Ostern im Heiligen Land

Graf Raymond von Tiberias ist als Statthalter von Jerusalem amtsmüde geworden und möchte, dass Balian von Ibelin sein Nachfolger wird. Er plant ein Ostergeschenk der besonderen Art, an dem außer ihm selbst noch der Johanniter Jean, Sibylla und der kleine König Balduin V. beteiligt sein sollen. Doch Ostern ist nicht nur überschäumende Freude …

Disclaimer:

Die Figuren, soweit sie von Drehbuchautor William Monahan eigenständig entwickelt und/oder gegenüber ihren historischen Vorbildern abgeändert wurden, gehören  selbstverständlich nicht mir. Mit dieser Story verdiene ich auch kein Geld.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

 

Ostern gilt als das höchste Fest der Christenheit, denn die Auferstehung Jesu Christi begründet den Glauben der Christen an ihn als Sohn Gottes, der gesandt wurde, die Sünden der Menschheit zu sühnen. Für gläubige Christen ist Ostern sehr eng mit Jerusalem verbunden, wo die Ereignisse jener Zeit stattfanden.

Aber Ostern ist nicht nur mit der Freude über den Auferstandenen verbunden, es ist auch ein Gedenken an die Leiden des Jesus Christus vor der Osterfreude.

Nein, dies ist keine Vorlesung in christlicher Lehre … Folgt mir bitte dennoch in die Vergangenheit, in das Jahr 1186, nach Jerusalem, in die Zeit zwischen dem 2. und dem 3. Kreuzzug und seht, wie ein edler Ritter jenes Osterfest in Jerusalem erlebte.

Ein edler Ritter namens Balian von Ibelin …

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Graf Raymond von Tiberias, Statthalter von Jerusalem, war amtsmüde. Noch ein knappes halbes Jahr und er würde im September seinen achtundfünfzigsten Geburtstag begehen. Für seine Zeit war Tiberias ohnehin ein alter Mann, der das durchschnittliche Höchstalter lange überschritten hatte. Seine zähe Kriegernatur hatte ihn beweglicher gehalten, als andere Männer in seinem Alter waren, aber die Folgen der überstandenen Kämpfe hatten nicht nur äußerlich sichtbare Narben hinterlassen. Er hinkte nach einer schlimmen Verwundung aus der Schlacht von Mont Gisgard seit vielen Jahren – und er hatte zunehmend Schmerzen in seinem beinahe gelähmten rechten Bein, so dass ihm auch das Reiten immer schwerer fiel.

Der Statthalter von Jerusalem aber war der militärische Befehlshaber der Stadt und brauchte im Falle eines Angriffs auf die Stadt nicht nur seinen Kopf sondern durchaus auch seine volle Kampffähigkeit. Tiberias fühlte sich nicht länger in der Lage, dieses verantwortungsvolle Amt auszuüben. Es brauchte einen Jüngeren, einen, der noch viel Zeit vor sich hatte; vor allem einen, der dem jungen König Balduin V. absolut treu ergeben war und der kämpfen konnte, wenn es sein musste. Tiberias fiel nur ein Mann ein, der diese Voraussetzungen erfüllte: Balian von Ibelin, sechsundzwanzig Jahre alt, dem König treu wie kaum ein zweiter – und ein Kämpfer, aber auch ein Diplomat.

Balian war zwar häufig außerhalb von Jerusalem, weil die diversen Lehen, die zu Ibelin gehörten, doch hin und wieder die Anwesenheit des jungen Herrn verlangten; aber zu Ostern wollte er wieder in Jerusalem sein. Ostern in Jerusalem zu sein war für einen Christenmenschen noch bedeutender als zu Weihnachten in Bethlehem – eine Ehre, die Balian zu Weihnachten zuteil geworden war.

Tiberias wusste, dass Balian bei seiner Ankunft in Jerusalem Anfang 1185 das Kreuz seiner Frau auf Golgota begraben hatte und dass er vorhatte, das Kreuz bei einer Gedenktafel für seine Familie zu bestatten, die er schon zu Karfreitag 1185 hatte aufstellen lassen wollen. Balians Familie, das waren seine leiblichen Eltern, aber auch sein Ziehvater, sein Halbbruder Michel und natürlich Natalie, seine verstorbene Frau. Alle Namen sollten auf der Tafel mit Geburts- und Sterbedatum eingraviert werden. Die Gräber seiner verstorbenen Verwandten konnte er nicht besuchen. Ehefrau, Mutter, Ziehvater und Halbbruder lagen in Saint-Martin-sur-Eure bei Chartres begraben, sein Vater in Messina – völlig unmöglich, auch nur hin und wieder dort vorbei zu schauen.

Im Vorjahr war aber durch den Tod Balduins IV. am 16. März und die Vorbereitung der Krönung Balduins V. zu Ostern für diese persönlichen Dinge nicht viel Zeit geblieben. Balian hatte weder vor noch zu Ostern 1185 Gelegenheit gehabt, Golgota einen Besuch abzustatten, um das Kreuz wieder auszugraben – und nach der Krönung hatte Guy als Vormund des jungen Königs Balian aus der Stadt verbannt, nachdem Balian den Treueid nur dem König hatte leisten wollen, nicht aber Guy, dem königlichen Vormund. Erst zu Allerheiligen des Jahres war die Verbannung wieder aufgehoben worden. Danach hatte er seine persönlichen Angelegenheiten in Jerusalem in Ordnung gebracht, war über Weihnachten und Dreikönig auf Einladung Balduins V. in Bethlehem gewesen und war seit Lichtmess viel unterwegs gewesen, um seine Lehen zu bereisen.

In diesem Jahr war die Gedenktafel fertig und harrte der Enthüllung. Außerdem wollte Balian am Karfreitag einen ganz persönlichen Kreuzweg gehen und würde schon deshalb in Jerusalem sein … Zudem hatte Balduin V. hatte am 21. April sein erstes Thronjubiläum, was zwar eine Woche nach Ostern war, aber Tiberias war sicher, dass Balian bis dahin Jerusalem nicht verlassen würde.

Tiberias schmunzelte vor sich hin. Wenn er Balian fragen würde, ob er sein Amt übernehmen wollte, würden dem jungen Mann in seiner Bescheidenheit gewiss Zweifel kommen, dass er der geeignete Mann dafür war. Nein, es war wohl besser, ihn damit einfach zu überraschen. Dafür brauchte Tiberias noch Hilfe …

 

***

 

 

Kapitel 1

Gründonnerstag

Tiberias‘ Plan

 

 

Gründonnerstag, 10. April 1186 – Davidsturm, Palast des Statthalters von Jerusalem

Der Statthalter ließ Jean, den Johanniterbruder, rufen, der Balian wie er selbst ein väterlicher Freund und weiser Berater war. Jean ließ sich auch nicht lange bitten und eilte zum Davidsturm, dem Amtssitz des Statthalters.

„Jean, wo ist unser junger Freund Balian?“, fragte Tiberias nach der Begrüßung.

„In der Stadt, in seinem Haus, Mylord Tiberias. Er hat Jerusalem seit Palmsonntag nicht verlassen. Mich wundert, dass Ihr danach fragt, da Balian mir gestern sagte, er werde Euch heute sicher in der Grabeskirche zum Gründonnerstag sehen.“

„Schön. Ich möchte, dass Ihr ihn bis Ostersonntag nicht aus den Augen lasst, mein Freund“, erwiderte Tiberias.

„Was habt Ihr vor, Mylord?“

„Ich möchte, dass Balian mein Amt übernimmt, aber ich möchte ihn damit zu Ostern überraschen.“

„Verzeiht, weiß der König das schon? Was sagt der Vormund dazu?“, erkundigte sich Jean, direkt auf das bestehende Problem weisend.

„Die Frage kläre ich noch vor dem Mittag. Ich bin ohnehin zum Mittagsmahl im Palast bei der königlichen Familie. Dort werde ich das Thema ansprechen. Ich möchte nur sicherstellen, dass der Junge nichts ahnt. Bleibt also bitte bei ihm.“

„Er sucht immer noch seinen Glauben, insofern werde ich die nächsten Tage ohnehin mit ihm verbringen.“

„Gut, dann begebt Euch zu ihm, Jean“, lächelte Tiberias. Jean, für einen freundlichen Scherz immer zu haben, stimmte begeistert zu und verließ eilig den Amtssitz, um Balian zu besuchen.

Gründonnerstag, 10. April 1186, Königlicher Palast

Tiberias humpelte in den benachbarten Palast und kam gerade recht in den Innenhof, in dem bereits die Tafel für das Mittagsmahl gedeckt war. Der Patriarch war gleichfalls anwesend und hatte das Mittagmahl als knappen Imbiss fleischlos aus Brot, Wein und etwas Käse herrichten lassen, der Fastenzeit angemessen. Am Abend sollte es ein traditionelles Lammessen geben, ganz so, wie Jesus es mit seinen Jüngern gemacht hatte, am Abend bevor er verraten und verhaftet worden war. Der kleine Balduin sah Tiberias kommen.

„Willkommen, Mylord Tiberias“, begrüßte der Junge den alten Ritter freundlich.

„Danke, mein König. Ich suche Eure Mutter und Euren Vormund“, erwiderte Tiberias.

„Die kommen gleich. Habt Ihr Baron Balian gesehen, Mylord Tiberias?“

„Nein, mein König, aber ich weiß, dass er in der Stadt ist.“

„Kommt er zur Gründonnerstagsfeier in die Grabeskirche?“

„Soviel ich weiß, hat er die Absicht.“

„Das ist fein. Hier war er nämlich schon lange nicht mehr“, freute sich Balduin.

„Vermisst Ihr ihn, mein König?“, fragte Tiberias. Balduin kam nahe zu ihm.

„Das weißt du doch, Onkel Tiberias. Ich möchte Onkel Balian am liebsten immer hier im Palast haben“, bemerkte der Junge vertraulich.

„Dann kannst du mir helfen, Raymond. Ich werde deinem Vormund einen Vorschlag machen und ich bitte dich, mich zu unterstützen“, gab Tiberias ebenso leise und vertraulich zurück.

„Und was?“

„Balian soll Statthalter von Jerusalem werden. Dann hast du ihn immer nahe bei dir. Was meinst du?“, schlug Tiberias flüsternd vor. Balduin bekam große Augen. Balian Statthalter von Jerusalem? Das war wie Ostern und Weihnachten auf einem Tag! Er nickte eifrig und Tiberias schmunzelte. Er würde damit nicht nur Balian beschenken, sondern auch den kleinen König, der Balian wie einen Vater liebte.

„Wenn Ihr etwas mit dem König zu besprechen habt, Mylord Tiberias, tut das künftig in meiner Anwesenheit“, grollte Guy, der in den Hof kam und seinen Stiefsohn und Tiberias in vertraulichem Flüstern vorfand.

„Mylord, ich bin der Statthalter von Jerusalem und in dieser Eigenschaft ausschließlich dem König selbst verantwortlich – nicht Euch“, erwiderte Tiberias ruhig.

„Ich bin der Vormund. Mit dem König könnt Ihr Euch allein unterhalten, wenn er mündig ist.“

„Aber Mylord, seht doch nicht hinter jedem Busch einen Räuber!“, beschwichtigte Heraclius Guy. „Graf Tiberias hat zudem Recht, Mylord.“

Guy fuhr herum, dass der Patriarch erschrocken zusammenzuckte.

„Hat er das?“, fragte Guy bissig.

„Ja … ja, das hat er Mylord“, stotterte der Patriarch. Er atmete sichtlich auf, als Guy sich wieder von ihm abwandte.

