Inhalt
Wenn du lange Vorreden nicht ausstehen kannst, dann gehst du am besten gleich weiter zum Prolog. Sonst erwarten dich gute acht Seiten Vorwort …
Vorwort
Eines vorweg: Terence Hill ist an allem schuld!
Und dafür bin ich ihm vierzig Jahre, nachdem er mich zum Schreiben verführt hat, immer noch überaus dankbar.
Er ist schuld, dass ich mich so frühzeitig für Cowboys, Soldaten und den Amerikanischen Bürgerkrieg interessiert habe, dass ich meine Umgebung damit entsetzlich genervt habe, weil es die erforderlichen Informationen in Deutschland einfach nicht gab.
Er ist schuld, dass ich irgendwann so viele Geschichten im Kopf hatte, dass sie einfach auf das Papier wollten – und jemanden zum Dauerschreiber machten, der es in den ersten Schuljahren als schreckliche Anstrengung empfand, eine ganze Zeile vollzuschreiben … Irgendwann habe ich aufgehört, die Seiten zu zählen, die ich in den letzten vierzig Jahren vollgeschrieben habe; es sind eine ganze Menge, das darf mir der geneigte Leser gern glauben.
Die meisten meiner Leser kennen mich als bekennenden Fan von Orlando Bloom. Meine anderen Geschichten, die in diesem Verlag erschienen sind, haben auch eine Hauptperson, die entweder direkt auf einer Rolle basiert, die Orlando Bloom gespielt hat – wie Will Turner oder Balian von Ibelin – oder jedenfalls von ihm gespielt werden könnte (ähem – und sollte), wenn sich ein Filmproduzent fände, der den Stoff gern verfilmen würde.
Das war nicht immer so, schließlich ist Orlando Bloom erst seit zehn Jahren auf der großen Leinwand aktiv. Bevor er mir in Gestalt von Will Turner und Balian von Ibelin von der Leinwand direkt ins Herz sprang und meine schreiberische Tätigkeit von da an mehr als nur beflügelte, hatte ich eher Mr. Blauauge himself, Terence Hill, bürgerlich Mario Girotti, als passablen Darsteller meiner Hauptfiguren betrachtet. Zu der Zeit, als ich meine ersten Fanfictions schrieb (den Begriff kannte man vor vierzig Jahren noch nicht, aber heute würde man diese Geschichten so nennen), war Orlandos Mutter Sonia noch ein junges Mädchen und ihre Kinder Samantha und Orlando noch nicht einmal Gedanken.
Terence Hill könnte den Älteren unter uns vielleicht noch aus den Karl-May-Verfilmungen der Sechzigerjahre bekannt sein – allerdings unter seinem bürgerlichen Namen Mario Girotti. Unter diesem Namen spielte er 1964 in „Winnetou II“ den Leutnant Robert Merril. Ich war gerade fünf Jahre alt, als ich das Filmbuch zu diesem Film geschenkt bekam, um zu verhindern, dass ich das Filmbuch zu „Winnetou I“, das meiner großen Schwester gehörte, noch weiter zerfledderte. Und dieser Leutnant Merril, den der Rest des Publikums mit größter Wahrscheinlichkeit wie die Pest gehasst hat, weil er Winnetou die Frau wegschnappte, der hatte es mir angetan. Wie sehr, war mir zunächst noch nicht ganz klar (Kunststück – mit fünf Jahren!). Erst, als es Anfang der Siebzigerjahre eine Comic-Serie über einen Leutnant Blueberry gab (gezeichnet vom französischen Zeichner Jean Giraud, der sich für äußere Form dieser Figur völlig offensichtlich vom jungen Jean-Paul Belmondo inspirieren ließ), kam mir die Idee, die Geschichten, die in meinem Kopf kreisten, ebenfalls mit der Vorstellung bestimmter Schauspieler durch die Feder aufs Papier zu lassen. Dabei ist es bis heute geblieben, wobei die Vorstellung zugegebenermaßen wechseln kann. Die Leute werden schließlich älter.
Zwischenzeitlich hatte Terence Hill sich auf den Kinoleinwänden etabliert, Anfang der Siebzigerjahre in den als „Spaghetti-Western“ bekannt gewordenen Filmkomödien „Die rechte und die linke Hand des Teufels“ und „Vier Fäuste für ein Halleluja“, später dann in Filmen, die mehr oder weniger in der Gegenwart spielten, wie „Zwei Himmelhunde auf dem Weg zur Hölle“, „Zwei wie Pech und Schwefel“, „Zwei Missionare“ und sehr vielen mehr.
Viele von diesen wirklich klamaukigen Filmen sind längst nicht so seicht, wie es scheint. Wenn man ein wenig an der Dreschflegel-Klamauk-Oberfläche kratzt, kann man sehr schnell feststellen, dass in den meisten Fällen auch real vorhandene Probleme angegangen werden, denen sich die Hauptfiguren in den Weg stellen. Rassismus, Profitgier, falsch verstandener Missionseifer, Tierschutz – alles durchaus Themen, die nicht nur angerissen werden.
In der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre wurden auch ältere Filme wiederaufgeführt, in denen Terence Hill – zum Teil noch unter seinem bürgerlichen Namen – eine der zentralen Nebenrollen oder gar eine der Hauptrollen spielte. Auf diese Weise hatte ich die Gelegenheit, mir innerhalb weniger Jahre praktisch alle Filme anzusehen, in denen Terence Hill bis dahin mitgewirkt hatte. Er wurde mir ähnlich vertraut, wie es heute Orlando Bloom ist.
Ich nehme an, dass die meisten von euch den Namen Terence Hill wahrscheinlich mit den witzigen „Spaghetti-Western“ und Prügel-Klamauk-Filmen aus den Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts in Verbindung bringen. Ist richtig, aber der Mann kann auch anders …
Die folgende Geschichte ist ein Buch zum Film, der noch aus den Anfängen seiner Karriere unter dem Künstlernamen Terence Hill stammt. Er nahm diesen Namen 1967 an, als die italienische Filmindustrie auf englische Namen ihrer Darsteller setzte und sich zum Teil auch die Leute hinter der Kamera englische Künstlernamen zulegten.
Zur damaligen Zeit wurden unter italienischer Regie (Drehort war meist Spanien) zahlreiche Western gedreht. Hollywood hatte sich vom Western verabschiedet und überließ dieses Terrain den italienischen Regisseuren, die den Western in einer Art wiederbelebten, von denen Hollywood noch nicht einmal geträumt hatte.
Man unterscheidet bei italienischen Western zwischen den witzigen „Spaghetti-Western“ und den harten „Italo-Western“. Die bekanntesten Beispiele für letztere sind wohl „Django“ aus dem Jahr 1966, der für Franco Nero in der Titelrolle den Durchbruch bedeutete, und „Spiel mir das Lied vom Tod“ aus dem Jahr 1968 von Sergio Leone mit Henry Fonda in einer seiner beiden einzigen Schurken-Rollen.
Franco Nero hatte nach drei Filmen dieser Art augenscheinlich Sorge, man würde ihn auf die Rolle des Django reduzieren und hatte vom Italo-Western einstweilen genug. Man suchte einen Ersatz, der ihm ähnlich sah und fand ihn in Mario Girotti, der den Namen Terence Hill annahm und in „Dio perdona … Io no!“ (Gott vergibt … ich nicht! – deutscher Verleihtitel „Gott vergibt … Django nie!“) erstmals in einem Italo-Western spielte. Der Rollenname war in diesem Film wie in zwei weiteren jedoch nicht Django, sondern Cat Stevens. Den Django hat Terence Hill tatsächlich nur ein Mal gespielt, in „Preparata la bara!“ (Übersetzt etwa „Macht den Sarg fertig!“ – deutscher Verleihtitel „Django und die Bande der Gehenkten“) aber die anderen vier Filme, die mit seiner Beteiligung nach Italo-Western-Art gedreht waren, wurden bei der Wiederaufführung Mitte der Siebzigerjahre als „Django-Filme“ verkauft.
Terence Hill hatte zu diesem Zeitpunkt noch unter seinem bürgerlichen Namen zwei Komödien mit Rita Pavone als Partnerin gedreht und bewiesen, dass er auch ein Spaßvogel sein konnte. Auch er wollte sich letztlich nicht auf den eiskalten, nahezu emotionslosen Revolverhelden festnageln lassen, sondern seine Schauspielkunst sowohl in ernsten als auch in lustigen Rollen präsentieren.
„Gott vergibt … Django nie!“ (später „Gott vergibt … wir beide nie!“ und mit neuer Synchronisation erneut umgetitelt in „Zwei vom Affen gebissen“), der erste der Film der Reihe mit Terence Hill und Bud Spencer in den Hauptrollen, war in der Tat ein reiner Italo-Western knochenharter Prägung. Der Nachfolgefilm „Vier für ein Ave Maria“ enthielt schon reichlich humorige Anflüge, bei denen allerdings hauptsächlich Co-Star Eli Wallach in einer ähnlichen Rolle wie in „Zwei glorreiche Halunken“ (mit Lee van Cleef und Clint Eastwood als Partner) die Lacher auf seiner Seite hatte, während Hill den wortkargen Revolvermann gab und Spencer den ebenso bärenstarken wie gutmütigen Kraftprotz, dessen Gedanken nicht ganz so fix sind wie seine Faust. Die lockeren Sprüche, die diesen Film prägen (die im italienischen Original übrigens auch vorhanden sind und nicht allein der deutschen Synchronisation zuzuschreiben sind), wiesen schon den Weg zum Spaßwestern.
Der dritte Film dieser Reihe, „La collina degli stivali“, deutscher Verleihtitel „Hügel der blutigen Stiefel“, erscheint vordergründig noch einmal als Rückschritt zum Italo-Western, markiert aber gleichwohl – sehr vorsichtig – den Übergang zu den Spaghetti-Western, auch wenn Terence Hill in „La collera del vento“ aus dem Jahr 1970, übersetzt etwa „Der Zorn des Windes“ – deutscher Verleihtitel „Der Teufel kennt kein Halleluja“, noch einmal den eiskalten Killer der Kategorie Django gab; einen Killer mit Gewissen, der sich schließlich auf die Seite derer stellt, die er eigentlich bekämpfen soll und dafür mit dem Leben bezahlt.
Spaghetti-Western kommen trotz massivster Prügeleien ohne Blut und Tote aus. In Italo-Western fließt das Blut literweise, die Toten stapeln sich. Das ist in „Hügel der blutigen Stiefel“ nicht anders, dennoch ist hier ein hintergründiger Humor unübersehbar, den die Akteure auch für die Handlung nutzen.
Wenn es um Italo-Western geht, ist „Hügel der blutigen Stiefel“ mein liebster. Erstens, weil ich den Hauptdarsteller seit 1965 sehr schätze (daran ändert meine Zuneigung zu Orlando nichts. Er könnte Terrys Enkel sein …) und zweitens, weil mir verwundbare Helden lieber sind als die, die in der größten Katastrophe ohne jede Schramme davonkommen.
Cat Stevens ist einer von denen, die bei aller eigenen Revolverkunst auch mal was abbekommen – auch wenn er nicht gern auf die Hilfe anderer angewiesen ist.
Die Dialoge, die ich verwende, stammen zum größten Teil aus der Originalsynchronisation von 1970, die heute leider nicht mehr zugänglich ist. Ebenso stammen die Namen der Charaktere aus dieser Originalsynchronisation, die bei den späteren Synchronisationen teilweise geändert wurden. Ich habe den Film in den Jahren 1977 und 1978 so oft gesehen, dass ich den Text damals auswendig mitsprechen konnte. Ich kannte ihn so gut, dass ich ihn sogar auf Italienisch problemlos verstanden habe (damals hatte ich sehr intensiven Italienischunterricht, bedingt durch eine Reise nach Rom – unabhängig von meinem Fansein bezüglich Terence Hill, der zu der Zeit bereits seit vier Jahren in den USA lebte).
„Hügel der blutigen Stiefel“ ist mein erstes eigenes Filmbuch, dessen erste Fassung aus dem Jahr 1978 (!) stammt. Die kann ich euch erzähltextlich allerdings überhaupt nicht zumuten … Das ist einfach nur schrecklich.
Als ich kurz vor Weihnachten 2011 die DVD bekam, habe ich noch einige Szenen gefunden, die mir seinerzeit entweder durch das Gedächtnissieb gerauscht sind, weil sie für mich irgendwie nicht interessant genug waren (es sind Szenen ohne Terence Hill …), oder die möglicherweise wirklich nicht im Film waren, weil sie herausgeschnitten waren. Für diese Szenen habe ich die Synchronisation der DVD-Fassung verwendet.
An die, die den Film kennen: Die Szene im Kapitel 1, die mit ♦ am Anfang und am Ende mit ♠ bezeichnet ist, existiert nicht. Cat erzählt später, weshalb er am Anfang des Films durch die Straßen gejagt wird. Ich bin kein Freund der literarischen Kategorie „Kurzgeschichte“, die ohne Einleitung mitten in der Handlung beginnt und den Leser erst einmal ratlos weiterlesen lässt, in der Hoffnung, dass irgendwann eine Aufklärung der Gründe für bestimmte Szenarien folgen wird – ganz abgesehen davon, dass diese Geschichte sicher nicht als Kurzgeschichte im literarischen Sinn zu bezeichnen ist.
Es mag ja sein, dass Drehbuchautor und/oder Regisseur den Zuschauer bewusst im Unklaren lassen wollten, ob die Guten den Bösen jagen oder die Bösen den Guten … Mir erschien es einfach zu wichtig, dem Leser den Grund für die Hetzjagd am Anfang des Filmes mitzugeben und ihn nicht so ratlos zu lassen, wie ich selbst beim ersten Ansehen dieses Films seinerzeit im Kino dagesessen habe und mich gefragt habe, weshalb, zum Teufel, ein Haufen Leute einen Einzelnen durch die Straßen jagt.
Nun ist aber auch gut mit der Vorrede. Ich wünsche euch viel Lesefreude und spannende Unterhaltung beim Filmbuch zu
Hügel der blutigen Stiefel.
Herzlichst
Euer Gundolf
Prolog
Kingstonville, Arizona-Territorium, im Sommer 1870. Es war einfach heiß. In den längst vertrockneten schroffen Felsen im nordwestlichen Bereich des Arizona-Territoriums und dem südöstlichen Nevada war mit Farmwirtschaft oder Viehranches kein Geld zu verdienen. Dafür bot die ausgedörrte, von der Erosion durch Wind und Wasser, den steten Wechsel von brütender Tageshitze und klirrender Nachtkälte abgeschliffene Erdoberfläche im amerikanischen Westen jene Schätze, hinter denen schon die spanischen Konquistadoren her gewesen waren, als sie die Neue Welt erobert hatten: Silber und Gold.
Silber und Gold lockten nicht nur die fleißigen Digger an, die Goldgräber und Prospektoren, sondern auch die, die von der harten Arbeit der Schürfer profitieren wollten: Händler, die Werkzeuge, Waffen und Lebensmittel verkauften; Schankwirte, die Saloons betrieben; Zuhälter, die herdenweise Mädchen für sich arbeiten ließen; Bankiers, die das mühsam ausgegrabene Gold gegen Papiergeld oder Silberdollars tauschten.
Es gab jene Spezies, die sich die Mühen der Schürfer zunutze machen wollten, ohne selbst Hacke, Schaufel und Sieb in die empfindsamen Hände zu nehmen: Berufsspieler, die – mal ehrlich, mal mit faulen Tricks – den Diggern das Geld abknöpften; es gab profitgierige Organisationstalente, die man ein Jahrhundert später Manager nennen würde – oder auch Heuschrecken …
Und es gab jene Spezies, die den Organisationstalenten die nötigen Argumente in Form von Bleikugeln lieferten: Revolvermänner.
Es gab Revolverhelden und es gab Revolverherden, Einzelkämpfer oder Anführer ganzer Armeen von Bewaffneten.
Zur Kategorie der Revolverhelden und Einzelkämpfer war Cat Stevens zu zählen, ein wortkarger Mann, der im Krieg gelernt hatte, dass man besser nicht danebenschoss, wenn einem das Leben lieb war. Cat war etwa dreißig Jahre alt, ein schlanker, sechs Fuß großer Mann mit dunkelblondem, leicht krausem Haar und Augen, die so makellos blau waren wie Gletschereis. Seine markanten Gesichtszüge wurden durch einen kurzen, dunklen Stoppelbart unterstrichen, der eher die Folge seltener Gelegenheit zur Rasur war, als dass sein Träger mit ihm vorsätzlich Kinn und Wangen verzierte. Seine Kleidung war in der Regel ebenso einfach wie unauffällig und glich durch langen Gebrauch farblich der Gegend, in der er sich aufhielt. Auffällig waren – abgesehen von den angeborenen eisblauen Augen – nur zwei Dinge, für die er sich bewusst entschieden hatte: Erstens ein hüftlanger Umhang mit Pelzkragen, der den tiefgeschnallten Waffengürtel mit dem sorgfältig gepflegten langläufigen Colt verdeckte und zweitens ein ursprünglich weißer Hut mit niedriger Krone und einem einfachen Hutband aus schwarzem Leder. An den Füßen trug er kurze Cowboystiefel mit Radsporen.
Sein Gegenstück war Al Finch, der eine ganze Horde von schießwütigen Pistoleros kommandierte. Er war ungefähr im gleichen Alter wie Stevens, hatte eine sehr ähnliche Figur und Größe. Sein Haar war schwarz, ebenso der gepflegte Bart, der Wangen und Kinn sorgfältig gestutzt umrahmte. Seine Augen waren ebenso dunkel wie seine Gedanken. Als Kleidung bevorzugte er – abgesehen vom meist weißen Oberhemd – einen schwarzen Anzug mit passender Weste, zu denen er die im amerikanischen Westen üblichen Halbstiefel mit Radsporen trug. Auch er hatte den Umgang mit seinem Handwerkszeug, dem Revolver, im Krieg gelernt. Sein Waffengürtel war gleichfalls schwarz, der langläufige Colt-Revolver ebenso liebevoll gepflegt wie der von Cat Stevens.
Die Truppe, die Al Finch befehligte, war offiziell eine Art Sicherheitsdienst der Minengesellschaft von Kingstonville, der Union Mining Company. Die Digger von Kingstonville, die gar zu oft unliebsame Bekanntschaft mit Finchs Leuten machten, neigten dazu, sie weniger offiziell Banditen, Gangster oder auch Henker zu nennen.
Honey Fisher, der Mayor von Kingstonville, der Bürgermeister, gehörte zur Kategorie der Organisationstalente, die durch ihre mehr oder weniger legalen Geschäfte reich geworden waren, aber mit diesem Reichtum noch immer nicht zufrieden waren und deshalb die Schürfer wie die Zitronen ausquetschten oder ihnen gleich die Claims abluchsten und sie zu rechtlosen Lohnschürfern degradierten. Sein Reichtum spiegelte sich sowohl in der Wahl seiner farblich ebenso eleganten wie aus edlen Stoffen bestehenden Kleidung, als auch in seinem Ringschmuck – und in seinem Leibesumfang, der für den großzügigen Verzehr gehaltvoller Nahrung sprach.
Und dann gab es noch die Sorte, die von den Mühen der Digger profitieren wollten, indem sie ihnen Abwechslung und Unterhaltung boten: Artisten, Clowns, Tänzerinnen, Musiker.
Und manchmal trafen alle diese Leute aufeinander …
♠ ♠ ♠
Kapitel 1
Glücksspiel
Die Nacht senkte sich über die kleine Goldgräberstadt Kingstonville. Die Schürfer hatten ihre harte Arbeit eingestellt und wollten sich jetzt amüsieren. Im Saloon von Kingstonville wurde in einem Raum getanzt. In Ermangelung weiblicher Bewohnerinnen waren die Männer genötigt, mit Männern zu tanzen. Zwei Pianisten spielten vierhändig Musik, die keinen der Schürfer im Raum stillsitzen ließ. Erlernte Tanzschritte waren es nicht, mit denen die Digger durch den Raum hüpften, aber es machte ihnen offensichtlich Spaß und verdrängte für ein paar Stunden den Gedanken an die knochenharte Arbeit in den Minen.
