde eilig von einem seiner Persevanten* mit einer Kurbel eingezogen, damit sich die Reiter darin nicht verhedderten.

Unter dem anfeuernden Geschrei der Zuschauer preschten die beiden Gruppen aufeinander zu, die beiden Anführer jeweils in der Mitte der Gruppen. Bertram nahm Irolf ins Visier, der ihm direkt entgegenkam. Kurz vor dem Aufprall senkte er die Lanze leicht, kam damit unter die von Irolf, hob sie an, lenkte sie damit von seinem eigenen Schild nach oben ab und traf Irolfs Schild mit einer solchen Wucht, dass der Anführer der Bauzensteiner im hohen Bogen aus dem Sattel flog. Tosender Jubel der Steinburger Zuschauer war die Reaktion. Ein Hornsignal beendete das Kampfspiel, noch bevor es richtig begonnen hatte.

„Bertram von Ermeldorf ist König Rudolfs Heermeister. Das heißt, er führt das königliche Heer im königlichen Auftrag. Er gilt als einer der besten Kämpfer dieses Landes – und als im Gestech praktisch unschlagbar. Der Einzige, der ihn jemals im Stechen abgeworfen hat, ist Markgraf Richard von Rebmark aus unserem Nachbarland Scharfenburg. Der allerdings arbeitet zuweilen mit nicht ganz legalen Kniffen“, erklärte Albin.

 

Die zweite Runde machte sich bereit. Es waren die Aufgebote von Eschenfels, angeführt von Graf Gerold selbst, und das der Grafschaft Wachtelberg, das Baron Mathias von Matzenbuch führte. Die Lanzen der Anführer verfehlten jeweils ihr Ziel, schubsten die daneben anreitenden Ritter aus den Sätteln. Ungefähr die Hälfte der Beteiligten flog aus dem Sattel. Sämtliche Lanzen waren gebrochen. Der Kampf wurde nun mit dem Schwert weitergeführt. Recht schnell gerieten die Teilnehmer in Hitze und Erbitterung.

„Es wird Zeit“, sagte Balian. „Wir müssen uns fertigmachen.“

Während die Frauen und Kinder – dieses Mal sogar einschließlich der beiden Knappen Martin und Mathieu – bei Graf Albin blieben, eilten die Ibeliner Ritter zu ihren Pferden, die fertig gezäumt und gesattelt auf sie warteten. Sie saßen gerade in den Sätteln und hatten die Lanzen aufgenommen, als die vorhergehende Runde buchstäblich abgeblasen wurde. Die Ibeliner ritten nach Aufruf durch den Herold auf das Kampffeld.

„Also höret! Also höret!“, eröffnete der Herold mit lauter Stimme die Vorstellung der Teilnehmer zur dritten Runde. „Als Gäste unseres Königs begrüße ich im Namen unseres Grafen Bartholomäus den Vizegrafen von Saint-Martin-au-Bois, Roland von Ibelin, und seine Ritter. Sie haben einen weiten Weg vom Heiligen Land hinter sich und noch einen weiten Weg vor sich, wenn sie von hier aus nach Frankreich zurückkehren. Möge Euer Gegner Nachsicht ob dieses noch vor Euch liegenden Weges mit Euch haben und euch schonend behandeln, Mylord Roland!“, rief der Herold, nicht ohne Spott. Dann kam die zweite Abteilung in das Kampffeld – Peter von Limmenfels und sein Provinzaufgebot.

„Die Gegner der geschätzten Gäste aus Frankreich!“, rief der Herold. „Graf Peter von Limmenfels, Vertreter einer ebenso alten wie angesehenen Familie unseres Landes, ein Meister des Stechens. Lieber Graf Roland – seht es mir nach, wenn ich auf Euch heute nicht wetten würde!“

Peter hatte ein siegessicheres Grinsen im Gesicht. Der Franzose und seine Ritter hatten offensichtlich keine Ahnung, mit wem sie sich gerade anlegen wollten. Peter hatte allerdings auch keinen Schimmer, was die Fähigkeiten der Ibeliner betraf …

Balian sah den wenglischen Grafen an, der wie ein stolzer Hahn in die Menge grüßte – und er bemerkte, dass der Achtung gebietende Auftritt nur teilweise honoriert wurde; und zwar hauptsächlich aus einem Block von Plätzen, auf denen meist in blau-gelben Gambesons steckende Männer mit ihren Familien saßen. Blau und Gelb waren die Hauptfarben von Peters Wappen – ein blauer Schild mit schrägrechtem goldenem Balken, der mit drei roten Adlern mit ausgebreiteten Flügeln belegt war. Andere – größere – Teile des Publikums schienen Peter bewusst zu ignorieren.

 

Dieser Umstand fiel auch Gaëlle auf, die mit ihren Kindern und Martin, Almarics Frau Melisende und deren Kindern Mathieu, Agnes und Amelie auf der Tribüne der Längsseite saß. Bislang war ihr geliebter Balian solchen Schaukämpfen bewusst aus dem Weg gegangen. Wenn er bisher gekämpft hatte, war es ein ernsthafter Kampf um Leben und Tod gewesen. Es war wirklich das erste Mal, dass er sich auf ein solches Kampfspiel einließ, in dem Regeln galten. Sie machte sich durchaus Sorgen, was geschehen konnte, wenn jemand die Regeln wissentlich oder versehentlich übertrat. Sie waren hier Gäste, die Gesetze dieses Landes kannten sie nicht …

Martin registrierte, dass der weit überwiegende Teil des Publikums Graf Peter offenbar ablehnend gegenüberstand. Wie war es möglich, dass ein bedeutender Edelmann im Reich seines Vaters – dem Reich, das er selbst einmal regieren sollte – allenfalls von seinen unmittelbaren Untertanen geschätzt wurde, aber nicht von der Mehrheit der Bevölkerung? Der Junge beschloss, diesen Mann genau zu beobachten. 

 

Balian beugte sich zu Almaric hinüber.

„Sehr beliebt scheint Peter in der Tat nicht zu sein. Ehrlich gesagt, würde ich ihn am liebsten mit der flachen Klinge verhauen“, sagte er leise.

„Möchtest du einen nachhaltigen Eindruck beim Publikum hinterlassen?“, fragte Almaric mit schelmischem Lächeln.

„Wenn du damit Marie meinst, durchaus. Sie ist meine Schwester.“

„Du kannst den Stoß verstärken, wenn du den Arm kurz vor dem Aufprall zurückziehst und nach vorn stößt. Wenn Peter dann im Sattel bleibt, schlucke ich meine Lanze – quer und unzerkaut“, riet Almaric

„Danke“, lächelte Balian verbindlich. Ein Hornsignal forderte die Aufmerksamkeit der Aufgebote.

„Nehmet Aufstellung!“, wies der Herold die Aufgebote an.

Die Ibeliner erhielten den Platz zur Linken des Kampfgerichtes, die Limmenfelser zur Rechten. Beide Aufgebote waren in den Farben ihrer jeweiligen Herren erschienen. Die Ibeliner steckten in den rot-beige gespaltenen Waffenröcken mit den sieben Tatzenkreuzen in gewechselten Tinkturen. Balian hatte zur Kennzeichnung als Anführer eine grüne Armbinde erhalten. Die Limmenfelser waren in blauen Röcken, den ein von der rechten Schulter bis zum Saum in Höhe des linken Knies reichender gelber, gut eine halbe Elle breiter Schrägbalken zierte. Auf dem Rücken erstreckte sich der Schrägbalken von der linken Schulter bis zum rechten Knie. Peters Gefolgsleute trugen den Balken blank, er selbst hatte die drei Adler seines Wappens auf dem Schrägbalken. Eine ergänzende Kennzeichnung Graf Peters als Anführer war deshalb entbehrlich.

Als die Aufgebote einander gegenüber standen und die Lanzen eingelegt waren, schlug der Herold das die Gruppen trennende Tau durch, der Persevant rollte es wieder ein, die Gruppen preschten aufeinander zu. Balian nahm Peter ins Visier, der ihm direkt entgegenkam. Peter seinerseits zielte auf Balian – und zwar auf den Helm. Der Vizegraf bemerkte die Stoßrichtung der Lanzenkrone im letzten Augenblick und zog den Kopf rechtzeitig nach rechts weg; allerdings hatte er damit seine Lanze nicht ganz unter Kontrolle. Sein Stich ging ebenso ins Leere wie Peters.

Während Balian sich abfangen konnte, weil er bewusst ausgewichen war, fehlte für Peter der erwartete Aufprall – mit der Folge, dass er sich weit nach vorn beugte, weil er diesen erwarteten Stoß abfangen wollte. Die gut eineinhalb Klafter lange Lanze bekam vorne Bodenberührung und blieb im weichen Untergrund stecken. Peter konnte sie nur knapp loslassen, um nicht aus dem Sattel gehebelt zu werden. Balian wendete seinen schwarzen Hengst auf der Hinterhand und bemerkte, dass Peter zwar im Sattel schwankte, aber oben geblieben war und sein Schwert zog.

Den Zuschauern – insbesondere den in Turnieren praktisch unerfahrenen Damen und Kindern aus Ibelin – stockte der Atem. Die Luft blieb den Leuten aus sehr unterschiedlichen Gründen weg: Den Turnierneulingen angesichts Peters Versuch, die Turnierregeln unelegant zu umgehen; den verblüfften Wengländern, weil da jemand auf dem Platz war, der augenscheinlich in der Lage war, Peter zu zeigen, wo Bartel den Most holte …

Der Vizegraf warf seine Lanze – eine für ihn ohnehin ungewohnte Waffe – einem überraschten Grieswärtel* zu und zog ebenfalls das Schwert. Es war Albins stumpfes Turnierschwert, das er sich ausgeliehen hatte. Er wartete nicht, dass Peter sein Ross ebenfalls gewendet hatte, sondern griff ihn von der linken Seite her an. In einem echten Kampf – und genau das sollte im Buhurt ja geübt werden – hätte ein Kämpfer in einer vorteilhaften Position auch nicht abgewartet, bis sein Gegner sich wieder gesammelt hatte und verteidigungsbereit war …

Peter geriet prompt in arge Nöte, weil er seinen Schild gar nicht so schnell hochbekam, wie er von Balian schon Hiebe bezog.

„Dieter!“, brüllte er nach seinem Hauptmann, dem Baron Dieter von Dornfurt. Doch der war mit Almaric, Balians Hauptmann, mehr als gut ausgelastet und hatte keine Chance, seinem Lehnsherrn zu Hilfe zu kommen. Peter stand allein gegen den von ihm so geschmähten Bastard und konnte sich der Hiebe kaum erwehren, die ihn trafen und blaue Flecken im Dutzend verursachten. Er schaffte es nicht einmal, sein Pferd und damit sich selbst nach links zu drehen. Balian drosch ohne Nachsicht auf den Grafen von Limmenfels ein, der sich immer weiter nach rechts biegen musste, um den fürchterlichen Hieben halbwegs zu entgehen. Hätte Balian ein scharfes Schwert gehabt, hätte Peter längst tödliche Verletzungen davongetragen …

Als Peter schon halb auf der rechten Seite hing, langte Balian nach dessen linkem Fuß, zog ihn aus dem Steigbügel und hebelte ihn aus dem Sattel. Peter konnte sich nicht mehr halten und landete im Sand des Kampffeldes. Er war nicht der Einzige. Sieben seiner Leute, die das Stechen überstanden hatten, fielen fast gleichzeitig mit ihrem Herrn von den Pferden.  

Augenblicklich blies einer der Persevanten den Kampf ab. Die Ibeliner stoppten mitten in der Bewegung und zogen sich von ihren Gegnern zurück. Verstört sahen die verbliebenen Kämpfer aus Limmenfels sich an.

„Wieso bläst du ab?“, fragte Dieter den Persevanten. „Der Bastard ist doch noch im Sattel!“, beschwerte er sich.

„Der Vizegraf schon, Mylord – aber nicht Euer Herr“, erwiderte der Heroldsgeselle. Dieter fiel die Kinnlade herunter, als er Peter ziemlich hilflos im rechten Steigbügel hängend am Boden sah. Peters Augen schossen einen zornigen Blitzpfeil nach dem anderen ab, die meist Dieter galten, von dem er sich im Stich gelassen fühlte. Balian konnte er mit seinem Dolchblick nicht bedenken, weil der außerhalb seines Sichtfeldes auf der linken Seite seines Pferdes war.

„Das kann nicht sein!“, keuchte der Limmenfelser Baron und trabte zu Peter, den die Grieswärtel aus dem Steigbügel befreit hatten und ihm an den Rand des Kampffeldes halfen.

„Mistkerl!“, fluchte Peter. „Hebelt mich einfach aus dem Sattel!“

Ein erneutes Hornsignal forderte die Aufmerksamkeit der Teilnehmer und der Zuschauer, die lauthals jubelten, noch bevor der Herold die abschließende Entscheidung des Kampfgerichtes verkündet hatte.

„Also höret! Also höret!“, rief der Herold laut. „Sieger im dritten Buhurt ist das Aufgebot des Vizegrafen von Saint-Martin-au-Bois durch Abwurf des Anführers des Limmenfelser Aufgebotes!“

Der Jubel steigerte sich noch einmal. Das haltlose Toben der Wengländer bewies den Ibelinern, welch schlechtes Ansehen Graf Peter hatte – und welche Sympathien ihr eigener Anführer sich durch den persönlichen Sieg über Peter und damit über das ganze Aufgebot der Provinz Limmenfels gerade gesichert hatte.

Gaëlle hatte das Gefühl, eine Tonne Steine rolle ihr vom Herzen, als ihr bewusst wurde, dass ihr Balian den Buhurt nicht nur unverletzt überstanden hatte, sondern ihn auch noch gewonnen hatte. Martin, sicher der größte Bewunderer seines geliebten Onkels, hatte an einem Sieg seines Lehrmeisters keinen Zweifel gehabt. Doch die Art und Weise, in der er den Grafen von Limmenfels einfach aus dem Sattel geworfen hatte, löste Unbehagen bei dem Prinzen aus. So etwas gehörte sich doch nicht!

 

„Ich protestiere!“, schrie Peter und stapfte zur Empore des Kampfgerichtes. „Ich protestiere, dass die Franzosen zum Sieger erklärt werden!“

„Aha. Und wieso?“, fragte Herzog Ludwig von Scharfenburg, der den Vorsitz des Kampfgerichtes führte.

„Dieser Bastard hat mich mit einem unfairen Trick aus dem Sattel gehebelt!“, beschwerte sich der Limmenfelser. Herzog Ludwig sah ihn eine Weile an, während Martin auf der Tribüne eifrig nickte. Er gestand es sich ja ungern ein, aber Peter schien ihm im Recht zu sein.

„Was ist daran unfair?“, fragte der Herzog.

„Er hätte nicht zugreifen dürfen!“, erklärte Peter. Ludwig bekam ein hintergründiges Lächeln.

„Erinnert Ihr Euch an das Stolzenfelser Turnier vor zwei Jahren, Graf Peter?“, fragte er.

„Wieso?“

„Bei jenem Turnier habt Ihr Eduard von Falkenstein, Graf Alwins ältesten Sohn, als Bodenkämpfer des Karlsfelder Aufgebotes ebenfalls per Hand aus dem Sattel befördert. Ihr habt Euch damals darauf berufen, dass es nach der Turnierordnung von Stolzenfels nicht ausdrücklich verboten ist, den Gegner mit der Hand aus dem Sattel zu heben. Das hat dazu geführt, dass Eduards Aufgebot den Kampf gegen Karlsfeld nachträglich verlor, nachdem er zunächst wegen einer vom Kampfgericht angenommenen Regelwidrigkeit Eurerseits zum Sieger erklärt worden war. Nirgendwo in meiner Turnierordnung steht geschrieben, dass der Abwurf nur durch Waffen geschehen darf, das habt Ihr mir damals sehr deutlich gemacht. Auch in der Wachtelberger Turnierordnung ist in solches Verbot nicht enthalten. Folglich ist es kein unfairer Trick, den Vizegraf Roland angewandt hat. Er durfte Euch so zu Boden befördern. Und damit ist er zu Recht Sieger über Euch und sein Aufgebot Sieger über das Eure“, entgegnete der Herzog kühl.

„Aber … aber …“

„Nichts aber!“, grollte der Herzog. „Ihr bekommt keine Sonderregel, die Euch vor Euren eigenen Spitzfindigkeiten schützt! Was Ihr für Euch als Recht verlangt, gilt auch für jeden anderen Turnierteilnehmer! Hinfort mit Euch!“

Peter blieb nur der Rückzug, nachdem sein Protest auf diese Weise gescheitert war. Er konnte nur noch seine Schuld bei Balian begleichen, denn wer einen Kampf verlor, schuldete dem Sieger seine Rüstung und sein Pferd – oder den entsprechenden Gegenwert in silbernen wenglischen Gulden. Ein verlorener Buhurtkampf war eine ziemlich teure Angelegenheit … 

 

Martin, der das laut auf dem Platz geführte Gespräch ebenso wie alle anderen gehört hatte, glaubte erst, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Was nicht verboten war, erkannte er, das war erlaubt … Dann erwischte er sich bei einem erleichterten Aufatmen. Sein geliebter Onkel hatte nichts falsch gemacht und auch nicht unfair gehandelt!

Weder ihn noch die anderen Kinder und die Damen Ibelins hielt es noch auf den Sitzen. Angeführt von Gaëlle und Martin stürmten die Angehörigen der siegreichen Mannschaft das Feld und umarmten ihre Turnierhelden.

Gaëlle und Balian versanken in einem intensiven Kuss, der bewies, dass von beiden eine ungeheure Last abfiel. Die sehr persönlichen Glückwünsche der Damen Ibelins an ihre Männer brachte die Volksmenge nochmal richtig zum Kochen, die diese Freude teilte.

 

Graf Peter und seine geschlagene Truppe sahen sich nur betreten an. Da kam ein im wenglischen Turnierbetrieb völlig unbekannter Buhurthaufen und riss die Sympathien der Zuschauer mit einer spielerischen Leichtigkeit an sich, dass es nur so krachte. Dass die Zuneigung der Zuschauer an der Unverschämtheit ihres Grafen scheiterte, war den Limmenfelsern nicht wirklich bewusst.

 

 

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Kapitel 30

Hauen und Stechen II

Tjost und Gefecht

 

Das eigentliche Stechen, in dem Peter Balian zum Duell zur Verfügung stehen wollte, stand zwei Tage später auf dem Programm. Bis dahin übte der Vizegraf fleißig und ernsthaft, arbeitete an noch vorhandenen Defiziten. Immer wieder probte er mit Männern des Grafen den richtigen Anlauf mit der eingelegten Lanze in der geschlossenen Übungshalle. Am Ende des intensiven Trainings war Albin überzeugt, dass der französische Vizegraf die beleidigte Ehre der Königin wiederherstellen würde.

„Ihr lernt schnell, Graf Roland!“, lobte der alte Graf Albin. „Für jemanden, der eigentlich nur ernsthaft und ohne Regeln gekämpft hat, seid Ihr bemerkenswert regeltreu – und recht unwiderstehlich, wenn Ihr zustoßt. Ehrlich, ich bin froh, dass ich Euch nicht auf dem Kampffeld entgegentreten soll.“

Balian nahm den Helm ab, zog auch die Kettenkapuze ab und schüttelte das verschwitzte Haar aus.

„Beim Buhurt musste ich Peter noch ausweichen, als er auf meinen Kopf gezielt hat. Beim Stechen möchte ich einer solchen Attacke angemessen begegnen können“, erwiderte er. „Dazu musste ich ein bisschen üben …“

„Was? Er hat auf Euren Kopf gezielt?“, erkundigte sich Albin verdutzt.