„Der König braucht Eure Unterschrift, damit seine Dekrete gültig sind; aber er kann reden, mit wem will, wann er will und vor so vielen oder wenigen Ohren wie er will, mein Gemahl“, wies Sibylla Guy zurecht. „Seid gegrüßt, Tiberias“, lächelte sie den alten Statthalter freundlich an.

„Meine Prinzessin“, verbeugte sich Tiberias.

„Darf ich denn erfahren, was Ihr mit meinem Sohn zu besprechen hattet, Mylord?“, lächelte sie und nickte hoheitsvoll, als Tiberias ihr höflich den Stuhl zurecht schob.

„Es ist kein großes Geheimnis, meine Prinzessin. Ich wollte Euch und auch Eurem Gemahl den Inhalt des Gesprächs nicht vorenthalten, wie Mylord Guy leider meint.“

„Nun, setzt Euch, greift zu und sagt, was Ihr auf dem Herzen habt“, forderte sie ihn auf. Tiberias setzte sich wie auch die anderen zu Tisch, der Patriarch sprach das Dankgebet, dann servierten die Mundschenke den Mittagsimbiss. Guy griff hungrig zu, schenkte sich Wein ein und überließ es Tiberias, seine Gemahlin mit Wein zu bedienen.

„Meine Prinzessin, ich möchte mein Amt als Statthalter aufgeben. Ich werde allmählich zu alt dafür“, sagte Tiberias. Sibylla bekam einen erschrockenen Ausdruck, würde sie mit Tiberias doch einen Vertrauten verlieren, der treu zu ihrem Sohn stand. Doch sie hatte sich schneller wieder in der Gewalt, als Guy ihr Erschrecken bemerken konnte.

„Seht Ihr das endlich ein?“, grinste Guy in seiner ganzen Unverschämtheit. „Und wer soll Euer … Nachfolger … werden?“

„Für ein so verantwortungsvolles Amt, das die Sicherheit von Jerusalem garantieren soll, kann ich nur jemanden empfehlen, der Euch, mein König und auch Euch, meine Prinzessin, absolut treu ergeben ist. Ich schlage den Baron von Ibelin für dieses Amt vor.“

„Ibelin!“, keuchte Guy. „Das meint Ihr hoffentlich nicht ernst, Tiberias!“

„Balian von Ibelin nimmt den Schutz dieses Reiches jedenfalls ernst“, knurrte Tiberias. „Er ist ein zuverlässiger Ritter, ein tapferer Krieger und eskortiert unbewaffnete Karawanen, damit sie in Ruhe gelassen werden. Dank seiner Bemühungen hält der von Balduin IV. beschworene Frieden noch, auch wenn Ihr mit den Templern nichts unversucht lasst, ihn zu zerstören.“

„Aber, aber, Mylords!“, schaltete sich der Patriarch ein, als Tiberias und Guy aufsprangen und sich gegenüberstanden wie französische Kampfhähne. „Haltet Frieden im Palast!“, mahnte er.

„Mein Vormund schätzt Baron Balian nicht, Mylord Tiberias“, meldete sich Balduin junior zu Wort. „Aber ich schätze ihn sehr und weiß, dass mein Leben und das meiner Mutter kaum besser geschützt sein kann, als durch den Baron von Ibelin und seine treuen Gefolgsleute. Ich bin deshalb einverstanden, Herrn von Ibelin als Euren Nachfolger einzusetzen. Maman, was sagt Ihr dazu?“

„Am besten gar nichts …“, grunzte Guy. „Nein, dem kann ich nicht zustimmen und dem werde ich nicht zustimmen. Da du, wie deine Mutter richtig bemerkte, ohne meine Unterschrift diesen unehelichen Emporkömmling nicht einsetzen kannst, wirst du das auch nicht tun, mein Sohn!“

„Papa …“

„Nenn mich nicht Papa!“, fauchte Guy.

„Ihr redet mit dem König!“, fuhr Sibylla dazwischen. „Und Ihr werdet Euch einer angemessenen Anrede entsinnen, mein Gemahl!“

Guy zuckte herum. Er wusste, dass Sibylla sehr bestimmt sein konnte, wenn sie wollte …

„Ihr habt Recht, Mylord Guy, Ihr seid nicht mein Vater“, sagte Balduin. „Verzeiht, dass ich diesen Umstand gern vergessen möchte, da Ihr der Gemahl meiner Mutter seid. Ich werde Eurem Wunsch entsprechen, und Euch mit einer solch vertraulichen Anrede nicht mehr belästigen. Doch ich erwarte, dass Ihr mir als dem König dieses Reiches den schuldigen Respekt erweist, auch wenn ich noch unmündig bin.“

So klein der junge König auch war, sein Ton duldete keinen Widerspruch. Guy sah ihn verblüfft an.

„Was …“, setzte er an, aber die zornige Haltung Tiberias’ und die erkennbare Entschlossenheit, den kleinen König auch mit dem eigenen Leben zu verteidigen, ließen de Lusignan stocken.

„Eure Heiligkeit, welche Möglichkeiten bestehen, dass ich einen anderen Vormund bekomme? Einen, der mich berät und mir nicht dergestalt über den Mund fährt?“, fragte Balduin den Patriarchen. Doch bevor der antworten konnte, betrat der Templergroßmeister den Innenhof.

„Ich denke, Herr Guy wird einsehen, dass er in diesem Fall zu weit gegangen ist, mein König. Ihr solltet um Entschuldigung bitten, Mylord Guy. Es gehört sich nicht, so zu reagieren“, sagte Großmeister de Ridefort. Ohne dass die anderen Anwesenden es bemerkten, zwinkerte er de Lusignan zu.

„Ja, Ihr habt Recht, Großmeister. Ich bitte um Entschuldigung, mein König.“

„Sie ist gewährt, Mylord Guy“, erwiderte Balduin.

„Habt Ihr einen Moment Zeit für mich, Mylord Guy?“, fragte er dann. De Lusignan nickte und erhob sich, folgte dem Templergroßmeister aus dem Innenhof.

Sibylla und der Patriarch sahen ihnen kopfschüttelnd nach, Tiberias bekam eine ungute Ahnung, aber wichtiger war es jetzt für ihn, einen guten Nachfolger in seinem Amt zu installieren.

„Bitte, mein König, wirkt auf Herrn de Lusignan ein, dass er Baron Balian in dieser Funktion akzeptiert“, bat er. Der kleine König sah eine Weile auf seinen Teller.

„Ich muss Euch nicht sagen, Mylord Tiberias, wie sehr ich Herrn Balian bei mir haben möchte. Aber wenn mein Vormund etwas nicht will, will er es nicht – und ich habe keine Möglichkeit, ihn dazu zu bringen, meinen Willen zu akzeptieren“ seufzte der Junge.

„Balduin, du hast Ostern dein erstes Thronjubiläum“, sagte Sibylla nachdenklich. „Wünsch es dir doch als Geschenk von Guy.“

Balduin nickte, aber er wirkte bedrückt.

„Ich bin kein König, Maman, nicht so wie Onkel Balduin. Wäre ich wirklich ein König, könnte ich selbst entscheiden, wer Statthalter von Jerusalem sein soll. Solange ich das nicht kann und Guy gehorchen muss, bin ich nur eine Schachfigur, sonst nichts. Warum kann nicht Tiberias mein Vormund sein oder Balian?“

Wohl wissend, dass es darauf keine Antwort geben würde, erhob sich der Junge und verließ die Tafel, obwohl er nicht einen Bissen Brot gegessen hatte. Der Appetit war ihm einfach vergangen.

„Er hat leider so Recht, Tiberias. Was können wir tun?“

Tiberias stand auf und schüttelte den Kopf.

„Nichts, meine Prinzessin“, flüsterte er. „Entschuldigt mich bitte“, setzte er hinzu und verließ den Innenhof, in dem eine bedrückte Prinzessin Sibylla und ein nur äußerlich ruhiger Patriarch zurückblieben.

 

 

Kapitel 2

Gründonnerstag

Sorgen

 

 

Gründonnerstag, 10. April 1186 – Guy de Lusignan und Gérard de Ridefort

Der Großmeister des Tempelritterordens, Gérard de Ridefort, und Guy waren in ein abgeschiedenes Gemach gegangen.

„Was fällt Euch ein, mich vor meiner Gemahlin und meinem Mündel, noch dazu vor Tiberias, dem schlimmsten Feind der Templer, so zu maßregeln?“, fauchte Guy.

„Weil Ihr dabei seid, eine Dummheit zu machen, Mylord.“

„Bin ich das?“, zischte Guy und nahm eine drohende Haltung an. Begütigend legte ihm de Ridefort eine Hand auf den Arm.

„Guy, hört mir zu: Wenn Ihr verhindert, dass Balian Statthalter von Jerusalem wird, dann ist er bald stark genug, den Orden der Tempelritter zu vernichten“, warnte Gerard eindringlich. „Solange er aus Jerusalem verbannt war, hatte er keine Verbündeten, weil die Strafe der Verbannung einschloss, dass ihm kein anderer Lehensmann Eures Mündels helfen durfte. Dass er die Verbannung überhaupt überlebt hat und von den Heiden nicht hinweggefegt wurde, verdankt er nur der Tatsache, dass er mit den Heiden eher speist als sie zu bekämpfen. Aber jetzt… ist er wieder in der Lage, alle wirksam zu bekämpfen, die uns unterstützen – und zahlreiche Barone stehen auf seiner Seite. Er hat zu viel Bewegungsfreiheit, Mylord. Fesselt ihn an Jerusalem!“, beschwor er de Lusignan.

„Indem ich ihn zum Statthalter mache?“, entfuhr es Guy. „De Ridefort, wenn ich das tue, ist innerhalb Jerusalems kein Templer seines Lebens sicher!“ versetzte er. „Der Statthalter ist nicht nur für die Verteidigung der Stadt nach außen verantwortlich, er ist auch der oberste Büttel, vergesst das nicht!“, erinnerte er.

„Er ist jung und unerfahren und wird mit der Sicherung der Stadt bestens ausgelastet sein. Zudem werden die Templer sich einstweilen eher außerhalb von Jerusalem aufhalten. Wir haben viel zu tun, wenn wir das wahre Reich Gottes errichten wollen“, widersprach de Ridefort. Guy kämpfte mit sich, das war ihm anzusehen.

„Ich würde es vorziehen, er wäre ganz weit weg von Jerusalem – ganz weit weg von meiner Gemahlin, de Ridefort“, sagte er schließlich.

„Guy, das Reich Gottes erfordert Opfer, selbst in den Familien …“, versetzte der Großmeister. „Gott will es!“, fügte er beschwörend hinzu. De Lusignan nickte.

„Ihr … habt Recht“, sagte er leise.

Gründonnerstag, 10. April 1186 – Haus des Barons von Ibelin, Jerusalem

Jean saß derweil mit Balian in dessen Haus zu Tisch. Das Mahl war ebenso einfach wie im Palast und bestand aus Brot, Wein und Käse.

„Ihr seht nicht wirklich glücklich aus, Mylord“, bemerkte Jean.

„Nichts von dem, was ich mir vorgenommen habe, habe ich in dem guten Jahr geschafft, das ich hier bin“, seufzte der Hausherr.

„Tatsächlich? Euer Lehen blüht, was es vorher nicht tat. Ibelin war immer ein sehr trockener Ort, Mylord. In Ibelin, Ramleh, Nablus, Samaria, Beisan und Gaza herrscht Frieden, wirklicher Frieden. Selbst Euer Vater hat davon nur träumen können. Ihr habt so viel erreicht, Balian!“

„Meinen Glauben, Jean, den habe ich nicht wieder gefunden. Das, wonach ich am meisten gesucht habe, weshalb ich hergekommen bin“, erklärte Balian.