In einem anderen Raum wurde gespielt – mit Karten, mit Würfeln, aber definitiv um viel Geld, wie die dicken Packen Banknoten bewiesen, die den Besitzer wechselten. Einer der Schürfer warf einen prall gefüllten Beutel aus gewachstem Leinen auf den Tisch, lang und breit wie eine Damenhand, dessen satter Aufprall auf dem Geldhaufen in der Mitte schweren Inhalt versprach. Der an seiner eleganten Kleidung leicht identifizierbare Berufsspieler gegenüber sah in seine Karten. Den Inhalt des Säckchens bewertete der Spieler mit etwas weniger als siebzig Dollar. Indem er siebzig Dollar in Form von Zehn-Dollar-Scheinen auf den Haufen in der Mitte warf, forderte er den Digger ohne Worte auf, entweder weiter zu erhöhen oder sein Blatt zu zeigen. Der Goldgräber akzeptierte ebenso schweigend den Wert und deckte seine Karten auf. Drei Asse, Kreuz König und Herz Sechs lagen auf dem Tisch. Ein gutes Blatt und durchaus geeignet, den Pott in der Mitte einzusacken.
Der Spieler gegenüber deckte ebenfalls auf. Sein Blatt war ein Straight Flush, eine Straße, alle fünf Karten direkt aufeinanderfolgend und in der gleichen Farbe, in diesem Fall eine Straße von der Herz Acht bis zum Herz Buben. Dem Schürfer wich das Blut aus dem Gesicht, als ihm klar wurde, dass er eben gerade seine Einkünfte der letzten Woche, wenn nicht mehr, verspielt hatte. Wütend schlug er auf den Tisch, dass das noch halbvolle Whiskyglas umkippte und sich der Inhalt über den Tisch ergoss. Er stand auf und verschwand in der Menge. Der Spieler raffte den Pott zu sich, öffnete den Sack und streute den Inhalt in seine Hand – es war purer Goldstaub, vermutlich sehr viel mehr wert als die siebzig Dollar, die er zuletzt gesetzt hatte.
♦In einer anderen Ecke des Saloons hatte Cat Stevens ebenfalls sein Spiel gewonnen. Sein Lohn war neben einigen Dollarscheinen auch ein weiteres Stück Papier, die Konzession für eine Goldmine. Der, der die Konzession gerade an ihn verloren hatte, schien einem schweigenden Beobachter etwas zu erleichtert. Für jemanden, der gerade seine Einnahmequelle verloren hatte, machte der Schürfer Sharp einen viel zu zufriedenen Eindruck. Die Mine warf etwas ab. So etwas verspielte man nicht, ohne den halben Saloon zu zerlegen – oder sein Gegenüber wenigstens des Falschspiels zu bezichtigen. Für den schweigsamen Beobachter genügte jedoch ein Blick auf das Revolverhalfter des Gewinners, um zu wissen, weshalb Sharp auf die zweite Möglichkeit verzichtet hatte. Der Mann sah einfach gefährlich aus … Er sah sich um, sein Blick traf Al Finch, der den glücklichen Gewinner von Sharps Mine eingehend betrachtete. Der Mann war so unauffällig, dass es schon wieder auffällig war. Finch nickte nur. Seine Truppe war groß genug, um mit einem Einzelnen fertig zu werden, egal wie gut er ziehen und schießen konnte.
Cat stand auf, warf sich den Umhang über, verstaute seinen Gewinn in der Hemdtasche, nahm seine Satteltaschen und ging zur Hintertür des Saloons.♠
Nicht weit entfernt, kurz vor dem Stadtrand, hatte ein Wanderzirkus sein Zelt aufgeschlagen. Die Abendvorstellung lief – und zur Freude der Digger gehörte zu diesem Zirkus auch eine Tanztruppe schöner junger Frauen, die zur Musik von Jacques Offenbach einen Can-Can tanzten, der sich gewaschen hatte. Johlend begleiteten die ausgehungerten Männer die durchaus frivole Vorstellung der Damenriege, die zum Finale ansetzte, in dem sie allesamt in den Spagat sprangen. Die Männer tobten. Einer schwang ein Lasso und fing sich eine der Schönen ein, um nicht nur zuzuschauen, sondern anzupacken. Die Damen waren jedoch resolut, wie die einsamen Goldgräber umgehend zu spüren bekamen. Sie verteilten Backpfeifen und Ohrfeigen, dass es nur so klatschte.
Zirkusdirektor Bimbo trat hinaus.
„Aufgemerkt, Ladies und Gentlemänner! Jetzt kommt die weltberühmteste Attraktion! Die fliegenden Männer!“, kündigte er mit großer Geste hinauf in die Kuppel des Zeltes an, wo sich die Trapezartistentruppe für ihren Auftritt bereit machte. Die Truppe bestand aus vier Männern: Dem dunkelhäutigen Fänger Thomas, den Brüdern Jackie und Frankie sowie dem jungen Schwarzen Joe. Das ausschließlich männliche Publikum maulte lauthals:
„Pfuuuiii! Männer! Was soll’n wir mit Männern?“
„Wir wollen die Weiber zurück!“
„Weiber her!“
Die Liliputaner-Combo im Clownskostüm ließ sich davon nicht beeindrucken und stimmte nach Taktgabe die Auftrittsmusik für die Trapezartisten an. Joe griff das Trapez und schwang trotz der anhaltenden Unmutsbekundungen des Publikums in den erforderlichen Takt. Sie alle kannten diese Reaktion. In einer von einsamen Männern dominierten Gegend war es nicht einfach, als reine Männertruppe nach der umjubelten und appetitanregenden Vorstellung der Mädchen die Aufmerksamkeit des Publikums zu erlangen – aber sie wussten auch, dass ihre eigene Vorstellung die Leute letztlich immer wieder von den Sitzen riss.
Die Hintertür des Saloons öffnete sich und Stevens trat vorsichtig hinaus. Sein Pferd, ein Brauner mit einer weißen Flocke auf der Stirn und ebenso wenig auffällig wie sein Herr, stand allein dort. Stevens’ Blick suchte die Umgebung ab. Es war dunkel und still; der Mond schien allerdings so hell, dass in den Straßen praktisch jede Einzelheit zu erkennen war. Nichts und niemand war zu sehen, die Gassen zwischen den windschiefen Bretterbauten waren wie leergefegt. Ein quietschendes Geräusch forderte Cats Aufmerksamkeit. Er sah hoch und bemerkte, dass es lediglich ein Ladenschild war, das im Wind schaukelte. Er schwitzte – und das lag nicht allein an der immer noch vorhandenen Hitze, die sich zwischen den Holzhäusern von Kingstonville staute. Bis jetzt hatte das, was er mit Sharp geplant hatte, viel zu gut geklappt. Wenn es stimmte, was der Schürfer ihm über die Verhältnisse in dieser Stadt gesagt hatte, dann würden Finch und seine Männer alles daran setzen, diese Konzession in die Finger zu bekommen. Es war einfach zu ruhig, fand Cat. In dieser Stille war der Hufschlag eines Pferdes wie Donnerhall, der auch den schläfrigsten Posten wachrütteln musste. Stevens war ein Mann, der mit seinem Revolver lebte und überlebte. Aber er musste sich eingestehen, dass er im Moment Angst hatte. Sharp hatte etwas von fünfzig Mann erwähnt, die Finch zur Verfügung standen. Wo steckten die nur? Im Saloon war es brechend voll, aber er hatte allenfalls vier oder fünf Männer gesehen, die in die Kategorie Revolvermann einzuordnen waren.
Cat gab sich einen Ruck und trat vom Stepwalk herunter, dem für Orte im amerikanischen Westen typischen hölzernen, etwas erhöhten Gehweg, der die Bewohner davor schützte, im Schlamm zu versinken, wenn der hier eher seltene Regen fiel, der dann meist gleich als Sturzflut kam. Er warf seinem Pferd die Satteltaschen vor dem Sattelhorn über und vertäute sie sorgsam. Er löste den Zügel vom Anbindeholm vor dem Stepwalk, schwang sich in den Sattel und trieb sein Pferd an.
Er war keine zweihundert Yards weit gekommen, als ein Schuss krachte, der sein Pferd tötete und ihn aus dem Sattel warf. Cat rollte sich ab und brachte sich hastig hinter einem Trog in Sicherheit. Vorsichtig sah er über den Rand des Trogs, aber außer seinem toten Pferd konnte er zunächst nichts entdecken. Doch plötzlich sah er sich eingekreist. Von rechts kamen mehrere Männer, von links ebenfalls. Dann sah er auch welche aus der Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Ihm blieb nur der Ausweg, durch das Fenster hinter sich zu springen. Er hechtete hindurch und fand sich im Schlafzimmer älterer Leute wieder, die von dem Lärm aufgeschreckt wurden und verstört auf das zerschlagene Fenster sahen. Ohne ein Wort der Entschuldigung sprang Cat mit kunstvollem Salto durch ein anderes im Raum befindliches Fenster, zog bei der Landung den Revolver und erschoss einen seiner Verfolger, der gerade um die Ecke kam.
Im Zirkus landete Jackie gerade zielsicher nach einer Schraube in den festen Händen von Frankie. Nach zwei Schwüngen an den Händen seines Bruders ließ Jackie los, erreichte nach einer weiteren Schraube das freie Trapez und landete wieder auf der Plattform.
Stevens lief währenddessen um sein Leben. Hinter einer Ecke blieb er keuchend stehen, sah sich um. Wieder erschien ein Mann, der ohne zu zögern auf ihn schoss. Cat konnte gerade noch hinter einem Wassertankwagen in seiner Nähe in Deckung gehen. Vorsichtig schlich er am Tankwagen entlang zum Bock. Er war schon halb auf dem Bock, als er auf der anderen Straßenseite einen seiner Verfolger bemerkte und sprang wieder herunter, drängte sich dicht an den Wagen.
Der Verfolger hatte ihn bemerkt und feuerte sofort, ohne ihn jedoch zu treffen. Al Finch hatte sich am anderen Ende des Wagens postiert, zielte und schoss. Stevens spürte einen harten Schlag am rechten Arm und ging kurz in die Knie, konnte sich aber gerade noch halten. Der Mond hatte seinen Verfolgern wohl seinen Standort verraten. Er sprang auf die Nabe des hinteren Wagenrades. Doch seine Verfolger hatten es bemerkt, wie ihm schnell klar wurde. Sie machten sich einen Spaß daraus, die Speichen wegzuschießen. Dabei bemerkten die eifrigen Schützen aber nicht, dass ihr Opfer sich leise davonschlich.
Die Schüsse außerhalb des Zeltes machten weder auf die Artisten noch auf die Musiker oder die Zuschauer irgendeinen Eindruck. Im Westen kamen Schießereien täglich vor. Solange keiner im Zelt um sich schoss, wähnten sich die an der Schießerei Unbeteiligten in Sicherheit. Die Artisten waren so sicher, dass sie das alles nichts anging, dass sie ihren gefährlichsten Sprung wagten, den blinden Salto mortale. Jackie verband Joe die Augen und gab ihm das Trapez.
In der Stadt hatte Cat den Eindruck, dass Finch und seine Männer abgelenkt waren und riskierte er wieder einen Sprint hinter die nächste Ecke. Dort hielt er atemlos an. Der stechende Schmerz in seinem rechten Arm nahm rasch zu und lähmte die Extremität inzwischen fast vollständig. Er spürte, dass etwas Warmes, Feuchtes über die Haut des rechten Unterarmes lief. Er prüfte mit der linken Hand, zog sie unter dem Umhang hervor und sah im Mondlicht, dass die Handfläche voll Blut war. Wenn das Blut so lief, würde spätestens bei Tagesanbruch eine Blutspur seinen Aufenthaltsort verraten. Cat wusste, dass er mit einem verwundeten Waffenarm nicht in der Lage war, seine Verfolger wirksam zu bekämpfen. Er musste sie weglocken, damit er ihnen entwischen konnte. Verzweifelt sah er sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Sein Blick fiel auf einen Schimmel, der vor einem Zirkuszelt angebunden war. Der Kopfschmuck konnte im Mondlicht gut für einen Reiter durchgehen … Aber der Weg dorthin war ohne Deckung … Er konnte nur hoffen, dass ihn seine Verfolger nicht auf dem offenen Platz erkennen und erschießen würden.
Im Zelt fing Thomas seinen Partner Joe mit traumwandlerischer Sicherheit auf. Die Männer im Publikum, die inzwischen erwartungsgemäß kaum weniger atemlos der Darbietung der Artisten zusahen, als Cat draußen vor Anstrengung, Schmerz und Todesangst war, sprangen von den Sitzen und jubelten frenetisch über das gelungene Kunststück, so dass in diesem Jubel alles andere unterging.
Cat raffte sich zu einer letzten Anstrengung auf und rannte wie von den Furien gehetzt zu dem Schimmel, sprang auf den Rücken des Tieres und jagte genau in dem Moment los, in dem im Zelt über die artistische Glanzleistung tosend applaudiert wurde. Der Lärm aus dem Zelt überdeckte weitgehend den Hufschlag. Als Finch ihn dennoch wahrnahm, war es zu spät.
Stevens preschte in Richtung Ortsausgang. Hinter dem letzten Haus ließ er sich fallen und hechtete in Deckung. Es dauerte nur Augenblicke, bis die ganze Meute zu Pferd dem davoneilenden Schimmel folgte. Dicht an die Hauswand gedrückt, sah der Gejagte den genarrten Verfolgern nach, die dem Schimmel über eine hölzerne Brücke in die Wildnis folgten. Schwer atmend und erschöpft stieß er sich von der Hauswand ab und ging mit langsamen, schweren Schritten zurück in den Ort.
♠ ♠ ♠
Kapitel 2
Viel Blut
Der folgende Tag fand den kleinen Wanderzirkus auf dem Weg nach Libertyville. Die drei Wagen wurden von jeweils zwei Maultieren gezogen. Bimbo saß auf dem Bock des ersten von drei Wagen neben Thomas, dem Fänger der Trapezartisten, der die Zügel führte, und schimpfte wie ein Rohrspatz.
„Diebe, Bastarde, Räuber!“, wetterte er. „Ich sage: Sheriff, man hat mir meinen Schimmel gestohlen! Er sagt: Dann musst du wohl zu Fuß gehen! – Aber ich brauche ihn für die Vorstellung, sage ich. Er ist dressiert, er ist kein gewöhnlicher Gaul! – Wie viele Beine hat er denn, fragt er. Vier, wie viele sollte ein Gaul sonst wohl haben, sage ich. Dann war es ein gewöhnlicher Gaul! – Aber er ist die Attraktion des Zirkus! Da sagt er doch: Heute ist es zu heiß! Komm wieder, wenn es kühler ist!“
Tom grinste nach hinten ins Wageninnere, wo Joe gerade Wäsche wusch. Der junge Mann lächelte freundlich, als Tom sich umdrehte. Er nahm seinen Wascheimer mit den Wäschestücken und stieg aus, um die fertigen Stücke draußen auszuwringen. Die Wagen fuhren langsam genug, dass ein trainierter Artist wie Joe sie zu Fuß wieder einholen konnte.
„Hi, Frankie!“, grüßte er den Fahrer des zweiten Wagens.
„Hi, Joe!“, erwiderte Frankie den freundlichen Gruß. Joe hockte sich etwas abseits hin und drückte die Wäschestücke aus. Frankies Wagen passierte ihn, der dritte Wagen, gelenkt von Frankies Bruder Jackie, rollte heran. Joe faltete das gerade entwässerte Hemd auseinander, um zu prüfen, ob er alle Flecken hatte entfernen können, als ihm über dem Rand des Hemdes etwas auffiel. Seit wann kleckerte denn rote Farbe an der Achse entlang? Joes Augen wurden immer größer, bis er realisierte, dass es anscheinend Blut war, das in beängstigender Menge über die Vorderachse des dritten Wagens leckte.
Entsetzt ließ Joe den Eimer mit der Wäsche stehen und rannte nach vorn, sprang auf die hintere Plattform des ersten Wagens und riss die Tür auf.
„Tom!“, rief er aufgeregt. „Da hinten stimmt was nicht!“
Tom stieg durch das glaslose Fenster zum Bock ins Wageninnere und Bimbo übernahm die Zügel.
„Na, lauft schon, ihr Biester! Maultiere! Ihr seid auch nur … Bastarde!“, schimpfte er.
Thomas packte inzwischen bedächtig seinen Revolver aus, den er seit langer Zeit in Tücher gewickelt in seiner Schublade im Zirkuswagen hatte. Er lud ihn ebenso bedächtig wie sorgsam. Als er sich den Colt vorn in die Hose steckte und sich umdrehte, um nachzuschauen, was Joe so erschreckt hatte, hielt der junge Mann ihn auf.
„Moment mal! Willst du wirklich allein gehen?“, fragte er. „Sollten wir nicht lieber den Anderen Bescheid sagen?“
„Alles zu seiner Zeit!“, beruhigte Tom den aufgeregten Jungen und verließ den Wagen.
Eilig lief er nach hinten, sprang auf die Plattform und betrat den letzten Wagen mit gespanntem Revolver. Sein Blick fiel auf eine Hand, von der Blut auf den Boden tropfte; das Blut bildete einen kleinen See neben einem Spalt im Wagenboden, von wo aus es an der Achse entlanglief.
Toms Blick ging höher. Die Hand gehörte zu einem kräftigen Arm in einem aufgeschnittenen Ärmel eines ledernen Hemdes, und der Arm gehörte zu einem stoppelbärtigen jungen Mann von allenfalls dreißig Jahren, der es fertig gebracht hatte, sich den Ärmel seines verwundeten Armes aufzuschlitzen und die Wunde notdürftig zu verbinden – Cat Stevens. Es war ihm aber offensichtlich nicht gelungen, die Wunde zu schließen, wie der kleine See aus Blut bewies. Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und rührte sich nicht, auch nicht, als Tom näher trat und seine Waffe sicherte, nachdem er festgestellt hatte, dass von dem Verwundeten keine Gefahr ausging. Er verließ den Wagen und lief wieder zurück nach vorn.
„Was ist los, Tom?“, fragte Frankie, als Tom an seinem Wagen vorbeilief und wieder auf die Plattform des ersten Wagens sprang.
„Nichts, alles in Ordnung!“, erwiderte Tom, auch wenn diese Aussage alles andere als zutreffend war.
Das Gehirn des Fängers arbeitete auf Hochtouren. So, wie der Mann im dritten Wagen ausgesehen hatte, war er kein unerfahrenes Greenhorn, kein feinsinniger Dandy, sondern jemand, der mit seiner Bleispritze umgehen konnte. Thomas hatte einen Blick für solche Männer – er war lange genug selbst Revolvermann gewesen; damals, bevor er sich dem Zirkus angeschlossen hatte und Bimbo hoch und heilig versprochen hatte, dass seine Vergangenheit eben Vergangenheit war. Der Mann da hinten hatte recht offensichtlich Schutz und ein sicheres Versteck gesucht, um denen zu entwischen, die ihm ans Leben wollten, das war für Tom sonnenklar. Die Blutspur musste ein Blinder sehen. Sie würde die Verfolger des Verwundeten unfehlbar auf ihre Spur führen.
Tom nahm seine Tasche hervor und suchte gleichzeitig mit den Augen die Umgebung ab. Er sah auf dem Hügel links von den Wagen, was er befürchtet hatte. Ohne sich umzudrehen wandte er sich an seinen jungen Partner:
„Joe, ich seh’ dir an, dass du müde bist. Leg’ dich hin und schlaf’ – was immer auch passiert!“
„Aber …“, setzte Joe an, doch Tom unterbrach ihn barsch:
„Leg’ dich hin!“
Der Ton duldete keinerlei Widerspruch. Joe gehorchte und legte sich auf das Bett rechts in Fahrtrichtung. Sein Herz schlug bis zum Hals, viel heftiger, als wenn er am Trapez zum Salto mortale schwang.
Auf dem Bock sah Bimbo drei Reiter, die plötzlich hinter einem der ungezählten Hügel aufgetaucht waren.
„Nanu, was wollen die denn?“, fragte er sich laut.
Die drei Reiter trieben ihre Pferde an und ritten auf den kleinen Treck zu, der mittlere hob die Hand und bedeutete Bimbo damit, dass er anhalten solle. Der Direktor zog die Zügel an und brachte seinen Wagen zum Stehen. Als Chef des Unternehmens sah Bimbo sich genötigt, die Ankömmlinge zu begrüßen.
„Hallo, Gentlemänner!“, rief er. „Ich bin hier doch richtig auf dem Weg nach Libertyville?“, fragte er dann, mehr, um überhaupt etwas zu sagen. Den Reitern war auf Meilen anzusehen, dass sie nicht viele Fragen stellten, sondern ziemlich schnell nach dem Revolver griffen – und zwar nicht nur zur Drohung. Keiner der drei reagierte auf Bimbos Worte. Das unsichere Grinsen auf dessen Gesicht erlosch. Einer der drei trieb eisig schweigend sein Pferd vor bis zum ersten Wagen und peilte vom Bock her hinein. Drinnen lagen Tom und Joe auf den Betten. Der Fremde sah Bimbo mit einem Blick an, der geeignet war, Wasser zu Eis erstarren zu lassen. Wortlos wandte er sich ab und nahm sich Frankies Wagen vor. Er öffnete die Tür und sah in die Gesichter der erschrockenen Frauen. Ein leises Hecheln ließ den Fremden misstrauisch werden. Er langte unter das Bett links unten und zerrte einen der vier Liliputaner ans Licht. Er stieß ihn zurück und setzte seinen Weg zum dritten Wagen fort. Jackie, der den dritten Wagen lenkte, bemühte sich, den Fremden nicht anzusehen, um ihn nicht zu provozieren.
