Erstes Buch:
Alexander von Wengland, dritter Sohn von König Wilhelm, hat keinen Titel zu erben. Obwohl er von Apanage leben könnte, arbeitet er als Vermessungsingenieur im Ausland. Dann erreicht ihn eine dringende Depesche, die ihn heim ruft. Zu seiner Überraschung erfährt er zu Hause, dass er eine Eisenbahn bauen soll – und das ist nicht alles …
Zweites Buch:
August 1875 – die zweite Linie der Königlich Wenglischen Eisenbahn ist fertig und soll von Kronprinz Friedrich eingeweiht werden. Doch einen Tag vor der Einweihung werden Friedrich, seine Frau und sein Sohn bei einem Bombenattentat ermordet. Alexander und zwei seiner Mitarbeiter werden von der Gendarmerie verhaftet und grob verhört, bis König Wilhelm persönlich eingreift. Die ersten Ergebnisse der Ermittlungen weisen zwei Verdächtige aus: Friedrichs jüngere Brüder Eberhard und Alexander. Alexander sieht sich gezwungen, sich den Schatten seiner Vergangenheit zu stellen und muss bald feststellen, dass es nicht nur um zwei Verdächtige geht, sondern um eine großangelegte Verschwörung …
Leseprobe Erstes Buch
Kapitel 12
Bruderzwist
Nach einem reichhaltigen Frühstück am Tisch der königlichen Familie, an dem es nichts auszusetzen gab, begaben sich das Königspaar, die Prinzen und ihre Familien sowie Gast Simone von Haldenstein zur Burgloge, von wo aus die Parade abgenommen wurde.
Alexander, seine Brüder und ihr Vater waren wieder in Hofuniform, diesmal auch behütet. Der zur Uniform gehörige Zweispitz war schwarz und mit Straußendaunen verziert, die in der jeweiligen Waffenfarbe eingefärbt waren. Vorn und hinten schaute eine goldene Troddel aus den Ecken des Zweispitzes heraus. Gehalten von einer goldfarbenen Soutacheschnur prangte an der linken Seite der Kopfbedeckung eine große, aus Stoff gefaltete Kokarde in den wenglischen Farben.
Die Parade begann mit dem Vorbeimarsch der Herwigsgarde, die Rüstungen im Stil des 9. Jahrhunderts trugen. Dann folgte die Kavallerie, an ihrer Spitze das Garderegiment, dem Alexander als Reservist angehörte. Ohne es eigentlich zu wollen, drückte Simone die Hand ihres Liebsten, als sie das stolze Regiment in sehr ähnlichen Uniformen sah, wie Alexander sie bei ihrem ersten Treffen in der Postkutsche getragen hatte. Der Kavallerie folgte die Infanterie, zuerst das Garderegiment, dessen Oberst Prinz Friedrich war. Dann kam die Artillerie, zunächst die schwere Festungsartillerie ohne ihre Geschütze, dann die leichte, bespannte Artillerie, die ihre aufgeprotzten Feldgeschütze mitführte. Hinter der Artillerie folgten die Pioniere mit dem von Fürst Wolf gegründeten Garderegiment, den Fürst-Wolf-Pionieren, dann die Sanitäts- und schließlich die Trosseinheiten. Den Abschluss bildete die Gendarmerie, deren Chef Prinz Eberhard war.
Hatten die Zuschauer jeden Truppenteil mit Jubel begrüßt – bei der berühmt-berüchtigten Grauen Gendarmerie blieb alles stumm. Ein eisiges Schweigen legte sich über die Steinburger Allee, auf der die Parade stattfand. Prinz Eberhard presste die Lippen zusammen. Der Affront richtete sich im Wesentlichen gegen ihn, hatte er doch das harte Durchgreifen gegen die Sozialisten veranlasst. Er packte zornig seinen Degengriff.
„Das werde ich ihnen heimzahlen!“, grollte er finster.
„Seit wann ist es Gesetz, der Polizei zuzujubeln?“, fragte Alexander grinsend. „Vor allem: Wem willst du es heimzahlen? Dem ganzen Volk? Dann fang’ gleich bei mir an. Ich habe der traurigen Vorstellung auch nicht applaudiert.“
Eberhard fuhr zu Alexander herum. Der Jüngere hielt dem wütenden Blick seines älteren Bruders stand.
„Wäre ich der Chef der Eisenbahn, hätte es keinen Arbeiteraufstand gegeben“, stichelte Eberhard.
„Dessen wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher, Eberhard. Auf jeden Fall hätte es mit dir als Eisenbahnchef mehr als vier Tote gegeben“, entgegnete Alexander kühl.
„Vor allem hätte ich mit den Aufrührern kurzen Prozess gemacht und sie nicht, wie du, verhätschelt!“, grunzte Eberhard. Alexander bemerkte, dass Simone aufbegehren wollte, und drückte unauffällig ihre Hand.
„Es ist interessant, Herr Polizeichef, dass du selbst nicht gewillt bist, Recht und Ordnung zu achten. Wie kannst du es dann von anderen erwarten?“, gab Alexander zurück.
„Dass du merkwürdige Ansichten hast, Alex, das weiß ich inzwischen. Aber dass du dieses Flittchen …“
„Halt, Eberhard! Simone lässt du aus dem Spiel!“, grollte der Jüngere scharf.
Seine Reaktion war so laut, dass auch die übrigen Mitglieder der Königsfamilie den brüderlichen Disput mitbekamen.
„Streitet ihr euch schon wieder?“, fuhr die Königin dazwischen.
„Alex, Eberhard, Schluss!“, befahl Wilhelm barsch. „Wir drei haben nach dem Essen miteinander zu reden. Jedes Mal, wenn ich Alex mit Mühe wieder hier habe, keift ihr euch an! Jetzt ist ein für allemal Schluss damit!“
Gehorsam hörten die Streithähne auf, aber Alexander zog es vor, auf die andere Seite des Königspaars zu wechseln.
„Habt ihr oft Streit?“, fragte Simone leise. Alexander seufzte.
„Immer, wenn es um die Polizei geht“, sagte er. Sie wollte noch etwas sagen, aber die Königin sprach sie an:
„Sie bleiben doch zum Essen, Baronesse?“
„Na ja, …“
„Ja, Mama, sie bleibt“, entschied er lächelnd.
Nach dem Essen nahm Königin Annette Simone völlig in Anspruch. Sie hatte an der unkomplizierten jungen Frau Gefallen. Simones Scheu vom Vortag hatte sich gelegt und sie konnte nun offen reden, zumal ihr die freundliche ältere Dame sehr sympathisch war.
König Wilhelm bedeutete den beiden jüngeren Prinzen, mit ihm ins Arbeitskabinett zu kommen. Als er die reich verzierten, mit dem königlichen Wappen geschmückten Flügeltüren geschlossen hatte, drehte der König sich heftig um. Seine Söhne standen erwartungsvoll vor dem königlichen Schreibtisch und sahen ihren Vater an.
„Ich fasse es nicht! Die Herren Söhne sehen sich nach fast drei Jahren wieder und gleich gibt’s Streit. Wer hat angefangen?“
„Er!“, sagten beide wie aus einem Munde und wiesen auf den jeweils anderen.
„Eberhard – deine Version?“, forderte Wilhelm den Älteren auf.
„Alex hat über meine Polizei gelästert“, erklärte er.
„Alex?“
„Eberhard hat es nicht gepasst, dass das Volk seiner Polizei nicht zujubelt und meinte, er werde es ihnen heimzahlen. Ich habe ihn gefragt, ob er dann nicht gleich bei mir anfangen wollte, weil ich der traurigen Vorstellung seiner Truppe auch nicht applaudiert habe. Er …“
„Das reicht“, bremste Wilhelm den Redefluss seines Jüngsten. Er wandte sich an den Älteren:
„Eberhard, an deinem Führungsstil in der Polizei gefällt mir manches nicht. Das weißt du. Vor allem werden in letzter Zeit zu viele Personen zu lange ohne Prozess oder richterlichen Haftbefehl festgehalten. Ändere das schleunigst, oder ich setze jemand anderen als Polizeichef ein.“
Eberhard erblasste, sprang auf und wollte gehen.
„Hiergeblieben!“, kommandierte Wilhelm barsch. „Wenn ich euch schon beide gemeinsam an den Ohren habe, bleibt ihr beide hier, bis ich euch entlasse!“
„Jawohl, Majestät“, bestätigte Eberhard eisig und setzte sich wieder.
„Zu dir, Alexander!“, knurrte der König. „Ich bin keineswegs von der Affäre begeistert, die du dir mit dem Arbeiteraufstand geleistet hast. Das, mein Sohn, hätte dir nicht passieren dürfen!“
Alexander wollte etwas einwenden, aber eine herrische Handbewegung des Königs ließ ihn schweigen.
„Ich habe euer Intermezzo vorhin durchaus mitbekommen. Eberhard hat Recht, wenn er behauptet, ihm wäre das nicht unterlaufen.“
„Dann erkläre mir einer, wie ich es hätte verhindern sollen!“, brauste Alexander auf. „Ich kann nicht auf allen Baustellen gleichzeitig sein und noch die Repräsentation für die KWE hier in Steinburg machen. Nachdem Ingenieur Ettinger mich alarmiert hatte, hatten wir die Situation innerhalb von nicht einmal achtundvierzig Stunden unter Kontrolle – und das auch nur deshalb, weil es bis nach Felsbruck zwei Tagesritte sind. Ich kann keinen Fehler meinerseits erkennen.“
„Verdammt, du musst durchgreifen!“, fauchte Wilhelm.
„Ah, ja. Und wie? Soll ich die tausend Arbeiter, die von den Aufrührern belogen und betrogen wurden, etwa erschießen lassen?“, fragte Alexander mit verhaltenem Zorn.
„Nein, ‘rausschmeißen!“
„Nein!“, widersprach Alexander. „Es sind fleißige und vor allem gute Arbeiter, die sorgfältig und ordentlich arbeiten. Die Aufrührer kamen von außen, nicht aus der Arbeiterschaft.“
„Aber sie haben die Aufrührer auf die Baustelle gelassen und sind ihnen gefolgt“, beharrte Eberhard.
„Eberhard, das ist doch kein Argument!“, wehrte sich Alexander. „Die Aufrührer kamen bewaffnet, haben sich gleich die Vorarbeiter und die Ingenieure gegriffen und eingesperrt und den Arbeitern einen Sack voll Lügen aufgetischt. Die Arbeiter waren den rhetorisch geschulten Agitatoren bildungsmäßig nicht gewachsen. Sonst hätten sie den Blödsinn mit Sicherheit erkannt und die Roten Garden schneller von der Baustelle komplimentiert, als sie ‘raufgekommen sind. Unter den Umständen hätte auch Eberhard den Aufstand nicht verhindert, Vater.“
„Ich hätte die Baustellen bewachen lassen“, warf Eberhard süffisant ein.