„Ja.“

„Wenn er das nochmal tut, ruft Ihr das laut durch die Arena!“, erwiderte Albin befehlend. „Das ist eine grobe Regelwidrigkeit, die entsprechend zu ahnden ist!“

„Und wie?“

„Ausschluss vom Turnier – und zwar vom ganzen Turnier!“, versetzte Albin knurrend. Balian lächelte sanft.

„Ganz ehrlich: Die Antwort auf einen solchen Regelverstoß gebe ich lieber selbst. Ich verstecke mich nicht hinter anderen Autoritäten“, sagte er. Albin sah ihn verblüfft an.

„Ihr kennt keine Angst, wie?“, fragte er.

„Doch, natürlich. Wie jeder Mensch“, entgegnete Balian. „Doch als Ritter soll ich im Angesicht von Feinden keine Furcht haben. Bislang ist es mir immer gelungen, im entscheidenden Moment meine Angst zu bezwingen und mich auf meine Fähigkeiten mit dem Schwert zu verlassen … manchmal auch auf meine Wut. Beim Buhurt hat mir meine Wut geholfen. Beim Stechen wird es hoffentlich ein besserer Umgang mit der Lanze sein.“

 

Das intensive Training forderte sowohl Balian selbst als auch seinem Schlachtross Rollo, einem schwarzen Hengst normannischer Herkunft, alles ab. An diesem Abend, an dem seine Männer und die des alten Grafen sich in einem der Wirtszelte zu einer fröhlichen Feierrunde trafen, überließ Balian sich den kundigen Händen Gaëlles, die ihm die Müdigkeit aus den Muskeln massierten.

„Himmel, tut das gut!“, schnurrte er zufrieden. „Ich glaube, Ramses kann sich künftig allein auf seine Steinmetzarbeiten konzentrieren.“

„Wieso?“, fragte sie mit schelmischem Lächeln und fuhr mit beiden Händen die langen Rückenmuskeln entlang nach oben. Das wohlige Seufzen, das ihr geliebter Ehemann in das Kissen brummte, auf dem sein Gesicht lag, bestätigte ihr, dass sie auf dem richtigen Weg war.

„Er hat aus dir eine perfekte Bademeisterin gemacht, Liebste“, antwortete er. „Ehrlich, so hat er meine Muskeln nie hinbekommen, wie du es gerade tust.“

„Ist das so?“, hakte sie nach. Er nickte nur und schnurrte erneut – geradezu erwartungsvoll. Wenn sie so weitermachte, lag sie bald neben ihm …

Sie nahm sich die Zeit, ihn so zu verwöhnen, wie sie es im Heiligen Land auf einem ihrer Lehen getan hatte. Dort hatte eine Bademassage nach starker körperlicher Beanspruchung seinerseits durch Aussaat, Ernte, umfangreiche Schmiedearbeiten oder auch Kämpfe regelmäßig im Ehebett geendet, und zwar völlig unabhängig von der Tageszeit.

Der verlängerte Aufenthalt in Wengland bescherte ihnen wieder genügend Gelegenheit, sich füreinander Zeit zu nehmen. Sie blieben länger an einem Ort als auf der Reise von Casale Monferrato nach Steinburg. Während jener Wochen hatten sie stets nur über Nacht gerastet, waren am folgenden Morgen weitergezogen. Jetzt standen ihre Zelte etwa eine volle Woche an einem Platz.

„Balian?“, sprach sie ihn leise genug an, dass es außerhalb des Zeltes gewiss nicht zu hören war. Er brummte zustimmend und erneut zufrieden schnurrend. Sie beugte sich über ihn, berührte seine linke Ohrspitze sachte mit den Lippen.

„Wolltest du nicht noch ein Töchterlein?“, fragte sie leise in sein Ohr. Er lächelte verliebt.

„Meinst du denn, ich wäre dazu jetzt in der Lage?“, erkundigte er sich spitzbübisch.

„Auf dem Bauch vermutlich nicht“, grinste sie. Mit einem gespielt gereizten Schnaufen langte er mit der linken Hand zu, während er sich rasch umdrehte, und zog sie heftig an sich. Es war wieder so wie beim ersten Mal, als sie an einem brütend heißen Nachmittag in Ibelin so übereinander hergefallen waren … 

 

Am folgenden Tag trafen Balian und Peter erneut auf dem Kampffeld zusammen. Der Graf von Limmenfels wollte dem Franzosen die Niederlage im Buhurt heimzahlen und hatte richtig Wut im Bauch. Balian wollte Peter keine Gelegenheit zu neuen Regelverstößen geben und ihn möglichst umgehend aus dem Sattel befördern.

In Wachtelberg wurde das Stechen offen geritten, was hieß, dass die Teilnehmer wie beim Buhurt ohne direkte Seitenbegrenzung aufeinander zuritten. In Frankreich war seit gut zwanzig Jahren zwischen den Teilnehmern eines Stechens eine Schranke üblich, die mindestens die Höhe der Hüften der beteiligten Reiter erreichte. Dadurch konnten die Pferde nicht kollidieren, die Reiter nicht durch einen unglücklichen Abwurf unter das Pferd des Kontrahenten geraten.

Nach der Freigabe des Kampfes durch den Herold preschten die Reiter aufeinander zu, aber Peter wich kurz vor dem Aufprall nach rechts aus. Balian konnte seinen schwarzen Hengst erst kurz vor der hölzernen Bande der gegenüberliegenden Feldseite zum Stehen bringen. Das dortige Publikum wurde nur deshalb nicht gefährdet, weil der Vizegraf die Lanze rechtzeitig in die Senkrechte brachte. Als er sein Pferd gewendet hatte, sah er in Peters schadenfrohes Lachen, der ohne erneute Freigabe durch den Herold schon wieder auf Balian zu jagte. Diesmal ließ Balian ihn ins Leere laufen, weil er so schnell die Lanze nicht wieder in die richtige Position bekam. Peters Lanze brach an der Bande, Splitter flogen im Schwarm durch die Gegend, dass die Zuschauer nur noch in Deckung gehen konnten.

Ein Schreckensschrei ging durch die Zuschauer, nicht zuletzt durch die Reihen, in denen die Ibeliner saßen. Gaëlle sprang auf, als Balians Pferd nach dem krachenden Geräusch der brechenden Lanze abrupt zur Seite auswich. Ihre Erleichterung, dass er unbeschadet im Sattel blieb, spürte auch Martin – und nicht nur an ihrem hörbaren Aufatmen.

Auch Königin Maria war nicht sitzengeblieben, als ihr Bruder dem unfairen Angriff nach einer ebenso unfairen Stoßverweigerung ausweichen musste. Es ging um ihre Ehre. Er durfte einfach nicht verlieren! Maria schlug das Herz bis zum Hals. Nur zu gut wusste sie um Peters grundsätzliche Umgehung jeglicher Regel, die er nicht selbst aufgestellt hatte – und sie wusste, dass ihr Gemahl jedenfalls bei den Grafen seines Landes überaus großzügig war, wenn sie gegen Turnierregeln verstießen …

„Wollt Ihr im Stechen antreten oder wollt Ihr Fangen spielen?“, rief Balian bissig.

„Dasselbe könnte ich Euch fragen!“, schnaubte Peter. „Ihr kneift doch auch einfach aus!“

„Nur, wenn Ihr mir keine Wahl lasst. Aber diesmal lasse ich Euch nicht verschwinden, verlasst Euch darauf!“, versetzte Balian und ritt wieder auf den Startpunkt, der etwas von der Mitte des Platzachse deutlich markiert war.

Der Limmenfelser ließ sich eine neue Lanze geben, ritt erneut an, nachdem der Herold den dritten Gang freigegeben hatte. Diesmal fing der Franzose die Lanze seines Gegners ein, bevor dieser sich wieder seitwärts davon machen konnte. Beide Lanzen krachten an die Schilde, brachen in einer Wolke aus Holzsplittern; die Wucht des Stoßes war so groß gewesen, dass es Peter aus dem Sattel riss, während Balian den Stoß hatte abfangen können. Der Graf von Limmenfels krachte ungebremst auf den Rücken, die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst. Hustend, um Luft ringend und hilflos wie eine umgedrehte Schildkröte lag er am Boden. Wieder belohnte der Jubel der Zuschauer Balians Sieg. Es gab wohl keinen im ganzen Tribünenrund, der Peter seine erneute Niederlage gegen den Vizegrafen nicht von Herzen gönnte. Zu oft piesackten seine Söldner – natürlich vorgeblich stets ohne sein Einverständnis – die grenznahen Regionen der benachbarten Grafschaften. Nein, Peter von Limmenfels hatte hier keine Freunde.

Balian warf den Lanzenrest Almaric zu, der ihm in diesem Fall als Knappe und Sekundant diente, wendete und trabte zu dem immer noch am Boden liegenden Graf Peter zurück.

„Nun, ich denke es wäre an der Zeit, dass Ihr Eure beleidigenden Worte gegenüber der Königin bereut, Graf Peter“, sagte er kühl. Hustend versuchte Peter etwas zu sagen, aber er bekam kein verständliches Wort heraus. Balian nickte.

„Ich akzeptiere in ihrem Namen Eure Entschuldigung“, grinste er. Die Grieswärtel kamen endlich dazu, Peter aufzuhelfen.

Balian ritt vor die Tribüne, auf der seine Schwester neben ihrem Gemahl saß. Gaëlle und die Kinder und Knappen saßen in der Reihe dahinter. Er nahm den Helm ab, streifte die Kettenkapuze ab und verneigte sich vor der Königin.

„Majestät, der, der Euch beleidigte, ist im Duell gegen mich unterlegen. Eure Ehre ist wiederhergestellt“, sagte er. Dann zog er sein Schwert und stieß es hoch in die Luft.

„Heil, Königin Maria! Heil, Königin Maria! Heil, Königin Maria! Möge nie mehr jemand ihre Ehre mit beleidigenden Worten oder Taten beflecken!“, rief er laut. Der Ruf wurde von den Menschen begeistert aufgenommen.

„Heil, Roland von Ibelin, dem tapferen Verteidiger der Ehre unserer Königin!“, kam ein Ruf von der gegenüberliegenden Tribüne. Dort war Albin von Hirschfeld aufgestanden und leitete den Chor, der nun Balian unter seinem neuen Rufnamen pries. Gaëlle wusste gar nicht wohin mit ihrem Glück. Es war ungeheuer schön für sie, dass ihrem geliebten Balian endlich die Ehre zuteilwurde, die er als der vollkommene Ritter verdiente, der er war, seit sein Vater ihn zum Ritter geschlagen hatte. Martin und Mathieu strahlten nicht weniger über das Lob, das sich über ihren Herrn und Erzieher ergoss.

Peter rang immer noch nach Luft, hatte das Gefühl, keine heile Rippe mehr zu haben.

„Dieser … hust … Mist… hust … kerl!“, japste er benommen, als er meinte, Balian könne es ob des Jubels zu seinen Ehren nicht mehr hören. Dafür hatte der König es umso besser gehört.

„Peter, ich erwarte Euch heute Abend im Palas der Burg. Ihr werdet dort vor den versammelten Grafen Wenglands und vor meiner geliebten Königin für Eure Beleidigung um Verzeihung bitten. Vizegraf Rolands Sieg hat Euch der üblen Nachrede überführt!“, grollte er so laut, dass er jeder hören musste. „Habt Ihr verstanden?“

„Ja … hust … mein … hust … König!“, bestätigte Peter keuchend.

 

Am selben Tag, drei Stunden später, trat Graf Aribert im Schwertkampf gegen den Vizegrafen von Saint-Martin-au-Bois an – und bezog furchtbare Prügel. Beim Schwertkampf war der Gegner zu entwaffnen. Balian versetzte ihm Hiebe, die mit einem scharfen Schwert tödliche Verletzungen verursacht hätten. Aribert fand fast keine Deckung gegen die hart und präzise ausgeteilten Schläge des Franzosen, geschweige denn, dass er dazu kam, sie ansatzweise zu erwidern. Nach einem wilden Schlagwechsel, bei dem Aribert mehr die Luft zerschnitten hatte, als dass er überhaupt Balians Schild oder Schwert getroffen hatte, flog dem Karlsfelder Grafen das Schwert im hohen Bogen aus der Hand und blieb zitternd in der hölzernen Verkleidung der Kampfrichtertribüne stecken.

Fürst Gregor von Breitenstein, der oberste Kampfrichter dieses Schwertkampfes, zog das Schwert aus dem Holz, das ihn beinahe getroffen hätte und staunte nicht schlecht, dass die runde Spitze und die Klinge scharf geschliffen waren. Beides hatte an einem stumpfen Turnierschwert eben auch stumpf zu sein …

„Ihr habt eine interessante Auffassung von der Einhaltung der Turnierregeln, Graf Aribert. Ich werde Euren Regelverstoß dem Fürstbischof mitteilen und ihn auffordern, Euch vom weiteren Turniergeschehen auszuschließen“, brummte der Fürst. „Graf Roland – ich erkläre Euch zum Sieger dieses Kampfes. Möge der Herr Euch bald wieder in diese Gefilde führen, wenn Ihr diese Gegend verlasst. Jeder Turnierveranstalter wäre geehrt, einen Teilnehmer wie Euch begrüßen zu können.“

Balian verbeugte sich leicht vor dem Fürsten.

„Ich danke Euch“, sagte er. Gregor erwiderte das Kopfnicken.

„König Rudolf hat mir die Klage des Fürstbischofs gezeigt und mich gebeten, ihn als Beisitzer beim Gericht zu unterstützen“, setzte der Fürst hinzu. „Und er hat mir gesagt, dass Ihr sehr interessante Nachforschungen angestellt habt. Ich bin sehr gespannt, was Ihr dem Gericht zu sagen habt.“

 

Balians Familie – einschließlich seiner königlichen Schwester – stürmte in die Arena und umarmte ihren Helden in einem großen Knäuel jubelnder Menschen. Martin und Mathieu, Balians jüngste Knappen, rannten ihren Herrn und Erzieher im Verein mit Jean-Raymond, Balians älterem Sohn, schließlich glatt um. Ein Schreckensschrei ging durch die Menge, als er stürzte, wurde aber zu einem erleichterten Lachen, als die Zuschauer erkannten, dass der Vizegraf heiter lachte, als er sich wieder aufrichtete und seinen Sohn und die beiden Knappen umarmte und herzte. Sein liebevoller und ungezwungener Umgang mit den Jungen bewies, dass dieser Mann keiner von den unnahbaren Adligen war, die sich zunehmend von ihren Untertanen abschotteten. 

 

Der Abend schließlich fand sämtliche Grafen, die königliche Familie und deren Gäste im Rittersaal der Wachtelberger Burg. Graf Bartholomäus hatte darüber hinaus noch die Gewinner der Einzeldisziplinen des Turniers eingeladen, also den Sieger des Stechens, Bertram von Ermeldorf und den Sieger des Schwertkampfes, Erbgraf Eduard von Falkenstein. Nach einer förmlichen Siegerehrung, bei der die Turniergewinner goldene Pokale überreicht erhielten, in die jeweils die Symbole für ihre Kampfdisziplin eingraviert waren, ließ König Rudolf die Verlierer der beiden gerichtlichen Zweikämpfe in den hufeisenförmigen Tischhalbkreis treten.

„Peter, Ihr habt meine geliebte Gemahlin, Eure Königin, des Ehebruchs und des Inzests bezichtigt. Ihr habt das Duell gegen den verloren, den Ihr als angeblichen zweiten Beteiligten dieses Verbrechens beschuldigt habt. Auf die Knie!“

„Aber …“

„Auf die Knie!!!“, donnerte Rudolf ihn an. Ebenso erschrocken wie gehorsam sank der Graf auf die Knie, bevor die am weitesten außen sitzenden Grafen, Wedigo von Südwengland und Theodor von Eichgau, nachhelfen mussten, die sich schon halb erhoben hatten.

„Peter, Ihr seid der undankbarste und ungehorsamste Graf, den dieses Königreich hat! Ihr seid eine Schande für den Adel Wenglands! Es ist, bei Gott nicht das erste Mal, dass Ihr nicht nachlasst, gegen mein Haus oder meine Familie zu stänkern. Lasst Euch diese Niederlage endlich eine Warnung sein, damit aufzuhören! Und jetzt bittet Ihr meine Gemahlin öffentlich um Entschuldigung!“

Peter zögerte. Dieses Mal weniger aus Trotz denn aus Schock. Wedigo und Theodor verständigten sich mit Blicken und waren schon wieder halb aufgestanden, als Peter sich noch kniend verbeugte.

„Ich bitte Euch um Vergebung für meine … Worte, meine Königin. Ich bereue, was ich tat.“

„Dann sei Euch verziehen, Graf Peter“, sagte Marie. „Bitte, mein Gemahl, lasst Milde walten“, wandte sie sich an Rudolf.

„So sei es. Hinfort mit Euch!“, erwiderte er und winkte Peter vom Boden hoch und hinaus.

„Aribert, Ihr seid im Zweikampf gegen Vizegraf Roland unterlegen. Damit ist erwiesen, dass er nicht der Feigling ist, den Ihr ihn genannt habt. Ich erwarte, dass Ihr Roland dafür öffentlich um Entschuldigung bittet“, wandte er sich an den ziemlich bleich dastehenden Karlsfelder Grafen. Aribert wandte sich zu Balian um und verbeugte sich vor ihm.

„Graf Roland, bitte vergebt mir meine unbedachten Worte“, bat er um Verzeihung.

„Gewährt“, erwiderte Balian ernsthaft und nickte ihm zu.

„Da ist noch was, Aribert:“, hakte Rudolf ein und winkte einem der Diener, der das von Fürst Gregor konfiszierte Turnierschwert des Grafen vor den König brachte.

„Euer … Turnierschwert, das eigentlich stumpf sein sollte“, sagte der König mit lauerndem Unterton. „Es ist so stumpf, dass man damit ohne weiteres das Spanferkel für diese Tafel aufschneiden konnte!“, fuhr er den Grafen an. „Aribert von Karlsfeld: Kraft meines Amtes als König von Wengland schließe ich Euch von den Turnieren der kommenden zwölf Monate in meinem Königreich aus. Einzig Euer eigenes Turnier dürft Ihr als Teilnehmer besuchen. Solltet Ihr dem zuwiderhandeln, werde ich Euch mit diesem Schwert hier um Eure Schwurhand erleichtern! Und jetzt verschwindet!“, verurteilte er die mehr als grobe Regelwidrigkeit des Karlsfelder Grafen. Aribert verneigte sich schweigend und verließ den Rittersaal.

„Den hat Papa sich nicht zum Freund gemacht – und Peter auch nicht“, bemerkte Martin leise an Balian gewandt.

„Nein, gewiss nicht. Doch es ist gerecht, dass er sie beide bestraft. Was zu viel ist, ist zu viel. Das musste auch ein Reynald de Châtillon erfahren. König Balduin hat leider nicht lange genug gelebt, um dessen Strafe zu vollenden. Deshalb konnte er noch den letzten Krieg vom Zaun brechen, der die Christenheit um Jerusalem brachte. Hoffen wir, dass dieser Schlag sie beide endlich zur Vernunft bringt“, erwiderte der Vizegraf.

 

 

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Kapitel 31

Fragen und Antworten

 

Die Tage des Turniers vergingen in fröhlichem Feiern und rasanten Schaukämpfen, mit einträglichem Markthandel und den üblichen Gaunereien am Rande des Geschehens. König Rudolf bereitete während der Turniertage schon die Gerichtstage vor, die er gleich im Anschluss an das Turnier in Wachtelberg halten wollte.