Der Fremde ritt weiter nach hinten. Im ersten Wagen kam Tom wieder hoch, sah aus dem Seitenfenster und achtete darauf, dass er von draußen nicht gesehen wurde. Im Geiste zählte er die Hufschläge mit. Die rechte Hand hatte er unmittelbar über dem Griff seines Revolvers. Joe hob den Kopf.
„Leg’ dich hin!“, knurrte Tom. Joe gehorchte, obwohl die Angst mit jedem vergehenden Augenblick zunahm.
Die Sekunden gerannen zu kleinen Ewigkeiten, bis der Fremde das Heck des dritten Wagens erreicht hatte. Eine Pferdefliege, angelockt vom Schweiß und wohl auch von Cats Blut, umschwirrte den Fremden und hinderte ihn daran, die Tür des Wagens sofort zu öffnen. Als er das Insekt vertrieben hatte, zog er das Schloss auf. Die Tür ging auf, ein Colt erschien vor dem Hintergrund blitzblauer Augen, ein Schuss krachte – und der Fremde fiel tot aus dem Sattel.
Tom reagierte, als der Schuss noch kaum verklungen war, riss den Revolver aus dem Hosenbund und schoss ebenfalls sofort. Die beiden vorn wartenden Reiter wurden vom Einschlag der Kugeln rücklings aus dem Sattel geworfen. Dann sprang Tom mit schussbereiter Waffe nach draußen und sah das Pferd des neugierigen Fremden reiterlos hinter dem dritten Wagen stehen. Nach einigen Momenten des Abwartens ging Tom nach hinten, Joe folgte ihm unaufgefordert, Frankie gesellte sich hinzu, als sie seinen Wagen passierten. Jackie stand völlig starr auf seinem Kutschbock und wagte erst, sich zu bewegen, als seine Trapezpartner bei ihm vorbeikamen. Mit Jackie kamen auch die Mädchen und die Liliputaner aus dem zweiten Wagen nach hinten. Bimbo fasste sich schließlich auch ein Herz und rannte nach hinten, so schnell es sein eher größerer Leibesumfang erlaubte.
Der dunkelhäutige Fänger sah den Verwundeten an, der matt und geschwächt in der Türöffnung saß. Er stützte sich mit einiger Mühe auf den verwundeten rechten Arm.
„Danke“, flüsterte er erschöpft.
„Sind Sie wahnsinnig, Mann?“, fuhr Bimbo ihn an. „Und nun, Tom? Was nun?“, wandte er sich nicht weniger grantig an den hochgewachsenen Schwarzen.
„Zunächst einmal müssen wir den Mann verbinden, sonst verblutet er. Joe, hol’ ein paar Schaufeln!“, erwiderte Tom.
Frankie und Tom gruben mit Hacke und Schaufel ein Grab für die getöteten Verfolger des Verwundeten. Jackie hatte die Pferde der drei Männer am Zügel, als Bimbo dazukam.
„Soll ich bei euch bleiben?“, fragte er.
„Nein, fahr’ schon voraus, Bimbo. Wir kommen nach, sobald hier alles erledigt ist. Mach’ dir keine Sorgen“, sagte Tom. Der Direktor zog brummelnd ab.
„Mach’ dir keine Sorgen!“, echote er sarkastisch. „Man hat schließlich auch nur Nerven!“, setzte er grollend hinzu.
„Was passiert mit den Pferden?“, fragte Jackie.
„Die lassen wir laufen, aber nicht hier, sondern jenseits der Hügel! Falls noch mehr von der Sorte in der Gegend sind!“, entgegnete Tom.
„Sollten wir nicht eins behalten?“, schlug Frankie vor, während er mit der Spitzhacke den harten Boden lockerte.
„Besser nicht“, warnte Tom.
„Der Wolf verliert vielleicht sein Fell, aber er bleibt bissig!“, knurrte Bimbo, während er das Messer schärfte, mit dem er die Kugel aus Stevens’ Arm operieren wollte. „Ich will keine Revolverhelden in meinem Zirkus haben“, grantelte er weiter.
Cat kam langsam zu sich. Die bohrenden Schmerzen im rechten Arm waren prompt wieder da, sofern ihn die gnädige Bewusstlosigkeit aus ihren Fängen entließ. Ob es Bimbos Schimpfen war oder ob es eine Besserung seines Befindens war, was dazu geführt hatte, dass er wach wurde, konnte er nicht wirklich ermessen. Er spürte aber, dass er jetzt bequemer lag, eine weiche Unterlage aus Decken indianischer oder mexikanischer Herkunft hatte. Über Bimbos konstantes Schimpfen schloss er die Augen wieder und atmete tief durch.
„Tom hat versprochen, seine Vergangenheit abzulegen. Und bei der ersten Gelegenheit – peng, peng – legt er zwei Menschen um“, grollte der Direktor weiter.
„Ohne ihn wären wir jetzt alle tot!“, verteidigte Joe das Eingreifen seines Partners.
„Sei ruhig, du Bettnässer!“, fauchte Bimbo. „Wann kocht denn das Wasser endlich?“, fragte er ungeduldig. Sein Blick fiel auf Cat, der die Augen wieder geschlossen hatte.
„Na warte, Bürschchen! Erst hole ich dir die Kugel ‘raus, pflege dich schön und sorge dafür, dass du gesund wirst, dann kaufe ich mir einen Revolver und schieße dich ein für allemal auf den Mond“, drohte er.
Cat erkannte am Tonfall, dass die Drohung keinesfalls ernst gemeint war, sondern wohl eher der Aufregung geschuldet war, die die Zirkusleute durch den Vorfall gepackt hatte. Es hatte nicht in seiner Absicht gelegen, jemandem Schwierigkeiten zu machen. Er hatte nicht um Hilfe gebeten, er hatte sich einfach nur an einem Ort verkrochen, von dem er annahm, dass Finch ihn dort nicht finden würde. Doch ihm war auch klar, dass er ohne die Hilfe der Zirkusleute die Fahndung von Finchs Henkern nicht überlebt hätte – wie er schon nicht lebend aus Kingstonville herausgekommen wäre. Er gestand sich ein, dass er den Leuten, die ihm halfen, ohne zu fragen, ob seine Verfolger nicht sogar im Recht waren, Dank schuldete – etwas, das Cat überhaupt nicht schätzte. Er nahm nicht gern die Hilfe anderer in Anspruch. Zu oft hatte es ihn in lebensgefährliche Situationen gebracht, wie ihn auch jetzt ein Freundschaftsdienst fast das Leben gekostet hatte. Und die Sache war noch lange nicht ausgestanden, das war ihm ebenso klar. Aber einstweilen war er auf die Hilfe dieser Leute angewiesen …
Bimbo bemerkte, dass sein Patient unruhig wurde.
„Aha, er wacht auf. Der Herr kehrt aus dem Reich der Träume zurück. Hör zu, mein Junge, du wärst uns um ein Haar verblutet, obwohl du dich mit einem meiner Kostüme verbunden hattest, das fünfzig Dollar gekostet hat!“, begrüßte der Direktor den Verwundeten im Leben.
„Hör doch auf zu schimpfen, Bimbo!“, versuchte Joe ihn zu bremsen. Aber Bimbo wollte sich nicht bremsen lassen.
„Ich schimpfe, so viel ich will!“, knurrte er zurück. „So, und jetzt halt still und hab’ keine Angst. Ich hab’ schon viele Tiere kuriert. Wär’ doch gelacht, wenn ich dich nicht gesund kriegen würde.“
Joe schaute aus dem Fenster und sah die Totengräber in Gestalt von Tom, Frankie und Jackie den Hügel herunter laufen.
Am Tag darauf erreichte der Zirkus Libertyville. Die vier Liliputaner marschierten mit Trommeln und komplett als Clowns maskiert durch den kleinen Ort, betätigten sich als Ausrufer:
„Punkt neun Uhr heute Abend!“
„Die große Show internationaler Weltberühmtheiten!“
„Mit den weltberühmtesten Attraktionen aus ganz Europa!“
„Und der universellsten Girlstruppe!“
„Und den fliegenden Männern!“
„Und dem Can-Can aus Paris!“
„Noch nie sah man im Westen eine solche Show!“
„Kommen Sie zu dem grandiosen Mamosa, dem weltberühmten Magier, der alles wahrsagt!“
„Die Vergangenheit!“
„Die Gegenwart!“
„Und die Zukunft!“
„Für nur einen Dollar pro Weissagung!“
„Heute Abend, Punkt neun Uhr!“
Im Kostüm des großen Wahrsagers Mamosa bediente Bimbo die erste Kundin des Tages. Die junge Frau hatte gleich vier Weissagungen bestellt.
„Was sehe ich? Was sehe ich? Was sehe ich?“, fragte er, während er mit den Händen über eine trübe Kristallkugel strich, wobei er immer gut zwei Finger breit Abstand hielt. Er sah hoch.
„Übrigens … haben Sie bezahlt?“, fragte er sie.
„Ja, für vier Weissagungen“, antwortete sie, gespannt aufmerksam zu ihm hinübergelehnt.
„Kluges Kind“, erwiderte er und sah wieder auf die Kristallkugel. „Was sehe ich? Sagen Sie … wie viel Einwohner haben Sie hier?“
„Was?“, erkundigte sie sich verblüfft.
„Ich frage, wie viel Einwohner Sie haben“, wiederholte Bimbo.
„Ach so … wie viel hier wohnen … Dreihundert ungefähr.“
„Hmm, immerhin mehr als weniger“, brummte Bimbo und widmete sich wieder der Kugel.
„Was sehe ich?“
Er streichelte erneut seine trübe Kristallkugel, mit der er normalerweise so tat, als sehe er die Dinge, die er in geduldigem Fragen von seinen Kunden erfuhr.
„Ich sehe …“
Doch diesmal bewegte sich tatsächlich etwas in der neblig erscheinenden Kugel. Bimbo sah zwei Reiter kommen, gefährliche Leute; solche wie die, die den verwundeten Flüchtling beinahe auf dem Gewissen gehabt hätten. Die Gesichter seiner Vision waren wie mit Strümpfen verhüllt. Der Zirkusdirektor wurde nervös. Entweder war es die nackte Angst, die ihm dieses Bild vorgaukelte oder er hatte neuerdings tatsächlich das Zweite Gesicht.
„Ich seh’ nichts als Ärger, verdammt noch mal!“, platzte er heraus. Die junge Frau erschrak.
„Ärger …?“, fragte sie besorgt.
„Nicht für Sie, mein Kind. Für Sie nur einen hübschen, reifen, jungen Mann.“
Der Direktor stand auf.
„Da haben Sie drei Weissagungen. Das muss erst einmal genügen.“
„Aber …“
„Ja, ich weiß, ich weiß … Sie haben für vier bezahlt. Für die vierte dürfen Sie die Abendvorstellung umsonst besuchen. Und kommen Sie wieder. Sie sind mir immer willkommen. Kommen Sie wieder“, komplimentierte er die junge Kundin hinaus.
Als sie endlich fort war, schlich der besorgte Direktor aus dem Wahrsagerzelt zum Kostümwagen, sah sich mehrfach um, ob ihn auch niemand beobachtete. Er betrat den Wagen, räumte eine große Trommel und ein Kissen beiseite, entfernte eine Holztrennwand, die seine Leute eingezogen hatten, um den Verwundeten besser schützen zu können. Sein voluminöses Kostüm nötigte ihn, sich noch mehr anzustrengen, durch die schmale Öffnung zu gelangen, als sein Bauch es ohnehin getan hätte. Er entzündete eine Kerze und bekam einen Schreck. Sein Patient, seit der Operation nur mit seiner Hose bekleidet, lag schwer atmend auf dem Bett, Schweiß lief ihm in Bächen über das Gesicht. Mit unguter Ahnung setzte Bimbo sich auf die Bettkante und legte Cat eine Hand auf die Stirn. Sie war glühend heiß.
„Fieber! Das hat uns gerade noch gefehlt!“, brummelte er. Wenn der junge Mann Fieber hatte, half seine eigentlich auf Tiere beschränkte Heilkunde nicht mehr weiter, dann musste er doch einen Arzt hinzuziehen. Dem Direktor schwante, dass dann unangenehme Fragen gestellt würden – wahrscheinlich auch danach, weshalb er diesem Mann half, ohne zu fragen, weshalb ihn jemand hatte töten wollen.
„Bimbo …“, sprach Cat ihn mit unüberhörbarem Ächzen an.
„Ja, was ist?“, fragte der ältere Direktor und sah in fiebertrübe, blaue Augen.
„Da drüben in dem Hemd sind ein paar Dollar.“
„Ich weiß, ich weiß. Du brauchst dir deshalb keine Sorgen zu machen. Die nimmt dir niemand weg“, beruhigte Bimbo seinen Patienten. Fahrendes Volk wurde immer noch als unehrlich angesehen. Revolverhelden machten da augenscheinlich keine Ausnahme.
„Nimm sie raus und besorg’ mir ein Pferd“, bat Stevens, der sich angesichts der Tatsache, dass die Zirkusleute keine Fragen gestellt hatten, überhaupt keine Sorgen um sein Geld machte. Diese Leute waren so was von grundehrlich, denen hätte er nötigenfalls auch seinen eigentlichen Schatz anvertraut – Sharps Konzession. Hier würde sie garantiert keiner vermuten. Er hätte es vielleicht sogar getan, hätte er die nötige Zeit dazu gehabt.
„Ein Pferd …?“, hakte Bimbo verblüfft nach.
„Sag’ mal, wann … wird es dunkel?“, fragte Cat, ohne auf die offensichtliche Bestürzung des Direktors einzugehen.
„Noch lange nicht. Es ist eben erst Mittag“, erwiderte Bimbo.
„Binde das Pferd heute Abend hier in der Nähe der Wagen an“, bat der Verwundete. Bimbo schüttelte entschlossen den Kopf.
„Nein! Das kann ich nicht verantworten. Du bist noch gar nicht im Stande, zu reiten!“, widersprach er heftig.
„Du musst an dich denken und an die Leute, die für dich arbeiten“, gab Cat zu bedenken. „Kümmere dich nicht um mich. Ich komm schon durch“, setzte er hinzu. Bimbo nahm die Worte seines Patienten zur Kenntnis. Mit seinen Worten überzeugte er den Direktor zudem, dass dieser Mann keine Gefahr für die Zirkusleute wollte – besser konnte er nicht beweisen, dass er im Recht war. Bimbo nahm den Verband ab und sah sich die Wunde noch einmal an.
„Woll’n wir doch mal sehen“, brummte er. „Sieht schon besser aus.“
„Na also“, presste Cat mühsam heraus.
♠ ♠ ♠
Kapitel 3
In der Manege
Der Direktor betrat das Zirkuszelt, in dem die Trapeztruppe gerade ihren Auftritt probte.
„Tom! Tom!“, schnaufte er. „Ich halte das mit dem verdammten Kerl nicht mehr aus!“ beschwerte er sich. Thomas kam kopfüber das Seil herunter und ließ sich dann elegant auf den Boden herunter, nahm sein Handtuch und trocknete sich den Schweiß vom muskulösen Oberkörper und dem kahlgeschorenen Kopf, behielt das Tuch schließlich wie ein arabisches Kopftuch auf dem Schädel und grinste Bimbo an.
„Mach’ dir keine Sorgen, Bimbo“, beruhigte er den aufgeregten Direktor. „Ein Mann wie der erholt sich schneller als du glaubst. Sobald er wieder auf den Beinen ist, wird er uns ganz von selbst wieder verlassen.“
„Aber das ist es ja!“, entfuhr es Bimbo. „Er … er will …“, stotterte er, ohne auf das gesuchte Wort zu treffen. Tom beugte sich leicht zu ihm herunter.
„Na, was denn?“, fragte er nach, um Bimbo wieder auf die Spur zu helfen.
„Er will … er will … fortreiten! Noch heute Abend!“, stieß der hervor. Joe seilte sich ab und stellte sich dazu.
„Das dürfen wir nicht zulassen!“, protestierte der junge Schwarze. „In dem Zustand …“
„Sei still, dich hat keiner gefragt, Joe!“, fuhr Bimbo ihm über den Mund. „Ich finde, wir sollten es ihm selbst überlassen“, bemerkte er und widersprach sich gerade selbst.
„Dann können wir ihn ja gleich wegschicken“, versetzte Thomas, ebenfalls seine eigene Meinung korrigierend. Jetzt kamen auch die Artistenbrüder Frankie und Jackie dazu.
„In dem Zustand können wir ihn nicht weglassen!“, protestierte Frankie.
„Aber … wenn er es doch selber will …“, warf Jackie ein, „haben wir kein Recht, ihn aufzuhalten.“
Tom legte Bimbo beruhigend eine Hand auf die Schulter.
„Sei beruhigt, Bimbo. In dem Versteck würde ihn nicht einmal der Teufel selbst finden“, sagte er. Dann deutete er mit dem Kinn nach oben. „Allez hopp, Frankie! An die Arbeit!“, trieb er seine Partner wieder an.
Bis es dunkel geworden war, hatte Bimbo für Stevens das erbetene Pferd beschafft und in der Nähe des Kostümwagens gesattelt und gezäumt angebunden.
Cat bemühte sich, wach zu werden und sich anzuziehen. Es kostete ihn Mühe und war mit der Wunde im rechten Arm ausgesprochen schmerzhaft. Nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien, hatte er endlich das Hemd übergezogen, den Revolvergürtel umgeschnallt und den Umhang übergeworfen. Den Hut trug er noch an der Schnur auf dem Rücken, als er vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend den Wagen verließ. Jeder Schritt war eine ungeheure Anstrengung. Es kostete ihn so viel Kraft, dass er nicht daran dachte, die Kerze zu löschen und die Tür ordentlich zu schließen. Sie blieb nur angelehnt geschlossen, als Cat sich mit einiger Mühe in den Sattel des von Bimbo für ihn bereit gestellten Pferdes zog und fortritt. Der scharfe Wind, der durch die Straßen jagte, würde die feinen Spuren, die sein Pferd auf dem harten Boden hinterließ, umgehend verwehen.
Er war aus dem Sichtbereich des Zirkuszeltes gerade verschwunden, als am anderen Ende des Städtchens zwei finster aussehende Reiter nach Libertyville hineinkamen. Sie hatten verdächtige Ähnlichkeit mit jenen Tagtraumfiguren, die Bimbo am Vormittag in seiner Kristallkugel zu sehen geglaubt hatte. Gegen den peitschenden Wind und den Staub, den er vor sich hertrieb, hatten sie ihre Halstücher vor Mund und Nase gebunden. Vor dem Saloon hielten sie an und sahen sich um. Einer der beiden Reiter wollte gerade absitzen, als ihn ein klappendes Geräusch aufmerksam machte. Er hielt im Absitzen inne und schwang das rechte Bein wieder über die Kruppe seines Pferdes, glitt wieder in den Sattel zurück. Wie von einem Magneten gezogen folgten die beiden Reiter dem Geräusch und kamen zu drei Zirkuswagen und einem Zirkuszelt. Sie sahen sich verblüfft an. Das war doch der gleiche Zirkus, der auch in Kingstonville gewesen war …
An einem der Wagen spielte der markante Wind mit einer unverschlossenen Tür. Die Reiter stiegen ab, einer griff in die Tür, als sie gerade aufgeweht wurde, der andere stieg schon die Stufen hinauf, zog den Revolver und pirschte hinein, durch aufgehängte Zirkuskostüme zu einer Wand mit einer schmalen Öffnung, hinter der Licht war. Der schlankere von beiden, ein hagerer Mann mit einer Nase, die einem Berufsboxer zur Ehre gereicht hätte, schlüpfte durch die Öffnung und fand eine brennende Kerze auf einer niedrigen Kiste neben einem verlassenen Bett. Neben der Kerze lagen schmutzige, blutgetränkte Verbandreste. Er nahm die Verbandreste in die Hand. Sie waren noch warm, das Blut noch nicht vollständig getrocknet.