„Nachdem, was ich mitbekommen habe, neigt das Volk zur Opposition gegen deine Grauen Gendarmen. Die Arbeiter hätten angenommen, die Bewachung richte sich gegen sie – und nicht gegen Fremde, die den Betriebsfrieden von außen stören. Diese Baustellen sind doch kein militärisches Sperrgebiet!“, protestierte Alexander. „Und wenn ich sie jetzt bewachen lasse, müssen sie es erst recht annehmen!“, setzte er hinzu.
„Diese Situation hast du dir selbst eingebrockt, Alex“, sagte der König. „Durch deine mangelnde Aufsicht ist es zu dem Aufstand gekommen.“
„Sagt mal, was wollt ihr eigentlich?“, fragte Alexander völlig verblüfft. „Läuft dieses Gespräch darauf hinaus, Eberhard als Leiter der Eisenbahn einzusetzen? Vater, geh’ keine Umwege! Wenn du Eberhard mit der Leitung betrauen willst, jetzt, nachdem ich alles schön ins Laufen gebracht habe und technisch von ihm keine Leistungen mehr zu erbringen sind, weil ich die Strecke komplett vermessen habe und auf den Baustellen die Ingenieure die örtliche Bauleitung übernommen haben – bitte, tu es. Aber auf meine Mitarbeit werdet ihr dann verzichten müssen.“
„Ist das ein Rücktrittsgesuch?“, fragte Wilhelm.
„Keineswegs. Aber wenn du es vorhast, stell’ mir keine Falle, sondern sag’ offen, dass es dir lieber ist, wenn ein Polizeidrachen die Arbeiter knechtet, als dass jemand, der weiß wovon er spricht, die Arbeiten koordiniert. Dass ich kein Bauleiter im üblichen Sinne sein kann, habe ich dir von Anfang an gesagt. Ich bin Vermessungsingenieur, kein Bauingenieur“, erwiderte Alexander.
„Ich will nicht, dass du wieder fortgehst“, versuchte Wilhelm Alexander zu beruhigen.
„Dann überleg’ dir gut, was du tust, Papa. Ich sorge dafür, dass die Bahn nach deinen Wünschen gebaut wird. Aber wenn du mir Eberhard als Oberwachhund vor die Nase setzt, finde ich einen guten Job bei der Gotthardbahn“, warnte Alexander.
„Gut, lassen wir das“, lenkte König Wilhelm ein. Aber Alexander war schon zu weit getrieben worden.
„Nein, ich will wissen, wofür ich arbeite!“, versetzte er wütend. „Wenn ich letztlich nur dafür aus der Schweiz geholt worden bin, um die Eisenbahn hier in die richtige Spur zu setzen, damit einer meiner Brüder die Ehre hat, bei der Eröffnung hören zu können, dass er sie gebaut hat, dann weiß ich was Besseres!“
„Alex, es reicht!“, rief Wilhelm, nun ebenfalls zu sehr gereizt. „Wenn so etwas wieder geschieht, dann ist Eberhard dein Vorgesetzter!“
„Lass mich wissen, wann er anfängt. Dann ist mein vorerst letzter Arbeitstag in Wengland!“, wetterte Alexander.
„Außerdem ist da noch dieses Flittchen …“, setzte Eberhard an, als Alexander ihm harsch ins Wort fiel:
„Lass Simone aus dem Spiel!“, donnerte er seinen Bruder an. „Sie ist mit Vaters Wissen und Willen eingeladen worden und auf seine Einladung über Nacht geblieben!“
„Mit Vaters Willen hast du sie kaum heute Nacht besucht“, grinste Eberhard maliziös.
„Möglich. Aber mit seinem Wissen. Sonst hätte er uns keine Herwigsgardisten zur Bewachung geschickt“, versetzte Alexander.
„Du leugnest also nicht, mit der Tochter eines wegen Aufruhrs verurteilten Mannes die Nacht verbracht zu haben?“, fragte Eberhard. Es klang nach Verhör.
„Keineswegs“, erwiderte der Jüngere. „Aber mit dem Aufruhr hat sie nichts zu tun. Ihr Vater hat den Aufstand angezettelt, nicht Simone. Sie hat mir sogar noch Hilfe geschickt. Lass sie aus dem Spiel. Simone ist meine Privatsache“, verteidigte er seine Freundin.
Wilhelm hatte dem heftigen brüderlichen Disput zugehört.
„Willst du sie heiraten?“, fragte er.
„Ja“, sagte Alexander ohne zu zögern.
„Nach den Informationen meines Polizeichefs bin ich davon zwar nicht begeistert, aber ich habe euch dreien die freie Wahl der Frau zugesichert. In deiner Funktion als Eisenbahnchef bist du damit aber zum Sicherheitsrisiko geworden. Das kann ich nicht länger verantwor…“
„Dann seht zu, wie ihr ohne mich fertig werdet!“, rief Alexander erbittert, sprang auf und stürmte zur Tür.
„Alexander!“, brüllte der König.
„Nein! Mit mir nicht mehr!“, schrie der Prinz zurück. „Treu und brav habe ich in der Schweiz meinen Job, der mir etwas bedeutet hat, aufgegeben, um hier eine Eisenbahn zu bauen. Jetzt läuft’s – der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. Diesmal ist’s endgültig. Schon einmal habe unter Eberhards Befehl bluten müssen! Wie wär’s, wenn mein herzliebster Bruder zur Abwechslung mal selber was tut, statt sich von seinem kleinen Bruder die Kohlen aus dem Feuer holen zu lassen? Wengland ist für Eberhard und mich zu klein. Der Klügere gibt nach. Ich gehe!“
Die Tür des Arbeitskabinetts krachte geräuschvoll ins Schloss.
Kapitel 13
Heftige Reaktionen
Alexander stürmte zornig in seine Zimmer und packte seine Sachen, die er aus der Schweiz mitgebracht hatte, entledigte sich seiner Uniform und zog sich wieder einen leichten Zivilanzug an. Dann suchte er nach Simone. Er fand sie bei einem heiteren Gespräch mit seiner Mutter.
„Oh, mein Sohn, gut, dass du kommst. Die Baronesse muss noch einen Besuch machen. Ob du sie wohl heimbringst?“, bat die Königin ihren jüngsten Sohn.
„Gewiss, Mama. Ich wollte mich ohnehin von dir verabschieden.“
Erst jetzt fiel den Frauen auf, dass Alexander in Zivil war.
„Nein!“, entfuhr es Königin Annette entsetzt.
„Doch, Mama. Papa will Eberhard zum zweiten Mal zu meinem Vorgesetzten machen. Ich bin ein Sicherheitsrisiko, weil ich Simone, die Tochter des Dr. Simon von Haldenstein, der politisch unzuverlässig ist, liebe und sie heiraten will. So sieht’s aus. Ich habe die Nase voll und gehe zurück nach Andermatt, wo ich hätte bleiben sollen“, erklärte Alexander mit einer Bitterkeit, die Annette nicht von ihm gewohnt war.
„Alex, ich hatte dich endlich wieder hier. Geh’ nicht wieder fort, mein Sohn“, bat die Königin.
„Mutter – ich fange eine Arbeit an und wenn sie gut läuft, bekommt Eberhard das Kommando. Du weißt, wohin er mich geschickt hat und was die Folgen davon waren. Diesmal, Mama, halte ich nicht mehr den Kopf für die Geltungssucht meines Bruders hin“, erklärte Alexander.
„Alex …“
„Nein, Mama, es ist zwecklos.“
Er wandte sich an Simone, die leichenblass geworden war:
„Soll ich dich heimbringen?“
„Sascha – was ist mit mir?“
„Du kommst mit. Heiraten können wir auch in Andermatt“, bot der Prinz an. „Eberhard wird dich kaum im Büro lassen“, setzte er warnend hinzu.
„Du wolltest mir Zeit lassen“, erinnerte Simone.
„Gut, wie du willst“, seufzte er. Er gab seiner Mutter einen Abschiedskuss.
„Komm“, sagte er leise zu Simone. Sie verabschiedete sich herzlich von Königin Annette.
Draußen auf dem Flur nahm er seinen Koffer und begleitete Simone heim.
„Ist es dein Ernst? Willst du wirklich ohne Abschied von den anderen gehen?“, fragte die junge Frau.
„Eigentlich nicht. Aber heute geht noch eine Postkutsche in Richtung Palparuva. Bravadur und Palparuva liegen zwar auf dem Kurs, aber Felsbruck nicht. Tu mir den Gefallen und informiere Andreas Ettinger“, bat Alexander.
„Was wird aus mir?“
„Meine Frau, sobald du es willst. Es liegt an dir. Wenn du hierbleibst, bist du morgen gefeuert. Eberhard wird aufräumen – und du wirst sein erstes Opfer sein“, bemerkte Alexander.
„Na ja, ich habe etwas gespart. Vielleicht komme ich so durch.“
„Nein, Simone. Ich gehe weg, aber ich lasse dich nicht im Stich“, versprach er.
„Ich will nicht, dass …“
„Und ich will nicht, dass du demnächst wieder im Hirschen Can-Can tanzen musst! Simone, verdammt, ich liebe dich! Komm mit mir“, erwiderte der junge Mann heftig.
„Ich kann noch nicht!“, rief sie verzweifelt.
„Gut. Ich hab’ verstanden. Konto?“, fragte Alexander.
„Was?“
„Gib mir deine Kontonummer. Ich werde dir so viel Geld monatlich schicken, dass du dich nicht wieder prostituieren musst“, präzisierte er.
„Vielleicht finde ich ja wieder eine Anstellung, wenn dein Bruder mir kündigt“, hoffte sie.
„Meinetwegen lass’ das Geld Junge kriegen, aber gib mir deine Kontonummer, damit du was hast, wenn du keine Anstellung findest!“, drängte er. „Und gib es nicht wieder zu freigiebig an deine Genossen“, setzte er hinzu. Sie gab auf und nannte ihm ihre Kontonummer bei der Steinburger Bank. Er verabschiedete sich mit einem zärtlichen Kuss und verließ eilig das Haus, um die Postkutsche noch zu bekommen. Er hatte gerade das Haus verlassen, als Simone ein heftiger Weinkrampf packte.
Alexander erreichte die Poststation gerade noch rechtzeitig, um die Fahrkarte zu lösen und mitzufahren. Von Martinskirchen, der ersten Etappe aus, beauftragte er die Steinburger Bank, von seinem dort laufenden Apanagekonto monatlich tausend Gulden auf Simone Haldensteins Konto zu überweisen. In Bravadur traf er auf Planungschef Gasser.
„Wie? Sie hier? Stimmt was nicht?“, fragte Gasser.