In Wengland galt, dass der jeweilige Provinzgraf die Hohe Gerichtsbarkeit ausübte, manchmal auch Halsgericht oder Blutgericht genannt, weil es dabei durchaus um Leben und Tod gehen konnte. Die Anklagen lauteten hier Mord, Raub, Diebstahl, Ketzerei, Vergewaltigung, Verrat. Die Strafen der Hohen Gerichtsbarkeit für diese Verbrechen waren Rädern, Erhängen, Enthauptung, Tod auf dem Scheiterhaufen, aber auch „leichtere“ Körperstrafen wie Abschneiden oder Einkerben von Ohren, Abhacken der Hände – die Palette war ebenso düster-bunt wie schmerzhaft.

Die Barone der Landkreise übten die Niedere Gerichtsbarkeit aus, etwa die Schlichtung von Nachbarschaftsstreitigkeiten, Raufereien, bei denen es nicht zu Todesfällen gekommen war, Wilderei, Schadenersatzprozesse. Als Strafen konnten hier außer dem Wergeld – dem Schadensersatz – Gefängnis, Verbannung, Geldstrafen, Zwangsarbeit oder auch Ehrlosigkeit verhängt werden.

Bei allen Übeln, die einem Angeklagten drohen konnten, musste ihm seine persönliche Schuld jedoch handfest bewiesen werden. Gelang das nicht oder blieben auch nur Zweifel, dann galt der römische Grundsatz in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten – was dann einen Freispruch zur Folge hatte. In Wengland hielt man nicht viel von der Wahrheitsfindung durch Folter. Es gab auch keine Notwendigkeit, dass der Angeklagte ein Geständnis ablegen musste. Im Gegensatz zur Kirche, die dem Sünder auferlegte, seine Sünden persönlich zu beichten und zu bereuen, sahen die Herrscher Wenglands im weltlichen Gericht keine Beichtstuhlsituation. Wenn es Zeugen gab, diese glaubwürdig und im Grundsatz übereinstimmend einen Sachverhalt schilderten, genügte dies für ein Urteil – ob Strafe oder Freispruch, das ergab sich aus dem Inhalt der Aussagen. Dennoch konnte ein freiwillig abgelegtes Geständnis, tätige Reue oder die Bitte um Entschuldigung gegenüber dem Geschädigten durchaus zu einer milderen Strafe führen.

In den Fällen, in denen der Baron des Landkreises oder der Provinzgraf selbst der Geschädigte war, durfte er nicht persönlich über den Angeklagten richten, sondern hatte dazu die nächsthöhere Instanz anzurufen. Barone und Freiherren hatten sich an den Provinzgrafen zu wenden; vom Provinzgrafen war der Thronrat als Gericht anzurufen, das die Grafen der sieben größten Provinzen Wenglands bildeten. War einer der Thronratsgrafen das Opfer eines Verbrechens geworden, berief der König als siebenten Richter einen befreundeten Herrscher. Für den Fall des Bischofs Bartholomäus hatte er Fürst Gregor von Breitenstein als diesen siebenten Richter berufen.

 

Balian von Ibelin war in der Turnierwoche auch nicht faul, nachdem er seine Turnierkämpfe beendet hatte. Mit der Hilfe von Bruder Jonathan, Martin und Graf Albin machte er die Leute ausfindig, die mit der angeblich unbezahlten Rechnung des Fürstbischofs etwas zu tun hatten. Das waren Richard, der Markgraf der scharfenburgischen Provinz Rebmark, Anselm von Ahrenstein, der Kastellan des Fürstbischofs, und sein Bischofsvikar Ademar von Bauzenstein.

Richard hatte keine große Lust, mit dem französischen Grafen zu reden, aber Albin gelang es, ihn davon zu überzeugen, dass es für seinen Untertan Arthur lebenswichtig sein konnte, wenn er sich als dessen Herr äußerte. Als Richard in das Gastzelt kam, in dem Albin das Treffen mit Balian arrangiert hatte, wäre Balian beinahe der Bierkrug aus der Hand gefallen, als er den Markgrafen sah. Er hatte verteufelte Ähnlichkeit mit Guy de Lusignan!

Albins Beschreibung des Ibeliner Waffenrocks führte Richard denn auch direkt an den Tisch des Vizegrafen.

„Ihr seid Balian von Ibelin?“, fragte er. Der Angesprochene nickte. Nur mit einiger Mühe schluckte er eine Bemerkung bezüglich de Lusignan herunter.

„Der bin ich“, bestätigte er etwas verspätet. „Seid Ihr Richard, der Markgraf der Rebmark?“

„Sieht man das nicht?“, fragte Richard leicht verärgert. Er trug schließlich seinen Wappenrock, der sein Wappenbild präsentierte. 

„Ich bitte um Vergebung. Beim Turnier hatte ich bisher nicht den Vorzug, Euch zu sehen und mir Euer Wappen einzuprägen. Nehmt doch Platz“, bot Balian an.

„In diesen Ländern kennt jeder mein Wappen. Wieso Ihr nicht? Dumm geboren, nichts dazugelernt?“, ätzte Richard. Balian rang sich ein Lächeln ab, das allerdings die Augen nicht erreichte.

„Das mag daran liegen, dass ich hier nicht zu Hause bin, Mylord.“

„Aha … Dieser zahnlose Alte, der Graf von Hirschfeld, sagte mir, Ihr wolltet mit mir reden. Was ist?“

„Was sagt Euch der Name Arthur aus Backendorf?“, fragte Balian. Der Rebmärker sah ihn verblüfft an.

„Woher kennt ihr diesen Mann?“

„Ich habe ihn nach einem Überfall auf den Fürstbischof von Wachtelberg gefangen genommen“, erwiderte der Franzose. Richard sprang auf.

„Was?“  

„Er hat – zusammen mit anderen Bauern im oberen Rheintal – den Bischof von Wachtelberg und sechs seiner begleitenden Johanniterritter angegriffen. Sie haben eine Steinlawine ausgelöst, die mich und meine Ritter zunächst von Bischof Bartholomäus trennte, doch es war uns möglich, ihnen zu Hilfe zu kommen“, erklärte der Franzose ruhig. Richard fiel mehr auf die Bank auf der Balian gegenüberliegenden Tischseite, als dass er sich setzte.

„Wieso habt Ihr ihn gefangen genommen?“, fragte der Markgraf.

„Eben wegen dieses Überfalls.“

„Nein, das meine ich nicht. Wieso habt Ihr ihn nicht getötet? Wenn er den Bischof überfallen hat, hätte kein Hahn danach gekräht!“, entgegnete Richard.

„Ich töte niemanden, der sich ergibt, weil ein weiterer Kampf für ihn aussichtslos ist“, versetzte der Vizegraf. „Bartholomäus hat Arthur beim König von Wengland wegen dieses Überfalls angeklagt. Sollte sich kein vernünftiger Grund finden, der den Überfall irgendwie rechtfertigt, droht Arthur die Strafe des Räderns. Was könnt Ihr mir dazu sagen? Welchen Grund hatte er, den Bischof anzugreifen?“

„Woher soll ich das wissen? Ich bin doch nicht allwissend?“, schnaubte Richard.

„Nein, gewiss nicht. Doch Arthur hat mir einen Grund genannt …“

„Dann wisst Ihr doch Bescheid! Was fragt Ihr mich?“

„Mylord, Arthur bezog sich auf Euch. Er will in Eurem Auftrag …“

Weiter kam Balian nicht. Richard sprang auf und riss das Schwert aus der Scheide, das er vor Balian in den Tisch rammte.

„Das reicht! Ich fordere Genugtuung für diese ungeheuerliche Behauptung!“

„Für welche?“, fragte Balian und zog das Schwert ungerührt aus dem Tischholz.

„Dass ich auch noch den Auftrag zum Überfall auf den Bischof gegeben habe!“, fauchte der Herr der Rebmark.

„Das habe ich weder ausgesprochen noch gedacht, Mylord. Ihr lasst mich ja nicht ausreden …“, erwiderte der Vizegraf.

„Was soll ich dann in Auftrag gegeben haben?“, rief Richard wütend.

„Bitte, setzt Euch und beruhigt Euch“, bat Balian mit beschwichtigender Geste. „Und dann denkt nach, ob Ihr Arthur – etwa im Februar oder März – einen Auftrag gegeben habt, der ihn nach Wachtelberg führte.“

„Und was hat das mit dem Überfall auf den Bischof im Rheintal zu tun?“, knurrte der Rebmärker.

„Eben das versuche ich herauszufinden und hoffe auf Euer Erinnerungsvermögen, Mylord.“

„Und was soll es Arthur helfen, wenn ich Euch zu einem Auftrag im Februar oder März etwas sage?“

„Wie gesagt: Er sagte mir, er sei Ende Februar in Eurem Auftrag nach Wachtelberg gereist, um dort etwas abzuholen. Der Überfall soll nach Arthurs Angaben mit diesem Auftrag zu tun haben, den er angeblich nicht vollständig erfüllen konnte. Was könnt Ihr mir dazu sagen?“

„Wieso bohrt Ihr so beharrlich nach Gründen?“

„Weil ich – wenn es möglich ist – Arthur vor einem schrecklichen Tod bewahren will!“ 

Richard sah den französischen Vizegrafen verstört an.

„Was interessiert denn das Schicksal des gemeinen Volkes den Adel?“, fragte er kopfschüttelnd. Jetzt war es Balian, der seufzte und den Kopf schüttelte.

„Und ich habe gedacht, so voller Standesdünkel kann nur der Lateinische Patriarch von Jerusalem sein. Wie man sich doch irren kann … Richard! Arthur ist Euer Untertan! Es ist Eure Pflicht als sein Herr, ihn zu schützen, wenn er nichts verbrochen hat, was diese Strafe rechtfertigt!“, fuhr er den Markgrafen an. „Helft mir doch, Eurem Untertan zu helfen!“

In dem Wirtshauszelt war es inzwischen still geworden. Das – speziell von Richard aus – eher laut geführte Gespräch zog eine Menge Publikum an.

„Verzeiht, wenn ich mich einmische, meine Herren. Glaubt mir, verehrter Herr von Ibelin: Den Markgrafen der Rebmark dazu zu bringen über sein Volk etwas Positives zu sagen, ist harte Arbeit!“, kam eine dunkle Stimme von der Seite. Balian sah den Sprecher an, Richard bekam einen roten Kopf, sprang auf und verbeugte sich ehrerbietig, aber knapp. Balian erkannte den Herzog von Scharfenburg und stand ebenfalls auf, neigte leicht den Kopf. Der Herzog lächelte warm.

„Ein wahrer Ritter, der für den Wehrlosen eintritt, wenn auch mit Worten in diesem Fall“, lobte er die Bemühungen des Franzosen, die Wahrheit herauszufinden. „Wieso sagt Ihr dem Markgrafen nicht alles, was Ihr wisst?“

„Weil ich den Wahrheitsgehalt der Behauptung seines Untertanen nur feststellen kann, wenn ich die genaue Behauptung nicht ausspreche, sondern mir anhöre, was sein Herr mir ohne direkte Kenntnis dieser Angabe dazu sagt.“

„Ihr … wollt ihn nicht beeinflussen?“

„So ist es, Hoheit.“

„Dann kommt beide jetzt mit in mein Zelt und redet dort in Ruhe weiter. Hier zieht Ihr zu viel Aufmerksamkeit auf Euch!“, erwiderte der Herzog und winkte beiden. Ein Zeltdiener bekam einen erschrockenen Gesichtsausdruck.

„Herr, was ist mit dem Bier?“, fragte er und hielt die Hand auf.

„Ich hatte zwei kleine Krüge Bier. Was macht das?“, fragte Balian.

„Zwei Kreuzer, Euer Gnaden.“

Balian gab ihm eine Münze im Wert von vier Kreuzern.

„Drei“, sagte er. Der Zeltdiener strahlte. Ein Kreuzer war ein ordentliches Trinkgeld.

„Danke, Euer Gnaden, danke. Das ist sehr großzügig von Euch“, erwiderte der Diener und gab dem Vizegrafen einen Kreuzer Wechselgeld. Balian nickte dem Diener mit einem freundlichen Lächeln zu und verließ mit dem Herzog von Scharfenburg und Markgraf Richard das Wirtszelt.

 

Ludwig lotste seine Gäste zu seinem Zelt und bot ihnen dort Platz an, orderte Wein.

„Ich will nicht unhöflich sein, doch trinke ich alkoholische Getränke nicht durcheinander. Wenn … wenn Ihr Wasser hättet, wäre ich Euch sehr dankbar“, bat der Franzose.

„Vertragt Ihr etwa nichts?“, spottete Richard lauthals. Balian sah ihn kühl an.

„Ich mag guten Wein, ich mag gutes Bier – aber entweder oder. Und ich halte nichts davon, eine bestimmte Trinkfestigkeit beweisen zu wollen oder zu sollen. Zudem benötige ich meine fünf Sinne, um herauszufinden, ob Eurem Untertan zu helfen ist oder nicht. Bitte, Richard, helft mir die Wahrheit zu enthüllen. Was könnt Ihr mir zu einem Aufrag an Arthur sagen?“

„Das geht Euch nichts an!“, knurrte der Markgraf.

„Richard! Graf Balian versucht, Euch einen treuen Untertan zu erhalten! Was ziert Ihr Euch mit einer vernünftigen Antwort? Ihr seid doch nicht von Strafe bedroht, wenn Ihr ihm antwortet!“, wunderte sich der Herzog. Richard schnaufte gereizt.

„Ich wüsste nicht, was es da zu helfen gibt! Treuer Untertan! Von wegen! Schuldet mir immer noch Geld!“, grollte er.

„Was für Geld?“

„Das geht Euch nichts an!“

„Hört, Herr Markgraf, um angeblich nicht gezahltes Geld geht es auch in Arthurs Aussage – nur will nicht er selbst Euch das Geld schulden, sondern jemand anderes soll bei Euch in der Kreide stehen.“

„Ist das so?“, schnappte Richard. „Was würdet Ihr davon halten, wenn Euer Beauftragter mal eben fünfhundert Gulden für ein Fuder Wein selbst einstreicht? Dieser Lump ist mit meinem Geld über den Jordan und Ihr wollt ihn verteidigen? Seid Ihr noch zu retten?“

„Ich danke Euch für Eure Aussage, Herr Markgraf“, erwiderte Balian, mühsam beherrscht ob des groben Tons, in dem Richard ihn anfuhr. „Es wäre mir nur lieber gewesen, wenn Ihr mir das in vernünftigem Ton schon vorhin gesagt hättet.“

„Ihr steckt Euch in Dinge, die Euch nicht betreffen. Haltet Euch da heraus!“, knurrte der Markgraf. Balian erhob sich und verbeugte sich leicht vor dem Herzog und dem Markgrafen.

„Vielen Dank. Ich wünsche einen guten Tag“, sagte er und verließ das Zelt. Draußen schnaufte er zunächst tief durch. Dieser unfreundliche Markgraf war ihm ebenso unsympathisch wie Guy de Lusignan – und nicht nur wegen der äußeren Ähnlichkeit … Er verließ den Zeltplatz den Scharfenburger, fand einen ruhigen Platz am Wirtszelt, in dem er Richard getroffen hatte, zog sein Notizpapier und das Stück Schreibkohle aus dem Stiefelschaft und machte sich einige Notizen zu Richards Aussagen.

 

Zwei Stunden später saß er im bischöflichen Palast bei Ademar von Bauzenstein. Balian erklärte dem Vikar, weshalb er gekommen war.

„Arthur gibt an, er sei wegen eines angeblich nicht bezahlten Fuders Messwein von seinem Herrn davongejagt worden und habe versucht, den Bischof gefangen zu nehmen, um das fehlende Geld als Lösegeld zu erlangen. Was ist mit dem Geld für den Messwein? Wann und an wen habt Ihr das Geld gegeben?“, fragte er.

„Wie kommt Ihr darauf, das Bistum Wachtelberg bezahle seine Rechnungen nicht?“, fuhr der Vikar ihn an.

„Das habe ich nicht gesagt. Ich nehme durchaus an, dass der Bischof selbstverständlich seinen Wein bezahlt. In diesem Fall ist die Frage, wo das Geld geblieben ist, das Richard nicht bekommen haben will“, entgegnete der Franzose. „An wen wurde das Geld für den Wein gegeben?“

„Ach herrje! Das weiß ich doch jetzt nicht mehr!“, wehrte Ademar ab.

„Ihr als Vikar seid doch verantwortlich für die Ausgaben des Bistums. Ihr müsst dem Bischof also Rechenschaft geben, was mit dem Geld geschehen ist, das er Euch für den Messwein gibt!“, erinnerte Balian den Vikar.

„Das muss ich in den Büchern prüfen …“, erwiderte der Bischofsvikar, sichtlich zögernd.

„Herr Ademar, die Zeit drängt ein wenig, denn nach Abschluss des Turniers will König Rudolf wegen dieser Sache Gericht halten. Ich habe vor, Euch dazu als einen Zeugen zu nennen. Da solltet Ihr vorbereitet sein“, gab der Vizegraf zu bedenken.

„Soll ich etwa … etwa … gleich …?“, stotterte Ademar.

„Der Gedanke ist mir gekommen, Mylord.“

Der Vikar ließ die entsprechenden Bücher kommen und war dann auch überaus auskunftsfreudig.

„Hier hab‘ ich es: 2. Februarius: 1 Fuder Messwein in 14 Fässern. Preis 500 Wenglische Gulden oder 750 Scharfenburgische Dukaten“, trug er aus dem Wareneingangsbuch vor. Dann nahm er das Kassabuch zur Hand, in dem die Ausgaben vermerkt waren und suchte nach dem 2. Februar. Dort fand er keinen Eintrag, aber am 5. Februar 1193 war eine Ausgabe in Höhe von fünfhundert Gulden für ein Fuder Messwein gebucht, die nach der Eintragung an den Führer des Säumerzuges, Karl, den Säumer, ausgezahlt worden war.

„Gilt in Scharfenburg auch der Wenglische Gulden?“, erkundigte sich Balian.

„Nein, dort wird mit dem Scharfenburgischen Dukaten bezahlt. Aber der Gulden ist eineinhalb Mal so viel wert wie der Dukaten. Deshalb nehmen unsere Nachbarn ganz gern unser höherwertiges Geld.“

„Wie gut kennt Ihr diesen Säumerführer?“, fragte Balian.

„Karl? Der kommt schon seit Jahren, um den Messwein zu bringen. Ich halte ihn und auch seine Leute für sehr zuverlässig. Ehrlich, ich kann mir nicht vorstellen, dass er das Geld nicht abgeliefert haben sollte“, erklärte Ademar.

„Werden die Lieferungen stets gleich bezahlt?“

„Ja, natürlich. Es macht ja keinen Sinn, später noch jemanden loszuschicken, um das Geld zu holen. Nein, das wird immer an den Säumerführer bezahlt, wenn der Säumerzug zurückkehrt.“

„Was transportiert er noch?“

„Das weiß ich nicht. Hierher in den bischöflichen Palast kommt er nur, wenn wir Messwein bestellen. Und anderes kaufen wir nicht in der Rebmark. Auch deshalb wird der Wein sofort nach der Lieferung bezahlt“, erklärte Ademar.

„Was ist Euch darüber bekannt, dass Anfang bis Mitte März ein Bote aus der Rebmark kam, um das angeblich nicht bezahlte Geld abzuholen?“, fragte der Vizegraf weiter.

„Zu der Zeit war ich für einige Wochen nach Bauzenstein gereist, um meine Eltern und meinen Bruder zu besuchen“, erwiderte der Vikar.