„Meint Ihr immer noch, Gott habe Euch verlassen, Mylord?“

„Ich weiß es nicht, Jean“, seufzte der Baron, beinahe verzweifelt. „Ich sehe, dass jene, die meinen, besonders gläubig zu sein und Gott ganz besonders zu dienen, die Ideale des Glaubens, den ich einst lernte, mit Füßen treten, weil sie weder Vergebung noch Barmherzigkeit kennen. Sie sind Ritter, aber handeln nicht nach dem Rittereid. Sie vergreifen sich an Wehrlosen, rauben und morden; sie provozieren die Moslems, wo sie nur können. Sie tun so abgrundtief Schlechtes und sagen doch, es sei Gottes Wille, was sie tun. Andererseits behaupten Brüder Eures Standes, dass ein Mensch, der selbst Hand an sich legt, in die Hölle kommt. Natalie hatte niemandem außer sich selbst etwas getan. Sie hat sich auf unser Kind ebenso gefreut wie ich, sie war mir eine liebevolle Frau. Sie war gütig und half den Bedürftigen, die weniger hatten als wir. Sie war pure Güte und Liebe – aber weil sie den Tod unseres Kindes nicht ertragen konnte, weil sie glaubte, selbst daran schuld zu sein – vielleicht als Strafe dafür, dass sie sich mit einem unehelichen Sohn eingelassen hatte; vielleicht, weil sie sich trotz der Schwangerschaft nicht davon abhalten ließ, unserer kranken Nachbarin die ganze Wäsche zu machen, deshalb hat sie sich umgebracht. Sagt selbst: Ist diese Sünde wirklich schlimmer, als Tausende von Menschen nur deshalb zu töten, weil sie Gott auf eine andere Art verehren und ihm einen anderen Namen geben? Ich verzweifle an diesem Widerspruch, Jean.“

Jean nahm sich eine Traube, schob sie in den Mund und lächelte sanft.

„Glaubt mir nur dies, Mylord: Gott hat einen sehr eigenen Willen und er teilt ihn nicht jedem per Brief oder in nächtlicher Ansprache mit. Mit dem, was Ihr tut und wie Ihr denkt, erfüllt Ihr das, was Gott will, sehr viel eher als zum Beispiel die Templer. Ich bin ein Ordensbruder, Mylord, aber jene, die die Kirche Christi heute führen, haben mit den Aposteln oder gar mit Jesus selbst nicht mehr viel gemein. Jesus wäre es nicht eingefallen, andere zu töten oder dazu aufzurufen, weil sie seinen Vater mit einem anderen Namen belegten. Er hat das geknickte Rohr nicht gebrochen, er hat es aufgerichtet. Glaubt mir, dass Eure Frau bei ihm sicher ist und Trost gefunden hat – wie auch Euer Söhnchen, das das Licht dieser Welt nie erblickt hat. Seid gewiss, es sieht ein viel größeres und helleres Licht, als diese Sonne jemals geben kann – aber jene große und helle Sonne dort bei Gott lässt den Boden nicht verdorren wie diese, die über dieser Welt scheint“, erklärte Jean sanftmütig. Balian nickte mit dankbarem Lächeln. Die Worte des Johanniterbruders waren Balsam für die immer noch vorhandenen Wunden in seiner Seele.

„Wolltet Ihr nicht das Kreuz Eurer Frau neu bestatten?“, fragte Jean dann.

„Ja. Würdet Ihr … würdet Ihr dem Kreuz stellvertretend für meine Frau die Sterbesakramente geben?“, fragte der junge Baron vorsichtig.

„Ja.“

„Es liegt noch auf Golgatha, wo ich es bei meiner Ankunft begraben habe. Wollt Ihr mich dorthin begleiten, Jean?“

„Gern. Lasst uns am besten heute gehen, denn morgen ist die Kreuzwegprozession und Ihr hättet keine Gelegenheit, das Kreuz zu bergen, Mylord“, schlug der Johanniter vor.

Gründonnerstag, 10. April 1186, Golgatha

Wenig später stiegen sie nach Golgatha hinauf und fanden die sorgsam mit Steinen belegte kleine Grabstätte. Balian legte das Kreuz vorsichtig frei, wie um es nicht zu beschädigen. Jean hob es aus der Erde und befreite es sanft von daran haftendem Staub. Er betrachtete es lange.

„Habt Ihr es gemacht, Mylord?“, fragte er.

„Ja. Es war ein Geschenk an Natalie, als wir noch Kinder waren. Sie war die Tochter des Sattlers, der bei meinem Ziehvater Steigbügel und Trensen für sein Sattelzeug kaufte. Als sie das dritte Mal zu uns kamen, habe ich es aus einem Silberdenier gemacht.“

„Ein wahres Geschenk. Ein Denier muss für Euch viel Geld gewesen sein.“

„Ja, aber für Natalie hätte ich schon mit zehn Jahren fast alles getan. Ihr Vater war sehr großzügig und gab mir immer guten Lohn, wenn ich seine Sättel nach Chartres zum Markt brachte. Dieses Kreuz ist aus dem ersten Lohn, den ich von ihm bekam.“

„Euer erster Versuch, mit Silber zu arbeiten?“

„Ja.“

„Ihr habt viel Liebe hineingesteckt, Mylord“, lächelte Jean und streichelte das recht unbeholfen wirkende Kreuz sanft.

„Natalie war meine große Liebe, Jean“, sagte Balian mit belegter Stimme.

„Liebe auf den ersten Blick?“

„Ein paar mehr hat’s gebraucht, aber viele waren es nicht“, erwiderte der junge Mann. Jean legte ihm das Kreuz vorsichtig in die Hand. Balian hob es an die Lippen und drückte einen zärtlichen Kuss darauf und barg es dann in der hohlen Hand.

„Liebt Ihr Eure Frau immer noch?“

„Ja, das tue ich. Von Herzen. Deshalb kann ich nicht glauben, dass sie in der Hölle ist, solange sie in meinem Herzen ist.“

Eine Weile gingen sie schweigsam nebeneinander in Richtung des Hauses der Ibelin in Jerusalem.

„Was bedrückt Euch, Mylord“, fragte Jean schließlich.

„Der Widerspruch zwischen meiner noch immer bestehenden Liebe zu Natalie und meiner Liebe zu Sibylla, die zudem nicht sein darf“, erwiderte Balian.

„Ist das wirklich ein Widerspruch?“, hakte Jean ein.

„Ich frage mich, wie es sein kann, dass ich tatsächlich beide liebe“, seufzte Balian. „Sibylla und ihr Sohn sind in meinem Herzen, aber Natalie ebenfalls – und keine weniger als die andere. Es erschreckt mich, Jean.“

„Das muss Euch nicht erschrecken, Mylord. Ihr seid nicht der erste Witwer, der für eine neue Ehe bereit wäre. Selbst nach den Grundsätzen der Kirche seid Ihr frei, eine neue Ehe einzugehen. Ihr wart Eurer Frau treu, bis der Tod Euch von ihr schied. Und es ehrt Euch, dass Ihr sie noch immer so sehr liebt, dass Ihr für sie sogar Vergebung im Heiligen Land sucht. Freut Euch, dass Ihr in der Lage seid, gleich zwei Frauen so sehr zu lieben, dass Ihr für sie fast alles tun würdet. Eure Frau muss glücklich gewesen sein, einen so liebevollen Mann gehabt zu haben.“

„Meine Liebe war nicht stark genug, sie vor sich selbst zu schützen“, sagte Balian bedrückt. Jean legte ihm verständnisvoll eine Hand auf die Schulter.

„Ich kenne nicht viele Männer, die auch um ihrer toten Frau willen das Kreuz genommen haben. Eure Liebe ist groß, Balian – und ohne Falsch. Und das macht sie auch vor Gott so wunderbar. Liebt, Ihr tut nichts Falsches damit.“

Kapitel 3

Gründonnerstag

Abendmahl

 

 

Gründonnerstag, 10. April 1186, Grabeskirche, Jerusalem

Es war kurz nach Sonnenuntergang an diesem Donnerstag, als der Patriarch von Jerusalem die Feier des Letzten Abendmahles begann. Fast alle Barone und Edlen des Königreichs Jerusalem hatten sich mit ihren unmittelbaren Gefolgsleuten zusammen mit der königlichen Familie in der Grabeskirche versammelt. Nicht einmal Reynald de Châtillon fehlte, der bei den Templern neben dem Großmeister Gérard de Ridefort auf der linken Seite direkt vor der Kanzel saß.

Guy de Lusignan, der mit seiner Gemahlin und seinem Stiefsohn in der königlichen Loge der Kirche saß, sah mit finsterer Miene, dass Balian von Ibelin einen Ehrenplatz in der ersten Reihe neben Tiberias und dem Großmeister des Johanniterordens, Roger de Moulins, angewiesen bekam – und ihn nur zögerlich einnahm. Balian selbst hätte sich am liebsten ganz hinten in die Kirche gesetzt. Tiberias wusste das nur zu genau und hatte den jungen Baron an seine Seite gebeten. Würde er erreichen, was er wollte, wäre dies in Zukunft Balians Platz bei jeder Messe, die er in der Grabeskirche besuchen würde …

Wie alle Besucher der Messe trug Balian ein kostbares Festtagsgewand, nur hätte er es im Gegensatz zu den meisten versammelten Adligen nicht nötig gehabt, seinen Adel auf diese Weise deutlich zu machen. Sibylla und ihr Sohn verständigten sich mit Blicken. Neben Raymond von Tiberias saß ein Bild von einem Mann, bei dem nicht nur das Äußere edel war. Balian lächelte ihnen freundlich zu, vermied aber zu intensiven Blickkontakt. Balduin wollte seine Mutter gerade leise danach fragen, bemerkte aber, dass sie den Zeigefinger an die Lippen legte und ihren Sohn damit zu andächtiger Stille in der Kirche ermahnte. Ergeben nickte der junge König – und wünschte sich weit weg von Jerusalem. Am liebsten wäre er jetzt bei Balian in Ibelin oder in Nablus gewesen, hätte ihm am liebsten geholfen, Pferde zu beschlagen oder Klingen zu schmieden. Bei Balian gab es immer etwas Interessantes zu sehen und zu lernen.

Der Patriarch las die Messtexte, die vom Lammessen der Jünger mit Jesus erzählten; davon, dass Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen hatte, um zu zeigen, dass der, der allen vorstehen wollte, den anderen dienen sollte. Balduin stellte sich vor, wie es wäre, wollte er als König das tun. Sein verstohlener Blick suchte und fand Balian, bei dem Balduin das gewiss nicht schwer gefallen wäre, wusste er doch, dass gerade Balian ein reinlicher Mann war, der die Sitte des täglichen Bades gern von den Sarazenen angenommen hatte. Aber Balduin war sich sicher, dass er bei den Herren des Tempelritterordens eine Fußwaschung bestimmt nur mit einer Klammer auf der Nase hinbekommen hätte. Es war allgemein bekannt, dass Templer so gut wie nie badeten – und einen entsprechenden unangenehmen Geruch verbreiteten. Leise kichernd dachte Balduin, dass man Templer eigentlich viel früher roch als sah … Er bekam einen unsanften Stoß und sah in das wütende Gesicht seines Stiefvaters.

‚Er ist ein Templer – was erwartest du eigentlich?’, durchzuckte es den kleinen König.