„So kann man’s nennen, Herr Gasser. Ich bin als Eisenbahnchef abgelöst und durch meinen Bruder Eberhard ersetzt. Ich gehe zurück nach Andermatt. Vielleicht hat Herr Henninger noch Verwendung für mich“, sagte der Prinz.
„Das ist ja furchtbar!“, entfuhr es dem Schweizer. „Also, wenn Sie gegangen werden, gehe ich auch!“, kündigte er dann an. Alexander wehrte ab.
„Nein, bleiben Sie. Ich bin ersetzbar – Sie nicht!“
„Aber ich habe hier angeheuert, weil Sie der Chef waren“, protestierte Gasser.
„Ueli – tun Sie mir den persönlichen Gefallen und bleiben Sie, damit aus dieser Bahn etwas wird“, bat Alexander.
„Warum hat man Sie abgelöst?“, wollte Gasser wissen.
„Mein Vater glaubt, dass mein Bruder die besseren Führungsqualitäten hat“, lächelte Alexander leicht gezwungen.
„Dann hätte er ihn gleich damit beauftragen können, statt Sie aus Andermatt zu holen“, empörte sich Gasser.
„Sie sehen, auch ein König ist nicht unfehlbar“, grinste der Prinz.
„Eben. Ich halte es für einen Riesenfehler, ausgerechnet Sie abzusetzen, Herr von Steinburg“, erwiderte Gasser knurrend.
„Mag sein. Bleiben Sie nur dabei. Bitte.“
„Na gut. Aber wenn Ihr Herr Bruder ihre Qualitäten nicht hat, sind wir Schweizer weg. Das garantiere ich“, drohte Gasser.
„Wartet es ab“, bat Alexander dringend.
Ebenso war die Reaktion in Palparuva. Die Arbeiter wollten sogar streiken; Alexander verbot es ihnen. Sie sollten weiter fleißig arbeiten und sich nicht darum scheren, wer oben saß.
„Alex, hören Sie:“, setzte der Ire Thompson an. „Ich kannte Sie von der Union Pacific her. Deshalb habe ich in Irland alles stehen und liegen lassen und bin nach Wengland gekommen“, sagte er.
„Simon, bitte! Ihr alle: Tut mir den Gefallen, baut weiter. Lasst euch nicht irre machen. Und wenn ihr fertig seid, dann könnt ihr sagen, ihr habt die Bahn für Alexander von Steinburg gebaut – und für euch selbst“, forderte Alexander die Arbeiter auf.
Simone brauchte zwei Tage, um sich einigermaßen zu beruhigen. Dennoch war sie am Tag nach dem Eklat wieder pünktlich im Büro gewesen, aber als Eberhard gegen Mittag kurz in die Geschäftsräume der Eisenbahngesellschaft geschaut hatte, hatte sie sich entlassen auf der Straße wiedergefunden. Als sie wieder zu sich selbst gefunden hatte, mietete sie sich ein Pferd und ritt nach Felsbruck.
„He, Simone, das ist ein seltener Besuch!“, rief Andreas Ettinger schon von weitem.
„Grüß dich, Andreas. Etwas Furchtbares ist passiert: Alexander ist abgelöst worden. Prinz Eberhard hat die Leitung übernommen“, sagte Simone noch ganz atemlos, als sie vor dem Baukontor vom Pferd stieg. Im Nu bildete sich eine Traube von Arbeitern, die ihren Ohren nicht zu trauen glaubten.
„Wie bitte?“, entfuhr es Ettinger. „Alex abgelöst und durch diese Schnüffelniete abgelöst? Welcher Schwachkopf war das?“
Simone machte eine ausladende Geste.
„Seine Majestät höchstpersönlich!“, seufzte sie.
„Ja, um Gottes Willen, warum denn?“, hakte Andreas nach.
„Offiziell meinetwegen“, erwiderte die junge Frau. „Weil er mich heiraten will, ist er plötzlich zum Sicherheitsrisiko geworden.“
Ettinger sah Simone über den Rand seiner runden Brille an.
„Weil dein Papi Sozi ist, was?“, stellte er fest. Simone nickte.
„Und was ist mit Alex? Warum kommt er nicht her?“
„Alex ist noch am elften nach Andermatt abgereist. Er hat mich gebeten, euch mitzuteilen, dass er abgelöst wurde und in nach Andermatt zurückgeht.“
„Hat er irgendwas gesagt, was wir tun sollen?“, fragte einer der umstehenden Arbeiter. „Sollen wir uns wehren?“
Simone schüttelte den Kopf.
„Nein, davon hat Sascha nichts gesagt. Er hat mir keine Aufträge für euch mitgegeben. Nur, dass ich euch informieren soll.“
„Herr Ettinger – wir streiken!“, rief der Arbeiter aus. „Wir lassen uns nicht einfach den besten Chef der Welt nehmen! Ohne ihn wär’ ich heute arbeitslos. Und Eduard hätte sich die Behandlung nach seiner Fußamputation nicht leisten können. Nein, das können wir uns nicht einfach bieten lassen!“
Andreas bat um Ruhe, weil die zuhörenden Arbeiter mehr oder weniger laut gegen Alexanders Entlassung protestierten.
„Ruhe, Leute, Ruhe!“, rief er. Allmählich verstummte das Volksgemurmel.
„Prinz Eberhard ist unser neuer Chef!“, sagte er dann laut. „Mir schmeckt das überhaupt nicht, Leute – aber mit Streik kommen wir nicht weit. Eberhard, dieser Polizeidrache, hat uns Eisenbahner seit dem Aufstand im April ohnehin im Visier. Ein Streik würde ihm nur einen Vorwand liefern, Soldaten gegen uns einzusetzen. Wir machen weiter wie bisher. Der Polizeiprinz wird schon sehen, wie weit er ohne Alexander kommt. Er versteht nichts von unserer Arbeit. Freunde: Wir bauen unsere Bahn weiter! Und wenn man uns unsere Verträge kündigt, dann soll Eberhard doch sehen, wie er diese Bahn ohne euch Arbeiter, ohne Vorarbeiter, ohne Ingenieure baut! Los, weiter!“, forderte er die Arbeiter auf.
„Für unseren Alex!“, röhrten die Arbeiter im Chor.
Simone hatte plötzlich Tränen in den Augen. Kaum zu glauben: Genau diese Arbeiter hatten damals im April Alexander und Andreas beinahe gelyncht. Jetzt waren sie bereit, für den Prinzen sogar zu streiken. Aber Simone merkte noch mehr: Alexander fehlte ihr sehr. Sie hatte den dringenden Wunsch, nach Andermatt zu reisen.
Kapitel 14
Geschäftssinn
Eberhard begann, nach Sozialdemokraten unter den Arbeitern zu fahnden, setzte Spitzel ein, die nicht selten heftig verprügelt wurden. Sämtliche Fachleute in Führungspositionen, die Alexander eingestellt hatte und zu denen er ein gutes persönliches Verhältnis hatte, verschwanden innerhalb von zwei Wochen von den Baustellen. Für die Arbeiter, die bei Alexander angeheuert hatten und sogar zum Streik für ihn bereit gewesen waren, war dies das Zeichen zur Kündigung. Kaum einen Monat nach Alexanders Ausscheiden hatte die Bahn erstmals Baustillstand. Prinz Eberhard tobte zwar, aber er bekam keine Arbeiter, weil sich sämtliche Wengländer einfach weigerten, unter dem Kommando von Eberhard zu arbeiten. Der Prinz verfügte Fronarbeit, zog Häftlinge zur Zwangsarbeit heran, verschlechterte damit aber nur seinen ohnehin nicht guten Ruf. Nach knapp drei Monaten ging beim Bahnbau gar nichts mehr. Auf sämtlichen Baustellen ruhte die Arbeit.
König Wilhelm war außer sich vor Zorn, als Eberhard zum Rapport erschien.
„Wunderbar, Eberhard! Einmalig! Du hast keine drei Monate gebraucht, um Arbeiten zum Stillstand zu bringen, die Alexander begonnen hat! Unter Alexander war die Bahn – trotz des Aufstands – eineinhalb Monate vor dem Zeitplan. Durch deine grandiose Personalpolitik hängen wir jetzt zwei Monate hinter der Planung. Wirklich, eine reife Leistung, mein Sohn“, wetterte er.
„Aber du hattest doch selbst gesagt, dass Alex die Arbeiter ‘rauswerfen sollte“, maulte Eberhard.
„Ja, er sollte sie entfernen, stimmt. Aber die Bauarbeiten sollten auch weitergehen, mein Sohn! Es war keine Rede davon, dass die Arbeiten zum Stillstand kommen sollten. Ich habe von dir erwartet, dass du dein Versprechen einhältst, den Baufortschritt einzuhalten. Bete, dass es mir gelingt, Alexander zurückzuholen, denn der ist offenbar der Einzige, auf den ich mich wirklich verlassen kann! Wenn Alexander nicht kommt, weil wir ihn ernsthaft verärgert haben, setze ich mich über sämtliche wenglischen Gesetze hinweg und lasse dich die bisherigen Baukosten bezahlen!“, drohte Wilhelm wütend.
„Aber was habe ich denn getan?“, fragte Eberhard harmlos.
„Das frage ich mich seit eineinhalb Monaten auch, was du eigentlich tust!“, schnauzte der König. „Auf jeden Fall hast du mich irgendwie zum zweiten Mal dazu gebracht, dir die Weisungshoheit über Alexanders Arbeit zu geben. Beim ersten Mal hast du ihn richtig in die Höhle des Löwen geschickt, und dein Bruder hat das nur knapp überlebt. Und ich Hornochse habe deinen Vorwürfen gegen Alexander geglaubt, dass er sich feige verhalten hat und habe ihn für den Fehlschlag verantwortlich gemacht! Es ist genug. Du hast genügend Unheil angerichtet. Ich rate dir, zu beten, dass dein Bruder heimkommt.“
„Weißt du, wo er ist?“
„Ich weiß es nicht. Aber wenn ich es wüsste, würde es dir nicht verraten, Eberhard. Mir ist dir Gefahr zu groß, dass du ihn von deinen Geheimpolizisten holen lässt. Ich will Alexander lebend und gesund zurückhaben. Die Garantie hätte ich dann nicht. Über das, was ich mit dir anstelle, reden wir, wenn die Bahn wieder im Lot ist.“
Der König winkte seinen zweitältesten Sohn hinaus. Dann läutete er nach einem Diener. Gerhard erschien.
„Ich brauche Simone Haldenstein“, sagte der König.
„Ich hoffe, das gnädige Fräulein ist in der Stadt, Majestät. Ich lasse sie holen, Majestät“, erwiderte der Kammerdiener. „Notfalls auch suchen“, setzte er noch im hinausgehen hinzu.
Gerhard suchte Luise auf, über die Simone Kontakt zum Hof hielt.