„Wer hätte einen Boten dann in Empfang genommen?“, hakte der Franzose nach. 

„Unser Kastellan, Anselm von Ahrenstein. Er vertritt mich dann auch in Sachen Bezahlung von gelieferten Waren.“

„Ich würde gern mit ihm sprechen“, bat Balian um ein Treffen.

„Das ist kein Problem.“

Ademar klingelte, ein livrierter Diener erschien und verbeugte sich.

„Rudbert, Herr Balian möchte vom Kastellan empfangen werden. Gib ihm Bescheid, dass der Gast hier ist.“

„Sofort, hochwürdigster Herr“, bestätigte der Diener und verließ den Raum. 

„Herr Balian …“, sprach der Vikar Balian nochmals an.

„Ja?“

„Gebt Acht, was Ihr tut und mit wem Ihr Streit anfangt. Seid vorsichtig, ich bitte Euch. Richard … er ist kein guter Mensch. Käme aus seiner Provinz nicht der einzige wirklich brauchbare Messwein, würde ich ihn lieber woanders kaufen.“

„Wieso?“

„Ich halte ihn für unehrlich bis in die Knochen. Wäre er nicht der Erbe des Markgrafen Balduin von Rebmark, hätte Herzog Ludwig ihn mit Sicherheit nicht zum Markgrafen erhoben. Er hat einfach zu viel von der Seite seiner Mutter geerbt. Französin …“, seufzte Ademar.

„Nun ja, Franzose bin ich auch“, bemerkte Balian. „Was ärgert Euch so an uns?“

„Verzeiht, ich wollte Euch nicht zu nahe treten, Herr Balian. Es gibt gewiss solche und solche, genau wie bei uns. Vielleicht liegt es auch in der Familie. Zuweilen frage ich mich, wie ein de Lusignan König des heiligen Jerusalem werden konnte …“

„Wie bitte? Richard ist aus dem Haus de Lusignan?“

„Ja, seine Mutter stammt aus einem unehelichen Zweig der Familie.“

„Das erklärt mir seine Ähnlichkeit mit meinem Lieblingsfeind Guy de Lusignan“, erkannte Balian.

„Ihr … Ihr kennt diesen Mann persönlich?“, hakte Ademar verblüfft nach.

„Ja, ich hatte das zweifelhafte Vergnügen. Er hat mehrfach versucht, mich umzubringen oder mich von anderen töten zu lassen. Im Mai wäre es ihm fast gelungen. Ich habe nur knapp überlebt.“

„Wirklich, dann seht Euch vor. Richard würde auch nicht davor zurückschrecken, jemand, den er nicht leiden kann, mit allen Mitteln zu beseitigen“, warnte der Vikar erneut.

„Eine Frage hätte ich noch: Wie stand Guy … äh, Richard … eigentlich zum Bischof Bartholomäus?“, forschte der französische Vizegraf.

„Scharfenburg ist derzeit ohne eigenen Bischof. Dessen Amtsgeschäfte nimmt vorübergehend unser Bischof Bartholomäus wahr. Er sendet auch schon mal den Weihbischof Coelestin, wenn dort etwas zu veranlassen ist und er selbst nicht kommen kann. Ende letzten Jahres sollte in Simonstal in der Rebmark eine neue Kirche geweiht werden, die noch Richards Vater gestiftet hat und letztes Jahr fertiggestellt wurde. Er wollte, dass entweder der neue Bischof von Scharfenburg oder Bartholomäus die Kirche weiht. Unser Bischof war hier unabkömmlich und entsandte den Weihbischof. Dessen Weihe ist nicht weniger wert als die eines Bischofs mit eigenem Sprengel. Aber Richard hat getobt und den Weihbischof nicht in die Rebmark gelassen. Daraufhin hat unser Bischof die Weihe der Kirche verweigert und ist im Januar nach Rom gereist, um Seine Heiligkeit davon zu überzeugen, dass es dringend notwendig ist, Scharfenburg rasch wieder einen eigenen Bischof zu geben.“

Balian setzte sich wieder. Das warf ein völlig neues Licht auf die Ereignisse in der Rabiusaschlucht … Er zog sein Schreibzeug aus dem Stiefel und notierte sich rasch, was der Bischofsvikar ihm erzählt hatte.

„Ich danke Euch. Das kann sehr nützlich sein“, sagte er, als er in das verblüffte Gesicht des Bischofsvikars sah.

 

Etwas später empfing der Kastellan des Bischofs den französischen Vizegrafen.

„Ihr wolltet mit mir sprechen, Mylord? Was verschafft mir diese Ehre?“, begrüßte ihn Anselm von Ahrenstein.

„Die Frage, ob jemand, der Euren Bischof angegriffen hat, gute Gründe dafür beweisen kann“, erwiderte Balian.

„Wer unseren Bischof attackiert, gehört ohne wenn und aber gerädert! Was soll das, so einen Lumpen auch noch zu verteidigen? Habt Ihr keine Ehre? Nehmt Euch ein Beispiel an dem, der ihn gefangen nahm!“

„Das will ich gern tun – das war ich selbst, Mylord Anselm“, versetzte Balian mit angedeutetem Lächeln. Ahrenstein plumpste auf seinen Scherenstuhl und verzog schmerzvoll das Gesicht, weil er vergessen hatte, ein Kissen auf die hölzerne Sitzfläche zu legen.

„Was?“

„Ja, Ihr hört recht. Mylord Anselm, was wisst Ihr über den Besuch eines Boten aus der Rebmark, der im März hier gewesen sein soll, um das angeblich nicht bezahlte Geld für den im Februar gelieferten Messwein einzufordern?“, fragte Balian direkt.

„So was ist mir dunkel in Erinnerung. Ich meine, ich hätte meine Wache angewiesen, den Kerl rauszuwerfen“ erwiderte Ahrenstein brummig.

„Und wieso sollte die Wache ihn hinauswerfen?“, hakte der Vizegraf nach.

„Weil es eine Frechheit ist, zu behaupten, unser Bischof bezahle seine Rechnungen nicht!“, wetterte der Kastellan.

„Wenn jemand hier etwas liefert, was nicht zu den bäuerlichen Abgaben gehört – wann wird das bezahlt?“, bohrte Balian weiter.

„Immer gleich nach der Lieferung. Der Vikar oder ich – je nachdem, wofür was geliefert wird – prüft, ob alles vollzählig und in Ordnung ist. Ist das so, erhält der Überbringer das dafür vereinbarte Geld“, erklärte Ahrenstein. „Deshalb konnte das auch nur eine dreiste Lüge sein.“

„Hat die Wache Euch einen Namen des Boten genannt?“, fragte der Vizegraf.

„Ich glaube nicht. Und wenn, hätte ich mir den sicher nicht gemerkt. Boten kommen täglich an die Tür. Da kann ich ohnehin nicht alle Namen behalten“, erwiderte der Kastellan.

„Was wisst Ihr über Karl, den Säumer?“, erkundigte sich der Franzose.

„Was hat das damit zu tun?“

„Unter Umständen sehr viel. Was sagt Euch der Name?“

„Ja, den kenne ich. Der bringt jedes Jahr den Messwein aus Rebstadt.“

„Dann hätte Karl auch das Geld für den Messwein mitbekommen, ist das so?“

„Ja, so wäre es üblich“, erklärte Anselm.

„Kommt dieser Karl auch mit anderer Ladung?“

„Nein, weil wir nur den Messwein in Rebstadt kaufen. Aber ich glaube, ich habe ihn vorgestern auf dem Turniermarkt gesehen“, antwortete der Kastellan.

„Habt Dank für Eure Zeit und die Beantwortung meiner Fragen“, sagte Balian und verbeugte sich leicht.

„Wieso wollt Ihr diesen Hund retten?“, fragte Anselm kopfschüttelnd. „Er verdient den Tod!“

„Mylord Anselm, in dieser Sache ist gelogen worden – sehr sogar. Aber alles, was mir der Gefangene erzählt hat, hat sich bisher als wahr herausgestellt. Ja, er hat den Bischof angegriffen, doch dafür sollte ein anderer die Verantwortung übernehmen, nämlich der, der ihn dazu genötigt hat“, erwiderte Balian mit sanftem Lächeln. „Vielen Dank für Eure Hilfe.“

 

 

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Kapitel 32

Erkenntnisse

 

Balian kehrte mit einigen Notizen in sein Lager bei den Stallungen zurück. Bruder Jonathan, Martin, Herwig von Wutzbach und Graf Albin waren durchaus auf die Ergebnisse gespannt, die der Vizegraf mitbrachte.

Er erklärte ihnen, was er von den Befragten erfahren hatte. Martin schrieb mit, was sein Erzieher vortrug.

„Ich meine, Richard lügt“, sagte er schließlich.

„Aha. Und wie kommst du darauf?“, fragte Albin verblüfft.

„Na ja, Richard behauptet, dass derjenige, den wir gefangen genommen haben, das Geld nicht weitergegeben hat. Aber der hat das Geld doch nie bekommen!“, erklärte der Junge.

„Sehr gut, Martin“, lobte Balian lächelnd. „Jetzt sollten wir diesen Karl dazu befragen, was er mit dem Geld gemacht hat. Herwig, habt Ihr den Säumer Karl auf Eurer Marktliste?“

Herwig lachte leise.

„Das ist so ziemlich der Einzige, der mich von sich aus aufsucht, um sich für den Turniermarkt anzumelden. Der ist noch nie auch nur einen Kreuzer schuldig geblieben. Ja, der ist hier. Ich kann Euch zu seinem Stand bringen.“

„Und … was bietet er hier an?“

„Wein, natürlich. Die Rebmark ist für ihren Wein berühmt. Es ist das beste Gebiet für Wein in den Verborgenen Landen. Ehrlich gesagt, ich würde keinen anderen trinken wollen“, erwiderte Herwig.

„Und der Bischof bestellt dann nur den Messwein dort? Keinen Wein für die Tafel?“, wunderte sich Balian.

„Oh, wir Wengländer sind eher dem Bier zugeneigt. Bischof Bartholomäus ist da keine Ausnahme. An seinem Hof wird praktisch nur Bier getrunken. Wein benutzt der nur für die Messe“, kicherte Herwig. 

„Gut, das ist eine Erklärung. Martin, es wäre mir lieb, wenn du mitkommst, wenn Herwig mir den Säumer zeigt.“

Martin bekam leuchtende Augen.

„Gerne, Onkel“, sagte er.

 

Zu dritt schlenderten sie über den gut besuchten Markt.

„Was bringt der Markt ein, Herwig?“, fragte Balian.

„Jeder Händler soll für seine Einnahmen den zehnten Teil abgeben – theoretisch. Leider ist der Bischof kein großer Freund dieser Veranstaltung und will nicht, dass ich zu genau bin. Tatsächlich bekomme ich allenfalls zwei Drittel der Händler in die Liste. Der Bischof hat mir sogar verboten, dass ich Händler nachtrage, die ich als unangemeldet erkenne und dann kassiere. Er nennt es christliche Nachsicht. Ich glaube er hofft, wenn das Turnier nichts einbringt, dass er es dann abschaffen kann. Nur irrt er sich da“, erklärte der junge Baron. „Ich habe so um die fünfzig Marktstände registriert. Damit bekomme ich wahrscheinlich in der ganzen Turnierwoche knapp tausend Gulden zusammen. Es könnte wesentlich mehr sein, wenn ich die Einnahmen genau kontrollieren dürfte. Auch nicht erlaubt … Es ist ein Kreuz, sag‘ ich Euch!“

„Das ist Blasphemie, Herwig!“, grinste Bruder Jonathan, der ebenfalls mitgekommen war. Sein fröhliches Grinsen bewies jedoch, dass er es nicht ernst meinte. Herwig lachte denn auch entspannt.

„Ah, da ist ja schon die kleine Taverne!“, sagte er und wies auf eines der kleineren Gastzelte, das gut besucht zu sein schien. Sie traten ein. Gleich links war der auf Holzböcken aufgestellte Schanktresen, fünf Tische, zusammengestellt aus jeweils zwei hochkant übereinandergestellten Lägelfässern und mit einer runden Platte von einem halben Klafter Durchmesser abgedeckt, standen für die Kunden bereit. Drei davon waren besetzt. An der Querwand des Zeltes war ein gutes Dutzend Fässer liegend mit eingeschlagenem Zapfhahn aufeinandergestapelt und mit Holzkeilen gegen Wegrollen gesichert. Alle Fässer waren mit dem Zunftzeichen der Rebstädter Küferzunft, der Fassmacher, versehen – einem Oval, in dem ein stehendes Holzfass abgebildet war, auf dem ein „R“ in eine Weintraube überging. Mit Kreide standen der jeweilige Inhalt und der Schoppenpreis an jedem Fass über dem Zunftzeichen.

„Sei gegrüßt, Karl“, grüßte Herwig den Säumer, der auf dem Turniermarkt als Wirt stand.

„Willkommen, Meister Herwig, edler Turniervogt. Was ist Euer Begehr, hoher Herr?“

„Drei Schoppen von dem guten Roten und einen Schoppen Wasser für den Knaben“, orderte Herwig.

„Wie gehen die Geschäfte, Karl?“, fragte der Vogt, während der Wirt von einem der oben liegenden Fässer zapfte.

„Recht gut. Hier sind ja neuerdings Franzosen. Die sind ganz versessen auf meinen Wein“, erwiderte Karl und stellte die Steingutkrüge vor seinen Gästen ab. Für Martin zapfte er aus einem hinter dem Schanktresen liegenden Wasserfass Wasser in einen anders geformten Steingutbecher und gab einen kleinen Schuss Weißwein dazu.

„Bitte, junger Freund, dann ist es nicht so ganz ohne Geschmack“, präsentierte er dem Prinzen den Becher. Sein Blick fiel auf dessen Onkel, der im von Rot und Beige gespaltenen Gambeson neben ihm stand.

„Die Franzosen trugen die gleichen Gambesons wie dieser junge Held hier, der wohl der Vater dieses Knaben ist. Seid Ihr Franzose, Mylord?“

Balian lächelte.

„Ja, das bin ich. Aber dieser junge Mann ist mein Neffe, nicht mein Sohn.“

„Und Ihr sprecht unsere Sprache? Eure Kameraden sind nicht gar so gut in unserer Zunge“, machte Karl Konversation mit Balian.

„Ich habe die Ehre, diesen jungen Herrn zu erziehen“, erklärte der Vizegraf mit einem Nicken in Martins Richtung. „Er hat meine Sprache gelernt und ich die seine. Ich … habe gehört, Ihr seid auch Säumer?“

„Das ist mein eigentlicher Beruf, Mylord. Ich transportiere unseren guten Rebmärker in alle Himmelsrichtungen. Nur … Frankreich, das wäre wohl etwas weit.“

„Woher kommt Ihr?“

„Ich bin in Simonstal in der Markgrafschaft Rebmark zu Hause. Aber da bin ich nur selten.“

„Seid Ihr oft hier in Wachtelberg?“

„Wenn Ihr zweimal im Jahr oft nennt, ja. Ich komme im Februar und liefere den Messwein für den Bischof und dann komme ich zum Turniermarkt im August.“

„Wie viel verkauft Ihr hier?“

„Meist ein ganzes Fuder. Dank Eurer Kameraden könnte es diesmal sogar ein bisschen mehr sein. Oh, auf wessen Rechnung gehen die Getränke?“

„Auf meine“, sagte Balian. „Was macht das?

„Zwölf Kreuzer für die drei Schoppen Wein und einen für das Wasser, junger Herr.“

Balian gab ihm einen halben Gulden, was zwölf Kreuzern entsprach und eine Kupfermünze im Wert von zwei Kreuzern.

„Stimmt so“, sagte er und erntete eine dankbare Verbeugung des Wirtes. „Ein Fuder Wein bringt ja gutes Geld ein. Habt Ihr eine gute Bewachung für Eure Rückkehr?“

„Wollt Ihr Euch als Begleiter anbieten? Das ist freundlich, aber unnötig. Meine sechs Kameraden und ich benötigen keinen zusätzlichen Schutz“, wehrte Karl lachend ab.

„Wieso nicht?“

„Wir wissen, wie wir uns gegen Räuber zur Wehr setzen, Mylord. Wir sind auf dem Kreuzzug gewesen, der Jerusalems Größe stärken sollte. Das konnten wir leider nicht bewerkstelligen. Gott wollte es nicht. Wir sahen das als Strafe für unsere Sünden an und haben uns danach geschworen, als ehrliche Säumer durch die Lande zu ziehen. Das tun wir nun seit dem Jahre des Herrn 1180“, erklärte Karl.

„Wart Ihr denn vorher nicht ehrlich?“, fragte Balian grinsend und nahm einen Schluck von dem guten Rebmärker. „Hmm, lecker“, lobte er. Karls Lächeln erlosch.

„Nein, Herr, wir waren nicht ehrlich. Wir waren Räuber“, sagte er. „Die Tempelritter, die in der Rebmark eine große Ballei haben, nahmen uns gefangen und stellten uns vor die Wahl, mit auf den Kreuzzug zu gehen, vielleicht im Kampf zu sterben und unsere Sünden in Jerusalem vergeben zu bekommen, oder sofort durch einen Hieb mit dem Schwert zu sterben. Wir sieben haben uns für die Chance entschieden, zu überleben und unsere Sünden noch bereuen zu können, bevor Gott uns zu sich befiehlt und wir dann in der Hölle landen. Nein, danke. Wir sind lieber ehrlich geworden. Der Markgraf dankt uns das, indem wir in seinem Auftrag den Wein ausliefern, der auf seinen Gütern gemacht wird. Ich bin mit dem Lohn dafür sehr zufrieden.“

„Wenn Ihr den Messwein herbringt – wird der eigentlich gleich an Euch bezahlt oder schickt Richard dafür jemand anderen hinterher?“, fragte der Vizegraf. Karl fand sein Lächeln wieder.

„Mylord, wir betreiben unser Geschäft seit nunmehr dreizehn Jahren“, sagte er. „Markgraf Richard ist gerade zweiundzwanzig Jahre alt und hat erst im letzten Jahr die Markgrafenwürde erhalten. Nein, schon sein Vater, der selige Markgraf Balduin, hat uns das Vertrauen erwiesen, das Geld kassieren zu dürfen und es nach Reb-stadt zu bringen. Die ersten drei Jahre hat uns eine Truppe Templer begleitet, dann hat er es riskiert, uns zu vertrauen – und wir haben sein Vertrauen nie enttäuscht. Er hat stets die volle Summe von uns erhalten. Richard vertraut uns ebenso wie sein Vater – und wir enttäuschen auch ihn nicht.“

„Das heißt, dass Ihr die fünfhundert Gulden, die Ihr im Februar von Ademar von Bauzenstein für den Messwein bekommen habt, auch Richard übergeben habt“, mutmaßte Balian.

„Ja, jeden einzelnen Kreuzer, Herr!“, bekräftigte Karl.

„Hm, dann frage ich mich doch, wieso Richard dann behauptet, er habe dieses Geld nicht bekommen. Er soll jemanden nach Wachtelberg geschickt haben, der das Geld im März eintreiben sollte. Der ist natürlich mit dem Hinweis abgewiesen worden, dass Ihr das Geld bekommen habt. Was meint Ihr dazu?“, forschte der Vizegraf.

