Odyssee zum Flammkuchen

Sonntag, 1. September 2013, Hengnau, Gemeinde Wasserburg, Landkreis Lindau:

Wie jeder anständige Tourist verspürt man mittags Hunger – wobei der Begriff „Mittag“ fließend sein kann. In Bayern sitzt der Einheimische noch vor dem „Zwoifileitn“, dem Angelusläuten um zwölf Uhr, am Essenstisch und wundert sich über die „Durischtn“, die Urlauber, die sich gegen halb eins oder gar noch später zum Mittagsmahle begeben.

In Norddeutschland schüttelt man über jene den Kopf, die meinen, noch vor dem Mittag essen zu müssen, weil ansonsten die Tischkante in Gefahr ist, benagt zu werden …

Wir … sind … Norddeutsche, auch wenn manche unserer Speisegewohnheiten durchaus bayerischen Charakter haben. Eine andere Gerstenkaltschale als solche aus bajuwarischer Braukunst wird niemals aus unserem freien Willen unsere Schwelle kreuzen! Nur das mit dem essen nach zwölf wird uns stets als bestenfalls „Zugroaste“ verraten. In Hamburg nennt man solche Leute Quiddjes – Ausländer eben, die sich als gebürtige Hamburger und wohnhafte Schläfrig-Holsteiner nur zeitweise in Bayern aufhalten.

Obwohl … nicht überall, wo Bayern draufsteht, ist auch wirklich Bayern drin. Bayern hat sieben Regierungsbezirke, von denen nur drei wirklich Bayern sind (und selbst davon ist noch einer Beute!). Dieses wunderbare Urlaubsland besteht aus drei Bezirken Franken (Ober-, Mittel- und Unterfranken), dann Ober- und Niederbayern (die wahren und Urbayern), der Oberpfalz (das ist der halbbayerische Beutebezirk, weil den erst Herzog Maximilian im Jahre des Herrn 1623 zusammen mit dem Kurhut als Bezahlung für seine Dienste am Kaiser übertragen bekam – was den Dreißigjährigen Krieg wahrhaft erst richtig befeuerte und in Schwung brachte.) und Schwaben, das wie Franken erst 1806 zu Bayern kam.

Schwaben ist ein Sonderfall. In jeder Hinsicht. Schon der bayerisch-schwäbische Dialekt ist eine Besonderheit. Nicht, dass richtiges Plattbayerisch aus dem niederbayerischen Bayerwald für Außenstehende gut verständlich, wäre. Nein, nein, das wäre ein grandioses Missverständnis. Untertitel braucht der Norddeutsche eigentlich immer, selbst wenn er seit zwanzig Jahren praktisch jeden Urlaub in diesen Landen verbringt … Ich weiß, wovon ich rede …

In Bayerisch-Schwaben wird von reinster Schwabenzunge bis zum sehr speziellen und deshalb sofort heraus hörbaren Allgäuer Kuhhirtensprech – man könnte es neudeutsch auch Cowderwelsch nennen, um die für den Käse verantwortlichen Rindviecher nicht zu vergessen – die Hochsprache konsequent verweigert. („Mir könnet alles – außer Hochdeutsch!“ Werbespruch von Baden-Württemberg) Das Allgäuerisch ist eine interessante Mischung aus Bayerisch, Schwäbisch und Alemannisch. Letzteres ist auch die deutsche Sprache der Schweiz, bei der sich jeder, der Hochdeutsch als unsere gemeinsame Sprache kennt, fragt, ob er da tatsächlich Deutsch hört oder doch Sindarin oder Quenya …

Hier am Bodensee wird nicht bayerisch gesprochen, sondern heftig geschwäbelt. Die Preise sind schwäbisch, die Portionen auch. So mancher Tellerinhalt wäre einem Urbayern aus dem „Woid“, dem Bayerischen Wald, vermutlich eine urbayerische Schimpftirade wert. Ob man die hier verstehen würde, ist eine ganz andere Frage …

 

Aber – ich war eigentlich beim Essen. Sorry für den Gedankenschweif.

Also, zurück zum Thema. Wo war ich? Ach so – Essgewohnheiten. Der Urbayer also, der pflegt, vor zwölf Uhr mittags zu speisen, der bajuwarische Schwabe, dieser dem Franken gleichstehende Beutebayer, der nimmt das nicht gar so ernst, isst auch schon mal später. Touristen sollten es in Bayerisch-Schwaben folglich leichter haben, nicht gar zu schräg angeschaut zu werden, wenn sie denn erst um die unchristliche Uhrzeit von viertel vor eins zum Essen im Restaurant erscheinen.