Der Patriarch erteilte die Kommunion, das Abendmahl, an diesem Tag in beiden Gestalten, also Brot und Wein, was in der katholischen Kirche sonst nicht üblich war. Die Gläubigen bekamen die Hostie dafür ausnahmsweise in die Hand statt wie sonst direkt auf die Zunge gelegt und tauchten sie in den Kelch, den ein zweiter Priester hielt. Balduin verspürte nagenden Hunger, den das heilige Brot nicht stillen konnte, sondern ihn im Gegenteil noch anheizte. Die vierzig Tage Fastenzeit waren für einen siebenjährigen Jungen, der mitten in der Entwicklung steckte, eine harte Prüfung; schließlich war Fleisch in dieser Zeit vom Speiseplan gestrichen, und Süßigkeiten, für Kinder immer der beste Ausweg, bestehenden Appetit zu dämpfen, gab es als Zeichen der Enthaltsamkeit erst recht nicht. Zudem hatte Balduin mittags praktisch nichts gegessen. Jetzt musste dringend etwas zwischen die Zähne, sonst knabberte er noch die nächste Kirchenbank an, meinte er im Stillen. Dass der Patriarch in seiner Predigt so genussvoll vom gemeinsamen Essen der Jünger mit Jesus gesprochen hatte, fand Balduin regelrecht gemein, knurrte sein Magen doch immer vernehmlicher. Unruhig rutschte er auf seinem Logensitz herum.

„Sitz still!“, wies ihn seine Mutter flüsternd, aber bestimmt, an.

„Maman, ich hab’ Hunger“, klagte er leise.

„Pscht, wir sind bald bei Tisch“, beruhigte sie ihn sanft. Balduin nickte ergeben. Die Grabeskirche war nicht weit vom Palast entfernt und Balduin wusste, dass sie sich zu Hause nur noch zu Tisch setzen mussten. Er zwang sich zur Geduld und schwor sich, sich gründlich satt zu essen, denn der morgige Tag würde, was das Essen betraf, ganz furchtbar werden. Karfreitag gab es im Hause Anjou genau ein Stück Brot und einen Krug Wasser – sonst nichts. Balduin kannte es nicht anders, aber leichter machte ihm dieses Wissen den Karfreitag gewiss nicht …

„Hast du heute Abend schon etwas vor, Balian?“ fragte Raymond von Tiberias den jungen Baron nach der Messe.

„Ja, ich bin mit Jean zum Lammessen beim König eingeladen“, erwiderte Balian.

„Klingt nicht sehr begeistert, mein Junge“, bemerkte Tiberias.

„Es wird lange dauern und ich bin müde. Die letzten Tage waren recht anstrengend.“

„Ich kenne da zwei Leute, die dich heute Abend unbedingt im Palast sehen möchten“, grinste Tiberias und legte Balian einen Arm um die Schulter, zog ihn sanft, aber bestimmt in Richtung Palast.

„Und ich kenne einen im Palast, der mich mindestens nach Frankreich zurückwünscht, vorzugsweise ins Pfefferland oder noch besser unter die Erde. Guy sieht es nicht gern, wenn ich im Palast bin“, erwiderte Balian.

„Du bist der einzige Lichtblick, den unser junger König hat, von seiner Mutter ganz zu schweigen. Balian, sie verzehrt sich nach dir!“ erwiderte Tiberias.

„Und ich mich nach ihr – aber es darf nicht sein, Tiberias.“

„Ich brauche dich hier in Jerusalem, Balian“, hielt Tiberias ihn zurück, als er schon gehen wollte. „Und ich brauche dich im Palast, mein Junge. Außerdem … du hast dir diese Ehre wirklich verdient.“

„Hab’ ich das? Womit?“

Tiberias sah ihn einen Moment an.

„Dein Lehen Ibelin war, so lange dein Vater lebte, immer nur ein wüster Ort. Seit du es zu einer Oase gemacht hast, haben sich nicht nur deine Einnahmen aus der Karawanserei verdreifacht und der Ertrag der Orangenernte vervierfacht, es gilt als Musterbeispiel, wie Christen, Juden und Moslems zusammenleben können. Bei diesem König bist du schon deshalb ein hoch angesehener Baron, mein Junge. Aber … du weißt, dass der König dich noch viel mehr als Menschen schätzt. Balian, er liebt dich wie ein Sohn den Vater lieben sollte. Und du wärst ihm ein guter Vater, das wissen nicht nur Sibylla und ich …“

„Nein, das wissen auch einige, denen es gar nicht recht sein kann“, entgegnete Balian. Er wollte diese Aufmerksamkeit nicht. Eigentlich wollte er lieber zurückgezogen in Ibelin leben und für die Menschen dort da sein, aber seine Stellung als Baron des Reiches brachte es nun einmal mit sich, dass er sich auch bei Hofe aufhalten musste. Soweit es Sibylla und ihren Sohn betraf, konnte Balian nicht einmal bestreiten, gern dort zu sein. Aber er wusste, dass seine Nähe zu Sibylla und dem kleinen König Guy sehr verletzte. Balian war keiner, der andere verletzen wollte, weder bewusst noch unbewusst. Insofern tat Guy ihm wirklich Leid, der weder die Liebe seiner Frau noch seines Stiefsohnes hatte …

Gründonnerstag, 10. April 1186, königlicher Palast, Jerusalem

Balian hatte es geahnt, dass das Mahl, zu dem er eingeladen war, in unschöner, gespannter Atmosphäre verlaufen würde. Er fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, die Einladung höflich abzulehnen und lieber in seinem Haus mit seinen Leuten gemeinsam zu speisen, mit denen er viel ungezwungener plaudern konnte. Dennoch wunderte er sich, dass Guy nicht einmal den Versuch machte, ihn verbal anzugreifen, was sonst bei ihm gang und gäbe war. Der königliche Vormund verabschiedete sich auch sehr früh für seine Verhältnisse – und er schien mächtig betrunken zu sein.

Der junge Baron hielt es für angeraten, sich kurz nach Guy zu verabschieden. Er wollte Sibylla nicht kompromittieren, indem er blieb, während deren Ehemann sich bereits zurückgezogen hatte. Noch waren genügend Leute anwesend, die nötigenfalls bezeugen konnten, dass er nicht in unmöglicher Situation mit der Prinzessin von Jerusalem allein gewesen war … Er erhob sich und verbeugte sich höflich vor Balduin und seiner Mutter.

„Mein König, meine Prinzessin, ich danke für Eure Gastfreundschaft. Erlaubt, dass ich mich zurückziehe“, bat er.

„Ich bedaure, dass Ihr schon gehen wollt, Mylord“, lächelte Sibylla verführerisch. „Ich hatte gehofft, Ihr würdet noch bleiben.“

So, wie sie ihn ansah, hoffte sie, dass er die Nacht bei ihr verbringen würde – allein, unbeobachtet und voller Liebe… Balian schenkte ihr ein freundliches Lächeln.

„Vielleicht ergibt sich ein andermal die Gelegenheit, länger zu verweilen. Gute Nacht, meine Prinzessin. Gute Nacht, mein König“, verabschiedete er sich und verließ mit Jean den Palast.

 

 

Kapitel 4

Gründonnerstag auf Karfreitag

Nachtwache in Gethsemane

 

 

Gründonnerstag, 10. April 1186 – Haus des Barons von Ibelin, Jerusalem

Während Balian schlafen gehen wollte, als sie sein Haus erreichten, entschied Jean sich, wach zu bleiben und zu beten. So hatte es Jesus seinen Jüngern einst geboten. Zunächst hatte er Balian überreden wollen, mit ihm zu wachen, aber der junge Mann war einfach müde, das konnte Jean nicht übersehen. Der Johanniter verkniff es sich, ihn auf Sibylla anzusprechen. Er würde von allein darauf zu sprechen kommen, so gut kannte Jean Balian.

Wie sehr den Baron die Sehnsucht nach der Prinzessin quälte, bemerkte Jean, als er in der Nacht ein Stöhnen hörte und auf der Suche nach der Quelle der gequälten Laute in Balians Schlafgemach trat. Der Sohn seines alten Freundes warf sich unruhig herum, ohne wirklich Schlaf zu finden. Jean setzte sich an das Bett des jungen Mannes und schüttelte ihn sanft. Balian zuckte erschrocken hoch.

„Oh, du bist es, Jean. Wie spät ist es?“

„Allenfalls Mitternacht durch. Warum quälst du dich so, mein Junge?“

„Was … was meinst du?“

„Du sehnst dich nach ihr, nicht wahr?“

Balian setzte sich ganz auf und wischte sich müde über das ebenmäßige Gesicht.

„Seit ich sie im Herbst letzten Jahres so lange bei mir in Nablus hatte, träume ich jede Nacht von ihr. Ich liebe sie, Jean, aber diese Liebe ist einfach Sünde. Sie ist die Frau eines anderen. Aber ich kann sie nicht vergessen, kann nicht vergessen, wie wundervoll es ist, wenn sie bei mir ist, wenn sie in meinen Armen liegt, wenn wir uns lieben und uns alles geben, was wir füreinander empfinden. Es quält mich, wenn ich weiß, dass sie von de Lusignan nicht geliebt wird, aber bei ihm sein muss, als sein schmückendes Beiwerk. Sie hat verdient, geliebt zu werden, aber sie war immer nur eine Schachfigur der Politik. Balduin ist so, wie ich mir einen Sohn wünsche. Auch er verdient, geliebt zu werden und nicht nur als Mittel zum Zweck benutzt zu werden.“

„Sei jetzt ehrlich zu dir selbst: Würdest du sie heiraten wollen?“

„Ja, das würde ich. Ihr Bruder Balduin hatte mir ihre Hand schon angeboten, nur sollte Guy deshalb gehängt werden, weil er mir keinen Treueschwur geleistet hätte, nicht wegen der Untaten, die er schon begangen hat. Das wollte ich nicht. Aber wenn sie frei wäre, würde ich sie fragen, ob sie meine Frau werden will. Balduin wäre für mich kein Stiefsohn. Ich würde ihn adoptieren.“

„Welche Bedeutung hat die Tatsache, dass sie die Prinzessin von Jerusalem ist?“, fragte Jean. Balian schüttelte den Kopf.

„Für mich selbst keine. Ihre Stellung als Mutter des Königs interessiert mich nicht. Ich würde sie genauso lieben, wenn sie eine der Mägde in Ibelin wäre – mit dem Unterschied, dass sie dann vermutlich nicht verheiratet wäre und ich sie nicht mit einem anderen mindestens teilen muss.“

„Wäre sie eine verheiratete Magd, was dann?“

„Dann würde ich mich damit ebenso quälen wie jetzt. Aber es wäre kein Grund, ihren Ehemann zu beseitigen, falls du das meinst.“

Jean nickte. Etwas anderes hatte er Balian auch gar nicht zugetraut.

„Wenn du doch nicht schlafen kannst und nur von deinen Träumen gequält wirst – was hältst du von einer Nachtwache auf dem Ölberg?“

„Du meinst, wo Jesus …?“

Jean nickte.

Gründonnerstag, 10. April 1186 – Ölberg, Jerusalem

Der Ölberg oder der Garten Gethsemane lag eine halbe Meile außerhalb der Stadtmauer Jerusalems. Die Gassen von Jerusalem waren still und dunkel, nur durchbrochen vom Licht der Fackeln an manchen Häusern und dem Schein zweier Fackeln, die Balian und Jean mit sich trugen, als sie durch das Löwentor aus der Stadt traten und zur Basilika hinaufgingen, die auf dem Ölberg unterhalb des dortigen, noch aus biblischer Zeit stammenden jüdischen Friedhofs lag. Sie gingen jedoch den Berg weiter hinauf bis zur Kuppe des Hügels.