Die beiden Reiter zählten eins und eins schnell zusammen: Der Zirkus war an dem Abend in Kingstonville gewesen, als sie den Mann gejagt hatten, der Sharp die Konzession beim Pokern abgeknöpft hatte, der Typ war verschwunden – er konnte sich nur in diesem Zirkuswagen versteckt haben. Die Zirkusleute hatten ihm geholfen, sich zu verbergen. Diese Kammer war gar zu offensichtlich extra für jemanden geschaffen worden, der an der frischen Luft seines Lebens nicht sicher war.
„Finch hat also Recht gehabt, dass er ihn getroffen hat“, bemerkte der Hagere. „Sieh dir das an: Ein hübsches Versteck“, resümierte der andere. Sie verließen den Wagen, um sich draußen umzusehen, wo der geflohene Konzessionsinhaber geblieben war.
Währenddessen lief die Abendvorstellung bereits und riss das Publikum immer wieder zu Begeisterungsstürmen hin. Hier, in Libertyville, wo auch etwas feinere Herrschaften und sogar einige Frauen wohnten, brauchten die Trapezartisten nicht erst gegen den Unmut von sexuell benachteiligten Goldgräbern zu agieren – sie ernteten von Anfang an Zustimmung.
Die beiden finsteren Reiter hatten die Wagen erfolglos durchsucht und traten gerade in dem Moment in das Zelt ein, in dem Bimbo die Sensation des Abends verkündete:
„Hochverehrtes Publikum!“, rief er. „Wir kommen jetzt zur Nummer des Abends! Es ist eine Sensation, die einzig dasteht! Niemand hat bis heute gewagt, sie nachzumachen! Es ist eine artistische Leistung, die vom Künstler äußerste Konzentration und Ruhe verlangt“, kündigte er an und setzte sich neben einen atemlos lauschenden Jungen. „Ich bitte Sie daher, wenn der Trommelwirbel aufhört, absolute Ruhe zu bewahren!“, setzte er hinzu und machte eine Geste, ganz leise zu sein. Der Kleine neben ihm wurde fast noch ein bisschen kleiner, als er ohnehin noch war. Bimbo sah nach vorn und glaubte, Albträume zu haben, als er die beiden Neuankömmlinge sah, die im Manegenzugang standen. Die sahen wirklich haargenau so aus, wie seine Vision vom Vormittag! Schließlich spürte er, dass das Publikum schon zu lange auf die Fortsetzung des Programms wartete.
„Danke!“, presste der entsetzte Direktor noch heraus und gab der Liliputaner-Combo das Zeichen. Der Trommler begann mit der kleinen Trommel den angekündigten Trommelwirbel. Joe ließ sich wie üblich von Jackie die Augen verbinden. Tom hakte sich mit den Beinen in die richtige Position an seinem Trapez und schaukelte ganz ruhig in den richtigen Takt. Der Trommelwirbel hörte auf, Joe nahm das Trapez, stieß sich ab und schwang in den richtigen Takt, ließ sich schließlich los, machte einen Salto und landete genau in Thomas’ Händen. Gemeinsam schwangen sie einmal vor, einmal zurück, dann sprang er wieder auf das eigene Trapez zurück.
De beiden Reiter hatten die Manege und das Publikum ergebnislos abgesucht. Der Hagere hatte seine Seite bereits abgesucht und stand schon am Ausgang des Zeltes. Der andere kam dazu und sagte:
„Komm, wir verschwenden unsere Zeit.“
„Moment noch“, sagte der Hagere und schaute nach oben, wo die beiden schwarzen Trapezkünstler ihre Nummer vorführten. Ihn packte die Verachtung für Schwarze im Allgemeinen und für diese beiden in hautengen weißen Anzügen steckenden Männer im Besonderen. Joe, der wegen der Augenbinde ohnehin nicht sehen konnte, was sich unter ihm in der Manege tat, konzentrierte sich völlig auf den bevorstehenden Sprung; Tom seinerseits war ebenfalls völlig auf den Partner konzentriert und nahm um sich herum im Augenblick nichts anderes wahr.
In dem Augenblick, als Joe das Trapez zum zweiten Mal losließ, um einen zweiten blinden Salto mortale zu springen, riss der Hagere seinen Colt aus dem Halfter und schoss aus der Hüfte. Er traf das Halteseil des Trapezes an Toms rechter Seite. Tom geriet mit seinem nur noch an einem Seil hängenden Trapez aus der Flugbahn von Joe, der strampelnd in die Tiefe jenseits der Zuschauertribüne stürzte und dort reglos liegen blieb. Es gab einen dumpfen Aufprall, dann tödliches Schweigen der entsetzten Zuschauer.
Bimbo reagierte am schnellsten. Er erfasste augenblicklich die Situation und sprang erstaunlich behände in die Manege.
„Keine Aufregung, meine Herrschaften! Das gehörte zur Nummer!“, rief er. „Und jetzt: Die Girls!“, setzte er noch etwas lauter hinzu, zog sich kurz hinter den Vorhang zurück und trieb die Mädchen hinaus. „Na los, raus mit euch!“, zischte er. Die Mädchen fassten sich ebenfalls einigermaßen schnell und hüpften in die Manege hinaus, die Liliputaner-Combo bewies ebenfalls ausgesprochene Professionalität und setzte zum Can-Can an.
Während die Mädchen mit ihrem frisch-frechen Tanz das Publikum beruhigten und ablenkten, sah sich Tom von seinem schaukelnden Trapez den Todesschützen und seinen Kumpan sehr genau an. Die beiden finsteren Reiter erwiderten verächtlich den Blick des Trapezkünstlers – und ahnten nicht im Geringsten, wen sie sich mit diesem Mord gerade zum Todfeind gemacht hatten …
Während die Mädchen und die Clowns-Combo ihr Bestes gaben, um die Zuschauer wieder zu beruhigen, hetzte Bimbo hinter die Zuschauertribüne und fand dort Joe reglos auf dem Rücken liegend vor. Mit böser Ahnung nahm er dem Gestürzten die Augenbinde ab – und sah in gebrochene, tote Augen.
♠ ♠ ♠
Kapitel 4
Ein Fremder
Ein Skorpion eilte in Richtung der Mauer einer verfallenen Siedlung, um im Schatten zwischen den Steinen Schutz vor der sengenden Sonne zu suchen. Eine Stechfliege badete in einem kleinen roten See und labte sich an dem roten Saft, den sie normalerweise nur erreichte, wenn sie einen Menschen oder ein Tier stach.
Der kleine rote See war die Folge der erneut aufgebrochenen Schusswunde in Cat Stevens’ rechtem Arm. Er hatte in den Resten der Siedlung erschöpft Schutz gesucht. Irgendwie hatte er es geschafft, sein Pferd abzusatteln, Feuer zu machen, seine Kaffeekanne mit Kaffeepulver und Wasser zu füllen und auf das Feuer zu stellen. Er brauchte ihn dringend, um etwas zu trinken – und um wieder wach zu werden. Jetzt war er so fertig, dass er kaum noch sehen konnte. Vor seinen Augen verschwamm die Landschaft zu einem einheitlichen Brei aus Ocker und etwas dunkleren Tönungen davon. Wie aus weiter Ferne drang ein Geräusch an seine Ohren, das ihn dazu nötigte, seine allerletzten Kraftreserven zu mobilisieren: Hufgetrappel. Als er endlich in der Lage war, seinen Blick wieder zu fokussieren, sah er die überschäumende Kaffeekanne. Der überlaufende Kaffee verursachte unübersehbare Rauchschwaden, die ein Blinder sehen musste. Cat verfluchte seine Schwäche, die nicht nur seinen Körper außer Gefecht setzte, sondern zunehmend auch seine Gedanken lähmte.
Das Hufgeräusch kam näher. Cat angelte mit großer Mühe mit der linken Hand nach dem Revolver, der rechts im Holster steckte, zog ihn und schlich vorsichtig zu einem Fensterloch. Er sah einen einzelnen Reiter herannahen. Wer der Reiter war, konnte er nicht erkennen. Es konnte jemand sein, der hier nur zufällig vorbeikam und von ihm nichts wollte; aber die Wahrscheinlichkeit, dass es einer seiner Verfolger war, der ihm in seinem jetzigen Zustand ohne große Mühe den Rest geben konnte, war erheblich größer.
Cat zog sich vom Fensterloch zurück in Richtung eines Mauervorsprungs, wo er sich in Deckung warf, den Revolverlauf auflegen und den offenen Durchgang in die Ruine beobachten konnte. Unerträglich lange Sekunden vergingen, bis das Pferd an der ehemaligen Tür vorbeikam – ohne Reiter. Das Entsetzen in Cats Gesicht war echt.
„Hey!“, kam ein scharfer Ruf. Cat wirbelte herum und schoss noch aus der Drehung heraus – in die Wand. Verstört ging sein Blick an der Mauer nach oben. Thomas hockte dort, den Revolver entsichert im Anschlag.
„Spiele nie mit Schießgewehr!“, mahnte der Schwarze grollend.
Resigniert ließ Stevens sich wieder gegen die Mauer fallen und schloss mit dem Leben ab. Er hatte keine Chance gegen den dunkelhäutigen Mann, falls der jetzt ihm ebenfalls Löcher in den Pelz brennen wollte.
Tom ließ den Hahn langsam los, womit die Waffe gesichert war. Er schob den Revolver wieder ins Halfter und sprang von der Mauer herunter in die Ruine. Cat rutschte kraftlos an der Mauer herunter, behielt den Schwarzen aber misstrauisch im Blick. Tom trat zu ihm hin und nahm die Wasserflasche vom Gürtel, ohne den Blick von dem völlig erschöpften Verwundeten zu nehmen. Trotz seiner offensichtlichen Schwäche war der Mann immer noch verdammt schnell mit dem Schießeisen … Er gab die Flasche Stevens, der sie ihm halbverdurstet aus der Hand riss und gierig trank. Er setzte nur kurz ab und stürzte dann nochmals eine ordentliche Portion Wasser hinunter. Schließlich setzte er keuchend ab.
„Hör’ mal“, keuchte er. „Ich hab’s langsam satt, mich ständig bedanken zu müssen.“
„Dann lass es bleiben!“, knurrte Tom. „Dich hab’ ich im Übrigen gar nicht gesucht“, versetzte er. „Aber du bist prima Honig für meine Bienen – und nur aus diesem Grund lass’ ich dich nicht krepieren.“
Ziemlich weit entfernt von der verlassenen und verfallenen Siedlung, in der Thomas sich um den verwundeten Cat kümmerte und ihn vor seinen Verfolgern schützte, war ein Fluss in einem grünen Tal. Im Fluss schwamm eine halbe Ananas, das Grünzeug am Stielansatz hing an einer Schnur, die ihrerseits an einer Angel befestigt war. Die Angel steckte unter einem dicken Stein, eingekeilt mit noch einem zweiten Exemplar der Gattung Felsbrocken und daneben lag der Angler, den Strohhut über die Augen gezogen, und machte ein Schläfchen. Einige Yards vom Ufer entfernt hackte ein rothaariger, bärtiger, muskulöser junger Mann mit bloßem Oberkörper Holz.
Benjamin, dem Holzhacker, fiel auf, dass die Angelrute mächtig zuckte, aber sein angelnder Freund nicht auf das Zucken der Angel reagierte. Ben suchte etwas, um seinen Freund aufmerksam zu machen und fand das Mittel in einem Stein, der größer war, als seine eigene mächtige Faust. Den Stein warf er locker aus dem Handgelenk, der dem Angler auf die breite Brust klatschte, von dort wie von einem festen Strohbündel wieder abprallte und auf den Strand fiel. Blinzelnd nahm der Angler den Strohhut von den Augen.
Unter dem Hut kam gähnend ein Bulle von einem Mann zum Vorschein: Daniel Hutch Bessy, ehemaliger Versicherungsdetektiv, von seinem seinerzeitigen Arbeitgeber zur Wiederbeschaffung wertvollen Gutes eingesetzt. Daniel hatte seine Aufgaben mit brachialer Gewalt durchgeführt, dabei einige Tote hinterlassen, einen Haufen Leute für lange Zeit hinter Gitter gebracht und selbst eine Menge einstecken müssen, allerdings auch einstecken dürfen. Die Belohnungen, die er für seine erfolgreiche Arbeit kassiert hatte, hatten irgendwann ausgereicht, um sich zur Ruhe zu setzen und sich aufs Land zurückzuziehen, wo er von den Geistern seiner Vergangenheit nicht mehr traktiert wurde.
Dan richtete sich gähnend auf und holte die Angel ein. Ein großer Lachs hing an der Angel. Für das Abendessen war gesorgt.
Weit davon entfernt rannte ein Hase vergeblich um sein Leben. Tom nahm das fliehende Tier aufs Korn und streckte es mit einer Ladung Schrot nieder. Den toten Hasen in der Jagdtasche, das Schrotgewehr in der linken Hand, kehrte er in die Steinhütte zurück, die in der letzten Zeit, seit er Cat Stevens mehr tot als lebendig in der verlassenen Siedlung gefunden hatte, sein Heim geworden war. Der hochgewachsene Schwarze musste sich tief bücken, um durch die Tür zu kommen. Er hatte die Tür gerade offen, als direkt vor seiner Nase ein Wurfmesser in die Tür einschlug. Tom sah nach rechts, Cat stand dort mit einem leichten Grinsen im Gesicht an der Wand, machte Bewegungsübungen mit der rechten Hand. Es war recht offensichtlich, dass er die Folgen seiner Verwundung überwunden hatte und genesen war.
„Ha, damit dürfte unser schöner Erholungsurlaub wohl zu Ende sein“, brummte er zufrieden.
Am Tag darauf machten sich Tom und Cat auf den Weg in eine sehr viel grünere Ecke des Landes, oben in den Rocky Mountains. Als sie es erreichten, schien Tom die Gegend fast wie das Paradies. Cat hielt auf eine großzügig bemessene Holzhütte zu, die am Hang eines der grünen Hügel stand. Nach allem, was er über Daniels Refugium wusste, war er hier an der richtigen Adresse.
„Hier muss es sein“, sagte er, als sie vor der Hütte ankamen. „Am besten, wir stellen die Pferde gleich in den Stall. Da gibt es genug Hafer für ein ganzes Jahr.“
Am Fuß der Veranda blieb er nochmals stehen und drehte sich zu Tom um.
„Aber sei vorsichtig vor unangenehmen Überraschungen. Er erwartet uns nicht“, warnte er. Tom brachte die Pferde in den Stall und traf sich dann wieder mit Cat auf der Veranda. Zusammen betraten sie das Haus. Es war solide gebaut, die Ritzen zwischen den einzelnen Balken sorgfältig mit zusätzlichen Balken gegen die Winterkälte abgedichtet und beinahe nobel eingerichtet. Ein großer eiserner Herd, der jetzt kalt zu sein schien, daneben eine Kommode, auf der ein ovaler Klappspiegel Platz gefunden hatte. Davor stand ein Schaukelstuhl. An der rechten Wand standen – mit respektablem Abstand – zwei breite Betten, die außer mit dem üblichen Bettzeug jeweils mit dem Fell eines ausgewachsenen Braunbären samt Kopf belegt waren. Ein eher grob gezimmerter Tisch in der Nähe des zentralen Stützpfostens und ein Hocker vervollständigten die Ausstattung des Hauses.
Als die beiden Ankömmlinge über die Schwelle getreten waren, fiel hinter ihnen die Tür zu, die von einem herabfallenden Balken von außen blockiert wurde. Tom warf sich vergeblich gegen die verbarrikadierte Ausgangstür. Während Tom nach einem anderen Fluchtweg suchte, ließ Cat sich seelenruhig auf das vordere der beiden Betten fallen.
„Gib’s auf“, empfahl er gutmütig. „Um hier rauszukommen, müssten wir schon Dynamit nehmen.“
Stevens zündete sich den Zigarillo an, den er schon länger zwischen den Zähnen hatte.
„Wirklich, nicht schlecht gemacht“, sagte er anerkennend.
„Komische Freunde hast du“, bemerkte Tom sarkastisch. Er stellte fest, dass er über seinen neuen Gefährten beinahe noch weniger wusste, als der über ihn.
„Mach’s dir bequem“, empfahl Cat ruhig. „Aber lass die Hand möglichst weit vom Schießeisen. Sonst bekommst du ‘ne Ladung Blei, bevor du auch nur piep sagen kannst“, warnte er schließlich.
„Sehr richtig!“, kam eine tiefe, dröhnende Stimme von oben. „Legt die Händchen schön auf die weichen Birnen!“, befahl Dan. Tom sah verblüfft nach oben und bemerkte eine offene Tür zwölf Fuß über dem Boden, in der zwei richtig breite Männer standen, ein Bulle und ein Bär. Der Bulle mit dem schwarzen Vollbart hatte eine Schrotflinte im Anschlag, mit deren Inhalt man besser keine Bekanntschaft machte.
Cat berührte der Auftritt überhaupt nicht. Er kannte den Eigentümer dieses Hauses lange und gut genug, um sich über nichts zu wundern.
„Komm runter, Bulle!“, versetzte er. Dan verdrehte die Augen gen Himmel, als er die gar zu bekannte Stimme eines Mannes hörte, von dem er gehofft hatte, ihm nie wieder zu begegnen. Genau deshalb hatte er sich hierhin verzogen … Bisher hatte er den zweiten Eindringling in seine Hütte noch nicht erkennen können. Er hatte nur die langen Beine sehen können. Ein Stoßseufzer entrang sich ihm. Tom sah ihn nochmals verblüfft an, hatte nicht erwartet, dass dieser Stier ein derart hilfloses Geräusch von sich geben konnte.
„Wie bist du eigentlich in den Taubenschlag da oben reingekommen? Kannst du fliegen?“, fragte Cat spöttisch.
Daniel und Benjamin packten die lange Leiter, die sie oben auf dem Boden deponiert hatten und stiegen in den Wohnraum hinunter.
„Nach den Erfahrungen, die ich gemacht habe, bin ich vorsichtig geworden. Ich habe mich aufs Land zurückgezogen, um endlich Ruhe zu haben!“, erwiderte Dan mit grantigem Unterton. „Wenn du gekommen bist, um mir ein Geschäft vorzuschlagen – ich mach’ nicht mit“, stellte er dann klar und warf zwei mächtige Lachse auf den Tisch.
„Ja, ja, ich weiß, dass du endlich Ruhe haben willst“, räumte Cat ein, nahm den Hut ab und setzte sich auf. Sein Blick fiel auf den Fang auf dem Tisch.
„Donnerwetter, wo hast du die denn gekauft?“, spottete er, auf die Fische weisend.
„Sag’ noch ein Wort und ich stopfe dir die Fischlein so wie sie sind in den Hals!“, drohte Dan, der Zweifel an seiner Angelkunst zuweilen mit Ohrfeigen in Dampfhammerstärke beantwortete. Cats Blick schweifte weiter und traf den zweiten Bullen, Benjamin.
„Übrigens, du hast dir einen netten Ableger zugelegt“, spottete er unbeeindruckt weiter.
„Das ist Benjamin, mein Schützling“, erklärte Dan.
„Schade, ich dachte, er wäre dein Sohn. Die Proportionen sind so ziemlich die gleichen“, ätzte Cat weiter.
Dan schien zu überlegen, ob er das Messer, mit dem er die Fische schuppen wollte, Cat in sein freches Mundwerk stoßen sollte, doch er kannte die Nahkampfgewandtheit seines früheren Kumpans nur zu gut. Er wandte sich an den etwas unsicher lächelnden jungen Mann hinter sich:
„Benjamin, den Kerl kenne ich von früher; er hat mir immer nur Pech gebracht, wenn ich mit ihm zusammengearbeitet habe.“
Dann sah er Cat wieder an.
„Du musst schon entschuldigen, dass er nicht sagt, du sollst dich zum Teufel scheren, aber er ist taubstumm.“
Er setzte sich an den Tisch, stellte einen Eimer Wasser darauf, dass es nur so schwappte und nahm den ersten Fisch, um ihn zu waschen und zu schuppen.
„Erinnerst du dich an einen gewissen Finch?“, fragte Cat nach kurzem Schweigen.
„Nein!“, grunzte Dan.
„Warst du es nicht, der ihm die hübsche Zwangsarbeit verschafft hat?“, hakte Cat nach, der nur zu gut wusste, dass der Mann, mit dem er schon einige Abenteuer gemeinsam erlebt und überlebt hatte, Finch sehr genau kannte.
„Nein!“, grollte Dan erneut. Er wollte sich einfach nicht erinnern …
„Kannst du dich an …“
„Nein! Nein! Nein!“, fauchte Dan und schlug den Fisch so hart auf den Tisch, dass der beinahe Risse bekam. „Lass mich zufrieden! Finch liegt erst mal auf Eis. Er hat noch zwanzig Jahre zu sitzen, bevor er wieder auf die Menschheit losgelassen wird“, erwiderte Dan und strafte seine eigenen Aussagen Lügen.