„Luise, ist Fräulein Haldenstein noch in Steinburg?“, fragte er die Hofdame.
„Ich habe sie gestern noch auf dem Markt getroffen. Aber ich weiß, dass sie eigentlich schon lange verreist sein wollte.“
„Der König möchte das gnädige Fräulein sprechen?“
„Wissen Sie warum, Gerhard?“
Der Kammerdiener schüttelte den Kopf.
„Seine Majestät hat nur gesagt, dass er sie sehen möchte.“
„Ich will sehen, was ich tun kann“, versprach Luise und ging sofort zu dem Haus in der Mauerstraße, wo die junge Frau wohnte.
Auf Luises Klopfzeichen öffnete Simone.
„Guten Tag, Luise. Haben Sie Nachrichten von Alexander“, fragte sie.
„Nein, Fräulein Simone. Der König schickt mich. Er lässt Sie zu sich bitten.“
„Wissen Sie, was er will? Ist was mit meinem Vater?“
Luise zuckte mit den Schultern.
„Der Kammerdiener Seiner Majestät hat mir nur gesagt, dass Seine Majestät Sie sehen möchte“, erwiderte die Hofdame.
„Wegen Alexander?“
„Ich weiß es nicht. Ehrlich.“
Simone folgte der Zofe klopfenden Herzens. Zwar hatte sie bei ihrem Besuch in Felsbruck schon die Reise nach Andermatt geplant, aber eine unerklärliche Hemmung hatte sie bislang vom tatsächlichen Reiseantritt abgehalten. Gerade zwei Tage zuvor hatte sie einen Brief von Alexander erhalten, in dem er sie noch einmal gebeten hatte, ihm zu folgen.
Im Vorzimmer des Königs musste Simone nicht lange warten. Wilhelm hatte sofort Zeit für sie.
„Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind, Baronesse.“
„Luise war recht geheimnisvoll. Ich bin neugierig“, erwiderte Simone kühl.
„Simone – bitte, holen Sie Alexander zurück“, eröffnete Wilhelm seinen Wunsch ohne Umschweife. Simone sah den König einen Moment an.
„Majestät, Sie wissen, dass Alexander mich liebt. Deshalb probieren Sie es mit mir, weil Sie wissen, dass er ohne meine Mitwirkung nicht reagieren wird. Vermutlich wird auch keine telegrafische Einberufung mehr Wirkung zeigen“, lächelte sie süß.
„Liebe Simone, ich hoffe, dass Sie meine Schwiegertochter werden und …“, setzte Wilhelm an.
„Verzeihung, wenn ich Sie unterbreche, Majestät; aber gerade Saschas Liebe zu mir war der Grund, dass Sie ihm die Leitung der Eisenbahn entzogen haben. Er war doch ein Sicherheitsrisiko“, entgegnete Simone mit bissigem Unterton. Wilhelm seufzte.
„Sie wissen es!“, stöhnte er.
„Sascha hat es mir gesagt. Er hat mich bisher nicht belogen – im Gegensatz zu anderen“, versetzte Simone kühl. König Wilhelm fuhr sich nervös durch den Vollbart.
„Trotzdem bitte ich Sie, ihn zurückzuholen. Ich weiß inzwischen auch, dass gerade Sie tadellose Arbeit für die Bahn geleistet haben. Was ich getan habe, reut mich. Es war falsch. Ich habe meinen jüngsten Sohn zum zweiten Mal bitter enttäuscht. Ich hoffe, er verzeiht mir noch einmal.“
Simone überlegte eine Weile.
„Sagen Sie, Majestät, wäre Alexanders Rückkehr Ihnen wert, dass Sie meinen Vater begnadigen?“, fragte sie dann.
„Sie haben gelernt, wie es scheint“, erwiderte Wilhelm mit einem deutlichen Seufzen.
„Oh, Majestät, von allen Männern, die mir in Ihren Diensten stehend begegnet sind, war Alexander der Einzige, der je bereit war, mir einen Gefallen zu tun, ohne eine Gegenleistung zu fordern. Ja, ich habe gelernt.“
Der König sah die hübsche junge Frau lange an. Langsam begann er zu verstehen, weshalb Alexander sich rettungslos in Simone von Haldenstein verliebt hatte.
„Lieben Sie Alexander?“, fragte er nach einer ganzen Weile. Simone nickte.
„Ja“, sagte sie. „Jetzt weiß ich es.“
„Dann bitte ich Sie noch einmal: Holen Sie Alexander zurück. Wenn es Ihnen gelingt, begnadige ich Ihren Vater – auch wenn er es nicht verdient“, versprach der König.
„Gnade, Majestät, verdient man nicht. Mein Vater brummt zu Recht. Aber er ist mein Vater. Ich nehme an, Alexander würde für Sie das Gleiche tun, wären Sie in der Situation meines Vaters. Eine Hand wäscht die andere.“
„Ich will nicht verheimlichen, dass Alexanders Heiratspläne nicht ganz nach meinem Geschmack waren. Aber ich nehme an, dass es Ihrem Vater genauso wenig passt, mit einem Prinzen als Schwiegersohn beglückt zu werden. Ich gebe aber auch zu, dass ich meine Meinung in dieser Hinsicht geändert habe – nicht nur wegen unseres heutigen Gespräches. Ich werde Ihnen und Alex nicht länger im Weg stehen. Simone – ich betrachte Sie als Verlobte meines jüngsten Sohnes.“
„Danke, Majestät. Ich werde reisen, sobald eine Postkutsche nach Palparuva geht“, erklärte Simone lächelnd.
„Wollen Sie nicht lieber die Hauskutsche nehmen?“, bot Wilhelm an.
„Das Angebot ist freundlich, Majestät, aber in zweifacher Hinsicht kann ich es nicht annehmen. Meine bisherigen Freunde, die Sozialisten, wissen noch nichts von der Verbindung zwischen Sascha und mir. Es wäre nicht gut, wenn sie es zur Unzeit erführen. Außerdem würde Sascha sofort merken, aus welcher Richtung der Wind weht, wenn ich mit der königlich wenglischen Hauskutsche in Andermatt vorfahre“, sagte die junge Frau.
„Ich sehe, Sie wissen, wo Sie suchen müssen“, lächelte Wilhelm verbindlich. Simone hatte in diesem Moment eine ziemlich genaue Vorstellung, wie Alexander als älterer Mann aussehen musste.
„Sascha hat mir geschrieben. Ich habe seine Adresse.“
Wilhelm erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. Simone stand gleichfalls auf. Ihr Schwiegervater in spe nahm sie einfach in die Arme.
„Fahr nach Andermatt und komm bald mit Alexander zurück, Simone. Gott schütze dich“, sagte er leise. Eine Ähnlichkeit mit Alexanders Tonfall war durchaus erkennbar.
Wenige Stunden später stand Simone am Fahrkartenschalter der Steinburger Hauptpost.
„Die nächste Regelpost nach Martinskirchen geht in drei Tagen“, sagte der Schalterbeamte nach einem Blick in den Fahrplan. „Wenn Sie die Extrapost nehmen, können Sie übermorgen in Martinskirchen sein. Von dort verkehrt zweimal wöchentlich ein Kurs zur Grenze. Mit der Extrapost bekommen Sie in Martinskirchen noch den Anschluss nach Palparuva und die Grenzpost nach Breitenstein. Von dort kommen Sie weiter in die Schweiz.“
„Was kostet das?“, erkundigte sich Simone.
„Einschließlich Extrapost dreihundertachtzehn Gulden und fünfzehn Kreuzer bis Breitenstein.“
„Und ohne Extrapost?“
„Einhundertachtzehn Gulden fünfzehn.“
„Ich nehme die Extrapost“, entschied Simone. Der Beamte füllte den Fahrschein aus, die junge Frau bezahlte und ging in den Warteraum.
Zwanzig Minuten später rollte die Extrapost vom Hof der Hauptpost.
Simone erreichte ohne Schwierigkeiten Martinskirchen. In der Regelpost nach Palparuva fand sich auch Simones Lieblingsfeind, Edgar von Drechselberg.
„Oh, sieh da – die feine Dame Haldenstein fährt wieder in Richtung Palparuva“, platzte der feiste Gefängnisdirektor heraus. Allein die Anwesenheit von zwei weiteren Mitreisenden hinderte ihn, über Simone herzufallen.
„Aber nur in Richtung, werter Herr!“, erwiderte Simone eisig.
„Oh, Sie wollen mein Kleinod diesmal nicht besichtigen?“, grinste von Drechselberg listig.
„Ich habe nicht die Absicht.“
Simones Stimme war pures Eis.
„Obwohl Ihr Vater vorgestern dorthin gekommen ist?“, lockte der Direktor. Simone wurde unsicher. Bluffte von Drechselberg nur oder sagte er die Wahrheit?
„Er empfängt mich ohnehin derzeit nicht“, sagte sie schneidend. „Nehmen Sie bitte im Übrigen zur Kenntnis, dass ich eine Unterhaltung mit Ihnen nicht wünsche“, setzte sie hinzu.
„Ich finde es sehr anregend, Sie zur Unterhaltung zu provozieren. Sie können sich denken, was die Unterschrift Ihres Galans wert ist?“
„Ich benötige sie im Augenblick nicht, mein Herr. Und wenn ich sie benötige, wird sie gültig sein. Ich an Ihrer Stelle würde mir langsam ausmalen, was Ihnen passieren kann, wenn Sie allzu bockig sind“, warnte sie gefährlich leise.
Weitere Ansprechversuche von Drechselbergs ignorierte sie. Aber so einfach ließ von Drechselberg sich denn auch nicht abweisen. Als die Kutsche Bravadur erreichte, ließ sich der Gefängnisdirektor nicht einmal mehr von der Anwesenheit der anderen Fahrgäste davon abhalten, zudringlich zu werden. Simone hatte bereits den Regenschirm als Waffe eingesetzt, um sich des dreisten Gockels zu erwehren, als einer der beiden Mitreisenden – der Kleidung nach offenbar ein Bauer – beherzt zupackte und Herrn von Drechselberg wegriss.
„Holla, so geht das nicht, mein Herr!“
„Was erlauben Sie sich? Ich bin Edgar von Drechselberg, Oberst der Königlich Wenglischen Polizei!“, empörte sich der ernüchterte Direktor.
„Und?“, gab der Bauer zurück. „Das ist kein Freibrief, über die junge Dame herzufallen. Dass sie nicht willig war, war allzu deutlich erkennbar.“
Er wandte sich an Simone:
„Steigen Sie aus. Ich halte Ihnen den Gockel vom Leib.“
„Danke, sehr freundlich, mein Herr.“
Simone stieg aus, der mutige Bauer ließ sie vorangehen und trug ihr sogar das Gepäck. Von Drechselberg schäumte vor Wut, aber in Bravadur gab es nicht mal einen Polizeiposten, bei dem er eine Verhaftung des Bauern veranlassen konnte.