„Sieh es dir an, Balian, das ist Jerusalem, wie unser Herr Jesus es in der Nacht vor seinem Tod gesehen hat“, sagte Jean. Trotz der Dunkelheit hoben sich die Gebäude der Stadt deutlich ab, teilweise vom Mond beschienen, der nahezu rund war – schließlich ist der Ostersonntag der Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond. An dieser Tatsache hatte sich schon seit vorchristlicher Zeit nichts geändert, denn auch das Passahfest der Juden, das den Grundstein des christlichen Osterfestes bildet, war zu dieser Zeit. Man hatte das große Licht in der Nacht für die Reise nach Jerusalem genutzt – schon zu Zeiten König Davids …

Für Balian war es ähnlich wie bei seiner nächtlichen Wache auf Golgatha, doch hatte er damals ebenso verzweifelt wie vergeblich auf Gottes Wort gelauscht. Jetzt spürte er, dass er ruhiger wurde und sich der Schönheit der relativ warmen Frühlingsnacht und des Ortes hingeben konnte. Er lebte in Jerusalem an einem der schönsten Orte, die er je gesehen hatte. Dieser fruchtbare Olivenhain hatte etwas Paradiesisches an sich. Wenn sich Jesus in seiner Todesangst hierher geflüchtet hatte, war der Ölberg sicher der beste Ort in Jerusalem, um Ruhe zu finden. Balian spürte einen Frieden in sich wie seit Jahren nicht mehr.

„Deine Aufgaben werden nicht geringer werden, Balian“, hörte er Jean sagen. „Gerade, weil König Balduin dich so sehr liebt, möchte er dich bei sich haben und dir weitere Aufgaben übertragen. Wenn du in Jerusalem Ruhe und Frieden suchst, dann geh hierher. Hier ist es stiller als in jeder Kirche dort unten.“

In der Tat, nur Zikaden sangen ihr nächtliches Lied.

Balian setzte sich auf einen Stein, von dem er den wundervollen Blick richtig genießen konnte, ließ die Ruhe und den Frieden dieser Nacht durch sich hindurchfließen und hing schweigend liebevollen Gedanken an Sibylla und ihren Sohn Balduin nach, während Jean still betete – und zwar insbesondere für Balian und seine kommenden Aufgaben, die er Gott empfahl.

Ein schmaler Streifen Helligkeit hinter ihnen kündete vom neuen Tag, die Sterne verblassten so schnell, wie sie am Abend zuvor erschienen waren. Als Balian und Jean wieder durch das Löwentor in die Stadt zurückkehrten, vergoldete der erste Sonnenstrahl die Kuppel des Felsendoms hoch über dem Löwentor.

 

 

Kapitel 5

Karfreitag

Trauer im Sonnenschein

 

Karfreitag, 11. April 1186 – Haus des Barons von Ibelin, Jerusalem

Balian hatte es seit dem frühen Morgen vermieden, wieder auf seine Liebe zu Sibylla und die möglichen Folgen zu sprechen zu kommen. Aber jetzt, als er die Tafel für seine Angehörigen im Hof seines Hauses in Ibelin enthüllte und das Kreuz seiner Frau, stellvertretend für sie mit den Sterbesakramenten versehen, unter der Tafel beigesetzt wurde, nahm er den Gesprächsfaden vom Vortag wieder auf:

„Ihr sagtet gestern, es sei nichts Falsches, Sibylla zu lieben, Jean. Guy sieht das anders, vermute ich.“

„Würde Guy de Lusignan seine Frau so lieben, wie sie es als seine Ehefrau verdient, würde sie nicht in die Verlegenheit geraten sein, Euch schöne Augen zu machen. Nein, das hat er sich selbst zuzuschreiben“, erwiderte Jean und sprengte noch etwas Weihwasser mit einem Palmwedel über die Gedenktafel und die Steine, die das neue Grab des Silberkreuzes bedeckten.

„Dennoch ist es für mich Sünde, sie zu begehren“, beharrte Balian. „Und für sie ist es Sünde, die Ehe zu brechen.“

„Wart Ihr deshalb so oft fort?“

„In ihrer Nähe zu sein, ist eine zu große Versuchung, Jean. Die Zeit, die sie und Balduin bei mir in Nablus verbracht haben, ließ mich fast vergessen, dass es nicht richtig war, was wir taten.“

„Balduin vermisst Euch sehr.“

„Ich ihn auch – und seine Mutter. In Nablus waren wir eine glückliche Familie und ich habe jeden Tag genossen, die ich mit ihm und Sibylla verbringen durfte.“

„Sibylla hat es auch genossen, sehr sogar.“

„Sie … hat bei Euch … gebeichtet?“

„Dann würde ich es Euch nicht erzählen, Mylord. Nein, sie hat es mir gesagt, als Balduin vor einigen Wochen krank war und sie mich gebeten hatte, ihn zu untersuchen“, erklärte Jean. „Sie … wünscht sich Kinder – vorausgesetzt, Ihr seid der Vater …“

„Ich weiß …“

„Sie verweigert sich Guy“, fuhr Jean fort. Balian nickte.

„Bitte, Jean, versucht mich nicht“, bat er.

„Was wäre, wenn Ihr täglich nahe bei ihr wärt?“

„Es wäre die schrecklichste Versuchung, die ich erleben könnte. Täglich in Sibyllas Nähe zu sein … Jean, ich könnte nicht widerstehen, das sage ich offen.“

„Nun, ein guter Teil der Barone sähe lieber Euch als Guy an Sibyllas Seite …“

Balian blieb abrupt stehen.

„Jean, was geschieht hier? Gilt das Königreich des Gewissens nicht mehr?“, knurrte Balian.

„Es ehrt Euch, dass Ihr dieses Ideal Eures Vaters praktizieren wollt …“

„… aber es ist nicht die Realität. Wollt Ihr mir das sagen?“

„Ja und nein. Was hat Sibylla Euch zu ihrer Ehe gesagt?“

„Dass Guy die Wahl ihrer Mutter war und sie erst fünfzehn war.“

„Sibylla ist wie Ihr im Jahr 1160 geboren. Balduin ist 1177 geboren. Was sagt Euch das?“

„Dass sie mit siebzehn Jahren Mutter wurde.“

„Guy ist nicht der Vater des Jungen. Sie war vor der Ehe mit Guy mit Balduins Vater Guillaume verheiratet. Guillaume starb an Malaria – nun offiziell jedenfalls. Es gibt da einige Ungereimtheiten … Es kann gut sein, dass von interessierter Seite nachgeholfen wurde …“

„… und jetzt möchte man wieder nachhelfen. Danke, ohne mich“, wehrte Balian ab. „Gebt Euch keine Mühe. Ich gebe mich nicht als Grund für den Tod Guys her.“

„Ich will Euch weder zum Mord anstiften noch zur Lüge, um Guy zu beseitigen“, beruhigte Jean den aufgebrachten Balian. „Aber es ist einfach eine Tatsache, dass die Ehe zwischen Guy und Sibylla nur auf dem Papier besteht. Balduin hat noch keinen Erben und wird frühestens in zehn Jahren einen haben. Sibylla wird mit Guy keine Kinder haben, weil sie sich ihm verweigert. Wenn Balduin etwas zustößt, ist das Reich ohne Erben.“

„Nicht ganz. Sibylla könnte die Krone erben“, widersprach Balian.

„Aber sie kann nicht allein regieren. Guy wäre König. Was dann geschieht, könnt Ihr Euch vielleicht denken.“

„Mir ist klar, dass mein Leben dann kein Sandkorn mehr wert ist …“

„Verzeiht, es geht in diesem Fall nicht um Euer Leben, das mir viel bedeutet, Mylord“, unterbrach Jean. „Es geht um den Bestand dieses Reiches.“

„Glaubt Ihr, dass Kinder, die nicht aus der Ehe mit Guy stammen, auch nur den Hauch einer Überlebenschance hätten, wenn Balduin ohne Erben stirbt?“

„Wer an diese Kinder will, muss erst an ihrem Vater vorbei, denke ich“, erklärte Jean. „Guy de Lusignan und sämtliche Templer kämen an diese Kinder nicht heran, wenn ihr Vater sie schützt. Und das würdet Ihr tun. So gut kenne ich Euch.“

Balian wollte erneut aufbegehren, aber dann sah er die Chance, die sich nicht nur Jerusalem als Königreich bot, sondern auch ihm selbst und der Frau, die er liebte, wenn er dieses Kreuz auf sich nahm …

Karfreitag, 11. April 1186 – Königlicher Palast, Jerusalem; Gemächer des Königs

Der Karfreitag gehörte zu den wenigen Tagen im Jahr, an denen der König keine repräsentativen Pflichten hatte und keine Staatsgeschäfte seiner harrten. Selbst Könige haben Feiertage und im christlichen Königreich Jerusalem gehörte das Osterfest vollständig dazu. Balduin hatte dennoch keine Freude an diesem Tag, obwohl es ein strahlend schöner und warmer Tag war. Balduin war Christ, die Kirche gehörte einfach zu seinem Leben dazu, aber Karfreitag war nicht der Tag, über den er sich freuen konnte. Zu viel Verzicht bedeutete dieser Tag – Verzicht auf anständiges Essen, Verzicht auf nette Gesellschaft, Verzicht auf private Rückzugsmöglichkeit, Verzicht auf Freude allgemein. Nein, Balduin konnte den Karfreitag einfach nicht ausstehen. Er schien einfach nur dafür da zu sein, ihn zu ärgern. Trübsinnig kaute er lange auf seinem einzigen Stück Brot herum, um eine Weile was davon zu haben, denn mehr als dieses eine Stück Brot würde es heute nicht geben. In dem Punkt war seine Mutter eisern.

Balduin hielt es im Palast nicht wirklich aus und suchte seine Mutter, um sie um Erlaubnis zu bitten, Balian oder wenigstens Tiberias besuchen zu können. Er fand seine Mutter in den Räumen seines verstorbenen Onkels. Eigentlich sah es dort so aus, als wäre Balduin IV. nur kurz fort gegangen, vielleicht um sich ein Buch aus der Bibliothek zu holen; selbst sein geliebtes Schachspiel stand noch so da, wie es am Tag seines Todes vor über einem Jahr angefangen stehen geblieben war. Sibylla saß traurig vor dem unvollendeten Schachspiel.

„Maman, was ist denn?“, fragte der Junge. Sibylla zuckte erschrocken herum. Sie hatte ihren Sohn nicht kommen hören.

„Es ist nichts“, erwiderte sie und versuchte zu lächeln, aber Balduin sah an ihren rot geweinten Augen, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Er kam zu ihr und lehnte sich bei ihr an.

„Du bist traurig wegen Onkel Balduin, nicht wahr?“, mutmaßte er. Sie nickte schweigend und strich ihrem Sohn liebevoll durch das blonde Haar.

„Ich auch“, sagte er. „Ich hab ihn lieb gehabt. Er … er wollte mir noch das Schachspiel beibringen … Ich find’s schade, dass er nicht mehr bei uns ist.“

„Das ist es auch. Er war ein wunderbarer Mensch, sanftmütig und doch stark.“

„Maman, Onkel Balduin hat doch oft mit Onkel Balian Schach gespielt, nicht?“

„Ja“, erwiderte Sibylla und bekam ein verschmitztes Lächeln, als sie an die ersten Schachversuche ihres geliebten Ritters dachte. Balduin war durch lange Übung ein geschickter Spieler, mit dem nicht viele hatten mithalten können. Balian und Balduin hatten nicht viel Zeit gehabt, gemeinsam Schach zu spielen; aber in der kurzen Zeit, in der sie nahezu täglich miteinander gespielt hatten, sofern Balian nur in Jerusalem gewesen war, hatte der junge Ritter viel gelernt und war ein guter Taktiker geworden.