Eigentlich …

Bekanntlich gibt es aber auch Uneigentlich. Und Uneigentlich trifft dann zu, wenn sich ein anderer kultureller Unterschied zwischen echten Bayern und nur nach Bayern zwangsweise eingemeindeten Schwaben bemerkbar macht. Der Urbayer macht am Sonntagmittag einen großen Bogen um die heimische Küche und geht auswärts essen. Und da ist der sparsame Schwabe ein wenig anders gestrickt – zumindest glauben das die Wirte in Bayerisch-Schwaben und werden jeden Sonntag, den der Herrgott werden lässt, dann heftig vom Ansturm der Gäste überrascht.

Uneigentlich trifft auch dann zu, wenn in einer ausgewiesenen Touristenregion wie dem bayerischen Bodensee (Landkreis Lindau) manche Restaurants unter der Woche erst um 17.30 Uhr ihre Pforten öffnen. Der Samstag gilt dabei als normaler Wochentag (sin’ halt Schwabe, gell?) … Unter selbigen ist das Sportlerheim des TuS Hege in Hengnau, Gemeinde Wasserburg, Landkreis Lindau im Bodensee. Unter der Woche möchte man das biersaufende, schnitzelfressende Pack von Urlaubern frühestens um 17.30 Uhr sehen, am Sonntag wird tatsächlich auch von 11.30 bis 14.00 Uhr Audienz gewährt – äh, außer, es droht Regen, der eventuell mit einer Luftbewegung jenseits von drei Beaufort verbunden sein könnte. Dann wird – solange die Sonne noch scheint –  genau ein Schirm aufgespannt und die Tische unter besagtem einzigen Schirm von den Regenresten des Vormittags bereinigt. Wenn diese beiden Tische besetzt sind – Pech gehabt, Touristenpack! Kommt gefälligst rechtzeitig oder setzt euch ‘rein!

Eine maulende Bedienung brachte nach wenigstens fünf Minuten dann doch schon die Speisekarten, sagte auch eine Reinigung des Tisches zu, aber den Schirm öffnen? Untergang des Abendlandes! Den hatte sie doch absichtlich gar nicht erst geöffnet – von wegen drohendem Regen und gar Sturm! Ganz allein ist sie! Da kriegt sie die Schirme doch nicht zu, wenn das Unwetter hereinbricht! Der Schirm schützt ja auch nur gegen Sonne, im Regen könnte er sich ja auflösen … Und die Gäste wären ganz sicher nicht bereit, einer einsamen Bedienung bei der Errettung der kostbaren Terrassenausstattung zu helfen.

Das reichte. Wir ließen die großmütig zur Einsicht überlassenen Speisekarten liegen und verließen den Laden. Von der Liste der zu besuchenden Restaurants ab sofort gestrichen.

Eigentlich hatten wir uns den Rückweg vom Sportplatz nach Hause in die Ferienwohnung als Verdauungsspaziergang nach einer bajuwarischen Portion vorgestellt.

Eigentlich …

Uneigentlich taperten wir wieder nach oben, um das Auto anzuschmeißen und nach Hattnau zu fahren. Im dortigen Restaurant Adler aß man schließlich auch gut. Unsere Vermieterin hatte uns zwar einen anderen Gasthof Adler empfohlen. den in Oberreitnau – aber den da kannten wir – meinten wir …

 

Wir waren gleich nach der Messe dort vorbeigefahren, hatten aber den Parkplatz komplett voll gesehen und hatten deshalb dort heute nicht essen wollen. Wir hätten auf Kassandro, den kleinen Mann im Ohr, hören sollen. Es hätte einem weiteren Restaurant den Entzug unseres Wohlwollens erspart. Leider hatte uns Frau Romer darauf hingewiesen, dass am Sonntag in vielen Gastwirtschaften die Leute oft zum Frühschoppen kämen. Wir fuhren also nach Hattnau. Es standen noch drei Fahrzeuge vor der Tür. Der Lärm aus dem Gastraum hätte uns wahrschauen müssen, tat er aber nicht. Außer uns saß noch ein jüngeres Ehepaar dort im Biergarten. Wir setzten uns – und warteten. Es vergingen gute fünf Minuten (gefühlt garantiert mehr), bis die Bedienung mit etwas muffeligem Gesicht auftauchte, uns die Speisekarte brachte – und verschwand.