Nachdenklich betrachtete sie das Posthotel. Sie hatte große Sorge, es könnte etwas in diesem Haus passieren. So ging sie zwar hinein, verließ das Posthotel aber gleich wieder durch den Gartenausgang und eilte zum Hotel Sonnenheim, einige hundert Klafter entfernt. Das Sonnenheim war zwar teurer als das Posthotel, aber dank Alexanders regelmäßigen Überweisungen konnte sie sich den Luxus leisten und nahm dort Logis. Um dem schmierigen Gefängnisdirektor auszuweichen, verzichtete sie am folgenden Tag auch auf die Regelpost und bezahlte lieber eine Extrapost nach Palparuva Grenze, von wo sie wieder normal weiterreiste.
Knapp eine Wochen nach ihrer Abreise aus Steinburg erreichte Simone das Dorf Andermatt im Schweizer Kanton Uri. Nach Alexanders letztem Brief wohnte er im Hotel zur Post. Simone wollte mit ihm sprechen, aber er war noch nicht zurück – obwohl es bereits sieben Uhr abends war.
„Wann kommt er denn für gewöhnlich heim?“, fragte sie den Wirt.
„Meist ist er um sechs Uhr hier, aber im Moment finden die Vermessungen auf der anderen Seite vom Gotthard statt. Vielleicht bleibt er auch noch heute Nacht auf der Hospizstation“, gab der Wirt Auskunft.
„Wie komme ich dorthin?“
„Morgen geht eine Postkutsche nach Airolo ins Tessin. Die ist am Nachmittag am Gotthardhospiz.“
„Danke“, sagte Simone. „Haben Sie für heute Nacht ein Zimmer für mich?“
Der Postwirt hatte ein schönes Einzelzimmer mit Ausblick auf den Berg mit Namen Gemsstock. Sie fröstelte ein wenig bei dem Gedanken, dass Alexander irgendwo auf dem Massiv dabei war, die Südstrecke der Gotthardbahn zu vermessen. So wie der Gemsstock aussah – oben weiß, gletscherbewehrt – war es gewiss keine angenehme Arbeit.
***
Leseprobe 2. Buch
Prolog
Man schrieb das Jahr 1875. Die erste Linie der Königlich Wenglischen Eisenbahn, die zwischen der Hauptstadt Steinburg und Palparuva/Wengland in der Provinz Oberwengland verlief, sollte nach dem Willen des Königs Wilhelm nicht die einzige Linie bleiben. Gleich nach Fertigstellung der ersten Strecke hatte der König seinen jüngsten Sohn Alexander daher beauftragt, nach und nach ein flächendeckendes Netz von Eisenbahnlinien zu bauen.
Das Jahr 1875 hatte in einer Weise angefangen, die auf ein rundherum glückliches Jahr schließen ließ: Am 6. Januar, am Dreikönigstag, hatte Alexanders Frau Simone von Wengland einen kleinen Sohn zur Welt gebracht, den seine überglücklichen Eltern auf den Namen Stephan Caspar Melchior Balthasar von Wengland taufen ließen. Der eigentliche Geburtstermin war der 26. Dezember 1874 gewesen, aber Klein-Stephan hatte sich Zeit gelassen und seinen Eltern offensichtlich das Weihnachtsfest nicht durch einen Geburtsalarm verderben wollen. Wegen des vorausberechneten Termins hatten Simone und Alexander Stephan als Namen eingeplant – oder Stephanie, falls das Erstgeborene ein Mädchen gewesen wäre. Die weiteren Namen hatten sie dann den Heiligen Drei Königen entliehen, an deren Tag der Kleine geboren worden war.
Nun, im August 1875, näherte sich eine zweite Teilstrecke der Vollendung. Der Streckenabschnitt Steinburg – Turmesch sollte ein weiteres Teilstück der quer durch Wengland verlaufenden Ost-West-Strecke von Palparuva nach Christophstein bilden, die die nördlichen Grafschaften Wachtelberg, Bauzenstein, Eschenfels, Karlsfeld, Limmenfels und Hirschfeld an die Eisenbahn anschloss. Später sollte die Linie über Rothenfels, der Hauptstadt der Grafschaft Südwengland nach Christophstein in Aventur weiterführen. Eine weitere Linie sollte südlich um Siebenberg herum die Grafschaften Sachstal, die südlichen Teile von Limmenfels und Hirschfeld, Südwengland und Aventur verbinden.
Die Einweihung des neuen Streckenabschnitts sollte ein großes Fest werden, bei dem Kronprinz Friedrich mit seiner Familie den Hof repräsentieren sollte.
Es schien wirklich eines der glücklichsten Jahre des Königreichs Wengland zu werden …
Kapitel 1
Attentat
Der Tag der Einweihung war für den 17. August angesetzt. Die Königlich Wenglische Eisenbahn lud per Anzeige im Wenglischen Tagblatt, in der Steinburger Morgenpost und mit öffentlichen Anschlägen zu den Einweihungsfeierlichkeiten ein. Die Hauptveranstaltung sollte im Hauptbahnhof Steinburg stattfinden.
„Alex – wäre es möglich, dass Anna, Peter und ich uns die Strecke schon mal vorher anschauen können?“, fragte Friedrich Alexander zwei Tage vor der Eröffnung nach einem gemeinsamen Frühstück der königlichen Familie. Das Königspaar selbst war schon gegangen, ebenso hatten sich die Frauen und Kinder der Königssöhne schon zurückgezogen.
„Sicher – aber zur Einweihung sollst du doch in Steinburg sein“, erinnerte Alexander.
„Dann können wir uns das morgen ansehen. Ich habe morgen keine Termine“, entgegnete Friedrich:
„Morgen ist die kleine Baulok mit dem offenen Arbeitswagen noch im Depot Siebensteinforst. Wir müssten die Strecke von dort zusätzlich fahren. Das bedeutet zwei Stunden mehr Fahrzeit und den Umstand, dass wir maximal bis Spirkelberg fahren können. Bis Turmesch ist es dann zu weit, um noch rechtzeitig wieder hier zu sein“, warnte Alexander.
„Das macht nichts“, erwiderte der Älteste. „Ich kenne die Linie von Palparuva her nur aus dem Zugfenster. Mit der Baulok und dem offenen Arbeitswagen ist das bestimmt noch interessanter, auch wenn es nur ein kleines Stück ist. Und Peter – du weißt, dass der nicht von der Eisenbahn wegzubekommen ist. Der träumt doch wahrhaftig davon, Lokomotivführer zu werden!“
„Du hast ihm aber gesagt, dass er eines Tages deinen Thron erben soll, oder?“, lachte Alexander auf.
„Sicher, aber Peterle meint doch schlicht, bis dahin könne er ja Lokomotiven fahren“, erwiderte Friedrich ebenfalls lachend.
„Schön, dann kommt morgen mit der Kutsche ins Depot Siebensteinforst. Wir nehmen die Baulok mit dem offenen Arbeitswagen und fahren über Steinburg nach Spirkelberg“, lud der Jüngste ein.
„Ausgerechnet mit Baulok und Arbeitswagen, den ihr erst aus dem Depot holen müsst, wo die Arbeiter sind!“, stichelte Eberhard.
„Hast du Einwände, Bruderherz?“, fragte Alexander sanft.
„Da gebe ich Fritz lieber eine Schwadron Gendarmen mit“, versetzte Eberhard, ohne auf Alexanders Frage einzugehen.
„Eberhard, das sind Arbeiter und keine Wilden – oder gar Wilzaren!“, seufzte Alexander.
„Ich traue deinen Arbeitern nicht! Sie haben schon mal einen Aufstand gemacht und wollten das Königshaus vernichten! Hast du das vergessen?“, erinnerte Eberhard.
„Eberhard – das ist drei Jahre her! Seither haben sie brav gearbeitet und nicht einmal mehr den Ansatz zu Unruhen gezeigt, weil sie begriffen haben, dass die Sozis ihnen die hungrigen Münder nicht stopfen können“, gab Alexander zurück.
„Du hast ja nicht aufgeräumt!“, beharrte Eberhard. „Im Gegenteil: Du hast die Arbeiter, die ich aussortiert habe, alle wieder eingestellt.“
„Du hast nicht aussortiert; du hast sämtliche Arbeiter, die ich mit einiger Mühe zusammengesucht habe, entweder ‘rausgeschmissen, weil dir deren Nase nicht passte oder sie durch deine Inkompetenz schlicht vergrault! Mit der Folge, dass du die Eisenbahn mit Zwangsarbeitern bauen wolltest. Die Leute, die ich wieder eingestellt habe, waren die, die fähig, willens und in der Lage waren, die Eisenbahn noch termingerecht fertigzustellen, nachdem unter deiner Bauleitung erstens eine Menge teurer Fehler passiert waren und zweitens plötzlich ein zauberhafter Stillstand eingetreten war!“, erwiderte Alexander zornig.
„He, es reicht!“, fuhr Friedrich dazwischen. „Meine Güte, wenn das Thema Eisenbahn aufkommt, solltet ihr beide besser nicht im selben Raum sein, sonst gibt’s noch ‘ne Schlägerei!“, bremste er die aufkommende Wut seiner Brüder. „Ich werde mir die Strecke ansehen – vom Siebensteinforst aus und ohne deine verflixten Grauen Gendarmen!“, bekräftigte Friedrich entschieden. „Bleib mir bloß mit deinen Polizisten vom Hals! Die Burschen sind so aufdringlich, dass ich mir nicht einmal ein Taschentuch aus der Hosentasche ziehen kann, ohne von denen belästigt zu werden“, setzte der Kronprinz hinzu.
„Ich würde an deiner Stelle nicht fahren, Fritz!“, warnte Eberhard noch einmal eindringlich. Friedrich winkte ab. Alexander und er ließen Eberhard einfach im Speisesaal allein.
Am nächsten Morgen hatten Alexanders Mitarbeiter die Baulok und den offenen Arbeitswagen vom Baudreck gereinigt und warteten nun auf den hohen Besuch. Alexander war noch am Abend zuvor zum Depot Siebensteinforst geritten, das knapp fünfundzwanzig Kilometer nordwestlich der Hauptstadt auf der linken Seite der Steinach lag. Er wollte sicherstellen, dass alles für Friedrich und seine Familie vorbereitet wurde. Es mochte neun Uhr morgens sein, als eine Explosion die Leute vom Depot aufschreckte. Alexander und Andreas Ettinger sahen sich erschrocken an.
„Wer sprengt denn hier noch?“, fragte Ettinger verwirrt.
„Das wollte ich dich auch grad’ fragen!“, gab Alexander zurück. Sie stürmten aus dem Büro.
„Was ist los? Wer sprengt denn hier?“, fragte Vorarbeiter Thornton erschrocken.