Schach galt als das Spiel der Könige, und grundsätzlich wurde von einem Ritter erwartet, dass er dieses Spiel frühzeitig lernte und beherrschte. Balduin hatte es von Godfrey gelernt und sein Wissen an Godfreys Sohn weitergegeben. Guy hingegen machte sich nichts aus Schach. Er hielt es für kindisch und einem erwachsenen Mann unangemessen. Sibylla sah ihren Sohn einen Moment an. Für die Familie d’Anjou kam gar nichts anderes in Frage, als dass ein Sohn dieser Familie selbstverständlich auch das Strategiespiel Schach lernte – und Balian war ein guter Lehrmeister. Guy kämpfte ohnehin noch mit den Folgen des Vorabends, als er zum Lamm deutlich über den Durst Wein getrunken hatte. Er war so betrunken gewesen, dass er … Sibylla hatte mit den Dienern ihres Gemahls wirklich Mitleid, die seine Gemächer von den wenig appetitlichen Hinterlassenschaften ihres Bewohners reinigen mussten …

„Es ist noch früh am Tag, Balduin. Wollen wir Balian besuchen gehen?“

„Au ja!“, jubelte Balduin begeistert. Endlich ein Lichtblick am Karfreitag …

 

 

 

Kapitel 6

Karfreitag

Ein besonderes Karfreitagsopfer

 

Karfreitag, 11. April 1186 – Haus des Barons von Ibelin, Jerusalem

Balian und Jean hatten sich gerade zu Tisch gesetzt, um die einzige zugelassene Sättigung des strengen Fasttags einzunehmen, als Almaric mit wissendem Grinsen in den Speiseraum kam.

„Ihr habt Besuch, Mylord“, sagte er mit einer leichten Verbeugung. Balian kannte dieses Lächeln seines Hauptmanns.

„Entschuldigt mich bitte“, bat er Jean um Vergebung und ließ sein Brot stehen, um den Besuch zu begrüßen. Zu seiner Freude sah er seinen König und seine Prinzessin, die in recht einfacher Kleidung im Hof standen. Es war ein gänzlich anderer Auftritt als jener, bei dem Sibylla ihm mit einer Hundemeute in den Hof galoppiert war…

„Schließt bitte das Tor!“, wies Balian die beiden Diener an, die in der Nähe des großen Holztores seines Anwesens standen. Das Tor war kaum zu, als Balian seine geliebte Prinzessin umarmte und den kleinen König auf den Arm nahm wie ein Vater den Sohn.

„Willkommen in meinem Haus“, begrüßte Balian die beiden Menschen, die ihm in Jerusalem am meisten bedeuteten – auch wenn es offiziell nicht sein durfte. Zwischen ihnen dreien war wieder dieses Gefühl selbstverständlicher Zusammengehörigkeit, wie es in Familien eben war, deren Angehörige einander liebten, wie sie waren. Sibylla genoss die Umarmung des geliebten Mannes und den sanften Kuss, den er auf ihre Stirn drückte. Sie sah in seine Augen und fand dort das, was sie sonst bei dem ihr angetrauten Ehegatten vergeblich suchte: Liebe, Verständnis, Wärme. In Balians Nähe konnte sie auf ihr herrisches Gehabe und ihr öffentliches Gesicht getrost verzichten. Hier durfte sie einfach nur die Frau sein, die ihn liebte und geliebt wurde.

„Wir haben es beide ohne dich nicht mehr ausgehalten, Liebster“, flüsterte Sibylla vertraulich.

„Und was sagt dein Gemahl dazu, mein Herz?“

„Der ist gestern völlig betrunken verschwunden, wie du bemerkt hast. Guy hat einen Kater in Löwenformat. Der wird nicht einmal bemerken, dass wir nicht im Palast sind. Balduin hat keine Pflichten über Ostern.“

„Was? Du hast Ferien?“, fragte Balian den glückstrahlenden kleinen König. Balduin nickte nur und umarmte ihn fest.

„Weißt du, dass das der schönste Karfreitag meines Lebens ist?“, fragte der Junge zurück.

„Nein, warum denn?“, erkundigte sich Balian.

„Weil ich bei dir sein kann, Papa“, strahlte Balduin. Balian legte ihm sanft einen Finger an die Lippen.

„Ich weiß, ein Ritter soll immer die Wahrheit sagen – aber… wenn du möchtest, dass ich eines Tages wirklich dein Papa sein kann, dann ist es besser, wenn du mich nur außerhalb von Jerusalem, in Ibelin oder Nablus, so ansprichst, mein Sohn“, empfahl er und gab Balduin einen Kuss.

„Ich möchte, dass du mein Statthalter in Jerusalem wirst. Dann kannst du öfter bei uns sein“, plauderte Balduin die gedachte Überraschung aus. Sibylla sah ihren Sohn erschrocken an, aber Balian lächelte sanft.

„Das wird Guy nicht zulassen, fürchte ich“, sagte er. „Aber ich danke dir, dass du mir diese Ehre erweisen würdest, mein König.“

Balduin grinste.

„Ich hab’ Guy auch dazu bekommen, dass du wieder nach Jerusalem durftest.“

„Dann hoffe ich mal, dass der Herrgott zu Ostern so gütig ist, deinen Wunsch wahr werden zu lassen“, erwiderte Balian und wollte Balduin absetzen, aber der Junge schüttelte den Kopf. Um nichts in der Welt wollte er jetzt von Balians Arm herunter. In wortlosem Einverständnis trug der Baron ihn weiter, legte Sibylla sanft den anderen Arm um die Schulter und kehrte mit ihnen ins Haus zurück.

Jean lächelte weise, als er die drei kommen sah. Genauso stellte er sich die Heilige Familie vor. Ein liebevoller Ziehvater, der auf seine Frau und seinen Ziehsohn nichts kommen ließ und sie nötigenfalls mit dem eigenen Leben verteidigen würde; der seinen Ziehsohn als seinen eigenen aufwachsen ließ und ihn niemals spüren lassen würde, dass er eben nicht sein eigen Fleisch und Blut war. Balian, der Handwerker, wäre in dieser Zeit wohl der gewesen, den Gott sich für diese Aufgabe ausgesucht hätte, hätte er Jesus ein zweites Mal Mensch werden lassen. Jean war sicher, dass es mit Balian an Josefs statt keinen Kindermord zu Bethlehem gegeben hätte – den hätte der tapfere Baron schlicht verhindert, auch gegen die Worte der Schrift …

„Habt ihr schon gespeist?“, fragte Balian, als sie das Speisezimmer betraten. Balduin sah seine Mutter hoffnungsvoll an, aber sie nickte zu seinem Verdruss.

„Ich hab’ aber noch Hunger, Papa“, flüsterte Balduin Balian ins Ohr.

„Balduin, es ist Karfreitag“, erinnerte Sibylla, die sehr wohl gehört hatte, was ihr Sohn mit Balian zu flüstern hatte.

„Was ist bei euch Sitte, mein Liebling?“, erkundigte sich Balian.

„Ein Stück Brot, ein Krug Wasser“, erwiderte sie. Balian setzte Balduin auf einem bequemen Stuhl ab.

„Kann ich dich kurz allein sprechen, Liebste?“, wandte er sich an Sibylla und schob sie vorsichtig, aber bestimmt in einen Nebenraum.

„Was möchtest du?“, fragte sie, als er die Tür leise hinter sich geschlossen hatte.

„Fern sei es von mir, in deine Erziehung einzugreifen oder deine mütterliche Autorität zu untergraben, deshalb möchte ich auch nicht vor Balduin darüber reden. Aber …“

„Was aber?“, fragte sie hoheitsvoll. Er zog sie einfach in seine Arme und küsste sie lange und zärtlich, dass sie weiche Knie bekam und sich der Süße des Augenblicks völlig hingab. Ihre Zungen spielten zart miteinander und lösten unwiderstehliches Verlangen in der jungen Frau aus. Ihre Hände schoben sich unter seine Tunika und liebkosten seinen warmen Leib. Und dann beendete er den Kuss und beförderte ihre Hände wieder aus seinem Gewand … Sie sah ihn zutiefst erschrocken an.

„Was soll das?“, fragte sie entsetzt. Er lächelte sie sanft an – und recht niederträchtig.

„Es ist gemein, Appetit zu machen und dann zu sagen: Es gibt aber nichts zu naschen“, erwiderte er. Sie sah ihn verständnislos an.

„Du, meine geliebte Prinzessin, möchtest jetzt mit mir lieben – und ich mit dir. Lange und genussvoll, wie es sich für einen so wundervollen Frühlingstag gehört. Das ist unser Hunger, den wir haben. Und es wäre schrecklich, würde man uns verbieten, das zu tun, oder?“

„Ja, aber was …“,

Er zog sie wieder an sich.

„Dein Sohn hat von der Liebe noch keine Ahnung, aber hat einen Magen, mein Schatz“, flüsterte er vertraulich. „Wenn du deinen Hunger nach mir stillen willst, lass ihm auch das Vergnügen, einen Happen zu essen.“

Sie sah zu ihm auf. Er hatte Recht. Sie war gekommen, um mit ihm ein Schäferstündchen zu genießen.

„Aber es ist doch Karfreitag …“, protestierte sie.

„Ich bin mir der Bedeutung dieses Tages bewusst, Sibylla“, sagte er leise. „Aber Gott verlangt nicht von uns, dass wir uns so quälen. Balduin ist noch ein Kind. Er wächst noch. Verlang’ nicht von ihm, dass er sich kasteit und auf Nahrung verzichtet.“

Sie streichelte sanft seine Brust und genoss seinen warmen Blick, der auf ihr ruhte, als sie sich an ihn schmiegte und spürte einen sachten Kuss auf dem Haar.

„Was war denn bei euch Sitte?“, fragte sie flüsternd, seine Zärtlichkeiten genießend.

„Wir haben nur auf Fleisch verzichtet, wir Kinder aber erst, als wir vierzehn Jahre alt waren und meinem Ziehvater schon in der Schmiede geholfen haben. In einer Schmiede ist das schon ein großer Verzicht, wenn man einen so kraftraubenden Beruf hat. Tu Balduin das nicht an, Liebste. Er wird den Ernst des Lebens früh genug zu spüren bekommen – das heißt, er tut es schon, denn welches Kind ist mit acht Jahren bereits mit so viel Verantwortung beladen wie dein Sohn?“

„Er wird neun im September“, widersprach sie.