„Das kann nicht sein!“, protestierte Karl. „Ich habe es von seinem Kämmerer quittiert bekommen, dass ich fünfhundert Wenglische Gulden abgeliefert habe. Mit Siegel! Meine Kameraden und ich haben auch unseren Lohn bekommen, fünfzehn Dukaten pro Mann und Tier. Unsere Pferde müssen ja auch von was leben.“

„Ihr habt das nicht … zufällig … bei Euch?“, fragte Bruder Jonathan. Wortlos tauchte Karl hinter seinem Schanktresen unter, suchte in einer Truhe, die hinter dem Tresen war und kam mit der gesiegelten Quittung über fünfhundert Wenglische Gulden vom 20. Februar 1193 und einem ebenfalls gesiegelten Auszahlungsschein vom selben Tag über dreizehn Scharfenburger Dukaten und dreißig Scherflein, was einem halben Dukaten entsprach. Eineinhalb Dukaten waren für den fälligen Zehnt gleich einbehalten worden. So war es auch in dem Dokument vermerkt.

„Vielen Dank, Karl. Ihr habt uns sehr geholfen“, sagte Herwig. „Bewahrt das bitte gut auf. Es könnte sein, dass es noch einmal gebraucht wird.“

„Und … wofür?“

„Der König will Gericht halten über einen jungen Mann, der zusammen mit ein paar Dutzend Bergbauern den Bischof Bartholomäus überfallen hat. Der Junge hat Gründe genannt, deren Wahrheitsgehalt ich herausfinden möchte, bevor der König zu Gericht ruft“, erklärte Balian. Karl nickte.

„Wenn Ihr dabei mit Markgraf Richard aneinander geratet, muss ich euch warnen. Er ist noch sehr jung, aber es ist lebensgefährlich, sich seinen Zorn zuzuziehen. Ich … habe von einem Diener gehört, den er mit einem unmöglichen Auftrag ausgesandt haben soll, weil er den Markgrafen wütend gemacht hat. Ich weiß nicht womit, und ich habe keine Ahnung, wer das war. Wünscht Euch nicht an dessen Stelle, Mylord“, warnte Karl.

„Wann … habt Ihr von diesem … unmöglichen Auftrag gehört?“, hakte Balian ein.

„Wann war das …?“, überlegte Karl laut. „Hans, komm doch mal!“, rief er einen anderen Mann, der an den Fässern stand.

„Ja, was ist, Karl?“

„Wann haben wir von diesem verjagten Diener gehört? War das im März oder im April in diesem Jahr?“, fragte der Säumer.

„Als wir aus Breitenstein wiederkamen. Das war im Mai. Aber da lag das Ereignis wohl so zwei Monate zurück“, antwortete Hans. „Wieso?“

„Nicht weiter wichtig. Danke, Hans“

Die drei Männer vor dem Schanktresen sahen sich verblüfft an. Das ergab ja völlig neue Erkenntnisse zu dem Überfall!

„Wir haben für die freundliche Unterhaltung zu danken, Karl. Vielleicht überlegt Ihr es Euch, doch einmal gen Frankreich zu ziehen“, sagte Balian mit einer leichten Verbeugung.

„Eher nicht, doch danke ich für Eure unüberhörbare Einladung, Mylord“, erwiderte Karl mit freundlichem Lächeln.     

 

Die drei Männer und der Junge kehrten wieder in das Lager der Ibeliner zurück.

„Martin hat richtig erkannt, dass Richard gelogen hat, als er behauptete, der ausgesandte Bote habe das Geld unterschlagen“, sagte Balian, als sie alle Notizen auf dem Tisch liegen hatten. „Wir haben herausfinden können, dass der Bischofsvikar den Wein ordnungsgemäß bezahlt hat und dass die Bezahlung auch ordnungsgemäß in Rebstadt abgegeben wurde. Karls Aussage ergibt auch, dass im März in Rebstadt ein Diener davongejagt wurde. Das stimmt alles mit dem überein, was Arthur Jonathan und mir in Chur gesagt hat. Durch Anselms Bemerkung wissen wir, dass Richard wegen der verweigerten Kirchweihe auf den Bischof nicht gut zu sprechen war. Ich werde noch einmal mit Arthur sprechen.“

„Was wollt Ihr damit erreichen, Roland?“, fragte Jonathan. „Es geht ja nicht darum, dass Richard angeklagt ist.“

„Nein, ist er nicht“, räumte der Vizegraf ein. „Aber wenn er den Auftrag dazu gegeben hat …“

„… könnte im schlimmsten Fall daraus ein Krieg zwischen Wengland und Scharfenburg werden“, unterbrach Herwig ihn. „Nein, bitte, lasst das!“, beschwor er ihn. „Diese Lande sind friedlich.“

„Herwig, ich will keinen Krieg auslösen, das käme mir nicht in den Sinn“, erwiderte Balian.

„Dann lasst es dabei bewenden, zu beweisen, dass Arthur fälschlich davon ausging, dass die Rechnung unbezahlt ist und er nur noch diesen Weg sah, den offenen Betrag zu erlangen“, ergänzte der Baron von Wutzbach.

„Wird Eurem König das genügen, um Arthur am Leben zu lassen?“, fragte der Vizegraf. „Herwig, der Junge ist nur deshalb auf den Bischof losgegangen, weil sein Herr ihm wider besseres Wissen eingeredet hat, dass dieser Mann ihm Geld schuldet und Arthur als sein zum Kassieren ausgesandter Diener es ja nicht wagen soll, ohne das Geld nach Rebstadt zurückzukehren.“

„Dann sprecht vorher mit König Rudolf, ob ihm das, was ich Euch empfehle, genügt, um den Jungen vielleicht nur zu Kerker zu verurteilen. Wenn ja, solltet Ihr im Interesse Wenglands und Scharfenburgs nicht weiter nachbohren“, riet Herwig.

„Und was ist mit den Interessen Arthurs? Soll er etwa dafür büßen, dass er belogen wurde?“

„Wer weiß, was er zu Haus angestellt hat!“, warf Jonathan ein.

„Eben! Das wissen wir nicht. Mehrere Leute haben mich vor Richard und seinem unberechenbaren Zorn gewarnt. Der Bischof hat ihn sich damit zugezogen, dass er die Weihe der neuen Kirche verweigert hat. Wir wissen also nicht, ob Arthur nicht sogar völlig grundlos ins Verderben geschickt wurde. Es kann doch nicht angehen, dass jemand im Kerker landet, weil sein Herr durch ihn einen anderen grundlos schädigen will!“, versetzte der Franzose. „Herwig, Jonathan: Ihr seid beide Ritter, Ihr habt beide geschworen, Hilflose zu beschützen. Wer ist denn wehrlos, wenn nicht ein Leibeigener, der mit haltlosen Lügen in sein Unglück gesandt wird?“

„Was wollt Ihr erreichen? Dass er ganz und gar frei sein soll? Der Bischof ist überfallen worden. Das sagt Ihr selbst, weil Ihr dabei wart. Das muss Strafe nach sich ziehen, daran führt kein Weg vorbei“, sagte Herwig. „Wenn Arthur als belogenes Unschuldslamm dafür nicht in Frage kommt, bleibt nur noch Richard als dessen Auftraggeber. Und das führt unweigerlich zum Krieg, weil Richard nun einmal Markgraf in Scharfenburg ist!“

„Es widerstrebt mir einfach, einen kleinen Mann bluten zu sehen, weil man sich nicht traut, den Größeren zur Rechenschaft zu ziehen!“, entgegnete Balian mit gewisser Schärfe.

„Ich verstehe Euch, Roland. Eure Haltung ist ritterlich und sehr sympathisch. Aus der Sicht des Volkes betrachtet, gibt es daran keinen Zweifel. Und ich denke, wenn es um Euch selbst gehen würde, würdet Ihr lieber den eigenen Kopf hinhalten, als einen Krieg zwischen Eurem Land und einem Nachbarn zu riskieren und zwei ganze Völker ins Unglück zu stürzen, oder?“

„Ja, doch das ist meine Entscheidung“, erwiderte der Vizegraf. „Arthur wird hier nicht gefragt, mein Freund.“

„Dann sollten wir ihn fragen …“, schlug Jonathan vor. Ein Räuspern machte die diskutierenden Männer aufmerksam

„Darf ich etwas dazu sagen?“, fragte Martin.

„Ja, natürlich, mein Prinz“, antwortete Balian mit sanftem Lächeln.

„Es kann ja gut sein, dass Richard dem Bischof die Sache mit der nicht geweihten Kirche übel nimmt. Aber wieso schickt er dann nur einen einzelnen Mann, der nicht mal richtig bewaffnet ist? Wieso scheucht er den erst nach Wachtelberg, um Geld zu holen, das längst da ist? Ich glaube, Richard wollte Arthur aus irgendeinem Grund loswerden, aber er wagt wohl nicht, ihn selbst umzubringen oder einen direkten Befehl dazu zu geben. Wachtelberg ist weit. Es dauert ungefähr zwei Wochen von Rebstadt bis hier. In vier Wochen Hin- und Rückreise kann doch viel passieren – Räuber hätten ihn vielleicht überfallen können.

Und als er zurückkam und kein Geld hatte, da hat Richard ihn wieder weggeschickt mit einem Auftrag, den er ganz bestimmt nicht erfüllen konnte. Entweder, weil er den Bischof nie gefunden hätte oder weil er gegen die Bewachung eines Bischofs doch gar nicht hätte kämpfen können. Es ist doch reiner Zufall, dass er bei dem Kampf in der Schlucht nur verletzt wurde und dass er gerade uns begegnet ist. Er konnte doch nur leben, weil du ihn am Leben gelassen hast, Onkel Roland. Jeder andere hätte ihn umgebracht, das haben doch die Johanniter gesagt und auch der Bischof hat das gesagt. Sie haben gesagt, es würde doch keinen interessieren, was mit jemandem passiert, der einen Bischof auf offener Straße angreift. Erinnerst du dich?“, erklärte der Junge. „Ich glaube, dass Richard wirklich nur wollte, dass Arthur nicht mehr zurückkommt. Den Überfall auf den Bischof, glaube ich, hat er nicht wirklich gewollt. Sonst hätte er mehr Leute mit richtigen Waffen geschickt.“

„Du meinst, auch wenn Richard Arthur auf diesen Weg gebracht hat, wäre Richard wegen des Überfalls nicht zu bestrafen. Und dann gäbe es auch keinen Krieg. Meinst du das?“, hakte Jonathan nach.

„Ja“, erwiderte der Prinz.

„Du wirst einmal der König dieses Landes sein, Martin. Jetzt nimm mal an, du wärst an der Stelle deines Vaters: Wie würdest du entscheiden?“, fragte Balian. Martin sah eine Weile auf die Notizen, die auf dem Tisch lagen.

„Arthur hat das nicht von sich aus getan. Er ist durch seinen Herrn dazu getrieben worden. Und er hat gesagt, dass er den Bischof nicht umbringen wollte, sondern als Pfand für das Geld seines Herrn nehmen wollte. Ich … habe gehört, dass das erlaubt ist. Dann kann ich ihn nur gehen lassen“, erklärte er.

„Und was ist mit Richard?“, hakte Balian nach.

„Für einen geplanten Überfall sind es zu wenige Leute ohne richtige Waffen. Da dem Markgrafen das Gegenteil nicht zu beweisen ist, würde ich ihn freisprechen.“

Balian legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Ich glaube, du wirst ein guter König werden“, sagte er.

 

 

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Kapitel 33

Kreuzverhör

 

Zwei Tage darauf begann das Hohe Gericht des Königs in der bischöflichen Burg von Wachtelberg. Der Thronsaal, ein Saal von etwa sieben Klaftern Länge und fünf Klaftern Breite, sollte als Gerichtssaal dienen. Gegenüber der hohen, doppelflügeligen Saaltür befand sich zwischen den jeweils drei zwei Klaftern hohen und einen halben Klafter breiten Fenstern eine zwei Spannen hohe und je zwei Klafter lange und breite Empore, in deren Mitte ein hölzerner Baldachin angebracht war. Er maß einen Klafter im Quadrat und war an der Front mit dem gräflichen Wappen unter der bischöflichen Mitra geschmückt. Auf der Empore standen in einem leichten Halbkreis sieben gleich hohe Stühle. Der mittlere Stuhl, der dem König gebührte, befand sich genau unter dem hölzernen Baldachin.

In der Mitte der von der Empore aus links befindlichen Wand war eine kleinere, einflügelige Tür, die in die Privatgemächer des Fürstbischofs führte. Diese linke Wand war mit Fresken biblischer Motive geschmückt. Nur einen halben Klafter vom vorderen Ende der Richterempore entfernt und einen halben Klafter nach links versetzt war vor dieser Wand eine ebenfalls zwei Klafter breite und einen Klafter in den Raum ragende Empore von einer Spanne Höhe, auf der sich in der Mitte knapp vor der Wand der Sessel des Klägers und der schräg davor platzierte Stuhl des offiziellen Anklägers befanden. Die Empore schloss die Tür der bischöflichen Gemächer ein, so dass der Bischof seine Empore direkt aus seiner Tür heraus über eine Stufe betrat.  

Die gegenüberliegende Wand war von zwei Türen durchbrochen, die den Zugang in die Gast- und Wirtschaftsräume der Burg ermöglichten. Diese Wand war mit Fresken versehen, die die Taufe des Christian von Sandragon, des ersten christlichen Herzogs von Wengland, durch Wenglands ersten Bischof Avertinus darstellten. Dazu waren auch diverse profane Szenen der Zehntablieferung von Feldfrüchten, Tieren und Geld zu sehen. Vor dieser Wand stand – auf gleicher Höhe wie die gegenüberliegende Anklägerempore – ein als Zeugenbank dienendes Chorgestühl. Das Chorgestühl war ebenfalls zwei Klafter lang, aber nur einen halben Klafter tief.

Die Türwand schließlich präsentierte ebenfalls in Form von Fresken die Wappen aller zwölf wenglischen Grafschaften, darunter jeweils die der zwölf Baronien der Grafschaften. Hier, gegenüber der Richterempore, hatten die Diener Kirchenbänke als Sitzgelegenheiten für die Zuschauer der im Prinzip öffentlichen Gerichtsverhandlung aufgestellt. Die Bankreihen begannen – aus Richtersicht – einen halben Klafter hinter der Anklägerempore und der Zeugenbank, waren jeweils einen Klafter breit. Der Gang von der Saaltür her, der die Bankreihen trennte, war ebenfalls einen Klafter breit. Sechs Bankreihen standen auf jeder Seite des Ganges hintereinander. Die Bank vorne links aus Sicht der Richter war für den Angeklagten und seine Bewachung reserviert.

 

Wer immer von Balian, Jonathan oder Herwig in der Klage des Bischofs gegen Arthur aus Backendorf angesprochen worden war, hatte eine schriftliche Vorladung als Zeuge erhalten und hatte Wachtelberg nicht verlassen dürfen. Die Anklage gegen Arthur lautete auf „beabsichtigten Raub und geplanten Mord an Seiner Exzellenz, dem hochwürdigsten Bischof von Wachtelberg, Graf von Wachtelberg, Bischof des Königreichs Wengland“. Das klang einschüchternd – und war durchaus so gemeint. Der Angeklagte sollte wissen, mit welcher Macht er sich da angelegt hatte. Das Gericht – der König von Wengland selbst, fünf seiner Grafen und der Fürst von Breiten-stein – wirkte auf einen Angeklagten aus dem einfachen Volk kaum weniger einschüchternd.

Arthur war aus dem Steinburger Kerker geholt worden, wo er seit seiner Genesung auf den königlichen Richterspruch hatte warten müssen. Man hatte ihn in einem offenen Leiterwagen transportiert, in dem er an Händen und Füßen angekettet gewesen war, um jeden Fluchtversuch zu unterbinden. Jetzt schmachtete er in einem der Verliese der Bischofsburg, immer noch an Händen und Füßen angekettet.

 

Am Morgen kamen die sieben Richter, der offizielle Ankläger, der eigentliche Kläger, die geladenen Zeugen sowie einiges vornehme Volk in den zum Gerichtssaal umgeräumten Thronsaal. Die Zeugen bekamen die Plätze ihrer Bankreihe zugewiesen. Auf der Zeugenbank fehlte Richard von Rebmark, was wenigstens die sechs beisitzenden Richter wunderte, die mit der Anklage auch eine Liste der Zeugen erhalten hatten. Auf der Anklageempore nahmen der Bischof im Sessel und Bertram von Ermeldorf, König Rudolfs Heermeister, als offizieller Ankläger, auf dem vorderen Stuhl Platz.

Nachdem Zeugen und Ankläger versammelt waren, trat der Bischof – nun nicht als Geschädigter, sondern als Kirchenvertreter – vor die Zeugenbank, auf einen Wink eilte ein Diener mit einem kostbar gebundenen Exemplar der Bibel herbei.

„Ihr werdet nun den Zeugeneid schwören“, sagte Bartholomäus. „Hebt die rechte Hand, die Linke legt auf die Heilige Schrift und schwört, die Wahrheit zu sprechen und nichts als die Wahrheit – so wahr Gott Euch helfe!“

Jeder einzelne Zeuge tat den geforderten Schwur. Der Bischof kehrte auf seinen Sitz hinter dem Ankläger zurück, der Diener deponierte die Bibel auf einem dafür vorgesehenen Pult zwischen der Anklage- und der Richterempore und blieb in der Nähe stehen, um die Heilige Schrift bei Bedarf wieder vorzulegen.

Als Einziger im Saal war Bertram in Rüstung und Waffen, alle anderen – Zuschauer wie Zeugen und Richter – waren in ihrer besten Kleidung und unbewaffnet erschienen. Ganz anders der Angeklagte: Er trug schmutzige, abgerissene Kleidung und hatte seit seiner Genesung nicht mehr baden dürfen. Entsprechend schmutzig war er auch selbst.

Wächter des Bischofs und holten Arthur aus der Zelle. Sie zerrten ihn recht unsanft über die steile Treppe hinauf und brachten ihn durch die hohe Saaltür in den Gerichtssaal. 

„Auf die Knie vor dem Gericht!“, knurrte einer der Wächter. Die beiden kräftigen Posten gaben dem Gefangenen einen rüden Stoß, der vor der Gerichtsempore zu Boden fiel. Die Ketten klirrten. Völlig verängstigt blieb Arthur liegen, wagte nicht einmal, den Kopf zu heben.

„Sieh mich an!“, befahl König Rudolf streng. Als der zitternde Gefangene nicht sofort reagierte, trat ihm einer der Wächter in die Seite. Arthur rollte sich noch mehr zusammen. Balian von Ibelin reichte es. Eine solche Misshandlung Wehrloser konnte der vollkommene Ritter, der er war, einfach nicht zulassen. Er sprang von seinem Sitz auf der Zeugenseite des Thronsaales auf.

„Aufhören!“, befahl er. Die Wächter ließen erschrocken von dem hilflosen Gefangenen ab. Den Vizegrafen hielt es nicht auf seinem Zeugenplatz. Er trat zu dem immer noch am Boden liegenden Angeklagten und stellte sich schützend zwischen ihn und die Wächter. Auch in seiner kostbaren, dunkelblauen Tunika mit den goldenen Efeuranken und ohne Waffen wirkte er streitbar genug, um die Wächter den Rückzug antreten zu lassen. Weder sie noch die sieben Richter auf der Empore konnten so schnell reagieren wie der ritterliche Beschützerinstinkt Balian zum Handeln veranlasste. Die Wächter bemerkten, dass auf den Plätzen vorn am Rand der Zuschauerbänke zwei kräftige Männer saßen, die schon im Sitzen eine drohende Haltung einnahmen – Almaric und Michel, Balians treue Ritter. Die Posten verzichteten darauf, den vorgeführten Angeklagten weiter zu drangsalieren oder dessen Beschützer anzugreifen.