Äh, wir gehen speziell im Urlaub wirklich viel essen, nicht in den feinen Sternerestaurants, in den normalen Gasthöfen. Und da ich seit 1987 mit dem besten Ehemann von allen verheiratet bin und wir mindestens zweimal im Jahr Urlaub machen, ist unschwer vorstellbar, dass sich da eine gewisse Erfahrung eingestellt hat. Wir haben es definitiv zum ersten Mal erlebt, dass wir nicht gleich bei Lieferung der Speisekarte nach unseren Getränkewünschen befragt wurden!

Wir entschieden uns nach Lektüre der Karte für ein Gericht, das nicht auf der Karte war, sondern auf den Sondertafeln: Schwäbischer Zwiebelrostbraten mit Käsespätzle. Schleck! Wir warteten, bis die Bedienung nach bestimmt erneut fünf Minuten kam und die Bestellung aufnahm.

Zur Orientierung: Wir waren um zehn vor eins vom Sportlerheim weggegangen, waren um eins im Auto und fuhren nach Hattnau, das keine fünf Fahrminuten von Hengnau entfernt ist – trotz des in jenem Jahr 2013 wegen Straßenbauarbeiten notwendigen Umweges über die alte B 31. Das heißt, wir waren etwa fünf Minuten nach eins beim Adler in Hattnau. Um zwanzig nach eins konnten wir endlich bestellen … Und warteten … warteten … warteten. Das Bier kam. Und wir warteten … warteten … warteten … Das Bier war zur Hälfte leer und die Uhr zeigte zwanzig vor zwei.

Drinnen dann das Geklapper von Besteck auf Geschirr, woraus wir messerscharf schlossen, dass jetzt erst die Truppe da drinnen ihr Essen bekam – und das war offensichtlich eine Familie mit mindestens zwei Kindern und dem Großpapa, also wohl wenigstens fünf Leute, wenn nicht auch noch Oma, Tanten und Onkel dabei waren.

Die Leute neben uns hatten ihr erstes Bier schon leer, waren aber wohl noch so geduldig, sich ein zweites Getränk zu bestellen. Um fünf vor zwei platzte Wolfgang der Kragen. Er ging hinein, um zu fragen, ob es mit dem Essen in diesem Zeitalter noch etwas werden würde oder ob wir erst im himmlischen Jerusalem einen Happen bekämen. Essen war für uns nicht in Sicht, wie er feststellte. Zwar meinte die Bedienung, wir hätten um 13.21 Uhr bestellt, das sei jetzt erst fünfunddreißig Minuten her – die Sache hat nur den Haken, dass wir a) schon eine Viertelstunde überhaupt warten mussten, bis wir eine Bestellung aufgeben konnten und b) dass der Restaurantgast nicht länger als dreißig Minuten auf sein Essen warten muss. Das ist nicht kleinlich, das ist Rechtsprechung. Besonders dann, wenn man auch noch ein Essen für 14,50 € pro Portion bestellt … Für einen gutbürgerlichen Landgasthof nicht gerade aus dem untersten Preisregal.

 

Freunde, das hier ist Bayern, auch wenn ihr ewig Schwaben bleiben werdet! Da geht man am Sonntag essen, Sackelzement no amoi! Herrgottsakra! Wollt ihr Geld verdienen oder nicht? Dann sollte man am Sonntag für ausreichende Bedienung und auch genügend Küchenpersonal sorgen. Ja, verdammt, das kostet im ersten Schritt Geld, auch wenn speziell ihr Schwaben euch davon so ungern trennt wie Dagobert Duck! Ohne Investitionen wird’s nix!

 

Es war inzwischen also zwei Uhr, als wir von Hattnau nach Wasserburg hinunterfuhren. Um Wasserburg machen wir ob des Ansturms am Wochenende normalerweise einen Bogen, aber jetzt gaben wir uns einen Ruck. Wir hatten einigermaßen richtig spekuliert, dass die Ersten den Ort verlassen würden, zumal sich erneut eine dunkle Wolkenwand näherte. Tatsächlich fand sich ein Parkplatz auf dem sonst gut gefüllten Platz am Hegestrand. Am Hegestrand 3, im Neubau des nach einem Brand neuerbauten Restaurants fanden wir einen Platz. Die Menüpreise hatten den Sonntagszuschlag – unter 15 € nix zu haben. Aber es gibt auch noch die Normalkarte, auf der Pizza oder Flammkuchen zu 4,50 € Grundpreis stehen. Pro Belag wird 1 € zusätzlich fällig.