„Keine Ahnung, Simon. Haben Sie hören können, von wo der Knall kam?“, fragte Alexander.
„Ich meine, das kam aus Richtung Straße“, erwiderte der Ire.
„Von der Poststraße? Oh, Gott, da müssten doch Fritz und Anna unterwegs sein!“, entfuhr es dem Prinzen. „Andreas, Simon! Kommt, wir sehen nach!“
Die Männer sprangen auf die Pferde und hetzten die Poststraße in Richtung Steinburg entlang. Kaum drei Kilometer vom Depot entfernt bot sich ihnen ein grausiges Bild: Die Kutsche, mit der Friedrich, Anna und ihr Sohn Peter gereist waren, lag zerfetzt auf der Straße. Der Kronprinz, seine Familie und der Kutscher lagen tot und schrecklich verstümmelt in den Trümmern der Hofkutsche. Die vier Pferde waren ebenfalls tot. Alexander sah wie erstarrt auf das Entsetzliche. Immer wieder schüttelte er sich, als wollte er einen Albtraum vertreiben. Aber es blieb hartnäckig der schreckliche Anblick.
„Mein Gott, wer tut so etwas?“, entfuhr es ihm schließlich. Wie betäubt saß er ab und ging zu den Trümmern hin.
„Das muss eine Bombe gewesen sein“, mutmaßte Andreas. Er stieg gleichfalls ab und wollte Alexander folgen, als von beiden Seiten der Straße Graue Gendarmen aus dem Wald kamen. Es mochten fünfzig Mann sein, die unter Führung eines Polizeileutnants standen.
„Halt, stehenbleiben! Im Namen des Königs: Sie drei sind verhaftet!“, rief der führende Offizier. Schussbereite Karabiner unterstrichen den Befehl.
„Wie bitte?“, fragte Alexander gereizt. „Verhaftet? Seid ihr jetzt völlig närrisch?“
„Sie stehen im dringenden Verdacht, den Bombenanschlag auf den Kronprinzen verübt zu haben. Machen Sie keine Schwierigkeiten, sonst schießen wir!“
Alexander, Andreas und Thornton sahen ein, dass sie gegen die Übermacht keine Chance hatten und wehrten sich nicht, als einige Gendarmen absaßen und sie fesselten.
„Zurück nach Steinburg!“, befahl der Leutnant, als die Verhafteten wieder auf ihren Pferden saßen.
„Und was ist mit meinem Bruder und seinen Angehörigen? Sie können sie doch nicht einfach hier liegen lassen!“, empörte sich Alexander. Der Leutnant drehte sich um und sah ihn kalt an.
„Um die wird man sich schon kümmern“, versetzte er eisig.
Im Steinburger Polizeigefängnis wurden sie getrennt eingesperrt. Einige Stunden lang bekam Alexander niemanden zu sehen, bis gegen Abend Eberhard erschien. Der Ältere maß seinen jüngeren Bruder abschätzig.
„Anketten!“, befahl er dann. Zwei Polizisten griffen sich den erschrockenen Alexander und ketteten ihm die Hände an die Wand.
„Sag mal, was soll das?“, fragte er verwirrt. Statt einer Antwort bekam er von einem der Polizisten einen Hieb mit der Reitgerte.
„Die Fragen stellen wir!“, schnauzte Eberhard. „Also: Wie hast du das mit der Bombe angestellt?“
„Andreas und ich haben nur vermutet, dass es eine Bombe war. Fein, dass du schon so viel herausgefunden hast. Und was meinst du damit, wie ich das angestellt habe?“
„Du stehst im Verdacht, den Thronfolger ermordet zu haben“, sagte Eberhard kalt.
„Das habe ich nicht getan. Und Andreas Ettinger und Simon Thornton haben damit ebenfalls nichts zu tun, da bin ich völlig sicher!“, erwiderte Alexander.
„Lügner!“, rief Eberhard und schlug seinem Bruder mit dem Handrücken ins Gesicht. „Woher hattest du die Bombe?“
Alexander schüttelte sich.
„Weder ich noch Andreas noch Simon haben mit einer Bombe etwas zu tun. Ich bin gestern Abend um sechs Uhr von Steinburg weggeritten und gegen halb zehn im Depot Siebensteinforst eingetroffen. Ich habe dort übernachtet – und zwar im Mannschaftsquartier. Ich war also seit meiner Ankunft im Depot nicht mehr allein und habe folglich Zeugen, die bestätigen können, dass ich die Bahnanlage des Depots bis zur Explosion heute Morgen nicht verlassen habe. Erkundige dich dort.“
Ein erneuter Hieb mit der Reitpeitsche traf ihn.
„Ich bin nicht zur Märchenstunde gekommen, sondern um ein Geständnis zu hören.“
„Ich kann nichts gestehen, was ich nicht getan habe“, erwiderte Alexander und versuchte, sich den Schmerz zu verbeißen, den der Hieb an seiner linken Seite verursachte.
„Du bist also verstockt!“, lächelte Eberhard humorlos. „Gut, wir werden sehen.“
Er gab zwei weiteren Polizisten vor der Zellentür einen Wink.
„Ihr wisst, was ihr zu tun habt!“, sagte der Polizeichef und verließ die Zelle.
Das Attentat auf den Kronprinzen und seine Familie verbreitete sich in Windeseile in Steinburg. Königin Annette erlitt einen Zusammenbruch, König Wilhelm war starr vor Entsetzen. Simone und Marianne, Eberhards Frau, kümmerten sich um die Königin.
„Eberhard wird den Mörder von Fritz, Peter und Anna finden, Mama; bestimmt“, flüsterte Marianne ihrer Schwiegermutter zu.
„Wenn nur Alexander schon wieder hier wäre!“, seufzte Simone. „Oh nein, ist das schrecklich! Wer tut so etwas nur?“
Marianne sah die Schwägerin an.
„Aus dem Gefühl heraus hätte ich deine früheren Gesinnungsgenossen im Verdacht, Simone.“
Simone wurde blass.
„Nein, das glaube ich nicht! Sie wollen die Monarchie wohl abschaffen, aber ein Attentat? Mein Vater hat der Gewalt abgeschworen.“
„Wohl nicht wirklich“, versetzte Marianne.
„Ich weiß, dass du weder mir noch meinen früheren Freunden traust, Marianne. Aber ich glaube, sie so gut zu kennen, dass sie das nicht tun würden“, entgegnete Simone.
Es vergingen einige Stunden, aber die Königin kam weder zu sich, noch ließ sich Alexander blicken.
„Ich verstehe nicht, wo Alex bleibt“, sagte Simone schließlich. Es war schon nach acht Uhr abends. Eigentlich hatte Alexander einschließlich der Besichtigungsfahrt nach Spirkelberg spätestens um sechs Uhr zu Hause sein wollen. Die Fahrt war wegen des tödlichen Attentats ausgefallen und so verstand Simone nicht, weshalb sich Ihr Mann nicht sehen ließ. Sie verließ das Zimmer ihrer Schwiegermutter und lief eilig zu den Amtsräumen des Königs. Vielleicht war Alexander dort. Doch sie fand nur einen zutiefst erschütterten König Wilhelm, der mit unruhigen Schritten sein Arbeitskabinett durchmaß. Er sah hoffnungsvoll auf, als sie eintrat, aber seine Miene trübte sich wieder, als auch auf Simones Gesicht keine Fröhlichkeit zu entdecken war.
„Ach, du bist es. Wie geht es meiner Frau?“, erkundigte sich Wilhelm und blieb stehen.
„Sie ist immer noch ohnmächtig, Majestät. Dr. Semmler war bei ihr, aber selbst Riechsalz hat sie noch nicht wieder zurückholen können. Er meint, sie hat einen schweren Schock. Marianne ist noch bei ihr“, sagte Simone. „Haben Majestät eine Ahnung, wo Prinz Alexander ist?“
„Ist er noch nicht zurück?“
„Nein, er wollte zwar gegen sechs Uhr zurück sein, aber das war unter der Voraussetzung, dass die Fahrt stattfindet. Deshalb meine Frage an Majestät …“
In Simones Augen stand die blanke Angst, dass auch Alexander dem Attentat zum Opfer gefallen war.
„Alexander hat Fritz sehr gern gehabt. Er würde alles tun, um den Mörder seines Bruders zu finden. Vielleicht hat er Eberhard seine Hilfe angeboten und bei dem schrecklichen Ereignis nur vergessen, uns Bescheid zu geben“, mutmaßte der König.
Fast im selben Moment öffnete sich die Tür und Eberhard trat ein.
„Hast du etwas über das schreckliche Attentat auf Fritz herausbekommen, mein Junge?“, fragte der König.
„Leutnant Feldkamp hat am Ort des Attentats drei Verdächtige verhaftet. Meine Leute verhören sie seit zwei Stunden.“
„Gut“, sagte Wilhelm. „Sag mal, ist Alex bei dir gewesen? Er wollte eigentlich schon längst hier sein.“
Eberhard sah seinen Vater eine Weile an.
„Vater“, sagte er dann langsam, „Alexander … Alexander wurde unmittelbar nach dem Attentat als Hauptverdächtiger am Tatort verhaftet und befindet sich noch in Untersuchungshaft.“
„Wie bitte?“, entfuhr es dem König, der schlagartig leichenblass wurde. „Wie kommen deine Gendarmen dazu, ein Mitglied des Königshauses zu verhaften und zwei Stunden zu verhören, ohne dass der König davon unterrichtet wird? Bist du noch gescheit?“
„Ich habe es auch erst spät erfahren, aber nach der Meldung von Leutnant Feldkamp haben sie den Geologen Ettinger, den Vorarbeiter Thornton und Alexander erwischt, als sie nach dem Attentat in den Trümmern stocherten.“
„Und deine brillanten Gendarmen sind nicht auf die Idee gekommen, dass sie vielleicht auch nur die Explosion gehört haben konnten und versuchten, zu helfen? Und wenn du das schon spät erfahren haben willst, was ich mir bei deiner Meldungsstruktur beim besten Willen nicht vorstellen kann, wieso hast du Alexander noch nicht freigelassen? Muss ich dir eigentlich erklären, dass der einzige Gerichtshof, der über Alexander urteilen kann, das Adelsgericht ist?“
„Aber das Adelsgericht braucht doch auch die Ergebnisse des polizeilichen Verhörs …“, stotterte Eberhard, als er von seinem Vater harsch unterbrochen wurde.
„Das reicht! Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat!“, schnaubte Wilhelm wütend. „Du wirst deinen Hintern jetzt augenblicklich umdrehen, mein Sohn, und Alexander und wer sonst noch heute wegen des Attentats festgenommen wurde, auf freien Fuß setzen! Wird’s bald?“
„Aber sie stehen im Verdacht …“
„Mach’ dass du ‘rauskommst! Alexander ist nicht mehr verdächtig, als ich es bin!“, brüllte der König. „Das war dein letzter Streich als Polizeichef! Du bist entlassen!“
Eberhard schob in einem Anfall von Trotz das Kinn vor.