„Hab‘ keine Angst, Arthur“, wandte Balian sich an den wie einen Igel eingerollten Gefangenen. „Zeig dich dem König!“

Vorsichtig entspannte der Junge sich und riskierte es, aufzusehen. Mit Balians Hilfe richtete er sich auf.

„Sag mir deinen Namen, du Tropf!“, forderte der König den Angeklagten auf.

„Arthur … aus … dem Dorf … Ba… Backendorf in … in der Rebmark“, stotterte der verängstigte Gefangene.

„Steh‘ auf und höre, was dir vorgeworfen wird!“, befahl der König. Balian half dem geschwächten Angeklagten auf.

„Danke, Herr“, sagte Arthur. Balian gab ihm einen aufmunternden Klaps auf den Rücken und kehrte zu seinem Sitz in der Zeugenreihe zurück.

„Heermeister Bertram: Ihr habt das Wort!“, forderte Rudolf den offiziellen Ankläger auf, die Vorwürfe vorzutragen.

„Ich, Bertram von Ermeldorf, Heermeister des Königreiches Wengland, klage diesen Mann, Arthur aus Backendorf, an, den hochwürdigsten Bischof von Wengland, Bartholomäus von Wachtelberg, und sechs seiner ihn begleitenden Johanniterritter am 29. Juli im Jahre des Herrn 1193 auf offener Straße überfallen zu haben. Er und viele andere lösten eine Steinlawine aus, die den Bischof und seine Begleiter von den Rittern des Vizegrafen Roland von Ibelin trennte. Dann griffen Arthur und seine Spießgesellen den Bischof und seine Männer an, versuchten, sie zu töten, indem sie mit Spießen und Dreschflegeln auf sie einhieben oder -stachen. Roland, Vizegraf von Saint-Martin-au-Bois und seine Ritter Almaric und Michel können dies bezeugen. Hört sie, mein König und richtet nach der Gerechtigkeit der Könige Wenglands!“, rief er. Als er geendet hatte, verneigte er sich vor den Richtern und setzte sich den Zeugen gegenüber auf seinen Platz.

Der König nickte den beiden Wächtern zu, die Arthur auf die Anklagebank beförderten. Ein Blick auf die weiterhin drohende Haltung der kräftigen Gestalten von Almaric und Michel in der Bank direkt dahinter ließ sie deutlich sanfter mit dem Angeklagten umgehen, als sie es eigentlich vorhatten.

 

„Roland von Ibelin, könnt Ihr bestätigen, was Heermeister Bertram behauptet?“, wandte sich Rudolf an seinen Schwager. Balian erhob sich.

„Majestät, ich bitte Euch, Euch nicht nur mit einem einfachen ja meinerseits zu begnügen, sondern anzuhören, was ich Euch dazu noch sagen kann“, sagte er. Rudolf sah seine Mitrichter an, die eher verwundert dreinschauten.

„Nun, dann sagt uns, was Ihr zu sagen habt, Vizegraf Roland“, forderte Rudolf seinen Schwager auf.

„Majestät, die Zeugen, die hier neben mir sitzen, habe ich mit meinen Freunden und Eurem Sohn Martin ausfindig gemacht. Jeder hat mir Auskünfte gegeben, die mich zweifeln lassen, dass das, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, ein ganz gewöhnlicher Überfall war. Doch bevor ich Euch das vortrage, ersuche ich Euch, die Zeugen vor die Tür zu schicken und sie einzeln wieder hereinzurufen, wenn ich Euch darum bitte“, erklärte Balian. Die Beisitzer sahen den Zeugen verblüfft an, aber Rudolf, durch ein Gespräch am Abend zuvor von seinem Schwager von diesem Vorgehen überzeugt, nickte.

„Dann … wollt Ihr Euch zum … Verteidiger … dieses Verbrechers erklären?“, hakte Fürst Dominik verblüfft nach.

„Ob er ein Verbrecher ist, Hoheit, wäre am Ende zu entscheiden, wenn alle, die sich dazu äußern können, gesagt haben, was sie wissen“, versetzte Balian kühl. „Hört, was die Zeugen zu sagen haben und urteilt dann, ob Arthur ein Verbrecher ist oder nicht. Ja, ich will ihn verteidigen.“

„Es sei. Die Zeugen mögen den Saal verlassen und draußen auf den Aufruf warten!“, entschied König Rudolf. Unruhe kam auf, als die Zeugen den Saal eher zögernd verließen.

„Ruhe!“, befahl Rudolf scharf, als die Tür zu war. „Nun, dann tragt vor, Vizegraf Roland!“

„Majestät, ich kann Euch bestätigen, dass dieser Junge, Arthur, mit Bauern aus dem oberen Rheintal den Bischof Bartholomäus auf die von Heermeister Bertram geschilderte Art angegriffen hat. Doch mir kam es seltsam vor, dass ausgerechnet ein Bischof, ein Mann Gottes, angegriffen wird, der weder mit reichem Schmuck versehen war, noch offen einen Geldbeutel bei sich trug. Und deshalb habe ich Arthur einige Fragen gestellt. Ich würde sie hier gern wiederholen, damit Ihr hört, was er mir dazu sagte.“

„Tut das“, nickte Rudolf. Balian verneigte sich mit einem sanften Lächeln und wandte sich an den Angeklagten:

„Arthur, wieso habt ihr den Bischof angegriffen?“

„Wir wollten ihn nicht töten!“, erklärte Arthur.

„Und was wolltet ihr dann mit ihm machen?“

„Wir … wir wollten ihn gefangen nehmen und ihn gegen Lösegeld freilassen.“

„Wieso?“

„Weil er meinem Herrn Geld schuldet und sich weigert, es zu bezahlen“, sagte Arthur.

„Das ist eine Lüge!“, schnaubte der Bischof. Balian wandte sich ihm zu und verneigte sich leicht.

„Regt Euch nicht auf, hochwürdigster Bischof. Dieser Frage bin ich nachgegangen – mit einem sehr interessanten Ergebnis. Setzt Euch und … bleibt ruhig, Exzellenz“, sagte er.

„Wer hatte dir gesagt, dass der Bischof deinem Herrn Geld schuldete?“, richtete er dann eine weitere Frage an den Angeklagten.

„Mein Herr selbst.“

„Wer ist dein Herr?“

„Markgraf Richard von Rebmark.“

Ein Raunen ging durch den Saal. Richard war weder als angenehmer Herr noch als angenehmer Gläubiger bekannt.

„Und wofür sollte das Geld sein, das der Bischof ihm schuldete?“, fragte Balian weiter.

„Ich hab‘ Euch doch erzählt, dass …“, wunderte sich Arthur.

„Erzähle es dem König, Arthur!“, forderte Balian ihn auf und trat in den Gang neben die Anklagebank.

„Ja, also … das war so … Der Bischof bestellt in der Rebmark immer den Messwein, Majestät. Der Markgraf beauftragte mich Ende Februar in diesem Jahr, nach Wachtelberg zu gehen, um das Geld zu holen. Er sagte mir, das Fuder Wein, das zu Lichtmess an den Bischof geliefert wurde, sei nicht bezahlt worden. Ich solle das Geld nun holen.“

„Das ist doch gelogen! Natürlich ist es bezahlt worden!“, keifte der Bischof.

„Aha, und woher wisst Ihr das, Exzellenz?“, fragte Balian und trat wieder auf die freie Fläche zwischen den Bankreihen, der Zeugenbank und den Emporen der Richter und Ankläger.

„Weil eine Lieferung stets an den Lieferanten bezahlt wird!“, knurrte der Bischof.

„Ist das so? Wart Ihr dieses Mal dabei, Exzellenz? Habt Ihr das mit eigenen Augen gesehen?“, bohrte der Vizegraf.

„Äh … nein.“

„Wieso nicht?“

„Ich … ich war zu dem Zeitpunkt nicht in Wachtelberg.“

„Sondern wo?“, hakte Balian nach.

„In Rom“, erwiderte Bartholomäus. „Auf dem Rückweg von dort bin ich Euch doch begegnet – in Disentis!“, erinnerte er dann verständnislos. Balian lächelte verbindlich.

„Exzellenz – es ist nicht die Frage, ob ich etwas weiß, sondern, ob Euer König als Richter dies nicht auch wissen sollte. Aber wenn Ihr nicht in Wachtelberg wart, sollten wir die Frage klären, ob der Wein bezahlt wurde oder nicht. Arthur, was geschah, als du nach Wachtelberg gekommen bist?“

„Ich sagte dem Torwächter, was mein Auftrag sei. Er sagte mir, er wolle den Kastellan holen. Er kam aber nicht mit dem Kastellan zurück, sondern mit der Aufforderung, ich solle verschwinden. Der Wein sei längst bezahlt, ich würde kein Geld bekommen“, erwiderte Arthur. „Ich hatte ja niemanden bei mir, der mir hätte helfen können, in die Burg zu kommen, um mit dem Kastellan zu reden. Also bin ich nach Rebstadt zurückgekehrt – ohne Geld. Mein Herr hat getobt. Er ließ mich davonjagen und gab mir mit auf den Weg, ich solle nicht wagen, jemals nach Rebstadt zurückzukehren, wenn ich das Geld nicht bei mir hätte. Da musste ich mir einen anderen Weg ausdenken, um an das Geld zu kommen. Ich bin also wieder nach Wachtelberg gereist und wollte sehen, dass ich irgendwie in die Burg einbrechen konnte, um das Geld so zu holen oder um den Bischof gefangen zu nehmen, um ihn gegen Lösegeld wieder freizulassen.“

„Was wolltest du fordern?“, fragte Balian.

„Die fünfhundert Gulden, die er meinem Herrn für den Wein schuldete. Na ja, vielleicht ein paar Gulden mehr, ich brauchte ja schließlich was zu essen …“, erwiderte Arthur. Langsam begann er zu begreifen, dass der Mann, der ihn gefangen genommen hatte, ihm wirklich helfen wollte, indem er die tatsächlichen Hintergründe seines Auftrags aufdeckte.

„Majestät“, wandte sich Balian an den König, „würdet Ihr den Zeugen Ademar von Bauzenstein aufrufen?“

„Gern. Wache: Ademar von Bauzenstein!“, wies Rudolf den Posten an der Saaltür an.

 

Der Mann bestätigte, verließ kurz den Saal und kam mit dem Vikar zurück, der seine Abrechnungsbücher unter dem Arm hatte. Verwirrt sah der geistliche Stellvertreter des Bischofs, dass einer der Zeugen, mit dem er kurz zuvor auf der Bank gesessen hatte, noch vor der Richterempore stand und keine Anstalten machte, sich zu setzen.

„Bin ich zu früh?“, fragte er.

„Nein“, sagte Rudolf, „es hat sich ein Ritter gefunden, der diesem Angeklagten zur Seite steht. Beantwortet die Fragen, die Vizegraf Roland Euch stellen wird, Herr von Bauzenstein.“

„Gewiss, mein König“, erwiderte von Bauzenstein und verbeugte sich. Balian bat ihn mit einer einladenden Handbewegung nach vorn. Die ersten Fragen galten dem Tun des Vikars, der erklärte, als geistlicher Stellvertreter des Bischofs auch für die Bezahlung des Messweins verantwortlich zu sein.

„Der Wein wurde – wie jedes Jahr – zu Lichtmess geliefert und auch an den Lieferanten bezahlt“, erklärte der Vikar abschließend und legte die beiden Bücher vor, aus denen sich die Lieferung am 2. Februar und die Bezahlung am 5. Februar ergaben. Die Richter nahmen die Bücher in Augenschein.

Er präsentierte auch das Kassabuch, in dem die Zahlung von fünfhundert Gulden an Karl, den Säumer vermerkt war. Die Richter nickten im Takt.

„Gut. Damit ist bewiesen, dass die Zahlung erfolgt ist. Aber was soll das mit dem Überfall zu tun haben?“, wandte der König sich an Balian.

„Nun, Arthur sagt, sein Herr habe ihm befohlen, eben dieses Geld zu holen. Er sagt weiter, dass er in Wachtelberg abgewiesen wurde. Bezahlt wurde der Wein. Ich schlage vor, wir hören den Kastellan dazu.“

„Ich verstehe nicht, worauf Ihr eigentlich hinauswollt, Mylord Roland“, wunderte sich nun Theodor von Eichgau.

„Die Frage ist doch, ob das, was uns dieser Junge erzählt, wahr ist oder nicht. Also können wir nur dem nachgehen, was er sagt. Lasst uns Herrn Anselm hören“, beharrte der Verteidiger. Theodor zuckte ratlos mit den Schultern. So einen Prozess hatte er noch nicht erlebt.

König Rudolf, von Balian in die beabsichtigte Vorgehensweise eingeweiht, nickte jedoch und wies den Posten an, Anselm von Ahrenstein zu holen.

 

Auf Balians Fragen erklärte der, den Messwein in Empfang genommen und Karl, dem Säumer, bei dessen Abreise auch das Geld gegeben zu haben.

„Was wisst Ihr über einen Boten, der nach Wachtelberg kam, um die fünfhundert Gulden für dieses Fuder Wein abzuholen?“, erkundigte sich der Vizegraf.

„Ich weiß, da war jemand. An einen Namen erinnere ich mich nicht, den hat mir der Wächter vielleicht auch nicht gesagt, aber ich weiß, dass ich ihn fortschicken ließ, weil das Geld längst bezahlt war“, antwortete Ahrenstein.

„Wann war das?“, hakte der Verteidiger nach.

„März, meine ich. So einen guten Monat, nachdem der Wein geliefert worden war.“

„Von wo bezieht Ihr Wein für die Tafel?“, fragte Balian.

„Wieso Wein für die Tafel? Wein gibt’s bei uns nur für die Messe. Zur Tafel wird unser Klosterbräu getrunken“, erklärte Anselm. Er sah hilfesuchend zum Bischof.

„Das stimmt“, sagte Bartholomäus. „Ich bin kein Weintrinker – und meine Bediensteten auch nicht. Wir trinken ausschließlich Bier.“

„Dann ist also eine Verwechslung mit einer anderen bereits bezahlten Lieferung ausgeschlossen?“, hakte Balian ein. 

„Ja, ganz bestimmt“, bestätigte Ahrenstein.

„Ich danke Euch, Herr von Ahrenstein“, sagte Balian mit einer leichten Verbeugung. „Hohes Gericht, der Kastellan von Wachtelberg bestätigt, dass im März ein Bote des Markgrafen von Rebmark Geld abholen sollte, das längst bezahlt war. Er wurde deshalb abgewiesen. Damit hat sich diese Behauptung des Angeklagten schon als wahr erwiesen“, schlussfolgerte Balian.

„Nun, Herr von Ahrenstein hat keinen Namen genannt. Wie kommt Ihr darauf, dass es unbedingt dieser Lump gewesen sein muss?“, fragte Bertram, der ahnte, was der Vizegraf belegen wollte.

„Wenn der einzige Wein in der fürstbischöflichen Burg von Wachtelberg der Messwein aus Rebmark ist, kann wohl nur ein Bote des Markgrafen von Rebmark nach Geld für Wein gefragt haben, Mylord Bertram“, versetzte Balian.

„Das Geld kann ja trotzdem weggekommen sein“, mutmaßte Fürst Dominik.

„Ich kann Euch mithilfe eines weiteren Zeugen beweisen, dass es auch angekommen ist, falls Ihr das wünscht“, sagte Balian. „Wir können es auch dabei belassen. Denn durch die Angaben des Vikars und des Kastellans ist eigentlich schon erwiesen, dass Arthur Geld holen sollte, das er nicht bekommen konnte und deshalb einen anderen Weg suchte, um seinem Herrn dessen angeblich ausstehendes Geld zu beschaffen. Dann wäre der Überfall auf den Bischof aus seiner Sicht eine gerechtfertigte Maßnahme gewesen, um mit der allgemein anerkannten Praxis der Lösegeldzahlung die Forderung seines Herrn zu erfüllen. Dann wäre dieser Überfall nicht als Straßenräuberei zu betrachten, sondern als unwissentlich unterbundene Geltendmachung einer Forderung, die Arthur für gerechtfertigt erachten musste. Denn er hat wohl keinen Grund an den Worten seines Herrn zu zweifeln. Oder würde jemand von Euch von seinen Dienern erwarten – nein, ihnen erlauben –, dass sie sich einen Befehl begründen lassen? Oder gar dessen Grund beweisen lassen? Ich bin sicher, dass keiner dies dulden würde. Wieso sollte Richard dies dann dulden? Hohes Gericht, Arthur ist kein Straßenräuber, der den Tod verdient. Er hat einen Befehl seines Herrn befolgen wollen. Dass dieser Befehl vielleicht fälschlich gegeben wurde, konnte er nicht erkennen, weil von ihm als Diener widerspruchsloses Gehorchen verlangt wird.“

„Nochmal: Woher wissen wir, dass der Bote gerade Arthur war und nicht ein anderer? Dass er sich diesen Auftrag nicht … sagen wir … von jemand anderem … ausgeliehen … hat?“, bohrte Bertram.

„Ihr meint, er hat etwas davon gehört und sich das als Ausrede zurechtgelegt, falls der Überfall nicht den gewünschten Erfolg hätte?“, hakte Balian nach.

„Genauso ist es“, nickte Bertram.

„Das können wir tun“, erwiderte Balian. „Doch ich will Euch warnen: Das Ergebnis könnte zu diplomatischen Problemen führen.“

„Ich finde es problematisch genug, wenn der Markgraf von Rebmark behauptet, ein Graf meines Landes habe seine Rechnung nicht bezahlt!“, knurrte Rudolf. Balian sah ihn an.

„Bis jetzt, Majestät, könnten wir noch annehmen, dass das Geld nicht in Rebstadt angekommen ist und Richard keine Ahnung hatte, dass das Geld längst bezahlt war“, warnte Balian erneut.

„Ein Ritter soll stets die Wahrheit sprechen. Was habt Ihr noch herausgefunden, Roland?“

„Eher … unangenehme Dinge. Nicht für Arthur, das schwöre ich, so wahr mir Gott helfe“, erwiderte er und hob die Hand zum Schwur. „Eher bezüglich Richard. Doch ich möchte mit meinen Nachforschungen zu Arthurs Schuld nicht der Anlass sein, dass ein Krieg ausbricht.“

„Dieses Gericht wird nicht auf halbem Wege stehenbleiben, Herr von Ibelin!“, fuhr Rudolf seinen Schwager an. „Wir machen weiter!“

 

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Kapitel 34

Lästige Wahrheit

 

Balian sah seinen Schwager einen kurzen Moment unschlüssig an. Noch, das wurde ihm klar, hatte er noch nicht zweifelsfrei bewiesen, dass Arthur tatsächlich einen Auftrag seines Herrn hatte ausführen wollen. Dazu benötigte er Richards Aussage, dass er Arthur wirklich wegen des angeblich fehlenden Geldes fortgeschickt hatte.

„Majestät, ich bitte Euch, Richard von Rebmark und auch Herzog Ludwig von Scharfenburg holen zu lassen“, bat er den König.

„Aber Richard ist doch gar nicht erschienen!“, platzte Gerold heraus, der als Richter anwesende Graf von Eschenfels. „Und der Herrscher unseres Nachbarreiches wird nicht vor einem Gericht aussagen!“

„Er ist in Reichweite, Mylord. Aber es gab gute Gründe, ihn erst dann zu holen, wenn seine Aussage wirklich unentbehrlich ist. Und der Herzog? Ich hoffe, ich benötige seine Bestätigung nicht. Doch Richard hat in Gegenwart des Herzogs eine Aussage gemacht, die nicht ganz zu dem passt, was Herr Anselm und Herr Ademar hier gesagt haben“, erwiderte Balian mit leisem Seufzen. Gerold von Eschenfels sah zwischen dem König und dessen Schwager hin und her. Ihm dämmerte, dass zwischen ihnen Absprachen getroffen worden waren, die den Prozess in eine bestimmte Richtung lenken sollten.