„Du irrst dich“, entgegnete Cat kühl. „Er weilt wieder unter uns. Er ist nämlich ausgebrochen.“
Einen Moment beobachtete er seinen alten Freund, sah, wie dessen Gehirn zu arbeiten begann.
„Sharp hat es übrigens vorausgesehen“, ließ er einen Köder fallen.
„Wer?“, fragte Dan scheinbar uninteressiert.
„S – h – a – r – p“, buchstabierte Cat ungerührt. „Sharp.“
Cat sah Thomas an.
„Sieh dir sein Gesicht an“, sagte er zu ihm. „Er stirbt vor Neugierde, zu erfahren, was dieser Mistfink Finch mit Sharp zu tun hat. Aber er würde es nie zugeben.“
Er stand auf und ging zum Kamin.
„Mit etwa fünfzig Figuren des gleichen Kalibers hat er sich in einem abgelegenen Ort eingenistet. Natürlich nicht ohne Grund“, begann er und nahm ein Schrotgewehr von der Wand.
„Vorsicht!“, warnte Dan, ohne im Abschuppen des Fisches innezuhalten. „Das Ding ist geladen!“
„In der gleichen Gegend haben ein paar Glückspilze in den Bergen Gold gefunden und die Schürfrechte erworben. Kannst du mir folgen?“, fuhr Cat fort, ohne auf Dans Warnung einzugehen.
„Wie ein Jagdhund“, bestätigte Dan und säuberte das Messer am Eimerrand.
„Finch arbeitet natürlich nicht auf eigene Rechnung, sondern für die eines gerissenen Bodenspekulanten, der die Diggers zwingen will, ihre Konzessionen an ihn zu verkaufen. Bis jetzt haben sich die Goldsucher geweigert“, erklärte Cat.
„Kann ich mir vorstellen“, erwiderte Dan.
„Dann stell’ dir auch mal vor, dass Sharp einer von ihnen ist“, sagt Cat und legte mit der Schrotflinte scherzhaft auf Dan an.
„Sharp?“, fragte Dan verblüfft.
„Ja, er ist mit seiner ganzen Familie dort“, erwiderte Stevens und zog das Gewehr wieder zurück. „Und er hat Erfolg gehabt. Jetzt will ihn die Minengesellschaft zwingen, zu verkaufen. Kannst du dir vorstellen, zu welchem Preis?“
„Kann ich mir denken!“, versetzte Bessy.
„Ich sehe, das Landleben hat deinem Hirn gutgetan“, bemerkte Cat mit einem sanften Grinsen, das schon recht freundlich wirkte, und zog ein Stück Papier aus dem Hemd.
„Sharp hat schon nach dir geschickt, aber man konnte dich nicht finden. Dafür hat man mich gefunden. Hier, das hat er mir gegeben. Es ist die Übertragung der Schürfrechte. Ich hab’ getan, als hätte ich sie ihm im Spiel abgenommen. Und nun hatte ich die gierigen Wölfe auf dem Hals“, sagt er.
Tom wurde langsam klar, dass der sonst so schweigsame Cat zum einen mehr sagen konnte als einen Satz mit vier Wörtern in vier Tagen und dass er bereit war, für andere Leute den Kopf hinzuhalten. Er bekam Achtung vor diesem Mann, der sein Leben für einen anderen riskiert hatte.
„Du riskierst viel für diesen Mann“, bemerkte er. „Ist er ein Verwandter von dir?“, erkundigte er sich.
„Viel schlimmer!“, erwiderte Cat. „Ein Freund.“
Dan las die Konzessionsübertragung durch.
„Moment mal!“, protestierte er schließlich. „Da steht ja auch mein Name!“
„Meine Idee“, bekannte Stevens. „Hättest du nicht Lust, einem alten Freund wie Sharp zu helfen? Vielleicht hast du auch gelesen, dass die Konzession nach Ablauf eines Jahres erneuert werden muss“, wies Cat auf die riskanteste Klausel hin.
„Und das Jahr ist fast um!“, grollte Dan. „Ich lasse mich da nicht in solche Abenteuer hineinziehen! Nicht von dir, du Armleuchter!“, fauchte er. „Und was hast du damit zu tun?“, fuhr er dann den Schwarzen an.
„Eine private Rechnung“, erwiderte der zurückhaltend.
„Du wirst schon müssen, Dan“, sagte Cat kühl. Das Schrotgewehr in seiner Hand krachte und Dan stand mit halbem Hut da.
„Vorsicht!“, grinste Cat breit. „Gleich kriegst du ’nen Schlaganfall.“
„Den kann man bei dir auch kriegen!“, grunzte Dan und ging zum Kamin, wo Benjamin Feuer unter einem großen Wasserkessel gemacht hatte, und warf die Fische in das kochende Wasser.
„Das schöne Landleben ist also vorbei“, konstatierte er. Sein Blick traf Benjamin, der ihn erwartungsvoll ansah.
„Glotz nicht so dämlich, Benjamin! Für dich auch!“, grunzte Dan. Er drehte sich wieder zu Cat um.
„Aber dir ist ja wohl klar, dass Finch die Stadt wie ein Pulvermagazin bewachen wird“, warnte er. Cat nickte.
„Sicher. Deshalb darf er möglichst nicht erfahren, dass wir auch mitmischen!“, erwiderte er.
„Und wie?“
„Ich hab’ da schon eine Idee“, versetzte Cat.
„Wann hast du mal keine Idee?“, seufzte Dan.
♠ ♠ ♠
Kapitel 5
Rückkehrer
Zu viert machten sie sich von Bessys Refugium in den Bergen auf den Weg in das vertrocknete Hügelland am östlichen Fuß der Rockies. In Libertyville hielt Tom an einer Ecke an, als er die traurigen Reste des kleinen Wanderzirkus auf demselben Fleck fand, auf dem er ihn vor Monaten verlassen hatte, um die Mörder seines Trapezpartners ausfindig zu machen. Die Wagen sahen zerrupft und vernachlässigt aus, Scheiben waren gebrochen, der einstige Anstrich vom natürlichen Sandstrahlgebläse des Wüstenwindes abgeschliffen. Das Zelt war aufgebaut, aber vom Wind zerfetzt. Einige Ausstattungsteile wie Planen oder Bälle lagen noch herum.
„Also, das ist der berühmte Zirkus“, kommentierte Dan mit beißendem Spott, als er das traurige Bild sah. Die vier Männer wandten sich dem Trümmerfeld zu und hielten vor einer Art Einfriedigung aus groben Balken an, wo sie ihre Pferde ließen.
In seinem Wagen saß ganz allein Bimbo und versuchte ein Federvieh zum Eierlegen zu animieren:
„Na, komm, Kleines, versuch’s noch mal.“
Ein Geräusch veranlasste ihn, sich umzudrehen und zur Tür zu sehen, durch die eben gerade Cat Stevens trat.
„Du hast mir zu meinem Glück gerade noch gefehlt!“, grunzte der Direktor. Cat musterte das Federvieh am Boden und erkannte mit einem Blick, weshalb das Tier nicht in der Lage war, Eier zu legen.
„Seit wann legen denn auch Hähne Eier?“, fragte er spöttisch. Bimbo sah das Huhn verstört an.
„Man kann sich aber auch auf nichts mehr verlassen!“, seufzte er. Ein weiteres Geräusch ließ ihn wieder zur Tür sehen.
„Tom!“, sagte er mit sich erhellender Miene.
„Wo sind die anderen?“, erkundigte sich Tom. Bimbo stand auf, ging zum Haken, wo eine seiner Hosen hing, zog ein Taschentuch und schnäuzte sich.
„Nachdem Joe tot war und du uns auch verlassen hattest, blieben die Zuschauer immer mehr weg. Und eines Tages konnte ich nicht mehr. Unser schöner Zirkus wurde aufgelöst. Alle haben Arbeit gefunden. Bis auf mich, mich wollte keiner!“, erklärte er. „Sicher, sie kommen hier und da vorbei und versprechen, dass sie fleißig sparen, damit wir eines Tages wieder anfangen können, aber das sind nur Worte.“
„Nach dem, was er sagt, sind sie noch in der Stadt“, schloss Cat aus den Worten des ehemaligen Direktors.
„Mach’ dir keine Sorgen, Bimbo. Die Schwierigkeiten sind vorbei – wenigstens für dich“, versprach Tom.
„Was meinst du damit“, fragte Bimbo verblüfft. Dan trat ein und nahm die gesamte Türbreite in Anspruch.
„Er meint, dass die kleinen Schwierigkeiten vorbei sind!“, stellte er klar. „Aber die waren – im Gegensatz zu dem, was jetzt kommt – ein Kinderspiel!“
Am folgenden Tag machte sich Thomas auf, um die Artisten wieder zusammenzusuchen. Als Ersten fand er Jackie, der im Saloon als Kellner einen Job gefunden hatte. Als Tom eintrat, räumte der junge Mann gerade die leeren Gläser von den Tischen ab und brachte sie zum Tresen zurück. Dort nahm er ein anderes Tablett, auf dem frisch gefüllte Gläser standen, die er verteilen wollte.
„Hey, Jackie!“, rief Tom von der Tür. Jackie drehte sich um, sein Gesicht strahlte auf, als er Thomas erkannte.
„Thomas!“, jubelte er, warf das Tablett mit Schwung hinter sich, das zu einem Tisch flog, an dem mehrere Kartenspieler saßen und in ihr Spiel vertieft waren. Das Tablett samt flüssigem Inhalt der Gläser traf einen der Spieler, der nur erschrocken hochsah. Jackie war inzwischen über Tische und Stühle gegangen und Tom auf den Arm gesprungen, der ihn in den Handstand beförderte.
„Hallo, Tom!“, grüßte der junge Mann.
„Hallo, Jackie!“
„Geht’s wieder los?“
„Es geht wieder los!“
„Wie in alten Zeiten?“
„Wie in alten Zeiten!“
„Wann?“
„Wenn du endlich ‘runterkommst!“, grinste Tom.
Gemeinsam gingen sie weiter und fanden als nächsten Frankie, der sich im Hotel von Libertyville als Portier verdingt hatte. Der junge Mann bewies gerade überzeugend, dass sein Artistendasein seine Nerven gestählt hatte. Vor ihm am Tresen stand ein schmales Männchen, das auf ihn einredete, während er mit freundlichem Lächeln nebenbei noch andere Hotelgäste bediente.
„Ich möchte meinen Kaffee in Zukunft auf dem Zimmer serviert haben!“, forderte das Männchen in barschem Ton.
„Sehr wohl, Mr. Collins!“, bestätigte Frankie freundlich und verbeugte sich leicht, drehte sich um und gab einem anderen Hotelgast dessen Schlüssel und eine Nachricht aus dem Fach.
„Und heiß muss er sein!“, fuhr Collins fort und wedelte mit der Melone, als würde er mit dem ausgestreckten Zeigefinger drohen.
„Sehr wohl Mr. Collins!“, erwiderte Frankie beflissen, stets freundlich lächelnd.
„Und ich möchte nicht immer eine Stunde warten müssen, wenn ich ihn bestellt habe!“
„Jawohl, Mr. Collins!“
„Und das Zimmermädchen soll gefälligst anklopfen, bevor es hereinkommt!“
„Sehr wohl, Mr. Collins“, bestätigte Frankie freundlich, aber seine Aufmerksamkeit wurde von zwei Paar Füßen gefesselt, die in der verglasten Eingangstür erschienen. Die Tür ging auf, Tom und Jackie erschienen, auf den Händen laufend, in der Hotelhalle.
„Und ich verlange – jawohl, ich verlange! – dass meine Schuhe und meine Anzüge auch an Sonn- und Feiertagen sorgfältig geputzt und gebürstet werden!“, wetterte Mr. Collins weiter. „So eine Schlamperei will ich nicht noch einmal erleben!“
„Darf ich jetzt auch mal was sagen?“, nutzte Frankie eine minimale Atempause des aufgebrachten Gastes, der sich so gern künstlich aufregte. „Wissen Sie, was Sie mich mal können?“, fragte er und machte einen Handstand auf dem Tresen, tauchte den linken Zeigefinger in das Tintenfass auf dem Tresen, verlängerte mit der Tinte Mr. Collins den Schnauzbart unter der Nase und verpasste ihm noch einen schwarzen Strich schräg über das blütenweiße Hemd.
„Sie können mich mal kreuzweise! Auf Wiedersehen, Mr. Collins“, grinste er dazu und rollte sich über den Tresen ab, verschwand mit Jackie und Tom auf den Händen aus dem Hotel.
Ein paar Häuser weiter hatten die Mädchen in einem eher zweifelhaften Haus ein Auskommen gefunden. Eine der jungen Frauen hüpfte die Treppen hinauf und klopfte am Zimmer Nummer 9
„Laurie! Laurie!“, rief sie. Laurie stand gerade vor dem Spiegel und zog sich an.
„Jaaa!“, erwiderte die Angesprochene gedehnt.
„Tom ist wieder aufgekreuzt!“, jubelte die Kollegin von draußen durch die geschlossene Tür. „Der Zirkus geht wieder los, haha!“
Sie stürmte weiter, um die nächste zu informieren. Laurie nahm ihre Handtasche und strubbelte dem Freier im Bett über den Kopf, der verschlafen hochkam.
„Warte hier auf mich, mein Guter!“, flötete sie. „Wenn ich zurück bin, beenden wir’s. Irgendwann … demnächst.“
Damit war sie aus dem Bordellzimmer verschwunden, und der Freier sah ihr nur verstört nach.
Noch ein paar Häuser weiter, im General Store, stand Dan Hutch Bessy und hatte den Verkäufer wegen Lackfarbe angesprochen. Der nahm ein Fass vom Regal und fragte:
„Und wie viel brauchen Sie davon?“
Hilfesuchend sah Dan zur Benjamin, aber der zuckte nur ratlos mit den Schultern. Dan sah nach unten.
„Er fragt, wie viel wir davon brauchen“, sagte er. Zwei Hände fassten von unten nach dem Verkaufstresen, dann zog sich Liliputaner Honey hinauf.
„Insgesamt zwanzig Quart hellrot, zehn weiß, zwei gelb und fünf breite Pinsel“, bestellte er.
Die Zirkusleute machten sich umgehend daran, ihren Zirkus wieder instandzusetzen. Hier wurde gestrichen, dort ein fehlendes Rad ersetzt, Gepäck zusammengetragen. Cat und Dan sahen sich die eifrige Aktivität wie unbeteiligt an.
„Meine schönen Ersparnisse!“, maulte Dan.
„Ich denke, Sharp wird sich dafür, dass wir ihm die Konzession erhalten, erkenntlich zeigen“, bemerkte Cat zuversichtlich und kaute auf seinem Zigarillo.
„Dein Wort in Sharps Ohr. Bei Geld ist er zugeknöpft wie ’n Priester“, grollte Bessy aus früherer Erfahrung.
„Wirst sehen“, versprach Cat.
Bimbo sprang zwischen den Gepäckstücken herum wie Rumpelstilzchen.
„Warum sind die Koffer nicht schon längst im Wagen?“, wütete er.
„Ach, das Geld!“, seufzte Dan. Es klang recht resigniert. „Aber am meisten Sorgen mache ich mir um dieses Pack hier! Sobald die wissen, was unsere wirklichen Pläne sind, laufen sie in alle Himmelsrichtungen davon!“, orakelte er.
„Sie wissen es schon“, versetzte Cat. „Tom hat es ihnen erzählt.“
„Hä?“, fragte Dan verständnislos nach.
Im Store von Kingstonville hatte ein beabsichtigter Einkauf nicht den gleichen Erfolg, den die Zirkusleute gerade gehabt hatten. Einen zahlungskräftigen Sponsor, den der Zirkus in Gestalt von Dan Bessy hatte, konnten der Schürfer McGavin und seine Söhne nicht vorweisen – und kein Bargeld auf den Tisch legen. Wie die meisten Schürfer hatte McGavin im Store anschreiben lassen, stets in der Hoffnung, er werde demnächst endlich auf Gold stoßen und seine Schulden abbezahlen können. Dennoch wirkten McGavin und seine Söhne sehr viel gepflegter als die meisten anderen Goldgräber, schon fast wohlhabend. Der ältere der drei Männer hatte graues, leicht gelocktes Haar und einen sauber gestutzten grauen Bart, seine Söhne mochten um die zwanzig Jahre alt sein und trugen nicht weniger ordentliche Kleidung als ihr Vater. Hinter dem Tresen ging Sammy, der Storekeeper, das Kreditbuch durch.
„Zweiundsechzig Dollar und vierundachtzig Cent, McGavin Ich kann dir keinen Kredit mehr geben“, fasste Sammy zusammen.
„Sammy, du musst mir die Medizin geben!“, bat McGavin eindringlich. „Unsere Kleine hat sich schon wieder die Ruhr geholt, bei den schlechten Konserven, die ihr uns hier verkauft! Du weißt, dass ich zahle, sobald ich dazu imstande bin!“
„Tut mir Leid, McGavin. Ich habe die Anweisungen der Gesellschaft zu befolgen. Ich begreife nicht, dass jemand, der eine Goldmine besitzt, nicht bezahlen kann. Die Gesellschaft hat angeordnet, dass du keinen Kredit mehr bekommst, bis du deine Schulden bezahlt hast“, erklärte der schmächtige Storekeeper, ging um den Tresen herum zu dem Regal, in dem die Geschäftsbücher lagen und legte das Kreditbuch wieder auf seinen Platz dort zurück. McGavin platzte der Kragen. Er bekam Sammy beim Schlafittchen zu fassen und drehte ihn äußerst unsanft um.
„Du hast es so gewollt, Sammy!“, knurrte McGavin und verpasste dem schmalen Storekeeper eine Ohrfeige, die ihn in eine Vitrine mit Zinnbechern und Porzellangeschirr warf. Verschreckt und verängstigt drehte sich der kleine Handelsgehilfe um, hielt sich den aufgerissenen Mundwinkel. McGavin zog seine Pistole – ein wahrhaft museales Stück, eine Steinschlosspistole, die wenigstens fünfzig Jahre alt war.
„Die ist zwar nicht so gut wie die, die ihr hier verkauft, aber sie reicht aus, um aus deinem dämlichen Kalbskopf Frikassee zu machen!“, drohte der Schürfer. „Holt euch, was wir brauchen!“, wies er dann seine beiden Söhne an.
„Du weißt, was es dich kostet, McGavin“, fragte Sammy und rückte die runde Nickelbrille wieder gerade.
„Du Wanze hast mich gerade auf eine Idee gebracht!“, grunzte der grauhaarige Goldsucher. Er trat zu dem immer noch am Boden sitzenden Sammy und durchsuchte ihn, bis er in dessen innerer Westentasche die Schlüssel für die vergitterte Gewehrkammer fand.
„Wenn wir schon so billig einkaufen können, wollen wir nicht kleinlich sein“, sagte er und warf die Schlüssel einem seiner beiden Söhne zu, die hinter dem Tresen gerade einpackten.
„Nimm, so viel du tragen kannst. Es können überhaupt nicht genug sein. Auf einmal mehr oder weniger kommt es jetzt nicht mehr an“, erklärte er dem entsetzten Storekeeper, den er mit vorgehaltener Waffe zwang, aufzustehen.
„Überleg’ dir das noch mal!“, warnte Sammy trotz der für ihn bedrohlichen Situation.
„Das habe ich schon. Wir haben in den letzten zwei Wochen nicht mehr in der Mine gearbeitet. Das kann warten. Dafür haben wir uns jetzt einen Unterschlupf gebaut, aus dem uns keiner rausholt!“, versetzte McGavin eisig.
„Wir brauchen noch Speck, Pa!“, meldete sich der andere Sohn von hinten.
„Dann nimm welchen mit, aber beeil’ dich!“, wies McGavin den jungen Mann an und wandte sich wieder an Sammy:
„Und jetzt hör’ mir gut zu, Sammy: Soviel ich weiß, kommt heute der Bezirksrichter. Ich hab’ keine Angst! Ich werd’ ihm sagen, wie ihr uns hier erpresst!“, kündigte McGavin an.
♠ ♠ ♠
Kapitel 6
Seltsames Spiel
Vor dem Hotel von Kingstonville traf fast zur selben Zeit die Postkutsche ein, mit der der Bezirksrichter zu seiner jährlichen Konzessionssitzung anreiste. Vor dem Ort hatte der Kutscher die Pferde noch einmal scharf angetrieben, um eine spektakuläre Einfahrt zu haben. Vor dem Hotel zügelte er das Vierergespann heftig und bremste gleichzeitig kräftig. Mr. Fisher, Mayor von Kingstonville und Vorsitzender der Bergwerksgesellschaft Union Mining Company, hatte die Kutsche bereits erwartet und trat auf die Veranda des Hotels, als der Kutscher sein Gefährt dort zum Stehen brachte.