„Dann kann ich Alexander ja schlecht freilassen!“
„‘Raus! Lass ihn frei oder ich vergesse mich ganz!“
Eberhard prallte erschrocken zurück. Der zornrote Kopf seines Vaters verhieß, dass der ernst meinte, was er sagte.
„Gut, aber ich lehne jede weitere Verantwortung ab.“
„Bist du noch nicht im Gefängnis?“, brüllte Wilhelm. Er packte seinen Zweitältesten grob am Arm und beförderte ihn aus dem Arbeitskabinett. „Jetzt bringe ich dich persönlich dorthin! Wenn Alexander nur ein Haar gekrümmt worden ist, dann tauschst du mit ihm den Platz!“
In Begleitung von zehn Männern der Herwigsgarde und mit Eberhard im Schlepptau eilte der König zum Polizeigefängnis. Eberhard wurde unwohl, wenn er daran dachte, dass Alexander ungefähr zwei Stunden in Gesellschaft der gröbsten Folterer seiner Truppe hinter sich hatte.
Die Gendarmerie – im Volksmund wegen ihrer grauen Uniform Graue Gendarmen genannt – hatte in den letzten Jahren, seit Eberhard deren Chef war, viel von ihrem früheren Ansehen verloren. König Wilhelm hatte sie im Jahr 1830 – damals noch Kronprinz – selbst als überregionale Polizeieinheit auf militärischer Basis nach dem Vorbild der North West Mounted Police in Kanada, der Carabinieri in Italien und der Gendarmerie Française in Frankreich gegründet. Seinerzeit hatte es in Wengland von Dieben und Räubern gewimmelt, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatten, die Grenzbereiche der Provinzen auszunehmen, wo sie leicht fliehen konnten, endete die Zuständigkeit der Provinzpolizei doch jeweils an der Provinzgrenze. Um diesem Umstand abzuhelfen, hatte es einer Polizeieinheit bedurft, die grenzübergreifend handeln konnte.
Die Gendarmerie bestand wie ihre Vorbilder aus Soldaten, die kriminalistisch geschult waren. Weil sie in fast jedem Dorf einen Polizeiposten mit wenigstens zehn Mann pro Schicht hatte und beritten war, waren die Gendarmen schnell am Ort eines Geschehens. Sie hatten den Dieben und Räubern rasch den Garaus gemacht und hatten sich hohes Ansehen erworben.
In den Jahren, seit Prinz Eberhard als Nachfolger seines Vaters Chef der Polizei war, hatte dieses Ansehen der Gendarmerie allerdings massiv gelitten, weil Eberhard veranlasst hatte, dass der Verfolgung politisch Andersdenkender Priorität vor der eigentlichen Verbrechensbekämpfung gegeben wurde.
Die Herwigsgardisten verschafften dem König Zutritt zum Gefängnis. Dieser Truppe widersetzten sich auch die Grauen Gendarmen nicht. Was der König zu sehen bekam, ließ ihn wieder bleich werden. Alexander blutete aus diversen Wunden, die seine Peiniger ihm beigebracht hatten.
„Was geht hier eigentlich vor?“, fragte König Wilhelm mit so gefährlichem Unterton, dass die vier Gendarmen, die Alexander traktierten, erschrocken von ihm abließen und stramm standen.
„Macht sofort die Ketten los!“, befahl Wilhelm. Zwei Herwigsgardisten sprangen hinzu, nahmen einem der schier zu Säulen erstarrten Polizisten die Schlüssel ab und lösten Alexanders Handfesseln. Er fiel ihnen bewusstlos in die Arme.
„Das Maß ist voll, Eberhard von Wengland-Steinburg! Du wirst mir augenblicklich deinen Degen aushändigen. Die nächsten drei Tage wirst du genau hier verbringen!“, donnerte Wilhelm und deutete auf den Fußboden der Zelle. „Und deine Polizei, mein Lieber, ist samt und sonders vom Dienst suspendiert! Ihre Dienste wird bis auf weiteres die Gardeinfanterie übernehmen. Und sollte einer versuchen, das Land zu verlassen, bevor festgestellt ist, ob und gegebenenfalls was er sich in dieser oder ähnlicher Form hat zuschulden kommen lassen, ist er reif zum Abschuss!“
Wilhelm winkte den Gardisten, die Alexander trugen.
„Bringt ihn ins Schloss!“, wies er die Männer an. Er wandte sich an zwei andere.
„Die anderen beiden lassen Sie auch frei!“
Die Männer salutierten und beeilten sich, dem Befehl des Königs nachzukommen. Andreas Ettinger und Simon Thornton waren unverletzt, aber sichtlich erschöpft. Vor Eberhard schloss sich die Zellentür, die im Polizeigefängnis befindlichen Gendarmen wurden eingesperrt. Bis zum Eintreffen der Gardeinfanteristen beauftragte der König die Herwigsgarde mit der Bewachung des Gefängnisses.
König Wilhelm kehrte mit den Gardisten, die Alexander trugen, ins Schloss zurück und veranlasste die sofortige Verhaftung aller Mitglieder der Grauen Gendarmen. Den Befehl erteilte er per Boten der Herwigsgarde und per Telegramm an die Gardeinfanterie. Der Haftbefehl gegen die verhassten Grauen Gendarmen sprach sich ebenso schnell herum wie das Attentat auf den Kronprinzen. Innerhalb weniger Stunden, maximal innerhalb von zwei Tagen waren die grauuniformierten Polizisten verhaftet, wobei die Bürger nicht selten tatkräftig mithalfen. Zu sehr hassten sie die Gendarmen. Und es war überdeutlich, dass der König die Methoden der Grauen Gendarmen nicht duldete, nachdem sie ihm bekannt geworden waren.
Kapitel 2
Ungewissheit
Die Herwigsgardisten brachten Alexander in seine Wohnung im Schloss. Simone war hell entsetzt über den Zustand, in dem ihr Ehemann zu ihr gebracht wurde.
„Sascha!“, rief sie aus. „Guter Gott, was ist passiert?“
Der Wachtmeister zuckte verlegen mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht, Königliche Hoheit. Wir haben ihn aus dem Polizeigefängnis geholt. Wo sollen wir ihn hinlegen?“
Sie überlegte einen Moment.
„Augenblick, ich lege nur eine Decke über den Diwan“, sagte sie dann, holte eine Decke, breitete sie über dem Diwan im Wohnzimmer. Die Gardisten legten Alexander vorsichtig darauf.
„Können wir noch etwas für Sie tun, Königliche Hoheit?“
„Holen Sie bitte einen Arzt, Wachtmeister.“
„Soll ich Dr. Semmler herbitten?“
„Dr. Semmler ist im Moment bei der Königin. Schauen Sie doch nach, ob mein Vater bereit ist, zu kommen. Falls er aber nicht will, dann bitten Sie Dr. Semmler her.“
„Jawohl, Königliche Hoheit“, bestätigten die Gardisten einstimmig. Sie seufzte.
„Ich glaube, Alexander würde jetzt sagen: Alexander reicht völlig! Tun Sie mir bitte den Gefallen und reden Sie mich in derselben Art an, in der Sie auch meinen Mann ansprechen.“
Der Wachtmeister lächelte verbindlich.
„Die Angehörigen der Herwigsgarde sind durch Dienstvorschrift verpflichtet, die Mitglieder der königlichen Familie mit dem korrekten Titel anzureden“, erwiderte er.
„Na gut, wenn sich’s nicht vermeiden lässt, sei es so. Aber meinem Vater gegenüber sollten Sie das bitte nicht erwähnen.“
„Jawohl, Königliche Hoheit. Ich werde es bedenken.“
Die beiden Gardisten salutierten und verließen die Wohnung.
Wie betäubt setzte Simone sich auf die Kante des Diwans und strich Alexander sanft über das Gesicht, in dem die Schmerzen, die man ihm zugefügt hatte, deutlich sichtbar waren.
„Sascha – Liebling!“, sprach sie ihn leise an. Er reagierte nicht. Es dauerte eine Weile, bis Simone sich von dem Schock soweit erholt hatte, dass sie wieder an die Lehren ihres Vaters denken konnte. Sie klingelte nach einem Diener. Gottlieb, der Butler des Prinzenpaares, erschien.
„Sie haben geläutet, gnädige Frau?“
„Ja, Gottlieb, mein Mann ist verletzt. Ich brauche heißes Wasser und Verbandleinen.“
„Der junge Herr ist verletzt? Ich eile!“, entfuhr es dem erschrockenen Diener. Der sonst so distanzierte Gottlieb lief eilig davon, und wenig später hatte Simone die erbetenen Sachen. Sie begann, Alexanders Wunden auszuwaschen und ihn zu verbinden. Gerade war sie fertig, als Dr. Konrad Semmler in Begleitung des Wachtmeisters der Herwigsgarde von Gottlieb vorgelassen wurde. Sie sah auf und seufzte.
„Er wollte nicht! Ich hab’s mir fast gedacht“, sagte sie. Der Wachtmeister räusperte sich verlegen.
„Er ist nicht in der Stadt, Königliche Hoheit. Herr Niederfeld, den wir beim Hause Ihres Herrn Vaters antrafen, sagte uns, der Herr Doktor habe Steinburg am 16. August mit unbekanntem Ziel verlassen. Gleich, nachdem das Attentat auf Seine Königliche Hoheit, den Kronprinzen, und seine Familie bekannt wurde, ist er abgereist.“
Simone erschrak heftig. Hatten die Genossen etwa doch Prinz Friedrich, seine Frau und seinen Sohn auf dem Gewissen?
„Danke, Wachtmeister Deichmann“, sagte die junge Frau leise. „Danke, ich brauche Sie nicht mehr.“
„Jawohl, Königliche Hoheit. Korporal Meiser und ich sind in der Wachstube, falls Sie uns noch einmal benötigen sollten.“
Meiser und Deichmann salutierten und verließen die Wohnung. Dr. Semmler untersuchte Alexander. Die Miene des Arztes wurde im Verlauf der Untersuchung immer sorgenvoller.
„Vier gebrochene Rippen, der dritte Lendenwirbel könnte angebrochen sein, und ich befürchte einen Milzriss, so hart wie die Schwellung hier ist. Ich muss ihn sofort operieren.“
Zwei Stunden darauf hatte Dr. Semmler Alexander die Milz entfernt.
„Die Narkose wird noch einige Stunden wirken, Königliche Hoheit. Es sollte aber jemand hier sein, damit man mich gleich alarmieren kann, falls sich Komplikationen einstellen“, sagte der Arzt.