„Auch mit neun Jahren ist Königsein eine schwere Verantwortung, noch dazu, wenn er nicht selbst entscheiden kann, was er tun möchte und immer die gnädige Erlaubnis eines Vormunds braucht, der seine Ziele bekämpft, als wäre Balduin Saladin.“

„Du weißt, was es im Orient bedeutet, das Gesicht zu verlieren?“

„Ja, das weiß ich“, erwiderte er sanft. „Deshalb wollte ich dir das auch nicht vor Balduins Ohren sagen. Er soll den Respekt vor dir nicht verlieren, Maman. Wenn er von sich aus auf etwas verzichtet, um sich die Bedeutung dieses Tages zu verdeutlichen, ist das etwas anderes, als wenn du ihn dazu zwingst. Dann kann er diesen Tag nur als Grauen empfinden und wird vielleicht sogar an seinem Glauben verzweifeln.“

„Was … was würdest du mir raten?“

„Lass ihn essen, was ihm schmeckt und nimm ihn nachher zur Kreuzwegprozession mit. Soweit ich weiß, wird der Kreuzweg hier ja sehr deutlich dargestellt. Das ist – meiner Meinung nach – der viel wirkungsvollere Weg, ihn zu einem gläubigen Christen zu erziehen und ihm zu zeigen, was Jesus für uns Menschen getan hat. Und nächstes Jahr – das wäre mein weiterer Rat – lass ihn sich selbst etwas überlegen, womit er sich selbst deutlich machen kann, was die Passion Christi bedeutet“, empfahl er. „Und wenn wir nach dem Essen ein kleines Schläfchen halten, kann er sich von seiner Verantwortung ausruhen – und wir beide sind für uns da und werden uns genießen, was meinst du?“

Sie nickte schweigend und bot ihm ihre Lippen zum Kuss. Er erfüllte ihre stumme Bitte mit unglaublicher Zärtlichkeit, die sievöllig hinriss und ihr die Knie so weich werden ließ, dass er sie auf den Arm nehmen musste, damit sie nicht zusammenbrach.

„Gedulde dich noch ein wenig, meine Geliebte“, flüsterte er. „Bis nach dem Essen, mein Herz.“

Er setzte sie vorsichtig wieder ab und ließ sie sich wieder fangen.

„Was machst du nur mit mir?“

„Ich liebe dich, Sibylla und ich werde für dich und deinen Sohn immer da sein. Und außerdem hatten du und Balduin du doch noch einen Wunsch, oder?“

„Welchen meinst du?“

„Balduin wollte doch noch Brüder und Schwestern und dein Wunsch war, dass ich der Vater sein sollte, oder habe ich das falsch verstanden?“

„Was glaubt Ihr, Mylord, warum ich hier bin?“, grinste sie. „Dann hast du dir also überlegt, dem Wunsch nachzugeben?“

„Ich will ehrlich sein: Jean hat nachgeholfen“, erwiderte er, ebenfalls grinsend. „Komm, mein Liebling“, sagte er. Sie lehnte sich an ihn, er legte ihr einen Arm um die schmale Schulter und ging mit ihr ins Speisezimmer zurück.

„Latif, trägst du bitte auf?“ bat er den Haushofmeister, der eifrig dienerte und umgehend Brot, Wein und Käse bringen ließ.

„Kann ich bitte Wasser haben, Papa?“ bat Balduin. Balian nickte und bat den Diener, auch noch Wasser zu bringen.

Jean sprach das Tischgebet, dann aßen sie sich mit Genuss satt. Schließlich zogen sie sich zum Mittagsschlaf zurück. Balduin ging in das Zimmer, das er immer benutzte, wenn er bei der Familie Ibelin war. Godfrey hatte es einst für seinen Sohn einrichten lassen, als er noch gehofft hatte, ihn noch als Kind nachholen zu können. Später hatten dann die Kinder Amalrichs I. das Kinderzimmer benutzen können, wenn sie bei ihrem Lehrer Godfrey waren. Schon zu Godfreys Lebzeiten war es dann Balduins Reich geworden, in dem er wirklich das Sagen hatte. Dort waren auch immer einige Spielsachen, die Balian für Balduin hergestellt hatte – und ein handgeschnitztes Schachspiel und ein Schachbrett aus wunderschönen Holzintarsien, ein Geschenk von Imad, das er Balian aus Damaskus mitgebracht hatte.

Sibylla und Balian zogen sich ganz nach oben in das Schlafgemach des Barons zurück. Er schloss die Fensterläden nach Süden ganz, nach Norden halb. Es war die schönste Art der Beleuchtung für ein liebevolles Mittagsschläfchen.

„Und du willst dich wirklich zum Vater meiner Kinder hergeben“, fragte sie ihn leise.

„Vielleicht ist das meine Art des Karfreitagsopfers …“, flüsterte er vertraulich und küsste sie mit zärtlicher Leidenschaft, diesmal gewillt, dem Wunsch seiner geliebten Prinzessin nachzugeben, Vater ihrer Kinder zu werden.

„Wenn du Kinder von mir willst, dann werden wir jetzt damit anfangen, mein Herz. Euer Diener, meine Prinzessin.“

Sie versanken in einem Kuss voller Zärtlichkeit und Leidenschaft, die höher stieg, als ihre Hände auf eine sanfte Reise gingen und das gegenseitige Verlangen ins Unerträgliche steigerten. Sie liebten sich langsam und zärtlich, genossen einander in vollen Zügen, enthielten einander nichts vor. In diesem Augenblick grenzenloser Wonne spürten sie, wie sehr sie füreinander bestimmt waren. Wer immer im Himmel über sie wachte, hatte sie zusammengebracht …

 

 

 

Kapitel 7

Karfreitag

Passionsspiel

 

Karfreitag, 11. April 1186 – Königlicher Palast, Jerusalem; Gemächer von Guy de Lusignan

Es war früher Nachmittag, etwa zweieinhalb Stunden nach Mittag, als Guy de Lusignan endlich aus dem Alkoholdelirium aufwachte. Er hatte einen so schweren Kopf, dass er sich beim Erwachen fragte, wo die Trümmer des Hauses waren, das ihm in der Nacht auf den Kopf gefallen sein musste. Er fühlte sich hundeelend und hatte bald den starken Wein vom Abendessen als Übeltäter ausgemacht. Das kam davon, wenn man vierzig Tage fastete und keine anständige Grundlage für ein solches Gelage hatte  …

„Ihr seht nicht wohl aus, Mylord“, bemerkte sein Leibdiener.

„Hast du das auch schon bemerkt“, grunzte Guy und schlich mit bohrenden Kopfschmerzen in die Abseite, um sich zu erleichtern. „Bring’ mir kaltes Wasser!“ befahl er dem Diener, der auch gehorsam das verlangte Wasser brachte. Guy schüttete es sich über den Kopf und tauchte dann noch mal in der Schüssel unter, aber die rasenden Kopfschmerzen blieben.

Es klopfte.

„Ja, was ist denn?“, knurrte Guy gereizt. Der Posten vor der Tür ließ de Châtillon und de Ridefort ein.

„Ihr seht aus wie das Leiden Christi!“, spottete de Châtillon und bekam einen ruppigen Stoß des Großmeisters, der solche lästerlichen Reden nicht duldete.

„Wir erwarten Euch bereits zur Kreuzwegprozession. Ihr seid spät dran, Mylord“, trieb de Ridefort Guy an.

„Was?“

„Es ist längst nach Mittag. Der Patriarch will zur Todesstunde unseres geliebten Herrn auf Golgatha Andacht halten. Die Templer führen die Prozession dieses Jahr an. Habt Ihr das etwa vergessen?“

Guy nickte abwesend. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Eigentlich wollte er lieber seinen Kater pflegen, aber der Großmeister würde darauf bestehen, dass er als Träger des Templerrocks und prominentes Mitglied der königlichen Familie in vorderer Position der Prozession mitgehen würde.

„Betrachtet es als Ehre, Mylord, in diesem Zustand die Via Dolorosa zu gehen“, kicherte Reynald. „So könnt Ihr bestens nachvollziehen, wie es Jesus ging …“

Guy war nahe daran, Reynald einen kräftigen Fausthieb zu verpassen, beherrschte sich aber rechtzeitig. Denn einerseits brauchte es erhebliche Kraft, um Reynald einen solchen Schlag zu versetzen, dass er ihn als Hieb überhaupt wahrnahm – und die fehlte ihm jetzt eindeutig. Und andererseits war er nicht sicher, ob er in seinem jetzigen Zustand das Echo vertragen würde, denn Reynald ließ sich nicht widerstandslos schlagen – oder zumindest nur in äußersten Ausnahmefällen wie in Kerak, aber so ein Ausnahmefall lag hier nicht vor …

Nach äußerst knapper Toilette schlich Guy mit den beiden Templern hinaus und mühte sich, Haltung zu wahren.

Karfreitag, 11 April 1186 – Via Dolorosa, Jerusalem

Ein junger Templernovize namens Georg hatte die Ehre, an diesem Karfreitag ein besonderes Schauspiel präsentieren zu dürfen: Er würde in der Kreuzwegprozession als verurteilter Jesus mitgehen – samt Kreuz in Originalgröße selbstverständlich. Schon seit hunderten von Jahren trugen Gläubige auch immer am Karfreitag Kreuze nach Golgatha, aber dass ein Christ selbst Christus spielen würde, war doch eher ungewöhnlich. Der Patriarch hatte sich dagegen zunächst gewehrt, sah er es doch als Blasphemie an, dass ein gewöhnlicher Mensch Gottes Sohn darstellen wollte; doch der Großmeister hatte ihm verdeutlicht, dass die Tempelritter damit ihre unbändige Verehrung des dreifaltigen Gottes und den unbedingten Gehorsam gegenüber Gott damit demonstrieren wollten. So hatte er dem zugestimmt.

Großmeister de Ridefort hatte auch den Hintergedanken gehabt, dass eine solche Demonstration absoluten Gehorsams gegenüber Gott und der Kirche auch das etwas in Schieflage geratene Bild der Templer wieder gerade rücken konnte. Unter Balduin IV. hatten sie schon fast unter Verfolgung gelitten und dieses Osterfest, das erste, das nach König Balduins IV. Tod im Jahr zuvor wieder als solches wahrgenommen wurde, bot die beste Möglichkeit, quasi die Wiederauferstehung der Templer zu begehen.

Womit Patriarch Heraclius nicht gerechnet hatte, war der Umstand, dass der Templernovize Georg diese Aufgabe so ernst nahm, dass er darauf bestanden hatte, vorher ausgepeitscht zu werden und sich auch tatsächlich ans Kreuz hängen zu lassen – wenn auch „nur“ angebunden und nicht genagelt. Mit dieser Tat, dessen war der junge Mann von knapp achtzehn Jahren sicher, würde er in den Annalen der Templer sicher einen besonderen Platz einnehmen. Was er sich damit aufgehalst hatte, dämmerte ihm nach dem dritten Hieb mit der Geißel, als sein Blut zu fließen begann …

Die Via Dolorosa begann unmittelbar am Löwentor und führte quer durch die Stadt zu dem innerhalb der Stadtmauern etwas westlich der Stadtmitte gelegenen Hügel von Golgatha. Von dort schleppte der junge Templer ein Kreuz aus massiven Balken, eineinhalb Klafter* hoch, dreiviertel Klafter breit, die Balken selbst eine ganze Spanne* im Quadrat – und das aus Zypressenholz! Das Kreuz wog gute 120 Pfund*! Seine Ordensbrüder, die ihn als Römer verkleidet nach Golgatha geleiteten – um nicht „trieben“ zu sagen – nahmen keine Rücksicht auf ihn. Die echten Schergen hatten auf Jesus schließlich auch keine Rücksicht genommen. Von einem Templer wurde zudem Härte gegen sich selbst und erst recht gegen andere erwartet.