Der Wagen stand kaum, als ein Mann von etwa dreißig Jahren die Tür öffnete und ausstieg. Trotz seiner eher jungen Jahre war sein schwarzes Haar schon schütter, eine deutliche kahle Stelle zierte das Hinterhaupt. Er hielt einem wesentlich älteren Mann die Tür auf, der anscheinend kurz vor der Pensionierung stand. Der ältere Herr hatte noch fast volles Haar, auch wenn es schon sehr grau geworden war. Beide Kutscheninsassen trugen dreiteilige Anzüge, die so staubfrei waren, dass klar war, sie stammten nicht aus dieser Gegend. Fisher begrüßte den älteren Herrn.
„Herzlich willkommen, Mr. Boone!“
„Guten Tag. Mr. Fisher“, erwiderte Richter Boone den Gruß. „Leider habe ich in diesem Jahr nur zwei Tage Zeit. Sind alle Besitzer der Claims informiert?“
„Selbstverständlich, Mr. Boone. Sie werden sehen: In zwei Tagen haben Sie alles hinter sich“, erwiderte Fisher, nahm den um einen Kopf kleineren Richter jovial an der Schulter und lotste ihn in das Hotel.
Fast gleichzeitig kam der ramponierte Sammy herbeigelaufen. Fisher war schon im Haus, aber Finch stand noch draußen.
„McGavin ist verrückt geworden! Er will auspacken!“, warnte Sammy den Boss von Fishers – nun ja – Sicherheitsdienst. Der schwarzgekleidete Finch nickte und wandte sich an seine Leute.
Im Hotel sortierten der Richter und sein Assistent Pitt schon ihre Papiere, um für die Sitzung am nächsten Tag gerüstet zu sein, als Fisher auf sie zukam.
„Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie während Ihres Aufenthaltes mein Gast wären“, bot er dem Richter an, „das Hotel kann Ihnen jegliche Annehmlichkeit bieten.“
Boone drehte sich um.
„Sagen Sie, Mr. Fisher: Wie viele Kaufläden gibt es hier?“, fragte er.
„Bei dem geringen Bedarf genügt einer“, erwiderte Fisher.
„Und der gehört selbstverständlich Ihnen?“, hakte der Richter nach. Es war mehr Feststellung als Frage, trotz des fragenden Tons.
„Wir mussten ihn von seinem Vorbesitzer übernehmen“, erwiderte Fisher.
„Tot, eh?“, fragte Boone weiter. Im Jahr zuvor waren so viele Besitzer von Claims als tot gemeldet worden, dass der Richter sich um die Sterblichkeitsrate der kleinen Stadt gewisse Sorgen machte.
„Nein, er ist weggezogen. Er glaubte nicht an die Zukunft dieses Ortes. Warum fragen Sie?“
„Och … aus keinem besonderen Grund“, wiegelte der Richter ab. „Nur aus Neugierde. Gute Nacht, Mr. Fisher.“
„Gute Nacht!“, wünschte der Mayor.
„Pitt!“, rief der Richter.
„Ich komme in einer Minute nach, Sir!“, rief Pitt dem Richter zu und wandte sich an Fisher:
„Sie wollen mich sprechen, Mr. Fisher?“
„Sie machen Ihre Sache ausgezeichnet. Mr. Pitt!“, lobte Fisher. „Dieses Land braucht tüchtige junge Beamte wie Sie“, schmeichelte er.
„Pitt! Wo bleiben Sie denn?“, grollte der Richter von der halben Höhe der Treppe.
„Ich komme sofort! Sie entschuldigen mich?“
Pitt folgte dem Richter nach oben. Fisher tauschte einen viel sagenden Blick mit Finch, der sich einen Whisky genehmigte.
Boone und Pitt teilten sich wie üblich ein Doppelzimmer. Der Richter drehte sich vom Fenster weg, aus dem er eben noch hinaus gesehen hatte, während Pitt die Koffer auspackte und die Sachen verstaute.
„Pitt“, sagte er.
„Ja, Sir?“
„Helfen Sie mir, die Stiefel auszuziehen.“
Als Assistent des Richters war Pitt auch eine Art Mädchen für fast alles für Boone, nötigenfalls auch der Stiefelknecht. Wortlos bückte sich der jüngere Jurist und griff nach dem linken Stiefel seines Vorgesetzten, der sich in der Hitze des Tages regelrecht am Fuß festgesogen hatte. Boone bekam ihn nur aus, indem er den rechten Fuß mit aller Macht in Pitts Allerwertesten stemmte und sein Assistent kräftig zog. Als der Stiefel endlich nachgab, war der Schwung so groß, dass Pitt gleich gegen die Wand krachte.
„Autsch!“, schrie er auf und fasste sich an den Kopf. Im selben Moment wurde es unten in der Hotelhalle laut.
„Pst, Pitt! Seien Sie ruhig!“, bremste Boone die Schmerzäußerung seines Untergebenen. Der Jüngere beruhigte sich nur langsam, so dass der Richter ihn nochmals ermahnen musste, ruhig zu sein.
„Lasst mich durch!“, hörten sie eine Stimme von unten aus der Hotelhalle. „Ich will zum Richter! Es ist mein gutes Recht!“
Ein Schuss krachte, dann war es wieder still unten. Boone zögerte nur kurz, dann riss er die Zimmertür auf und stapfte hinkend auf den Gang hinaus – einen Fuß im Stiefel, einen nur in der verschwitzten Socke. Prompt trat ihm einer von Finchs Leuten in den Weg.
„Kann ich etwas für Sie tun, Mr. Boone?“, fragte er anscheinend beflissen, dennoch latent drohend.
„Ja, Sie können mich durchlassen“, knurrte der um einen Kopf kleinere Richter. Der Blick von Finchs Mann ging nach unten auf die unregelmäßige Fußbekleidung des älteren Richters.
„Aber passen Sie auf, dass Sie sich nicht erkälten“, spöttelte er. „Es ist ziemlich kühl heute Nacht.“
„Um meine Gesundheit machen Sie sich keine Gedanken! Auf die kann ich sehr gut selbst aufpassen!“, grunzte Boone und schob den Wächter beiseite und ging zur Balustrade des oberen Stockwerks weiter. Von dort konnte er die Hotelhalle vollständig übersehen – abgesehen vom unmittelbar unter dem Innenbalkon gelegenen Teil der Halle. Am runden Spieltisch in der Halle saßen vier Pokerspieler, die völlig in ihr Spiel vertieft zu sein schienen. In der Mitte der Halle stand der große rechteckige Tisch mit vier Stühlen für den Richter und seine Beisitzer für die Konzessionssitzung am kommenden Tag. Niemand saß daran. Der Blick des Richters schweifte weiter zur Theke auf der rechten Seite, wo der Wirt auf seinen Armen lag und vor sich hin döste. Der Mann sah nur kurz hoch, stellte fest, dass keiner etwas bestellen wollte und ließ den Kopf wieder auf die Arme sinken. Nein, hier lag keine Leiche. Der Schuss musste wohl draußen gefallen sein.
Der Zirkus hatte seine Wagen zunächst in der Nähe von Sharps Haus abgestellt. Liliputaner Honey vertrat sich Pfeife rauchend die Beine und ging dann weiter in Sharps Haus.
„Es war sinnlos, euch herkommen zu lassen“, hörte er den Hausherrn resigniert sagen, als er eintrat. Sharps Tochter war gerade beim Abwasch. Honey nickte ihr zu und bekam von ihr eine Blechtasse Wasser eingeschenkt, das er durstig trank, bevor er zu dem Tisch weiterging, an dem Sharp und seine Freunde saßen.
„Es sind zu viele, und sie sind gut organisiert“, fuhr Sharp fort. „Aus dem Grund haben auch die dickköpfigsten aufgegeben – bis auf die McGavins. So richtig sture Schotten. Heute Nacht wird es ihnen an den Kragen gehen. Fisher und seine Leute können es sich nicht leisten, dass jemand auspackt. Und morgen wird es wieder heißen: Vermisst oder verstorben. In Wahrheit sind sie von Finch und seinen Gangstern umgebracht worden.“
Draußen krachten Schüsse einer heftigen, aber etwas entfernten Schießerei.
„Hört ihr das?“, fragte der Digger. Cat sah den Liliputaner einen Moment nachdenklich an, dann wandte er sich an Sharp:
„Kannst du dich einigermaßen frei in der Stadt bewegen?“, fragte er.
„Ich denke schon. Wieso?“
„Versuch’, das Gerücht zu verbreiten, dass irgendwas im Gange ist.“
„Lässt sich machen“, erwiderte Sharp. „Aber das wird früher oder später auch Fisher zu Ohren kommen“, warnte er dann.
„Die werden dem Fettwanst sowieso bald klingen“, versetzte Cat grimmig. Er sah Honey an.
„Und wir beide haben noch vor Sonnenaufgang etwas zu erledigen“, sagte er zu dem Liliputaner.
„Was?“, fragte Dan. Cat schwieg mit einem ebenso geheimnisvollen wie schelmischem leichten Lächeln. Auch Honey konnte sich keinen Reim auf seine Worte machen.
Nicht weit von Kingstonville erhob sich ein kleiner Höhenzug. Am ersten Berg dieses Höhenzuges klebte ein einzelnes Haus wie ein Adlerhorst an einer zwar passabel zugänglichen Stelle, aber der Weg zu diesem Haus konnte vom Haus aus vollständig kontrolliert werden. Dieses sichere Nest war das neue Haus der Familie McGavin, das Vater und Söhne in den zwei Wochen gebaut hatten, von denen Paul McGavin gegenüber Sammy gesprochen hatte.
Die Schüsse, die bis nach Kingstonville zu hören waren, kamen von hier. Gleich nachdem Sammy ihn auf McGavins Absicht zum Auspacken hingewiesen hatte, hatte Finch einen Teil seiner Männer zusammengetrommelt und war im Schutz der Dunkelheit zu McGavins neuem Unterschlupf geritten. Nachdem sie sich beim Versuch, das Haus direkt anzugreifen, eine blutige Nase geholt hatten, hatten sie sich in Deckung geworfen und am Fuß des Berges eine Belagerung begonnen.
Die Familie McGavin kämpfte mit den im Store gekaperten Waffen um das nackte Leben. Paul McGavin und seine Söhne schossen aus den Fenstern, was die Läufe hergaben, während McGavins Frau die Gewehre nachlud, sie geladen an ihre Männer weitergab und die leergeschossenen Waffen zum Laden nach hinten mitnahm.
Während die McGavins in ihrem sicher gebauten Haus gute Deckung hatten, hatten Finchs Männer nur die Felsen als Schutz. Immer wieder gelang es einem der McGavins, einen der Männer zu erschießen oder jedenfalls kampfunfähig zu verwunden.
Finch wurde klar, dass sie bei Tag noch schlechtere Karten hatten, die Familie in dem massiv gebauten Haus auszuräuchern, als in der Nacht. Die Beseitigung der ebenso dickköpfigen wie lästigen Goldgräberfamilie war deshalb nur in der Nacht möglich. In dieser Nacht würden sie nicht mehr viel Gelegenheit dazu haben. Es war jetzt kurz vor Tagesanbruch. Finch zog die Uhr aus der Tasche und sah nach der Zeit.
„Gleich wird es hell. McGavin wird dann nichts Besseres zu tun haben, als zum Richter zu reiten“, sagte er. „Wenn wir den Zeitpunkt gut abpassen, können wir sie bequem abknallen. Lass die Leute ablösen und sag’ ihnen, sie können sich schlafen legen“, wies er seinen Unterführer, den Hageren, an. Er stieg auf sein Pferd und ritt in Richtung Kingstonville davon.
Richter Boone und Assistent Pitt lagen im Bett. Während Pitt schnarchte, als wollte er mit den sägenden Geräuschen für Feuerholz sorgen, las der Richter noch. Zwischendurch versuchte er, den Schnarcher zur Ruhe zu bringen, damit er irgendwann selbst schlafen konnte. Aber alles Schmatzen und Pfeifen nützte nichts: Pitt sägte weiter. Dann forderte ein anderes Geräusch seine Aufmerksamkeit. Boone sah auf und bemerkte, dass das Geräusch vom Kamin kam. Dort pendelte ein Seil in der jetzt kalten Feuerstelle. Dann kamen zwei kurze Beine von oben zum Vorschein. Boone legte sich zurück und tat, als ob er schlief.
Er hatte sich kaum hingelegt und die Augen scheinbar fest geschlossen, aber die Brille immer noch auf der Nase, als Honey den Boden des Kamins erreichte und in das Zimmer trat. Rußverschmiert wie er war, trat er zum Bett des Richters, ging auf die andere Seite, zu der Boone den Kopf gedreht hatte und klopfte vorsichtig auf die Bettdecke. Als der Richter prüfend ein Auge öffnete, legte der Liliputaner einen Finger an die Lippen.
„Pst!“, zischte er und überreichte Boone einen gefalteten Zettel.
Finch erreichte am Morgen die Stadt und trat in die Hotelhalle, als die jährliche Sitzung zur Neuverteilung der Konzessionen bereits begonnen hatte.
„Thomas Lipton!“, rief Mr. Pitt im selben Moment den nächsten Konzessionsinhaber auf.
„Verstorben!“, erwiderte Sammy, der auf der anderen Seite des Richters mit am Tisch saß.
„Edward Lipton!“, rief Pitt.
„Verstorben!“, sagte Sammy.
„Sally Lipton!“, rief Pitt das dritte ihm bekannte Mitglied der Familie auf.
„Verstorben!“, erwiderte Sammy.
„Die Konzession geht demnach rechtmäßig auf die Söhne über!“, verkündete Pitt.
„Äh … ebenfalls verstorben“, meldete Sammy.
„Alle tot …“, bemerkte Richter Boone. Sammy nickte diensteifrig.
„Erhebt sonst noch jemand Ansprüche auf die Gebiete, die in der Karte mit den Nummern 387 und 422 eingetragen sind?“, fragte der Richter, an das Auditorium in der Halle gewandt. Von dort kam nur Schweigen, aber der Anwalt der Bergwerksgesellschaft hob den Finger wie ein Schüler, der sich im Unterricht zu Wort meldet.
„Wenn Sie gestatten … wir!“, sagte er. Mit einem Schriftstück in der Hand kam er zum Registrierungstisch. „Unsere Gesellschaft besitzt einen Schuldschein der Liptons über zweiundfünfzig Dollar und siebenundzwanzig Cents, den diese mit ihrer Unterschrift bestätigt haben.“
Der Rechtsanwalt gab das Schriftstück dem Sheriff, der es an Sammy weitergab. Pitt langte über den Platz des Richters hinweg und nahm Sammy das Schriftstück ab. Er verglich es mit einem gleichlautenden Schriftstück, das sich in der Konzessionsakte befand. Ausgestellt war es von der Union Mining Company, der Bergwerksgesellschaft in Kingstonville, unterschrieben war es mit einem Kreuz. Die Kreuze glichen einander.
„Die Unterschrift stimmt!“, erklärte der Assistent des Richters mit der stoischen Ruhe des juristischen Beamten.
„Ist hier wirklich niemand, der Interesse an der Mine hat?“, fragte Boone die Anwesenden im Saal. „Er müsste sich nur verpflichten, diese Schuld von zweiundfünfzig Dollar und siebenundzwanzig Cents zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bezahlen und würde eine Konzession für zwanzig Jahre erhalten mit der einzigen Auflage, sie jährlich zu erneuern, gemäß Artikel sieben der Distriktsverordnung.“
Im Raum herrschte betretenes Schweigen und völlige Erstarrung. Das Einzige, was sich überhaupt bewegte, waren die blauen Rauchwolken von diversen Zigarren oder Zigarillos, die von den Anwesenden geraucht wurden.
„Ich glaube, es gibt hier niemanden, der …“, setzte der Anwalt an, wurde aber von Richter Boone barsch unterbrochen:
„Halten Sie den Mund!“
„Sir, ich …“
„Müssen Sie immer dazwischenreden?“, fauchte Boone.
„Ich bin schon ruhig, Sir.“
„Das will ich auch hoffen! Ich nehme an, dass Ihre Gesellschaft bereits einen entsprechenden Antrag gestellt hat“, mutmaßte der Richter.
„Ja, Sir!“, bestätigte der Anwalt.
„Gut. Weiter“
„Wilbur Jones!“, rief Pitt den nächsten auf. „Konzessionsnummer 4287! Besitzer Wilbur Jones oder seine Rechtsnachfolger!“
Ein Mann drängte sich durch die Menge nach vorn.
„Sind Sie Wilbur Jones?“, fragte der Assistent.
„Ja, Sir!“
„Haben Sie Absicht, ihre Konzession auf die Gebiete, die in der Karte unter der Nummer 367 und 457 eingetragen sind, zu erneuern?“, fragte Pitt weiter. Jones’ Blick ging zum Durchgang, wo Finch stand und der Sitzung schweigend folgte. Ein leichtes Zucken um die Mundwinkel des Sicherheitschefs der Union Mining Company überzeugte Jones endgültig.
„Nein, Sir!“, sagte er. Im Raum erhob sich Gemurmel.
„Wie bitte?“, fragte Richter Boone verblüfft.
„Nein, Sir“, wiederholte Jones.
„Vergangenes Jahr haben Sie doch Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um die Konzession zu behalten!“, erinnerte Boone. Jones nickte.
„Ja, Sir. Letztes Jahr … war das was anderes“, versuchte Jones die freiwillige Aufgabe der seinerzeit mühsam erstrittenen Konzession zu erklären. Richter Boone war nicht wirklich überzeugt.
„Warum?“, fragte er hartnäckig. Jones schwieg.
„Warum?“, hakte der Richter nochmals nach. Jones, der in sich zusammengesunken war, richtete sich auf.
„Dieses … Jahr … arbeite ich lieber … für die Minengesellschaft“, erwiderte er. Wieder ging Gemurmel durch die Menge. Finch lächelte leicht; der Richter konnte es nicht sehen, weil Finch schräg hinter ihm stand.
„Na schön, Sie müssen’s ja wissen“, seufzte der Richter. Er wollte schon Pitt auffordern, den nächsten aufzurufen, als der Anwalt der Union Mining Company eilig in seinen Papieren suchte. Nach kurzem Suchen hatte er gefunden, wonach er fahndete.
„Wir besitzen einen Schuldschein von Jones über dreiundsiebzig Dollar und zweiundachtzig Cents“, erklärte er.
„… und haben deshalb einen Antrag auf Übertragung der Konzession gestellt, nicht wahr?“, mutmaßte Boone. Der Anwalt nickte. Boone nickte ebenfalls.
„War ja auch nicht anders zu erwarten“, seufzte er.
♠ ♠ ♠
Kapitel 7
Dynamit
Während der Konzessionssitzung war der Zirkus in die Stadt weitergezogen. Bimbo fand einen passenden Platz, an dem das Zelt aufgestellt werden konnte. Alle Mann und auch die Pferde waren beim Aufbau beschäftigt.
Als endlich alles fertig aufgebaut war, zogen die Liliputaner als Ausrufer durch die Straßen von Kingstonville, um Werbung für die Abendvorstellung zu machen.
„Alles, was laufen kann, sieht unsere Show sich an!“
„Beginn neun Uhr!“
„Der Welt größte Show für Mann, Kind und Frau!“
„Attraktionen, da bleibt einem die Luft weg!“
„Direkt aus Europa der Welt größter Wahrsager! Mamosa, der Weltberühmte!“
„Er weiß alles über Sie, Ihre Nachbarn und Umgebung!“
„Die größte Sensation aus Europa!“
„Attraktionen aus aller Welt! Aus allen siebenundzwanzig Erdteilen!“
Die lauten Reklamerufe der Liliputaner lockten auch die Leute aus dem Hotel, die zur Konzessionssitzung erschienen waren, allen voran den Richter und Fisher als Vorsitzenden der Union Mining Company.
„Also, wenn in einer Stadt ein Zirkus gastiert, kann ich nicht widerstehen“, erklärte Boone mit einigem Enthusiasmus. „Besorgen Sie für heute Abend zwei Karten, Mr. Pitt“, wies er seinen Adlatus an. „Sie … machen sich ja nichts aus Zirkus, Mr. Fisher“, setzte er dann hinzu.
„Och … ich …“, setzte Fisher an.