„Aber Ihr habt Recht, dass er nicht vor der Tür ist“, riss Balian Gerold aus seinen Gedanken. „Bitte, Majestät, dann zuerst Karl, den Säumer.“

„Wie Ihr wünscht“, bestätigte Rudolf. „Wache: Karl, den Säumer! Erhard soll den Herzog und den Markgrafen unterrichten, dass ich gern mit ihnen sprechen möchte.“

 

Der Posten holte den Zeugen herein, der ebenso verdutzt war wie die beiden anderen, die inzwischen in der Zeugenbank saßen, als er Balian vor den Richtern sah.

„Kommt näher!“, forderte ihn der Vizegraf auf. Zögernd trat Karl vor und verneigte sich.

„Wer seid Ihr und was tut Ihr?“, fragte Balian. Karl brauchte noch einen Moment, um sich zu sortieren, sah zum König, der aber nur nickte.

„Ich bin Karl aus Simonstal. Ich bin Säumer.“

„Und … was macht ein Säumer?“, hakte der Verteidiger nach. ‚Hoffentlich muss ich ihm nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen …‘, durchzuckte es ihn.

„Nun … ich … ich transportiere den Wein aus der Rebmark zu denen, die ihn gekauft haben“, antwortete der Säumer, immer noch zögernd.

„Wohin?“

„Auch nach Wengland. Herr Anselm und Herr Ademar können das bezeugen“, sagte Karl mit einem Kopfnicken in die Richtung der Zeugenbank.

„Also liefert Ihr nach Wachtelberg?“, mutmaßte Balian, dem diese Art der Frage nicht unbedingt gefiel. Er wollte nicht, dass es so aussah als hätte er dem Zeugen die Antwort geradezu in den Mund gelegt.

„Ja, das können diese beiden eindeutig bestätigen!“, versetzte Karl und wies nun mit dem ausgestreckten Finger in Richtung Zeugenbank.

„Gut. Wann habt Ihr zuletzt Wein nach Wachtelberg geliefert?“, bohrte Balian weiter.

„Im Februar, aber das habe ich Euch doch schon alles gesagt!“, wunderte sich der Säumer. Balian seufzte.

„Ja, aber es nützt nichts, wenn ich dem König und den anderen Richtern sage, was Ihr wisst. Sagt Ihr ihnen, was Ihr mir erzählt habt!“, sagte er mit leiser Reizung in der Stimme. Der Säumer begriff endlich, was die Fragen bezweckten.

„Oh, natürlich … Verzeihung. Im Februar – zu Lichtmess – habe ich Wein nach Wachtelberg geliefert. Das Geld habe ich von Herrn Anselm auch ausbezahlt bekommen.“

„Wie viel war das?“

„Fünfhundert wenglische Gulden für ein Fuder Wein. Das ist Messwein, Herr!“

„Was liefert Ihr sonst noch nach Wachtelberg?“, fragte Balian weiter.

„Nichts weiter. Ich liefere den Wein für das Weingut Simonstal aus, das Markgraf Richard für den Grafen Alwin von Falkenstein verwaltet. Ich bin dann noch als Weinhändler auf dem Turniermarkt hier in Wachtelberg, aber als Säumer liefere ich nur den Messwein hierher.“

„Und was ist mit dem Geld geschehen, das Ihr für den Wein erhalten habt?“

„Das habe ich abgeliefert, selbstverständlich. Dafür habe ich auch eine Quittung erhalten.“

„Dann zeigt sie dem Gericht, bitte“, forderte Balian den Säumer auf. Der griff in seine Wamstasche und zog das Dokument heraus, nach dessen Inhalt er die fünfhundert Gulden, entsprechend siebenhundertfünfzig scharfenburgischen Dukaten, dem Kämmerer des Markgrafen übergeben hatte und seinen fälligen Säumerlohn dafür erhalten hatte.

Die Richter und auch Bertram sowie der Bischof nahmen die Quittung in Augenschein.

„Euer Hirngespinst von einem Auftrag Richards an den Räuber Arthur löst sich gerade in Luft auf!“, versetzte von Ermeldorf. Balian lächelte.

„Nur oberflächlich. Unter dem besten Leder kann das Schwert rosten, glaubt mir …“, erwiderte er. Bertram sah ihn verblüfft an.

„Was wollt Ihr damit sagen?“

„Dass man gelegentlich an der Oberfläche kratzen muss, um zu sehen, was darunter ist“, erwiderte der Franzose. „Habt Ihr noch Fragen an den Säumer?“

„Nein, für mich ist klar, dass der Wein bezahlt wurde und das Geld auch da hingekommen ist, wohin es gehört. Ich weiß wirklich nicht, was das Gaukelspiel hier soll!“, grollte von Ermeldorf. 

 

Die Tür zum Saal wurde geöffnet. Ein Posten trat ein.

„Seine Hoheit, Ludwig, Herzog von Scharfenburg und Markgraf Richard von Rebmark!“, verkündete er. Alle Anwesenden, einschließlich des Königs, erhoben sich. Die beiden Fürsten traten ein. Rudolf trat von der Empore herunter und kam dem Herzog entgegen.

„Willkommen in der gräflichen Burg von Wachtelberg, Herzog Ludwig“, begrüßte er den nachbarlichen Herrscher. „Ich danke Euch, dass Ihr meiner Bitte gefolgt seid, Euren treuen Markgrafen hierher zu begleiten.“

Ludwig lächelte freundlich.

„Ich habe Euch für die freundliche Einladung zu danken“, erwiderte er und verbeugte sich knapp und gemessen.

Diener trugen aus einem benachbarten Raum eilig einen Sessel für den Herzog herbei, den sie auf die Richterempore zwischen die Sitze der anderen Richter stellten. Ludwig setzte sich und wandte sich an Richard:

„Richard, es geht um den Kopf Eures Boten! Denkt daran!“

Der Markgraf sah mit einigem Misstrauen, dass der französische Vizegraf, der ihm so lästig gewesen war, ebenfalls anwesend war.

„Oh, der neugierigste Schelm, den ich je gesehen habe!“, ätzte er in Balians Richtung.

„Willkommen, Herr Markgraf“, sagte Balian und verbeugte sich knapp, aber höflich.

„Ich kann nicht behaupten, dass Ihr in bester Gesellschaft seid! Weder, was diesen untreuen Untertan betrifft, noch was den mehr oder weniger werten Herrn hinter Euch betrifft“, versetzte Richard bissig. Der Bischof lief ebenso rot an wie Bertram.

„Was habt Ihr gegen unseren Bischof?“, fauchte der Heermeister und sprang auf, die rechte Hand am Schwertknauf. Richards Hand ging ebenso eilig an sein Schwert. Balian hob die Hände.

„Friede, ihr Herren, Friede! Lasst uns in Ruhe reden. Herr Markgraf – was werft Ihr dem hochwürdigsten Bischof vor?“

„Da fragt Ihr noch? Lässt sich Wein kommen, den er nicht bezahlt!“, schrie Richard. Wütendes Protestgeschrei erhob sich, es schien, als wollten die Wengländer auf Richard losgehen.

„Rrrruheeee!“, brüllte Balian mit derart tragender Stimme, dass es augenblicklich mucksmäuschenstill wurde.

„Und was ist mit diesem Jungen hier?“, fragte er, wieder in normalem, ruhigem Tonfall und wies auf Arthur.

„Den habe ich nach Wachtelberg geschickt, um mein Geld zu holen“, schnaubte der Markgraf. „Er kam wieder und behauptete, er habe nichts bekommen. Das kann aber nicht sein, denn ich habe nach Wachtelberg geschrieben. Von dort erhielt ich die Antwort, man habe das Geld dem Bengel gegeben. Da hab‘ ich ihn wieder losgeschickt und ihm gesagt, er solle ja nicht ohne das Geld wiederkommen! Also … irgendwer belügt mich!“

„Ist das so?“, fragte Balian. Ademar und Anselm schnappten gerade zornig nach Luft.

„Ja“

„Also … Ihr habt Arthur beauftragt, das Geld für den von Euch gelieferten Wein aus Wachtelberg zu holen, habe ich das richtig verstanden?“, hakte Balian nach.

„Habt Ihr keine Ohren am Kopf? Das habe ich gerade gesagt!“, schnauzte der Markgraf.

„Oh, danke. Ich wollte es nur noch einmal ganz klar gehört haben“, erwiderte Balian. „Ich danke Euch für Eure klare Aussage, Mylord. Doch ich wüsste noch gern, wann Ihr ihn wieder fortgeschickt habt, nachdem er ohne Geld zurückkehrte?“

„Wieso das denn?“, wunderte sich Richard, um dann doch hinzuzusetzen: „Das war Ende März.“

„Aha. Und wann habt Ihr ihn zum ersten Mal losgeschickt?“, bohrte nun Bertram.

„Anfang März. Er musste ja erst nach Wachtelberg hin und wieder zurück“, erwiderte Richard.

„Und dann habt Ihr noch nach Wachtelberg geschrieben? Wie soll das denn gehen?“, schnaubte nun Ademar von Bauzenstein. „Glaubt ihm kein Wort! Es gibt keinen solchen Brief, geschweige denn eine solche Antwort! Das ist gelogen!“

„Ihr nennt mich Lügner! Das werdet Ihr bereuen!“, fauchte Richard, aber seine Hand saß plötzlich in einem eisenharten Schraubstock fest – in der kräftigen Schmiedhand des Balian von Ibelin.

„Das hier ist ein Gerichtssaal, Mylord, kein Turnierplatz und kein Schlachtfeld!“, wies er den Markgrafen zurecht. „Setzt Euch!“

Er wies auf die vorderste rechte Bank beim Chorgestühl und nahm von der vordersten Bankablage die Quittung, die er in der Mitte wie beiläufig zusammenkniff, so dass der Name und der Zahlungsgrund nicht gleich mit der Unterschrift gelesen werden konnte.

„Wessen Siegel und Unterschrift sind das?“, fragte er Richard. Der Markgraf sah darauf.

„Das ist das Siegel meines Vetters Raimund von Löwenstein. Es ist auch seine Unterschrift.“

Balian nahm die Quittung zurück und las die zusätzlichen Angaben.

„Euer Vetter bezeichnet sich hier als Euren Kämmerer. Ist er das?“

„Ja, wieso bezweifelt Ihr das?“

„Nein, das war nur die Frage, ob ich es richtig gelesen habe. Was sind die Aufgaben Eures Kämmerers?“

„Habt Ihr eigentlich überhaupt keine Ahnung von höfischen Beamten? Aus welchem Loch seid Ihr eigentlich gekrochen?“, giftete Richard.

„Edler Markgraf – beantwortet die Frage, bitte“, mischte sich nun Fürst Dominik ein. Als Richard wieder nach Luft schnappte, wurde es Ludwig zu viel.

„Richard!“, mahnte er. „Antwortet!“

„Er kümmert sich um das Geld“, erwiderte Richard. Balian faltete das Blatt auseinander.

„Euer Kämmerer, Mylord, der Mann, der sich um das Geld kümmert, bestätigt in dieser Quittung vom 20. Februar 1193, dass er fünfhundert wenglische Gulden für ein Fuder Messwein erhalten hat, das nach Wachtelberg geliefert wurde, und dem Lieferanten den fälligen Lohn dafür gezahlt hat – abzüglich des Zehntes, den er Euch für diesen Lohn schuldet“, hielt er Richard vor, der blass wurde.

„Meint Ihr nicht, dass es angemessen wäre, den Bischof Bartholomäus für Eure unzutreffende Bemerkung von vorhin um Entschuldigung zu bitten?“, fragte der Vizegraf. Mit hochrotem Kopf bat Richard den Bischof um Vergebung, der sie auch großzügig gewährte.

„Und was ist mit Arthur?“, hakte Balian nach. Das Rot in Richards Gesicht verwandelte sich in Violett – vor Wut. Balian drückte ihn auf die Bank zurück, als er hochkommen wollte.

„Bevor Ihr platzt, hört Ihr nochmal zu“, sagte er bestimmt: „Ihr habt Arthur einen Auftrag gegeben, den er nicht erfüllen konnte, weil das Geld, das er holen sollte, längst in Euren Händen war. Und weil er diesen völlig unmöglichen Auftrag nicht erfüllen konnte, habt Ihr ihn nochmal weggeschickt und ihm Übel angedroht, wenn er es wagen sollte, Euch ohne Geld unter die Augen zu treten. Nur deshalb hat er in seiner Verzweiflung den Plan entworfen, den Bischof gefangen zu nehmen, um das Geld in Form von Lösegeld einzutreiben. Was für Geld sollte er eigentlich noch eintreiben? Worin besteht seine Untreue? Doch ganz gewiss nicht darin, Euch nicht diese fünfhundert Gulden eingetrieben zu haben!“

Ein dumpfer Schlag an der linken Seite des Raumes ließ alle dorthin blicken, wo Bischof Bartholomäus saß – vielmehr gesessen hatte. Er war aufgestanden und hatte seinen Bischofsstab hart auf den Boden gestoßen.

„Ich glaube, da kann ich aushelfen, Mylord Roland. Ich will Euch sagen, was mich mit Markgraf Richard verbindet – oder besser: von ihm trennt. Vor knapp drei Jahren, am 20. Oktober 1190, wurde mein Mitbruder Liudger, der Bischof von Scharfenburg, zum Herrn befohlen. Natürlich wandte sich unser Bruder im Herrn, Ludwig, der Herzog von Scharfenburg, an Seine Heiligkeit, den Papst, um baldmöglichst einen neuen Bischof für seinen Sprengel zu erhalten. Doch Gott, dem Allmächtigen, gefiel es, am 25. März im Jahre des Herrn 1191 den Heiligen Vater, Clemens III., selbst zu sich zu rufen. Unser jetziger Papst, Coelestin III., wurde wenige Tage später zum neuen Heiligen Vater gewählt, aber er hatte erst einmal andere Sorgen, weil er selbst schon ein Greis von inzwischen siebenundachtzig Jahren ist.

Als Herzog Ludwig keine Antwort aus Rom erhielt, wandte er sich an mich und bat mich, auszuhelfen, solange noch kein neuer Bischof vom Heiligen Vater bestimmt wurde. Ihr müsst wissen, Mylord, Wengland und Scharfenburg haben mit dem Heiligen Stuhl ein Konkordat geschlossen, wonach die Investitur eines Bischofs allein dem Heiligen Vater zusteht. Der Herzog von Scharfenburg und unser König machen ihm Vorschläge, doch die Entscheidung liegt allein beim Heiligen Vater.

Zu der Zeit war mein Mitbruder Coelestin – nicht der Papst, sondern der Bischof von Wiesenberg in Wilzarien – nach Auflösung seines Sprengels und Vertreibung der Christen aus Wilzarien zu uns nach Steinburg gekommen. Er hat kein eigenes Bistum, also ist er Weihbischof und unterstützt mich in meinen bischöflichen Aufgaben hier in Wengland. Ich habe ihn damit beauftragt, einstweilen die Amtsgeschäfte in Scharfenburg auszuüben, bis ein neuer Bischof dort ernannt ist. Coelestin steht selbst auf der Vorschlagsliste, die dem Heiligen Vater vorliegt.

Unser edler Nachbar, Herzog Ludwig, war damit einverstanden, aber manche der Grafen meinten, ein Weihbischof sei geringeren Ranges als ein Bischof mit eigenem Bistum. Das ist ein Irrtum, doch diesen Grafen ist das nicht beizubringen. Markgraf Richard gehört zu ihnen. Als dann die Kirche in Simonstal fertiggestellt wurde, die dem Heiligen Urban, dem Schutzpatron der Winzer, geweiht werden sollte, forderte Richard mich auf, die Kirche am 3. April, dem Gedenktag des heiligen Urban, persönlich zu weihen. Das war Mitte März letzten Jahres. Als ich zur Kirchweih hätte abreisen müssen, litt ich unter dem Sumpffieber, das die Mücken hier am Alvedra verbreiten. Ich konnte einfach nicht reisen und beauftragte Coelestin, an meiner Stelle die Kirche zu weihen. Mit dem Brief an meinen Mitbruder sandte ich auch ein Schreiben an Richard, in dem ich meine Abwesenheit erklärte und ihm nochmals erläuterte, dass Coelestins Weihe den gleichen Segen habe wie meine.

Richard ließ den Weihbischof nicht einmal über den Rabenpass, den Zugang in die Rebmark. Er ließ ihn mit Schimpf und Schande davonjagen! Mündlich gab er ihm mit auf den Weg, er solle sich zum Teufel scheren und ließ mir sagen, Richard werde nur einen richtigen Bischof in seine Provinz lassen. Ich solle als Mitbruder des verstorbenen Liudger nun endlich dafür sorgen, dass Scharfenburg wieder einen eigenen Bischof bekäme. Ich habe eine Weile mit mir gerungen, ob ich dem nachgeben soll. Aber da sind ja noch die unschuldigen Schäfchen, die der Seelsorge bedürfen. Die kann ich nicht im Stich lassen. Dann war es Advent, da konnte ich nicht weg. So bin ich gleich nach Jahresbeginn nach Rom aufgebrochen – nicht, ohne vorher bei Richard wie üblich den Messwein zu bestellen, den ich zu Lichtmess geliefert haben wollte. In dem Brief habe ich ihm auch mitgeteilt, dass ich nach Rom reise, um den Heiligen Vater um einen neuen Bischof für Scharfenburg zu bitten“, erklärte Bartholomäus.

Nicht nur König Rudolf bekam weiche Knie ob dieses Vortrags des Bischofs Bartholomäus. Nach der Aussage des Bischofs im Zusammenhang mit den anderen Umständen, die Balian mit seinen Freunden ermittelt hatte, war ihnen klargeworden, dass Arthur zwar nicht unmittelbar auf Richards Befehl den Bischof attackiert hatte, dass dieser Angriff aber sehr wohl in dessen Interesse gelegen hatte. Hätte Richard nicht einen einzelnen Mann – einen Jungen – auf den Bischof angesetzt, sondern einen größeren Trupp, hätte das unweigerlich Krieg bedeutet.

Auch Herzog Ludwig sah seinen Markgrafen verdutzt an.

„Richard! Ihr habt beinahe einen Krieg vom Zaun gebrochen!“, wies er ihn zurecht. „Majestät, ich bitte Euch als Lehnsherr dieses … undiplomatischen … Markgrafen meines Reiches um Vergebung“, bat er Rudolf um Entschuldigung.