Zuerst hatten wir den Eindruck Restaurant Nummer drei an diesem Tag auf die Streichliste setzen zu müssen, als die Bedienung hinter uns fröhlich mit zwei männlichen Gästen flirtete, dass die Luft neue Rekordtemperaturen annahm, statt sich um neue Gäste zu kümmern. Doch die beiden zwitscherten gerade noch rechtzeitig ab, um uns an diesem harten Urteil zu hindern. Wir hatten uns schon entschieden und nahmen einen Flammkuchen mit Zwiebeln und Speck sowie je ein kleines Bier.

Wie gesagt: Wir waren um zwei von Hattnau weg … Um viertel nach zwei hatten wir das Bier und um zwanzig nach zwei die Flammkuchen. Guter Lukullus! War der lecker! Der verdient eine Extra-Erwähnung in einer meiner Geschichten! Und das alles – samt Bier – für berechnete 17,20 €!

Um 14.42 saßen wir wieder im Auto – satt und zufrieden. Es gilt immer noch: Wenn man uns irgendwo nix zu essen geben will, finden wir was deutliche Besseres.

Nicht, dass wir die Flammkuchen vom Hegestrand nicht schon gekannt hätten, aber heute waren sie echt wie Manna … Es war an diesem 1. September 2013 eine wahre Odyssee, an dieses Manna heranzukommen.

 

 

P.S. vom 18. September 2014:

 

Der Wahrheit ist die Ehre zu geben und zudem die Pflicht eines Ritters (oder jemandes, der sich für solche interessiert). Seit dem 31. August 2014 sind wir wieder in Hengnau und haben es tatsächlich riskiert, dem von uns im letzten Jahr verfemten Sportlerheim eine neue Chance zu geben. Es hat sich gelohnt, das harte Urteil überprüfen zu wollen – sozusagen in die II. Instanz zu gehen. Nachdem wir unseren Kram nach der Ankunft am 31. August um halb zwölf ausgepackt hatten, waren wir dort. Es gab Schnitzelchen mit Rahmsauce auf Spätzle als Tagesmenü, die unglaublich lecker waren. Die Bedienung – dieselbe wie im Vorjahr – freundlich und zuvorkommend, der drohende (und am Nachmittag tatsächlich einsetzende) Dauerregen, der noch bis zum nächsten Tag ging, war kein Hindernis, uns auf der Terrasse zu bedienen, alle Schirme waren offen!

Volle Rehabilitierung!

Wir haben dies zum Anlass genommen, am vergangenen Sonntag, den 14. September, dort abermals zu essen. Es gab Hackbraten, den wir alle drei gerne essen. Zudem wurden dazu Salzkartoffeln und Gemüse angeboten, was in Bayern allgemein sehr selten ist. Hierzulande wird normalerweise Salat zum Braten gereicht, kein gekochtes Gemüse.

Da wir mittags auf dem Mittelaltermarkt in Hard/Österreich waren, fiel das Essen auf den Abend. Zwar waren nur noch zwei Portionen Hackbraten vorhanden, aber es stehen noch ein paar andere Leckerlis auf der Speisekarte. Michael und ich bekamen den Hackbraten, Wolfgang nahm Leberkäse mit Bratkartoffeln.

Ergebnis: Die Portion war so reichlich, dass ich Wolfgang davon noch etwas abgeben konnte und wir beide uns den Rest des Stücks, das Michi nicht mehr schaffte, geteilt haben. Geschmacklich hätten ein paar Krümel Salz und der Griff zum Majorantopf gewiss nicht geschadet, aber er war okay. Also … mein eigener und von meinen beiden Männern geliebter Hackbraten muss sich nicht verstecken.

Wolfgang war von seinem Leberkäse nicht so richtig begeistert. Auch da fehlte etwas Würze – und süßer Senf! Auf Anfrage musste die Kellnerin einräumen, dass es leider keinen süßen Senf im Hause gab.

 

Und so bleibt eines gewiss: Bayern ist das hier nur auf dem Papier! Zum Leberkäse nicht nur keinen süßen Senf zu kredenzen, sondern ihn überhaupt nicht vorrätig zu haben, macht deutlich: Die Leute hier sind Beutebayern im passiven Widerstand gegen die Staatsregierung! Denn es gilt nicht nur für das Sportlerheim, sondern auch noch für den Biergarten von Lieben Augustin!!! Servieren Augustiner Bier – aber haben keinen süßen Senf zum Leberkäse!

Nackte Beene, aber Jamaschen … wie der alte Preuße sagt …

 

Zweites P.S. vom 18. September 2014: Der zweite durchgefallene Gasthof im Lande Nau – Gasthof Adler in Hattnau – brauchte keine zweite Chance. Der Laden ist dicht …

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