„Dann besorgen Sie drei Karten, Pitt. Sie sind eingeladen, Mr. Fisher.“
„Oh, das kann ich nicht annehmen, Mr. Boone.“
Honey zwinkerte dem Richter im Vorbeigehen zu. Der Richter erwiderte das Zwinkern, gut getarnt als Blinzeln in die Sonne. Er drehte sich um und kehrte in den Saal zurück. Pflichtschuldigst kamen die anderen, die mit hinausgegangen waren – Pitt, Sammy, der Sheriff und Fisher – wieder mit hinein.
„Wissen Sie, Fisher, ich bin der Meinung, dass man diese Künstler unterstützen muss. Es wäre schade, wenn die Vorstellung heute Abend schlecht besucht wäre“, warf der Richter den mit Honey verabredeten Köder aus.
„Oh, das haben wir gleich“, grinste Fisher. „Alle mal herhören!“, rief er in die Hotelhalle. „Zu Ehren von Richter Boone lädt die Bergwerksgesellschaft heute Abend alle Bürger in den Zirkus ein!“
Der Bürgermeister, in Personalunion auch der Gesellschaftsvorsitzende, mochte Begeisterung erwartet haben, aber nur sein Anwalt klatschte, ansonsten herrschte eisiges Schweigen
„Alle, verstanden!“, fauchte er.
„Danke, Mr. Fisher“, erwiderte der Richter maliziös. „Ich möchte dem noch hinzufügen, dass ich es als persönliche Beleidigung empfände, wenn jemand nicht kommt.“
Der Hagere, der Mann, der den Trapezartisten Joe umgebracht hatte, und sein Kumpan jagten in vollem Galopp vom Haus der McGavins nach Kingstonville hinein und stoppten vor dem Büro der Union Mining Company. Der Hagere sprang vom Pferd, band es an der Verandastange fest.
„Wo ist Finch?“, fragte er.
„Im Haus“, erwiderte einer von den Leuten, die vor der Tür herumlungerten und auf neue Anweisungen warteten. Der Hagere trat ein. Finch saß an einem der Schreibtische und tippte spaßeshalber auf einer Kontiermaschine herum. Die Minengesellschaft nahm jede technische Neuerung an, die sich bot, wenn es den Profit erhöhte. Mit einer Kontiermaschine konnte der Gewinn jedenfalls lesbarer dargestellt werden …
„Na?“, fragte Finch, als er den Hageren schon am Schritt erkannte.
„Nichts“, erwiderte der und griff nach einer Korbflasche, die an der Wand hing. „Sie haben sich nicht gerührt. Um die da raus zu kriegen, müssten wir schon Dynamit nehmen.“
Fisher sah hoch.
„Macht, was ihr wollt! Nehmt von mir aus Dynamit“, sagte er. „Hauptsache, McGavin erscheint morgen nicht zur Sitzung. Du hast völlig freie Hand. Heute Abend, während ich mit dem Richter bei der Vorstellung bin.“
„Welche Vorstellung?“, fragte der Hagere.
Es wurde Abend, es war kurz vor neun Uhr. Daniel stand hinter dem Vorhang des Artistenausgangs und sah mit nagenden Zweifeln den Girls zu, die den Besuchern die Plätze anwiesen.
„Hoffentlich machen die Mädchen jetzt keinen Fehler, sonst geht unser schöner Plan in die Binsen.“
Tom spähte kurz durch den Sehschlitz des Vorhangs.
„Bestimmt nicht“, erwiderte er zuversichtlich. „Die Goldsucher werden auf der einen Seite platziert, Finchs Leute auf der anderen.“
Er verließ den Vorhang, nahm seinen Revolvergurt vom Haken und schnallte ihn sich um.
„Jetzt fehlt nur noch einer“, brummte er.
„Nein, Tom, ich sehe ihn kommen“, sagte Bimbo. Tom trat wieder an den Vorhang. Seine Hände krampften sich in den schweren Stoff. Cat stand hinter ihm und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter.
„Ruhig bleiben!“, mahnte er.
„Ich bin ruhig“, erwiderte Tom. Cat nickte, wenngleich er nicht völlig überzeugt war, dass Tom gerade die Wahrheit gesagt hatte. Er wandte sich ab.
„Nachdem unsere Freunde alle vollzählig sind, kann die Vorstellung ja anfangen“, sagte er. Im selben Moment bekam Bimbo Angst vor der eigenen Courage.
„Können … wir die Vorstellung nicht … abblasen?“, fragte er mit unsicherer Stimme. „Ich … ich kann da jetzt nicht hinausgehen und … das Publikum begrüßen.“
„Mach’ dir nicht in die Hosen, Bimbo! Wir können jetzt nicht mehr zurück!“, erinnerte Tom. Er hatte sich jetzt wieder völlig in der Gewalt. Bimbo zögerte immer noch. Dan reichte es.
„Dann müssen wir wohl nachhelfen!“, knurrte er und nahm den Direktor am Schlafittchen.
„Neiiiin!“, schrie der angstvoll auf, aber Dan schob ihn unnachgiebig hinaus in die Manege. Es dauerte noch einen Moment, bis Bimbo sich wieder gefasst hatte, aber dann gewann die Professionalität des prahlerischen Zirkusdirektors doch Oberhand.
„Äh … hm … Äh … ja … Guten Abend hochverehrtes Publikum! Ich möchte mich zunächst herzlichst dafür bedanken, dass Sie heute Abend so zahlreich erschienen sind. Wir beginnen unser heutiges Gala- und Monsterprogramm mit einer Pantomime nach einem Stück von William Shakespeare!“
Den Namen des berühmten europäischen Dramatikers rief er wie einen Triumphschrei aus, aber die Anwesenden konnten damit offensichtlich zu wenig anfangen, um überhaupt zu applaudieren. Bimbos Grinsen gefror wieder zu einem unsicheren, fast schüchternen Lächeln. Nur schwer fand er in die Rolle des Marktschreiers zurück, der seine Ware ohne Rücksicht auf die tatsächliche Qualität in den höchsten Tönen pries.
„Es ist so fantastisch dargestellt, dass Sie glauben werden, sich selbst, ihre Freuden und Leiden zu sehen.“
Dabei warf er den Goldsuchern einen bedeutsamen Blick zu, die auf der linken Seite der Manege saßen.
„Und ich übertreibe bestimmt nicht, wenn ich sage, dass einige von Ihnen so etwas nie wieder zu sehen bekommen werden.“
Bei diesen Worten sah er Finchs Leute an.
„Wo immer wir damit bisher aufgetreten sind, haben wir wahre Beifallsstürme geerntet.“
Allmählich hatte er wieder festen Boden unter den Füßen.
„Ich möchte aber noch hinzufügen, dass eventuelle Ähnlichkeiten mit hier anwesenden Personen absolut unbeabsichtigt und rein zufällig wären.“
Damit gab er einen Wink und der Wink mit dem Zaunpfahl begann.
Jackie kam herein – als Goldsucher verkleidet, mit Maultier und Goldsucherausrüstung. Er holte das ganz oben auf dem Maultierpackzeug liegende Sieb herunter, nahm Schaufel und Hacke heraus und begann, Sand in das Sieb zu schaufeln, siebte es durch.
Ein junger Mann auf der Goldsuchertribüne sah sich zu seinem Vater um, der hinter ihm saß.
„Wollen wir nicht lieber nach Hause gehen, Pa?“, fragte er. Genau das, was der Artist da unten in der Manege tat, tat er selbst jeden Tag, den der Herrgott die Sonne aufgehen ließ. So etwas Langweiliges musste er sich nicht auch noch in der knappen Freizeit ansehen, fand er. Dem älteren Digger kam aber eine leise Ahnung, was diese Geschichte zu bedeuten haben konnte.
„Nein, warte noch“, erwiderte der Ältere, dem die Spannung deutlich anzusehen war.
Jackie hatte inzwischen einige Steine ausgesiebt. Kaum war das letzte Sandkorn aus dem Sieb gefallen, als sich von Jackies linker Seite Frankies rechte Hand näherte und einige Steine entfernte. Frankie war wie ein bewaffneter Cowboy gekleidet. Er zog die Hand zu sich, lud die Steine in die linke Hand um und machte – freundlich lächelnd – eine Geste, die als Frage zu deuten war, ob er den Handinhalt behalten könne. Jackie schüttelte entsetzt den Kopf. Frankie holte aus und verpasste Jackie eine Ohrfeige, dass dessen Kopf nach hinten gerissen wurde und der angeklebte Bart nur so flog. Wieder fragte er pantomimisch nach, ob er die Handvoll Steine behalten konnte. Erneutes Kopfschütteln, erneute Ohrfeigen. So ging es einige Male, bis Jackie sich betrübt die Backe hielt und nickte. Gönnerhaft grinsend tätschelte Frankie die andere Wange seines Bruders.
„Interessant, nicht wahr?“, fragte der Richter, der durch den von Honey übergebenen Zettel vorgewarnt war, den neben ihm sitzenden Fisher. Der nickte nur verstört und sah schwitzend zum Hageren hinüber und gab ihm mit dem Kopf ein Zeichen. Der Hagere seinerseits nickte zweien der anwesenden Männer von Finch zu, die verstanden und sich leise aus der Manege entfernten. Sie kamen nicht sehr weit. Kaum waren sie außerhalb der Sichtweite der Manege, wurden sie von Daniel und Benjamin aufgehalten.
„Guten Abend, die Herren“, flötete Dan. „Schade, dass Sie sich die Vorstellung nicht zu Ende ansehen wollen.“
Die beiden ernteten Hiebe, dass ihnen buchstäblich Hören und Sehen verging.
In der Manege begann das Spiel von vorn. Wieder siebte Jackie einige Steine aus, wieder erschien eine Hand – diesmal war es von rechts Bimbos weißbehandschuhte Hand. Er nahm einige Steine an sich, machte die gleiche fragende Geste, die Frankie vorher vorgeführt hatte. Jackie schüttelte den Kopf und steckte nun von beiden Seiten ein.
Den Goldsuchern wurde langsam klar, worum es bei der Pantomime ging … Manch einer sah sich selbst an der Stelle des geschundenen Jackie, Frankie wurde in der Vorstellung der Digger zu Finchs Unterführer, dem Hageren oder einem anderen von dessen Leuten, in der Person Bimbos sahen sie Fisher oder dessen Anwalt. Mancher hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Backe.
Die Pantomime war beendet. Als alle begeistert zu applaudieren begannen, hatte Fisher die Hand wie zum Schlag erhoben, senkte sie aber sofort zum heftigen Klatschen, als er den Blick des Richters spürte.
„Und so lehrreich, nicht wahr, Mr. Fisher“, bemerkte Boone sarkastisch. Die Behandlung schien zu wirken. Fisher sah verärgert aus, wusste sich aber nach außen hin zu beherrschen.
Inzwischen waren Finch und der Rest seiner Leute, die nicht im Zirkus waren, wieder am Haus der McGavins. Alles war ruhig, kein Schuss fiel. Die Banditen lagen in Deckung, die Familie vergeudete keine Munition, aber McGavin und seine Söhne beobachteten argwöhnisch den Zugang zum Haus und die Felsen darunter.
Hinter einem noch höheren Felsen zog Finch seine Uhr aus der Westentasche.
„Gleich muss er oben sein“, raunte er dem Mann neben sich zu. Wie auf ein Stichwort zeichnete sich fast im selben Moment auf der Felsspitze etwa hundert Fuß über dem Haus der McGavins die Silhouette eines Mannes gegen den vom Mondlicht erleuchteten Himmel ab. Er griff in sein Hemd und zog ein Bündel Dynamitstangen heraus, zündete die Lunte mithilfe seines Zigarillos und warf das Bündel im hohen Bogen auf das tief unter ihm liegende Haus.
Die Bombe landete zielgenau im Kamin und explodierte. Ein Feuerball zerriss das am Felsen klebende Haus und löschte fünf Menschenleben aus.
Der Knall der Explosion dröhnte bis nach Kingstonville.
„Was war denn das für ein Knall?“, fragte Richter Boone den Chef der Minengesellschaft.
„Knall? Ich habe nichts gehört“, erwiderte Fisher. „Sie?“, wandte er sich an den Anwalt.
„Vielleicht ein Gewitter?“, versuchte der Anwalt den Knall zu erklären.
„Ein Gewitter? Zu dieser Jahreszeit?“, wunderte sich Boone laut. „Ich fand, es klang wie eine Explosion!“
Fisher lächelte spöttisch.
„Explosion? Wer sollte um diese Zeit noch sprengen? Ausgeschlossen!“, wehrte er ab.
Die Mädchen legten eine Zwischennummer ein, sangen ein Lied, mit dem sie auf die kleinen Geschenke unter den Sitzen aufmerksam machten. Goldsucher und die Männer um Fisher langten nach und nach unter die Bänke. Die Goldsucher fanden unter ihren Sitzen geladene Revolver, die Leute von Finch und die Minenprominenz fischten Ratschen mit drei Seidenbändern in blau, weiß und rot heraus, den amerikanischen Landesfarben.
♠ ♠ ♠
Kapitel 8
Die Weltsensation
Bimbo stand hinter dem Vorhang und genehmigte sich einige Schlucke Whiskey direkt aus der Flasche. Er hatte sich inzwischen umgezogen und trug wieder seinen Frack als Zirkusdirektor.
„Ich glaube, die Pantomime ist ganz gut angekommen“, bemerkte er zwischen zwei Schlucken aus der Flasche. „Die Sache fängt langsam an, mir Spaß zu machen.“
„Mach’ endlich weiter!“, fuhr Cat ihn an. Bimbo war schon fast draußen, da fiel ihm ein, dass er noch etwas in der Hand hatte. Er ging drei Schritte rückwärts, stellte die Flasche ab, setzte sich den zerknautschten Zylinder zurecht und ging dann mit schwungvollen Schritten hinaus in die Manege.
„Aufgemerkt, Ladies und Gentlemänner und hochverehrte Gäste!“, verkündete er mit großer Geste. „Es folgt … der große Extra-Akt, den niemand zuvor gesehen hat und den viele der anwesenden Herrschaften vermutlich auch kein zweites Mal sehen, jedenfalls ganz. Ein Akt, bei dessen Anblick Ihr Blut gerinnen wird! Von dem Generationen nach uns schwärmen werden …“
„Teufel und Hölle, worauf warten wir?“, fauchte Dan Cat an, der am Vorhang stand und beobachtete, was sich in der Manege tat.
„Geht gleich los“, erwiderte Cat. „Verzieh dich auf deinen Platz und pass auf! Is’ ‘ne Menge los!“
„Herrschaften, wir zeigen die Weltsensation des Jahrhunderts! Den weltberühmtesten Akt, den die Welt je gesehen hat!“, fuhr Bimbo voller Begeisterung fort, sah in Richtung Zirkuskuppel und deutete mit den Händen Flügelschläge an. „Die fliegenden Bergleute!“
Die Blicke des Publikums gingen nach oben. Dort saßen – in voller Goldsuchermontur einschließlich Bärten bis zur Brust – Jackie und Frankie auf den Trapezen und schaukelten sachte vor sich hin.
„Thomas Lipton!“, rief Jackie.
„Der Mann, der zu keinem Kompromiss bereit war!“, antwortete Frankie.
Einer der Liliputaner zündete in der Manege einen an der zentralen Leine befestigten Schwärmer, der heulend nach oben schoss und knapp unter der Kuppel explodierte. „Gestorben!“, rief Jackie.
„Anthony Billing! Er fand ‘ne Möglichkeit, seine Familie vorm Verhungern zu bewahren!“, rief Jackie den nächsten aus. Wieder wurde ein Schwärmer gezündet.
„Gestorben!“, verkündete Frankie.
„Hoss Brailing!“
„Gestorben!“
„Tom Miller!“, schrie Jackie
„Gestorben!“, antwortete Frankie
„Elliot Spencer!“
„Gestorben!“
„Shy Whitman!“
„Gestorben!“
„Oliver Baxter!“
„Gestorben!“
Für jeden, der als verstorben gemeldet wurde, zündeten die Liliputaner Schwärmer. Auch dem letzten Digger war jetzt endlich klar, worum es hier ging. Und auch dem Letzten wurde bewusst, dass jeder aus dem Weg geräumt worden war, der auch nur ansatzweise Erfolg gehabt hatte und sich diesen Erfolg nicht einfach hatte wegnehmen lassen. Nach und nach waren fast alle Anwesenden aufgestanden.
„Paul McGavin! Und seine Familie!“, schrie Jackie
„Gestorben!“
Gleich zwei Schwärmer wurden gezündet. Durch Sharp waren Cat, Dan und die Zirkusleute gut informiert, aus der entfernten Explosion hatte man sich den Rest zusammenreimen können. Fisher hielt nichts mehr auf seinem Platz. Auch ihm und seinen angeheuerten Schlägern wurde der Sinn des Spiels klar. Er nahm die Zigarre aus dem Mund.
„Genug!“, brüllte er.
„Ja, genug!“, versetzte einer der jüngeren Digger und hob den Colt, den er unter dem Sitz gefunden hatte. Bevor er abdrücken konnte, hatte der Hagere schon den Revolver aus dem Halfter und erschoss den Mann aus der Hüfte.
„He, du!“, rief Tom und trat hinter dem Vorhand heraus. „Das Maß ist voll!“
Der Hagere hatte sein Schießeisen zwar in der Hand, aber Tom war dennoch schneller. Noch im Handheben hatte der Hagere eine Kugel aus Toms Revolver im Leib und brach tot zusammen. Eine halbe Minute, die zu einer Ewigkeit zu gerinnen schien, lag atemlose Spannung in der Luft. Die Banditen erhoben sich langsam. Der Freund des Hageren war der Erste, der wieder zur Waffe griff, aber Cat war schneller, trat hinter dem Vorhang hervor und schoss. Der Freund des Hageren ging tödlich getroffen zu Boden. Die restlichen Leute Finchs, die im Zirkus waren, rissen die Waffen aus den Holstern. An verbliebenen Zugängen zur Manege erschienen Dan und Benjamin. Die vier Revolvermänner schossen, was die Läufe hergaben. Innerhalb von nicht einmal zehn Sekunden lagen die Banditen tot oder kampfunfähig verwundet in der Tribüne.
Zur selben Zeit kehrte Finch mit der Hälfte seiner Männer zurück, die die McGavins bekämpft hatten. Einer der Liliputaner, den Cat auf Beobachtungsposten geschickt hatte, sah sie kommen und rannte zum Zirkuszelt zurück, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen.
Im Zelt standen die Goldsucher wie zu Salzsäulen erstarrt. Daniel ging gereizt auf und ab wie ein Löwe im Käfig.
„Es war sinnlos, das alles zu inszenieren“, knurrte er. „Guck sie dir an, Cat!“, grollte er.
„Worauf wartet ihr? Der Moment zum Losschlagen ist da!“
Er ging an der vorderen Reihe entlang bis zu einem gebeugten, alten Goldsucher, der völlig verschüchtert wirkte.
„Puh!“, fuhr er ihn von hinten an. Der alte Mann fuhr erschrocken zusammen.
„Hast du gesehen?“, wandte sich Dan an Cat.
„Hör auf, Dan!“, versetzte der und ging fort, gefolgt von Tom und Benjamin.
„Na los, Männer!“, wandte sich Sharp an die immer noch stocksteif dastehenden Goldgräber. „Oder seid ihr alle bloß Waschlappen?“
Jackie sprang auf Dan zu, nahm Bart und Hut ab.
„Mein Bruder und ich kommen mit“, sagte er. „Was sollen wir tun?“
„Dumme Frage!“, grunzte Dan. „Ihr werdet schon sehen.“
Sharp versuchte weiter, die Goldgräber zum Widerstand zu motivieren und winkte, aber sie blieben wie angewurzelt stehen. Sharp folgte seinen Freunden schließlich allein.
Cat, Benjamin, Tom, Daniel, Sharp, Frankie und Jackie – sie waren jetzt sieben. Sieben gegen fünfzehn bis zwanzig …
Finch und seine Männer kamen als großer Reitertrupp an einem Ende von Kingstonville herein. Vom anderen Ende kamen ihnen fünf Revolvermänner und zwei mutige Artisten entgegen. Cat sah unauffällig an der Linie der sieben Aufrechten entlang. Er hatte mit mehr Unterstützung durch die Goldgräber gerechnet. Bislang hatte er sie als mutige Leute eingeschätzt, die sich nicht einfach wegnehmen ließen, was sie mühsam aus der Erde gegraben hatten. Er hatte sich getäuscht, so schien es ihm. Allmählich bereute er, Dan und Benjamin in die Sache hineingezogen zu haben.
„Tut mir Leid!“, brummte er, an Dan gewandt.
„Ach, lass doch!“, grunzte Dan zurück. „Im Grunde hatte ich das Landleben sowieso satt“, setzte er hinzu.