Der wenglische König sah sich unter seinen Mitrichtern um, die dem Herzog ganz offensichtlich glaubten, von diesen wenig erbaulichen Maßnahmen seines Markgrafen nichts gewusst zu haben. Rudolf traf seine Entscheidung. Es war nicht gut, jetzt noch weiter nachzuforschen, ob Arthur tatsächlich allein gewesen war oder ob seine Mitstreiter möglicherweise schon von Balian und dessen Männern erschlagen worden waren, so dass es nur so aussah, als sei Arthur ausschließlich von den rebellischen Bauern unterstützt worden. Nein, er wollte jetzt einfach nicht mehr wissen … Und er hielt es nicht für klug, den verschüchterten Arthur für seinen untauglichen Versuch zu bestrafen – schon um des Friedens mit Scharfenburg willen …

„Wir sind gute Nachbarn, Herzog Ludwig. Ich denke, wir müssen in diesem Fall wohl auch nicht annehmen, dass Richard Arthur direkt auf den Bischof gehetzt hat. Sonst hätte er ihm gewiss mehr Männer mitgegeben. Was Richard mit seinem Diener wirklich vorhatte, weshalb er ihn ohne jede Unterstützung in die Fremde schickte, das haben wir hier nicht zu beurteilen. Das sind Dinge, die uns nichts angehen, weil uns die Angelegenheiten fremder Diener und Herren untereinander nichts angehen. Ich erkenne jedoch, Arthur, dass dich keine Schuld trifft. Du hast versucht, deinen Auftrag irgendwie zu erfüllen. Wir müssen hinnehmen, dass es ein erlaubtes Mittel gewesen wäre, den Bischof gefangen zu nehmen und gegen Lösegeld freizulassen. Dass du etwas anderes vorhattest, das können wir dir nicht beweisen. Dass die Schuld gar nicht mehr bestand, das konntest du nicht wissen. Ich, Rudolf von Wengland spreche dich deshalb frei von dem Vorwurf, unseren Bischof überfallen zu haben, um ihn auszurauben oder gar zu ermorden. Du bist frei.“

 

Ein erleichtertes Raunen ging durch die Zuschauer, einzelne Hochrufe wurden laut. Arthur fiel von der Bank auf die Knie, ohne dass seine Wächter ihn dorthin befördert hätten.

„Danke, Majestät! Danke für Eure Milde! Danke, Mylord Roland! Danke, dass Ihr mich am Leben gelassen habt und nachgeforscht habt! Danke!“, stammelte er in ehrlicher Dankbarkeit.

 

Während die Wachen Arthur von den Ketten befreiten, tippte Bischof Bartholomäus den immer noch leichenblassen Richard sanft mit dem Bischofsstab an. Der Markgraf drehte sich um.

„Ja?“

„Bevor ich es vergesse und Ihr mir das nächste Mal ein richtiges Mordkommando entgegensendet: Der Heilige Vater hat entschieden, Richard. Scharfenburg bekommt einen neuen Bischof. Eurer Kirchweih steht wohl nichts mehr im Weg“, sagte er mit hintergründigem Lächeln.

„Und … wer wird es sein?“, fragte der Markgraf.

„Coelestin von Wiesenberg“, grinste Bartholomäus.

 

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Epilog

 

 

Zwei Tage nach der Gerichtsverhandlung, es war der 2. September 1193, brachen die Ibeliner und ihr Zögling zur letzten Etappe ihrer Heimreise nach Saint-Martin-au-Bois auf.

Balian wollte dort endlich Ruhe finden und sein Lehen zum Wohle seiner Untertanen und im Interesse seines Grafen und seines Königs führen.

Weder er noch einer seiner Gefährten ahnte, was dort auf sie zukommen würde …

 

 

Ende

 

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Ende? Nein, das ist noch nicht das wirkliche Ende der Geschichte. Sie geht weiter in

 

Das Erbe Ibelins Teil 3 – Französische Kampfhähne

 

Ich habe mich nach längerer Überlegung dazu entschlossen, dieser Geschichte hier doch ein Ende zu machen; denn das, was sich bei der Konzeptentwicklung alles an Material präsentiert hat, ist eine Geschichte für sich. Freut euch also auf eine weitere Fortsetzung von

Das Erbe Ibelins.

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Testament

 

Ich, Balian von Ibelin, unehelich geborener, doch mit allen Rechten und Pflichten anerkannter Sohn von Godfrey von Ibelin; durch die Gnade des Königs Balduin IV. von Jerusalem Baron von Ibelin; durch die Gnade des Königs Konrad von Jerusalem Herr von Arsuf; durch die Gnade des Königs Henri von Jerusalem Graf von Ibelin; durch die Gnade des Sultans Saladin von Ägypten und Syrien und des Königs Richard von England Herr von Caymon; durch die Gnade des Grafen Thibaud von Blois Vizegraf von Saint-Martin-au-Bois,

erkläre im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und dokumentiert durch meine eigenhändige Unterschrift und mein Siegel, dass dies mein letzter Wille ist, den alle, die hierin bedacht und verpflichtet werden, so zu erfüllen haben, wie ich es hier bestimme.

Ich verlange dies von meinen Erben im Angesicht des Todes, der mich nach einem feigen Angriff von Assassinen ebenso unweigerlich ereilen wird, wie er meinen geliebten Onkel Balian von Ibelin, Barisans Sohn, Herr von Nablus und Samaria, durch denselben Angriff bereits dahingerafft hat.

 

Meine erste Bestimmung ist, dass ich in Frankreich, in Saint-Martin-au-Bois begraben sein will. Daher bedinge ich, dass meine Frau, meine Söhne und meine mir treuen Männer und deren Familien meinen Leichnam im Sarg dorthin begleiten und daselbst bleiben sollen.

 

Mein gesamter persönlicher Besitz, soweit er beweglich ist, geht an meine geliebte Frau Gaëlle. Meinen Siegelring und mein Schwert soll sie an den unserer gemeinsamen Söhne weitergeben, der sich unserem Wahlspruch

nemo vir est qui mundum non reddat meliorem

Was für ein Mann ist ein Mann, der nicht die Welt verbessert?

am würdigsten erwiesen hat, wenn er zum Ritter geschlagen wird.

Meinem Sohn Jean-Raymond vermache ich Château Ibelin, sowie die Dörfer Saint-Martin-au-Bois, Brechignon, Cambery und Monbartier. Den Titel des Vizegrafen von Saint-Martin-au-Bois hinterlasse ich ihm ebenfalls, vorbehaltlich der Bestätigung des Lehnsherrn, des Grafen von Blois.

Meinem Sohn Balian hinterlasse ich die Burg Restignac sowie die Dörfer Restignac, Chaumur und Bonville. Den Titel des Herrn von Restignac hinterlasse ich ihm, sofern der Graf von Blois ihn bestätigt.

Da meine Söhne jetzt noch nicht mündig sind, soll meine geliebte Frau Gaëlle die Ländereien unserer Söhne entsprechend der testamentarischen Verpflichtung im zweiten Teil dieses Testamentes verwalten, bis sie in die Rechte und Pflichten eintreten können

 

Mein Neffe Jean, Sohn des Balian von Ibelin und der Maria von Ibelin, Enkel des Barisan von Ibelin, erhält Caymon mit allen dazugehörenden Ländereien, Rechten und Pflichten. Den Titel des Herrn von Caymon soll er ebenfalls erhalten, sofern der König von Jerusalem diesen Titel bestätigt.

Mein Neffe Philippe, Sohn des Balian von Ibelin und der Maria von Ibelin, erhält Arsuf, verbunden mit allen Rechten und Pflichten. Den Titel des Herrn von Arsuf soll er ebenfalls erhalten, wenn der König von Jerusalem einverstanden ist.

Da auch Jean und Philippe jetzt noch unmündig sind, soll Maria von Ibelin, Witwe meines von Assassinen ermordeten Onkels Balian von Ibelin, Barisans Sohn, die Ländereien bis zu deren Mündigkeit nach der testamentarischen Erbenverpflichtung verwalten.

 

Meinem Freund Imad ad-Din, treuer Diener des großen Sultans Saladin, hinterlasse ich mein Stadthaus in Jerusalem. Die von Saladin geregelte Tributleistung, nach der Imad mir zehn Prozent der Erträge des ihm übertragenen Lehens Ibelin schuldete, erlasse ich ihm für die Zukunft.

Unter den Imad ad-Din von Salahadin übertragenen Rechten war nicht der Titel des Barons von Ibelin, den König Henri von Jerusalem in seiner Güte zum Grafen besserte. Es war Saladins ausdrücklicher Wunsch, dass ich diesen Titel behalten sollte, obwohl ich nach dem Fall Jerusalems im Jahre des Herrn 1187 das Heilige Land wie alle anderen christlichen Überlebenden des Kampfes um Jerusalem verlassen musste. Deshalb beanspruche ich den Titel des Grafen von Ibelin, mindestens des Barons von Ibelin weiterhin für den nach Frankreich zurückkehrenden Teil meiner Familie. Er soll als formaler Titel weitergeführt werden und meinem Haus weiterhin den Namen geben. Ich kann es meiner geliebten Gemahlin Gaëlle nicht antun, dass sie den Namen des verräterischen Hugo du Puiset als Witwennamen annehmen müsste.

Welcher von meinen Söhnen Titulargraf oder Titularbaron von Ibelin wird, wenn er mündig wird, überlasse ich vertrauensvoll der Entscheidung meiner geliebten Frau Gaëlle.

 

Es war mir eine Ehre, Imad ad-Din gekannt zu haben und ihn Freund genannt haben zu dürfen. Imad möge jedem als leuchtendes Beispiel dafür dienen, dass Menschen auch dann Freunde sein können, wenn sie unterschiedlichen Glaubens sind, unterschiedlichen Herren und Interessen dienen.

Imad, ich weiß, dass der Islam vom besten Freund eines Ermordeten erwartet, dass der Freund den Ermordeten rächt. Ich will nicht, dass du dies tust. Rache macht mich nicht wieder lebendig. Der, der die Assassinen dazu brachte, Onkel und mich zu ermorden, ist zu mächtig und zu gut geschützt, als dass du auch Gelegenheit dazu haben könntest. Allah kann diese Tat nicht gutheißen. Überlasse es ihm, was er mit dem tun will, dem Onkel Balian und ich im Weg standen. Kümmere dich um die muslimischen Einwohner Ibelins, die dem von al-Efdal angeordneten Massaker entgangen sind. Wohin du auch gehen wirst, nimm sie mit und beschütze sie, wie sie auch dich beschützen sollen.

 

Meine Söhne Jean-Raymond und Balian sowie meine Neffen Jean und Philippe verpflichte ich testamentarisch, sich stets gegenseitig zu schützen und sich gegenseitig zu helfen.

Ihr seid Brüder. Liebt einander und seid füreinander da. Öffnet eure Herzen und eure Tore denen, die weniger Glück im Leben hatten. Lasst eure Bauern in Ruhe ihre Felder bestellen. Beschützt sie, tut kein Unrecht, weder an ihnen noch an anderen. Bescheidet euch mit einem wahren Zehnt und verlangt keine festen Abgaben, denn so wie die Bauern nicht jedes Jahr gleich viel ernten können, kann deren Grundherr auch nicht in jedem Jahr gleich viel erwarten. Wirtschaftet verständig und zum Wohle eurer Untertanen, die euch durch ihre Abgaben ernähren. Lasst ihnen ihren Glauben und sie werden es euch auf Erden und im Himmel danken. Lernt von ihnen, was ihr könnt. Bereichert die Welt, verbessert sie.

 

Meine geliebte Gemahlin Gaëlle und meiner verehrte und geliebte Tante Maria von Ibelin verpflichte ich testamentarisch, dafür Sorge zu tragen, dass Jean-Raymond, Balian, Jean und Philippe wahre Ibelins werden, die es verdienen, diesen Namen zu tragen. Sie sollen zu Rittern erzogen werden, die den Rittereid ebenso halten, wie ich es getan habe. Möge Gott mir vergeben, wenn ich es einmal nicht getan habe. Er möge mir auch vergeben, dass ich es tat, als es besser gewesen wäre, im Interesse sehr vieler Menschen ein kleines Übel zu tun, um etwas sehr viel Besseres zu bewirken.

Du hattest Recht, Gaëlle, ich habe es bereut – nicht nur einmal. 

 

An Martin von Wengland, meinen lieben Neffen: Es war mir eine Ehre, bis jetzt einer deiner Erzieher zu sein. Wenn dein Vater es erlaubt, bleibe bei Gaëlle und setze deine Ausbildung bei ihr in Saint-Martin-au-Bois fort.

Gaëlle, ich verpflichte dich testamentarisch, Martin bei dir zu behalten und weiterhin so zu erziehen, wie wir es gemeinsam gemacht haben. Ich verpflichte dich ferner, unsere Männer zu behalten und sie als treue Soldaten zu behandeln. Teile von meinem beweglichen Besitz die Hälfte unter ihnen auf und bedenke dabei insbesondere Almaric und Michel.  

 

Eure Seelen gehören euch allein. Wenn ihr eines Tages vor Gott steht, könnt ihr euch nicht damit herausreden, euer Tun sei euch befohlen worden. Das wird nicht genügen.

Diese Worte richtete König Balduin IV. von Jerusalem an mich, als er mich als Baron von Ibelin bestätigte. Behaltet diese Worte in euren Herzen, wie auch ich sie in meinem behalten habe, und richtet euch danach.

 

Gott schütze und behüte euch.

 

Balian von Ibelin

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Glossar

 

  1. Oktober 1192: Die Quellen über Richards Aufbruch von Palästina sind unterschiedlich. Es werden Daten zwischen September und Oktober 1192 genannt. Der 9. Oktober 1192 wird von Hans Eberhard Mayer in „Die Geschichte der Kreuzzüge“ genannt. Laut Wikipedia soll es der 30. Oktober 1192 gewesen sein, doch fehlt eine konkrete Quelle für dieses Datum. Ich verwende daher das von Mayer genannte Datum.

Alivoni: alter Name des Ortes Olivone am Fuß des Lukmanierpasses.

Atabeg: Statthalter des Sultans in einer islamischen Provinz

Ballei: Ordensprovinz eines Ritterordens

Barzin: Im Arabischen wird eine Familie meist nach dem Stammvater genannt. Der Stammvater der Familie Ibelin war Barisan der Alte. Barisan schliff sich unter den europäischen Kreuzrittern relativ schnell zu Balian ab, aber die Sarazenen, die Barisan von Anfang an Barzin genannt hatten, blieben bei dieser Bezeichnung. Konsequenterweise wurden die männlichen Ibelins von den Sarazenen deshalb ibn Barzin, genannt, also Barisans Sohn.

Besant: Goldmünze aus Byzanz (auch Byzantiner genannt). Im Vorderen Orient bis 1453 das hauptsächlich genutzte Zahlungsmittel. 1 Besant enthielt ca. 4 g Feingold und ca. 0,5 g andere Metalle. Demnach wäre 1 Besant nach dem gegenwärtigen Goldkurs (15. Oktober 2013) rd. 120 € wert.

Birizona: alter Name von Bellinzona

Bruche: mittelalterliche Version der Unterhose

Fuder: altes Maß für Flüssigkeiten, in der Regel für Wein verwendet, zwischen 800 und 1840 Liter. Das scharfenburgisch-wenglische Fuder wird ausschließlich für Wein verwendet und entspricht 840 Litern des metrischen Systems. Die nächstkleinere Einheit ist der Saum, der der Tragfähigkeit eines Pferdes entspricht. Pferde können etwa 136 kg tragen, was rd. 120 l Wein plus Leergewicht der Fässer und des Traggestells entspricht. Diese Traglast wird in 2 Fass aufgeteilt, die jedes Pferd aufgelegt bekommt, je Fass also 60 l. Das Fass ergibt – ordentlich ausgeschenkt – 60 Maß oder 240 Viertel, die im Prinzip ihren metrischen Äquivalenten 1 bzw. ¼ l gleichen.

Fuß: altes Längenmaß, ca. 30 cm

Grieswärtel: adliger Turnierteilnehmer, der am aktuellen Kampf nicht beteiligt ist und Gestürzte vor weiteren Attacken des Gegners schützt. Dazu hat der Grieswärtel einen massiven Knüppel, der als Abwehrwaffe dient.

Inschallah: arab. Frei übersetzt: Wenn Gott will … Wer dies ausspricht, empfiehlt sich in der arabischen Form in Gottes Hand.

Kirchsprengel: alte Bezeichnung für Diözese bzw. Bistum

Klafter: altes Längenmaß, ca. 1,80 m.

Knoten: seemännische Maßeinheit für die Geschwindigkeit eines Schiffes. 1 kn = 1,852 km/h

Komtur: In den geistlichen Ritterorden der Chef einer Komturei, einer unteren Verwaltungseinheit einer Ordensprovinz. Der Komtur war für die Verwaltung der Ordensgüter zuständig.

Lemesos: alter Name von Limassol

Lichtmess: Mariä Lichtmess am 2. Februar. Kirchlich betrachtet, endet an diesem Tag die Weihnachtszeit. Traditionell werden an diesem Tag (jedenfalls in der katholischen Kirche) auch die Kerzen für das ganze Jahr geweiht. Im Mittelalter gehörte dieser Tag zu den Eckdaten im Kalenderjahr. Das Bauernjahr begann, das Gesinde bekam etwa noch ausstehenden Lohn ausbezahlt, Stellen konnten gewechselt werden, die ersten Felder konnten schon wieder bearbeitet werden.

Meile: Bei Strecken auf See verwende ich in der Regel die Seemeile als Maßeinheit. 1 sm = 1,852 km. Es scheint aber so zu sein, dass es im 12. Jh., diesen Begriff noch nicht gab, weil er auf der englischen Seemeile beruht, die erst mit dem Aufstieg Englands zur Seemacht eingeführt wurde. Da das erst im 16. Jh. war, gehe ich davon aus, dass der Begriff Seemeile im 12. Jh. noch nicht existierte.

Ich verwende deshalb hier die englische Landmeile, die es im 12. Jh. definitiv schon als Maßeinheit gab. 1 Meile =1,6 Kilometer.

Outremer: (frz. = Übersee) unter den Christen des Heiligen Landes weitere gebräuchliche Bezeichnung für Palästina.

Persevant: Gehilfe eines Herolds als Unterherold und selbst Anwärter auf das Heroldsamt.

pullen: seemännischer Ausdruck für das, was unseemännisch „rudern“ genannt wird.

Ramadan: der heilige Fastenmonat der Muslime, in dem der an seinem Ort anwesende Muslim von der Morgendämmerung bis zur Nacht weder essen noch trinken darf. Wegen der Zeitverschiebung im islamischen Mondkalender verschiebt sich der Beginn pro Jahr  um 11 Tage nach vorn, in Schaltjahren um 12 Tage. Islamische Monate beginnen mit der Sichtung der ersten Mondsichel nach Neumond, also am Tag nach Neumond. Ich habe für die Geschichte „Weihnachten im Heiligen Land“ für das Jahr 1185 den 25. November als Beginn des Ramadan ermitteln können. 1193 ist es nach diesen Regeln dann der 29. August gewesen, der Beginn des Festes des Fastenbrechens – das höchste Fest des Islam überhaupt – das zwei bis vier Tage dauert, wäre dann der 28. September gewesen.

Reisige: Berittene, nichtadlige Kriegsknechte

Riemen: Rundholz, an dessen einem Ende ein hölzernes Blatt ist, zum Fortbewegen eines Schiffes oder Bootes. Unseemännisch „Ruder“ genannt.

Sergeant: Mit dem Dienstgrad des Unteroffiziers in Frankreich oder England nicht identisch. Es handelt sich vielmehr um eine im Mittelalter übliche Bezeichnung für einen berittenen, aber nichtadligen Kriegsknecht.

Shadiq: arab. Freund

Sheitan: arab. Teufel

Sure: 9. Sure, 129. Vers zitiert aus: www.chj.de/Koran/Einzelsuren/Arab_Koran_Surenwahl.html. Hinweis gefunden in PM History 02/2013, Seite 23

Testament: das Testament gibt es auch in vollem Wortlaut. Sollten sich Interessenten finden, will ich es gerne als ergänzendes Kapitel nach dem Glossar einstellen. Entscheidet euch, bevor ich diese Geschichte eines Tages als fertig melde. 

Vogesen und Pfälzer Wald sind morphologisch nicht getrennt, bilden also ein einziges Gebirge, ähnlich wie der Bayerische Wald und der Böhmerwald. Für Franzosen wie Balian ist es deshalb kein Widerspruch, auch den östlichen, am Rhein gelegenen Teil dieses Gebirges als Vogesen zu bezeichnen. 

 

 

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