„Keine Sorge, Herr Doktor. Ich werde hierbleiben und auf ihn Acht geben“, erwiderte Simone. Dr. Semmler lächelte.
„Ich hätte fast vergessen, dass Königliche Hoheit einen Arzt zum Vater haben“, sagte er. „Ich empfehle mich einstweilen. Meine Honorarrechnung sende ich per Post.“
„Danke, Dr. Semmler.“
Der Arzt verließ leise die Wohnung des Prinzenpaares.
Simone setzte sich an Alexanders Bett und streichelte ihn liebevoll. Sie nahm nicht wahr, dass Gottlieb ihren Schwiegervater einließ. Erschrocken fuhr sie zusammen, als der König sie sanft an der Schulter berührte.
„Oh, Gott! Hast du mich erschreckt, Papa“, keuchte sie, jegliche Etikette vergessend. König Wilhelm lächelte warm.
„Entschuldige bitte“, sagte er leise. Dann wurde sein Lächeln breiter, fast jungenhaft. Wieder bemerkte sie, wie viel Ähnlichkeit Vater und Sohn hatten.
„Schön, dass du mich Papa nennst und nicht mehr Majestät“, sagte er.
„Ich habe nicht angenommen, dass du das dulden würdest. Darum …“
Wilhelm strich ihr lächelnd über das Gesicht.
„Du bist die Frau meines Sohnes, Simone – und damit meine Tochter. Meine Söhne und anderen Schwiegertöchter nennen mich alle Papa, Papi oder Paps, und mir gefällt das sehr gut.“
Der Blick des Königs fiel auf seinen Sohn.
„Wie geht es Alexander?“, fragte er besorgt.
„Er ist noch ohne Bewusstsein, aber das dürfte jetzt mehr die Narkose sein. Dr. Semmler musste die Milz entfernen, weil er durch die rabiate Befragung einen Milzriss erlitten hatte. Es hat nicht viel gefehlt, und er hätte ihn nicht retten können.“
Sie sah auf.
„Ich habe Angst um ihn, Papa.“
„Das kann ich nur zu gut verstehen. Ich hatte schon oft Angst um ihn“, seufzte der König.
„War er denn früher oft krank?“
„Weniger krank als häufig verwundet.“
Simone sah ihren Schwiegervater verblüfft an.
„Er war doch nicht lange Soldat“, wunderte sie sich.
„Lange genug, um häufig in Kämpfe zu geraten. Gerade, als Alexander aktiver Soldat war, haben wir ständig Händel mit den Wilzaren gehabt – wie so oft in den letzten fast tausend Jahren. Er hat damals viel Sondereinsätze gehabt, und die blieben nicht immer folgenlos. Dann noch die schlimme Gefangenschaft. Er hat viel durchgemacht, und seine Mutter und ich hatten oft Angst um ihn.“
„Er hat nicht darüber gesprochen. Nur über seine Gefangenschaft, aber auch nur, weil ich in meiner Neugier nicht locker gelassen habe.“
„Es ist ein Kapitel, an das er sich nicht gern erinnert“, sagte der König leise.
„Ich weiß.“
Ihre schmale Hand strich sanft über Alexanders Gesicht. Ihr wurde bewusst, dass sie noch immer nicht alles von ihm wusste.
„Simone?“, sprach der König sie leise an.
„Ja?“
„Ich glaube, Alex konnte keine bessere Frau finden als dich.“
Sie lächelte.
„Seltsam – obwohl unsere politischen Meinungen so gar nicht übereinstimmten, mochte ich ihn von Anfang an. Er mich wohl auch, sonst hätte er nicht so viel für mich und meinen Vater getan.“
„Wer wüsste das besser als ich? Er hat gleich von dir erzählt, kaum dass er aus der Schweiz hier war. Es war eine Begeisterung in seiner Erzählung, dass wir dich unbedingt kennen lernen wollten.“
„War die Idee, mich zum Fest vor dem Nationalfeiertag einzuladen, von dir und Mama?“
„Nein, das war Alex’ Idee. Aber sie war uns sehr recht.“
„Papa, warum haben die das getan?“, fragte Simone und sah Wilhelm gerade an.
„Ich kann es selbst kaum glauben, so furchtbar ist es. Eberhard hat mir gesagt, dass Alexander und zwei weitere Männer unter dem Verdacht verhaftet wurden, die Bombe gelegt zu haben, die Friedrich und seine Familie ermordet wurden.“
„Sascha? Bei Eberhard pickt wohl der Buntspecht!“, entfuhr es Simone.
„Der Meinung bin ich auch und habe ihn deshalb persönlich aus dem Gefängnis geholt“, erwiderte Wilhelm.
„Wer tut so etwas überhaupt? Ich meine, wer bringt einen so freundlichen Menschen wie Fritz, seine nicht weniger liebenswerte Frau und seinen Sohn um?“, fragte sie.
„Ich weiß es nicht Simone; noch nicht. Aber – wer immer es war – diese Person oder Gruppe wird merken, dass das mindestens ein Schritt zu viel gewesen ist!“, grollte der König. Simone durchzuckte der Verdacht, der ihr gekommen war, als die Herwigsgardisten von der recht überstürzten Abreise ihres Vaters berichtet hatten. Einen Moment lang wollte sie ihrem Schwiegervater davon erzählen, ließ es dann aber doch. Der König hätte in seinem Zorn vielleicht pauschal alle Sozialisten in Wengland verhaften lassen, mutmaßte sie. Sie wollte ihre früheren Genossen aber nicht ohne wirklich greifbare Beweise dem Mordverdacht ausliefern und schwieg deshalb.
Gegen Morgen erwachte Alexander.
„Sascha?“, fragte Simone leise, als sie bemerkte, dass er unruhig wurde. Der Prinz rang sich ein mühsames Lächeln ab, als er seine Frau erkannte.
„Simonetta!“, flüsterte er matt. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn zärtlich.
„Bin ich im Schloss?“, fragte er. Sie nickte nur. Ihre dunkelblauen Augen schwammen in Tränen.
„Sascha, Liebling, was haben sie mit dir gemacht?“
Er zog sie sanft an sich.
„Sie haben mich zu viert auseinandergenommen“, seufzte er.
„Warum denn nur?“
„Weil sie irgendwie den Floh im Ohr hatten, Andreas, Thornton und ich hätten die Bombe gelegt, mit der Anna, Fritz, Peter und Arno, der Kutscher, umgebracht wurden. Frag’ mich nicht, wie sie darauf gekommen sind! Und weil ich so beharrlich geleugnet habe, etwas mit einer Bombe zu tun zu haben, haben sie mich verhauen wie ein Rinderfilet vor dem Braten.“
Er schloss erschöpft die Augen.
„Wie fühlst du dich?“
„Furchtbar! Wirklich, so muss sich ein Steak fühlen, bevor der Koch es ins Bratfett befördert.“
„Nach Dr. Semmlers Diagnose vier gebrochene Rippen, ein angebrochener Lendenwirbel und ein Milzriss. Er hat dir die Milz entfernen müssen“, erklärte Simone und strich ihm sanft durchs Haar. Alexander fluchte leise.
„Das heißt, ich darf wieder monatelang nicht reiten!“, knurrte er.
„Das ist nicht gesagt“, widersprach Simone sanft.
„Ich kenne das“, erwiderte er. „Vor fünf Jahren hatte ich das schon mal!“
„Woher?“
„Bitte, lass es dabei“, wehrte er ab. Simone begriff, dass er nicht darüber sprechen mochte. Einerseits war es nicht gut, dass er ihr seine Vergangenheit verschwieg, andererseits sah sie ein, dass es keinen Sinn hatte, ihn jetzt mit Fragen zu bestürmen, die vielleicht wieder unnötig quälende Erinnerungen weckten.
„Ist schon gut. Schlaf’ noch ein wenig“, sagte sie leise und küsste ihn sanft auf die Wange.
„Wie lange sitzt du dort?“, erkundigte er sich.
„Seit gestern Nachmittag.“
„Möchtest du nicht auch schlafen?“, fragte er und streichelte etwas mühsam ihr Gesicht. Sie wirkte müde.
„Komm, mein Liebling“, sagte er.
„Ich könnte jetzt nicht …“, widersprach sie. Er nickte.
„Du musst etwas schlafen“, beharrte er.
„Na gut“, seufzte sie. Nicht lange darauf lag sie neben ihrem Mann.
„Aber du musst vernünftig sein!“, mahnte sie, als sie ein begehrliches Leuchten in seinen Augen sah.
„Oh, ich werde Dr. Semmlers Arbeit nicht zunichtemachen. Ich weiß, welche Folgen Unvernunft bei solchen Verletzungen haben kann.“
„Wieso?“
„Nun, in Buchenberg habe ich etwas zu früh begonnen, mich wieder zu bewegen. Die Folge war, dass ich haarscharf an einer Lähmung vorbeigeschrammt bin.“
Die Verletzungen, die die Polizeiknuten gerissen hatten, waren zwar schmerzhaft, aber eher oberflächlich. Gefährlicher waren die Milz- und die Wirbelsäulenverletzung, hervorgerufen durch heftige Tritte bestiefelter Füße. Unter Anleitung von Dr. Semmler pflegte Simone Alexander. Am zweiten Tag nach der Operation befiel ihn ein heftiges Fieber, das sich nicht unter Kontrolle bringen ließ. Dr. Semmler überlegte, was er außer Stirnauflagen und kalten Wadenwickeln noch unternehmen konnte. Gegen Mittag war Alexander soweit bei Bewusstsein, dass er den Arzt um einen Kräutertee bitten konnte.
„Was für einen Tee, Königliche Hoheit?“
„Ich … habe mir aus Amerika … Kräuter mit… gebracht. Ein guter … Freund … hat sie … mir gegeben. Es ist … ein … indianisches Rezept, das … das er … schon aus… probiert hat.“
„Wo sind die Kräuter?“
„In … meinem … Wäscheschrank. Dort … ist ein … Tabak… säckchen“, flüsterte Alexander. Simone sprang auf und eilte fort, um den Tee zu bereiten. Wenig später kehrte sie mit einer Tasse und einem Löffel zurück. Dr. Semmler stützte den sehr geschwächten Alexander, und Simone flößte ihm den Tee löffelweise ein. Erschöpft von Fieber und Schmerz schlief Alexander dem Arzt im Arm ein. Vorsichtig ließ Dr. Semmler ihn in die Kissen zurückgleiten.
„Beten wir, dass diese Wilden mit Kräutern umzugehen wissen“, sagte er leise.
Hier endet die Leseprobe beider Bücher, die in einem Band zusammengefasst sind. Wenn dir diese Probe gefallen hat, findest du das ganze Buch mit 392 Seiten hier:
Alexander von Wengland im Tredition Shop
Gebundenes Buch 22,00 €
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