Einer von Finchs Männern, der im Zirkus niedergeschossen worden war, war inzwischen wieder zu sich gekommen und stolperte blutbesudelt den Rückkehrern entgegen. Er wies Finch ein.
Cat und seine Mitstreiter sahen die Kolonne kommen. Cat wies Dan und Benjamin mit einer knappen Kopfbewegung an, sich nach links in ein Gebäude zu verziehen. Jackie stieß seinen Bruder an und wies nach rechts. Er, Frankie und Sharp wandten sich nach rechts in eine Nebenstraße.
Finch und seine Männer ließen ihre Pferde zurück und drangen zu Fuß weiter in die Stadt ein. In breiter, doppelter Reihe gingen sie langsam vorwärts, die Gewehre schon in der Hand. An der nächsten Kreuzung ging eine Dreiergruppe links und eine andere rechts herum, der größere Teil weiter geradeaus.
Auf dem Weg durch die Nebenstraße fand Jackie einen Weg oben herum, von dem er annehmen durfte, dass Finchs Leute ihn nicht nutzen konnten. Er stupste Frankie an und sah zum Wasserturm hinauf. Die Brüder verständigten sich mit Blicken, verstauten die Waffen und kletterten mit dem ihnen eigenen Geschick über die schrägen Verstrebungen zum Wasserturm hinauf, während Sharp sich auf Jackies Nicken unten am Turm verschanzte. Von der Plattform des Turms sprangen sie auf das benachbarte Dach und gingen dort hinter der übermannshoch über den Dachfirst hinausragenden Scheinfassade des Hauses in Deckung.
Unten pirschte eine Dreiergruppe von Finchs Leuten eine Gasse entlang und drang weiter vor. Oben auf dem Dach suchten die Artistenbrüder nach einer gut gedeckten Schussposition und sahen unten eine Fünfergruppe vorsichtig über den Stepwalk der nächsten Straße vorgehen.
Tom und Cat schlichen an einem der wenigen Steingebäude von Kingstonville entlang. Sie peilten sorgsam um die Ecke. Niemand war zu sehen. Cat eilte nach rechts durch den Durchgang zwischen dem Steinhaus und dem benachbarten Holzgebäude, ging an der rechten Seite des Hauses herum, während Tom an der linken Seite weiterschlich.
Die verteilten Gruppen von Finchs Männern trafen sich am zentralen Platz der kleinen Stadt auf dem Stepwalk eines großen Hauses und gingen von dort in breit auseinander gezogener Front mit schussbereiten Gewehren weiter. Frankie und Jackie beobachteten sie aus der sicheren Deckung der hochgezogenen Scheinfassade.
Dan und Benjamin traten auf einen Stepwalk. Ihre Stiefel verursachten auf dem Holzboden unüberhörbare Schrittgeräusche. Eine Katze, vom Lärm aufgeschreckt, sprang Dan direkt vor die Füße und bekam einen Tritt, der ihr ein lautes Kreischen entlockte. Der Katzenschrei alarmierte zwei von Finchs Leuten, die sich rasch in eine Mauernische drückten.
Tom, der in den Mietstall vorgedrungen war, bemerkte zwei von Finchs Männern, sprang aus der Deckung und schoss. Einer der beiden stürzte getroffen ins Stroh des Mietstalls. Tom schoss gleich noch ein zweites Mal und traf die Petroleumlampe, die im Stall hing. Er warf sich wieder in Deckung, um seine Schrotflinte nachzuladen. Der zweite der Gruppe und noch ein Dritter rannten herein und brachten sich hinter einer Zwischenwand in Sicherheit. Einer kam vorsichtig aus der Deckung und sprang einige Schritte vorwärts zur Leiter, die am Heuboden angelehnt war, enterte sie und eilte hinauf, um den Schützen hinter einem der Stände von oben abzuschießen. Er war leise genug, dass Tom ihn nicht hörte und gelangte auf eine gute Schussposition.
Gerade, als er Tom im Visier hatte, ließ Jackie sich vornüber in ein Stallfenster hineinfallen und schoss ihn in der fließenden Bewegung nieder. Der Mann taumelte zurück, fiel auf zwei lose am Halbboden abgestellte Heusäcke und stürzte mit einem Aufschrei samt den Säcken nach unten.
Tom wurde dadurch aufmerksam, sah hoch, bemerkte gerade noch, dass es Jackie war, der ihm eben das Leben gerettet hatte und widmete sich wieder der neuen Ladung seiner Doppelbüchse.
Zwei von Finchs Leuten brachten sich auf einem Stepwalk in Sicherheit, zogen sich eilig rückwärts zurück, ohne zu ahnen, dass über ihnen Frankie und Jackie auf dem Balkon darüber in die gleiche Richtung eilten. Die Banditen wendeten unterwegs, erreichten das Ende des Stepwalks, die beiden Artisten sprangen über die Brüstung des Balkons, landeten direkt hinter Finchs Männern, die sich verblüfft wieder umdrehten und mit je einem saftigen Kinnhaken ins Reich der Träume geschickt wurden.
Zwei andere Banditen schlichen an einem der Zirkuswagen entlang. Oben auf dem Wagen waren zwei der Liliputaner und wuchteten einen der massiven Zirkusbälle über die Dachreling des Wagens, der fast so groß war, wie sie selbst. Der schwere Ball traf einen der Banditen auf den Kopf und warf ihn mindestens bewusstlos zu Boden. Sein Kumpan wirbelte herum und sah nach oben, drehte dabei aber dem dritten im Liliputanerbund den Rücken zu und bekam eine Dachlatte über den Hut gezogen. Auch er ging kampfunfähig zu Boden.
Cat hatte sich in den Korral vorgearbeitet und zwischen den ob des Lärms nervös herumlaufenden Pferden Deckung gefunden. Gegenüber zeigte sich einer von Finchs Leuten hinter einer Hausecke. Cat schoss und traf ihn tödlich. Während er leicht geduckt nach dem nächsten Gegner Ausschau hielt, hatte Frankie schon zwei entdeckt, die auf Cat zumarschierten, der sie aber nicht sehen konnte. Frankie schwang an einem Seil herbei und räumte den, der Cat schon vor dem Lauf hatte, aus dem Weg.
♠ ♠ ♠
Kapitel 9
Zur rechten Zeit
Während außerhalb des Zirkuszeltes die Revolvermänner und die Trapezartisten gegen Finch und seine verbliebene Truppe kämpften, schwitzten innerhalb des Zeltes Fisher und Sammy, die mit den Händen an einen der tragenden Zeltpfähle gefesselt waren. Die Goldsucher standen immer noch unschlüssig herum und wussten nicht, was sie jetzt tun sollten.
„Richter! Sie gehen langsam zu weit!“, beschwerte sich der Bürgermeister.
„An Ihrer Stelle würde ich den Mund halten“, wies Boone ihn zurecht. Fisher bemühte sich redlich, den Richter anzusehen. Unglücklicherweise stand der hinter ihm, und Fishers gut gefütterter Wanst hinderte ihn, sich mit nach vorn und oben gefesselten Händen weit genug umzudrehen, um ihn scharf anzusehen. Er zappelte an dem Pfahl wie ein abgehängter Fasan.
„Zur Hölle mit Ihnen! Ist Ihnen nicht klar, dass die alle im Grab landen, wenn die jetzt nicht auf mich hören? Und ihre Frauen und Kinder natürlich auch! Wenn Finch diese vier Idioten erledigt hat, hat kein Mensch mehr eine Chance!“, drohte er. Die Goldgräber sahen ihn unverwandt an. Unten zwängte sich einer von den Liliputanern im Clownskostüm durch.
„Ihr habt vorhin über den Clown da gelacht“, fuhr er fort und wies mit seinem prächtigen Doppelkinn auf den Zwerg. „Jetzt macht ihr euch selbst lächerlich! Legt die Waffen weg, macht mich los und ich sage Finch, dass er euch in Ruhe lassen soll!“
Immer noch Schweigen bei den Diggern.
„Na, ist das kein Angebot?“, lockte Fisher. Einer der bärtigen Claimbesitzer sah verlegen auf den langläufigen Revolver in seiner Hand. Dann drehte er ihn langsam in die Waagerechte – und ließ ihn fallen. Fisher bekam schon ein siegessicheres Schmunzeln, als einem anderen Digger der Kragen platzte.
„Glaubt Ihr Idioten ihm denn immer noch? Los, worauf warten wir noch?“, feuerte er die Goldsucher an. Der ältere Digger, der an der Vorstellung so interessiert gewesen war, fuhr den, der den Colt hatte fallen lassen wütend an:
„Man müsste dir … ach was! Ihr Feiglinge, schämt ihr euch gar nicht, diesem Lumpen überhaupt zuzuhören? Komm, Jack! Wir gehen raus und kämpfen!“, wies er seinen Sohn mit einem Kopfnicken an. Vater und Sohn gingen entschlossen vorwärts und waren schon fast bei Fisher, als sie wie angewurzelt wieder stehen blieben.
Die anderen folgten dem Blick der entschlossenen Goldsucher. Ihnen kam einer von Finchs Männern mit gespanntem Revolver entgegen. Fishers Schmunzeln wurde breiter und geradezu triumphierend.
„Sehr gut, Charlie! Komm her und mach mich los!“, befahl der Bürgermeister feixend. Charlie trat gehorsam weiter vor. Als er in das Licht der Zeltbeleuchtung trat, wurde ein roter Blutfaden sichtbar, der vom linken Mundwinkel ausgehend im Bart verschwand. Erst jetzt bemerkten die Anwesenden, dass Charlies Schritte weniger langsam als unsicher waren. Auf halbem Weg zu Fisher kippte er um wie ein gefällter Baum und war tot, bevor er auf dem Boden aufschlug. Fishers siegessicheres Grinsen wich blankem Entsetzen.
Der Bann war gebrochen. Johlend stürmten die Goldgräber über den Toten hinweg, rempelten den halb im Weg stehenden Fettwanst von Mayor und Company-Vorsitzendem beiseite. Wäre er nicht an dem Zeltpfahl angebunden gewesen, hätten die Digger ihn mit der Gewalt einer Büffelherde in Stampede niedergetrampelt.
Nicht weit vom Zirkuszelt entfernt traf die Diggerhorde auf einen schwer verwundeten Gefolgsmann Finchs. Erneut blieb die Meute unschlüssig stehen. Aber als der Mann mit letzter Kraft seinen Revolver hob, krachten mindestens zehn der Goldgräber-Revolver wie die Gewehre eines Erschießungskommandos. Der Einschlag der Kugeln warf den Banditen von dem Gehsteig, auf dem er zusammengebrochen war.
Im Mietstall war bei der Schießerei zwischen Tom und zwei von Finchs Leuten eine Petroleumlampe zu Bruch gegangen und hatte ein Feuer ausgelöst. Dan und Benjamin waren immer noch im Stall und feuerten auf jeden der Banditen, der es riskierte, sich im Bereich der luftigen Holzgitterwand zu zeigen. Finchs Leute hatten andererseits den Stall umzingelt, so dass sie ihn allerdings auch nicht verlassen konnten. Bens Blick ging nach oben, wo der Halbboden lichterloh brannte. Hektisch sprang er zu Daniel und wies ihn mit Handzeichen auf die Gefahr von oben hin.
„Ich hab’ das Gefühl, wir werden noch als Brathühner enden!“, knurrte Dan. Benjamin zeigte auf eine Kutsche, die nur wenige Yards von ihnen entfernt stand und machte Bewegungen, die darauf schließen ließen, dass er mit der Kutsch aus dem Stall fahren wollte. Dan nickte begeistert.
Draußen im Korral hatte Cat seinen Revolver leergeschossen und lud eilig nach, während drei von Finchs Leuten im Schutz der scheuenden Pferde eine gute Schussposition zu erreichen versuchten.
Der wilde Haufen Goldgräber rannte an Sharps Stellung vorbei. Sharp war kampfunfähig verwundet, aber er konnte der Verstärkung den richtigen Weg weisen.
„Da sind sie!“, keuchte er und wies auf den zentralen Platz der Stadt.
Daniel und Benjamin räumten alles aus dem Weg, was die Kutsche behindert hätte. Dann rannten sie zur Kutsche, gaben dem Gefährt mit einigen Schwüngen die richtige Geschwindigkeit, stießen sich ab und sprangen in den Wagen hinein, der die dünne Holzwand durchbrach. Aus dem Wagen feuerten sie zu beiden Seiten auf die Belagerer des Stalles. Nur wenige entgingen ihrem Dauerfeuer. Dan, der vorn im Wagen saß, erkannte während der rasenden Fahrt eine andere Gefahr.
„Die Bremse!“, rief er. „Die Bremse!“
Der taubstumme Benjamin reagierte nicht. Daniel kam nicht an die Bremse heran – und die Kutsche krachte in voller Fahrt in einen Hühnerstall. Über und über mit Stroh, Federresten, Hühnerdreck und dem Inhalt zerquetschter Eier bedeckt, rappelten sie sich wieder auf und fanden sich einstweilen wieder in einem Käfig gefangen. Die umgestürzte Kutsche blockierte das mit brachialer Gewalt in den Stall gefahrene Loch. Finchs Leute bemerkten es und stürmten mit Triumphgeheul auf den Hühnerstall zu.
Im selben Moment jagten die Goldsucher um die andere Ecke.
„Da drüben!“, wies Dan auf die Banditen. Die Digger schossen im Laufen auf alles, was sich auf der anderen Seite des Platzes bewegte. Finchs Männer wurden einer nach dem anderen abgeschossen.
Bimbo war im Zelt geblieben und sah hinaus auf das, was sich draußen ereignete. Er wandte den Gefangenen den Rücken zu und hatte ein breites Grinsen im Gesicht.
„Ich schätze, das ist Ihre Abschiedsvorstellung, Mr. Fisher!“, spottete er. Er drehte sich kurz um und wandte sich dann wieder der Straße zu. Dabei entging ihm, dass Sammy und der Sheriff im Begriff waren, sich von den Handfesseln zu befreien.
Im Kassenbereich des Seiteneingangs schossen die Mädchen und der Richter währenddessen mit Gewehren auf die Banditen. Richter Boone hatte ein schadenfrohes Grinsen im Gesicht, als ihm eines der Mädchen eine frisch geladene Winchester reichte. Finchs Leute kamen nicht an den Zirkus heran und mussten sich wieder zurückziehen.
Cat hatte seinen Revolver geladen, drängte sich durch die immer panischer werdenden Pferde hindurch und flankte über den Korralzaun. Noch in der Landung schoss er auf einen der beiden in seiner Nähe verbliebenen Banditen, die sich in einem Haus gegenüber verschanzt hatten. Der Mann stürzte tödlich getroffen zu Boden. Der andere hob den Revolver demonstrativ hinaus und ließ ihn nach unten drehen, schob ihn ins Holster. Langsam schob sich eine schwarzgekleidete Gestalt hinaus. Cat bemerkte es und kam ebenso langsam aus seiner tiefen Deckung hoch, als er erkannte, dass es Finch selbst war. Auch er versenkte den Revolver im Holster und richtete sich ganz auf. Er hatte die Herausforderung verstanden und nahm sie an.
Revolvermänner, die etwas auf sich hielten, fochten ein Duell im Stehen und ohne Deckung aus. Finch mochte sich mit Horden von Schießwütigen umgeben, aber in gewissen Grenzen galt dieser Ehrenkodex auch für ihn. Langsam gingen sie aufeinander zu, zwischen ihnen war der im Laufe des Feuergefechtes leckgeschossene Wasserturm. Cat blieb vor dem regnenden Wasserturm stehen und wartete mit finster entschlossenem Blick, dass Finch in das Mondlicht trat. Im Licht blieb auch Finch stehen, beide zählten schweigend bis zehn und zogen. Cat war den Bruchteil einer Sekunde schneller und schoss.
Die Letzten von Finchs Bande flüchteten vor der zahlenmäßigen Übermacht der Goldgräber in den Saloon, wo Daniel und Benjamin schon waren. Die verbliebenen Banditen verwickelten die Goldgräber, Benjamin und Daniel in eine wüste Schlägerei, die angesichts der wahren Bärenkräfte von Dan und seinem jüngeren Schützling zu einer eher einseitigen Angelegenheit zu Lasten der Banditen geriet. Als einer von draußen neu hinzukam, das Messer zog und auf Benjamin losging, warnte Dan ihn:
„Pass auf!“
Benjamin schnappte den Mann am Arm und entwand ihm das Messer, indem er ihn einmal im Kreis herumwirbelte und dessen Arm mit Schwung über sein Knie brach. Mit dem Rückschwung beförderte er den Möchtegernmeuchelmörder im hohen Bogen durch die schon angeschlagenen, gedrechselten Pfeiler eines kleinen Nebenraumes.
Ben kam neben Daniel an die Theke.
„Sag mal, warst du nicht taub?“, erkundigte er sich fast nebenbei, während er immer noch auf einen der Prügelknaben eindrosch.
„Schon möglich“, erwiderte Benjamin strahlend. „Das macht vielleicht die Abwechslung!“
In einem anderen Haus war auch Tom zum Nahkampf übergegangen. Er hatte den letzten bei ihm verbliebenen Banditen windelweich gehauen, hob ihn hoch und holte aus, um ihn mit einem saftigen Kinnhaken aus dem Fenster zu befördern. Bevor er zuschlagen konnte, hatte Frankie sich von hinten an das Fenster herangeschlichen, vor dem Tom den Banditen verprügelte, und zog ihm eine Dachlatte über den Kopf.
Ein Stück weiter bearbeiteten drei der vier Liliputaner einen von Finchs Männern, wie Dan und Benjamin ein Bär von einem Mann. Einer saß auf den Schultern und schien ihm den Kopf abreißen zu wollen, ein zweiter drosch mit einer Keule auf die Beine des Mannes ein, der dritte verbiss sich in der rechten Hand. Mit aller Macht schüttelte er sich und warf die Zwerge ab, aber sie gingen gleich wieder mit den Keulen auf ihn los und schlugen von drei Seiten her auf ihn ein, so dass er nicht wusste, wohin er zuerst greifen sollte. Mit vereinten Kräften prügelten sie ihn nieder. Als er sich nicht mehr rührte, wandten sie sich kichernd ab, um den nächsten Gegner zu suchen.
Im Zirkuszelt war es Sammy und dem Sheriff gelungen, sich von den Handfesseln zu befreien. Auch Fisher und sein Anwalt waren frei. Fisher bückte sich nach dem Revolver, den einer der Goldgräber noch eingeschüchtert hatte fallen lassen. Er hob ihn hoch und zielte auf Bimbo, der ihnen unvorsichtigerweise immer noch den Rücken zudrehte. Ein Schuss krachte und Bimbo brach mit einem Aufstöhnen zusammen. Die vier Männer wandten sich ab, um das Zelt zu verlassen. Bimbo rutschte hilflos an der Zeltwand herunter, als sich neben ihm der Vorhang öffnete und Cat eintrat, der die Situation mit einem Blick erfasste.
„Das wird Sie endgültig an den Galgen bringen … Fisher!“, grollte er. Der Sheriff beging den Fehler, nach dem Revolver zu greifen. Er hatte ihn noch nicht einmal halb aus dem Halfter, als eine Kugel aus Cats Colt ihn nach hinten riss. Mit der Waffe in der Hand und wütend-entschlossenem Blick kam Cat weiter in die Manege hinein.
„Oder wollen Sie lieber auf andere Weise zur Hölle fahren?“, fragte er, auf den toten Sheriff weisend, und schob den Revolver wieder ins Holster.
„Jetzt kommt das große Finale“, brachte Bimbo mühsam vor. „Aber beeilen Sie sich, ich möchte es gern noch sehen!“
Fisher zögerte. Er sah auf Cat, der die Hand knapp über dem Revolverkolben in seinem Holster hielt. Fisher hatte seinen Colt in der Hand und fragte sich, ob er wohl schneller auf den Revolvermann zielen konnte, als der seine Waffe ziehen, zielen und abdrücken konnte. Nach quälend langen Sekunden senkte er den angewinkelten Arm – und ließ die Waffe fallen.
„Ihr Auftritt ist beendet, Mr. Fisher. Sie können gehen“, sagte der sterbende Zirkusdirektor. Es waren seine letzten Worte.
Im strahlenden Licht des folgenden Tages verließ der Zirkus unter dem Jubel der Einwohner von Kingstonville die Stadt. Cat und Dan ritten bis zum Abend mit den Zirkuswagen und trennten sich erst, als die Sonne untergehen wollte. Der Zirkus nahm Kurs auf den Süden, Cat und Dan wandten sich nach Westen, der untergehenden Sonne entgegen.
Ende
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.