Heraclius führte den Zug an und machte an jeder der zwölf Stationen Halt, um den Kreuzweg zu beten. Der Kreuzweg stellte in maximal fünfzehn Stationen den Leidensweg Christi dar – 1. Station Verurteilung, 2. Station Übernahme des Kreuzes, 3. Station erster Sturz unter dem Kreuz, 4. Station Begegnung mit der Mutter Maria, 5. Station Simon von Cyrene hilft Jesus, das Kreuz zu tragen, 6. Station Übergabe des Schweißtuchs durch Veronika, 7. Station zweiter Sturz unter dem Kreuz, 8. Station Begegnung mit den weinenden Frauen, 9. Station dritter Sturz unter dem Kreuz, 10. Station Jesus wird der Kleider beraubt, 11. Station Kreuzigung, 12. Station Tod am Kreuz, 13. Station Kreuzabnahme, 14. Station Grablegung und 15. Station Auferstehung. Von diesen fehlten bei diesem Kreuzweg die Verurteilung, Grablegung und Auferstehung, so dass „nur“ zwölf Stationen zu gehen waren und neun Stationen weit das Kreuz zu tragen war. Die Texte dazu waren im Messbuch vorgeschrieben und Heraclius wäre nie auf die Idee gekommen, sie zu kürzen. Der junge Templer musste die Suppe selbst auslöffeln, die er sich eingebrockt hatte … und das auch noch langsam.

Reynald spielte den Simon von Cyrene und gab sich keine besondere Mühe, Georg das Tragen des Kreuzes wirklich zu erleichtern. Die Zuschauer, die sich an der Via Dolorosa versammelt hatten, schlugen entsetzt die Hände vor das Gesicht – so realistisch hatten sie sich das Leiden und Sterben des Herrn niemals vorstellen können. Viele wandten sich ab, weil diese Darstellung für sie einfach unerträglich war. Aber andere sanken gläubig in die Knie, warfen sich vor dem geschundenen Templernovizen nieder, als wäre er wirklich Christus persönlich.

In Höhe der 8. Station, wo Jesus den weinenden Frauen begegnete, hatten sich auch Balian von Ibelin, sein Hauptmann Almaric, Johanniter Jean, Sibylla und Balduin von Jerusalem eingefunden. Sie kamen nicht ganz nach vorn durch, weil Templer die Volksmenge zurückhielten und eine Kette gebildet hatten wie weiland die römischen Soldaten zurzeit Christi. Balduin und Sibylla waren in der Kleidung einfacher Leute unterwegs und niemand erkannte sie als die, die sie waren. Beiden war es sehr recht, nur Balduin hatte ein Problem damit, schließlich konnte er nicht viel sehen.

„Ich seh’ aber nichts!“, protestierte er.

„Moment, junger Mann!“, gab Balian zurück, hob den Jungen hoch und setzte ihn sich einfach in den Nacken. „Jetzt besser?“, fragte er.

„Ja, danke, Papa“, erwiderte Balduin und wühlte begeistert in Balians Haar.

„He, ich seh nichts mehr!“

„’Tschuldigung!“, erwiderte Balduin und sortierte die Haare wieder ordentlich,

„Danke, Spatz.“

Sibylla sah Balian liebevoll an und drückte sanft seine Hand. So, wie sie hier völlig inkognito mit ihm stand, so gefiel es ihr. Einfach nur seine Frau sein, die vor Gott und den Menschen zu ihm gehörte, war ihr größter Wunsch, auch wenn sie wusste, dass die Erfüllung dieses Wunsches noch in weiter Ferne lag.

„Guck mal, Maman, das ist Guy!“, rief Balduin, als er seinen tatsächlichen Stiefvater unter den „römischen“ Soldaten sah, die den Christusdarsteller vorwärts trieben. Sibylla reckte sich und entdeckte ebenfalls Guy, der nicht so aussah, als ob es ihm gut ging.

„Ich hab’s doch gesagt: Er hat einen Kater in Löwengröße“, kicherte sie und lehnte sich zärtlich an Balian an.

„Das ist aber gemein, was die mit dem armen Mann da machen!“, protestierte Balduin lauthals.

„Du wolltest doch wissen, was mit Christus geschehen ist, Balduin“, bemerkte Jean, aber dann stockte ihm selbst der Atem, als er zwischen den Templern den Christusdarsteller sah. Jean erbleichte.

„Der Mann überlebt das nicht!“, keuchte er. „Nicht mit den gegenwärtigen Möglichkeiten der Medizin.“

„Seid Ihr sicher?“, erkundigte sich Sibylla erschrocken. Jean nickte bedrückt. Er war selbst Arzt und wusste um die Unzulänglichkeit der Medizin im Heiligen Land, jedenfalls der Medizin, die von Christen beherrscht wurde.

„Vielleicht könnte ein arabischer Arzt etwas tun, aber ich wüsste nicht, dass jetzt einer in Jerusalem wäre“, sagte er.

„Ali ibn Omar, der Wesir des Emirs von Urfa, ist doch Arzt, Mylord“, meldete sich Almaric zu Wort.

„Ja, aber der ist in Damaskus, meine ich“, erwiderte Balian.

„Nein, Mylord, Michel ist ihm heute Morgen in Bethlehem begegnet.“

„Selbst wenn er noch in der Gegend sein sollte: Ich glaube nicht, dass er ausgerechnet einem Templer helfen wird und dass ein Templer sich von einem arabischen Arzt helfen lassen würde“, zweifelte Balian. Er spürte, dass Balduin ihn sanft am Ohr zog.

„Kannst du denn den Wesir nicht wenigstens fragen, Papa?“

„Möchtest du das?“, fragte Balian.

„Ich möchte so gern Frieden haben, damit Jerusalem leben kann. Bitte hilf mir dabei“, sagte Balduin – und es klang sehr erwachsen, was er sagte. Balian sah hoch zu Balduin.

„Wie mein König befiehlt“, erwiderte er, ganz der treue Baron des Reiches. „Erlaubt, mein König …“

Damit setzte er Balduin ab.

„Jean, seid Ihr so gut, die Prinzessin und den König in den Palast zu begleiten?“, bat Balian. „Almaric und ich werden mit Michel gleich nach Bethlehem reiten und sehen, ob der Wesir noch dort ist. Wenn ich ihn überreden kann, hat der Mann vielleicht noch eine Chance, den Karfreitag zu überleben und sich nicht auf Gottes Gnade allein verlassen zu müssen.“

„Ohne Gottes Gnade werdet Ihr ihn kaum überreden können, Mylord“, bemerkte Jean milde lächelnd. Balian nickte, den sanften Tadel akzeptierend. Sibylla umarmte ihn fest.

„Bitte, sei vorsichtig.“

„Das werde ich“, versprach er und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange. Balduin zog ihn vorsichtig an der Hand.

„Du wirst mein Statthalter, Baron Balian. Das verspreche ich dir.“

Balian ging vor dem kleinen König in die Hocke.

„Verzeiht, wenn ich Euch bitte, mir kein Versprechen zu geben, das Ihr nicht allein halten könnt, mein König“, sagte er sanft und nahm Balduins Hände. Der Junge umarmte ihn.

„Ich schaffe das, wenn du den Wesir überreden kannst“, beharrte Balduin.

„Die Wette nehme ich an“, lächelte Balian. „Ich bin bald zurück. Gib auf Maman Acht.“

„Das werde ich“, versprach Balduin und gab Balian einen Kuss.

Sie zogen sich aus der Zuschauermenge zurück, Jean schlug den Weg zum nahen Palast ein, Balian und Almaric rannten eilig zum Stadthaus Ibelins, um den Arzt zu holen.

 

Kapitel 8

Karfreitag

Erlösung

 

Karfreitag, 11. April 1186 – Bethlehem

Die Hirten in Bethlehem, das von Jerusalem nicht weit entfernt waren, sahen mit Schrecken drei gerüstete Reiter heran jagen, die kurz vor der Ortsgrenze die Pferde scharf zügelten und dann in zivilisiertem Tempo in den kleinen Ort westlich von Jerusalem einritten. Aufatmend erkannten sie die Wappenröcke Ibelins. Vom Baron von Ibelin und seinen Männern hatte im Heiligen Land niemand etwas zu befürchten, der anderen Menschen nichts zuleide tat. Hirten waren friedliche Menschen, wenngleich auch sie zuweilen ihr Leben riskierten um die ihnen anvertrauten Schafe und Ziegen gegen wilde Tiere zu verteidigen.

Michel trabte voraus und wandte sich an einen der Hirten, von dem er wusste, dass er moslemischer Araber war.

As-Salam ’alaykum, Hassan.“

U ’alaykum as-Salam, Sidi.”

„Ist der Wesir noch in Bethlehem?“

Hassan peilte vorsichtig an Michel vorbei auf die beiden anderen christlichen Ritter.

„Ist das der Baron von Ibelin?“, erkundigte sich Hassan vorsichtig und wies mit dem Kopf auf Almaric, der Balian um einen halben Kopf überragte.

„Nein, der neben ihm. Ist der Wesir noch hier?“, drängte Michel.

„Was will der Baron von ihm?“, fragte Hassan weiter.

„Ihn um Hilfe bitten“, erklärte Michel.

„Ihr findet ihn bei dem Rais* Mustafa, Sidi.“

„Danke, Hassan“, bedankte sich Michel und winkte Almaric und Balian, die er zum Haus des Rais führte.

Die drei Christen stiegen vor dem Haus ab und baten höflich um Einlass. Der Rais sank ehrerbietig vor Balian auf die Knie, der ihn aber sanft hinderte und ihm wieder aufhalf.

„Ist gut, Mustafa. Ich habe keinen Anspruch auf einen Kniefall. Weder bin ich der König noch der Sultan, mein Freund“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln.

„Eure Güte ist bekannt, Sidi. Gerade darum wird Euch jeder so verehren, der das Glück hat, Euch zu begegnen.“

„Ich bin ein treuer Diener des Königs Balduin, Mustafa. Du hast einen Gast, mit dem ich gern sprechen würde.“

„Was ist Euer Begehr, Sidi?“, fragte Mustafa.

„Ich brauche seine Hilfe.“

„Folgt mir, Sidi“, winkte der Rais Balian, der Almaric seinen Helm gab, die Kettenkapuze abzog und Mustafa folgte.

Ali ibn Omar war im Garten und sah den gerüsteten Ritter kommen. Er erschrak zunächst, doch dann erkannte er Balian und entbot ihm den arabischen Gruß, den Balian freundlich erwiderte.

„Ich habe Allah darum gebeten, Euch einmal wiedersehen zu dürfen, Hakim Ibelin. Er hat meine Gebete erhört.“

„Ich meinerseits danke Gott, dass er Euch zu dieser Zeit nach Bethlehem führte, weiser Wesir“, erwiderte Balian.

„Es war Allah“, korrigierte der Wesir. Balian lächelte auf seine unnachahmlich freundliche Art.

„Ali ibn Omar, mein Freund, wir meinen denselben, wenn Ihr Allah sagt und ich Gott. In Eurer Sprache heißt Gott Allah und in meiner Allah Gott.“

„Ihr seid weiser, als Eure Jahre vermuten lassen, Hakim Ibelin. Ich wünschte es gäbe mehr Christen wie Euch.“

„Nun, mein junger König denkt ebenso, edler Wesir. Und mein junger König übermittelt Euch durch mich eine Bitte.“

„Sprecht.“

„Ihr … wisst sicher, dass wir Christen heute des Leidens unseres Herrn Jesus gedenken, den der Islam als großen Propheten Allahs kennt. Heute ist der Tag, an dem er am Kreuz starb. Ich weiß, dass Ihr ihn nicht wie wir Gottes Sohn nennt, weil Gott für Euch nur ein einziger und unteilbarer Gott ist. Aber er war auch für Euch ein Gesandter Allahs“, erklärte Balian. Der Wesir nickte.

„Nun“, fuhr Balian fort, „heute hat einer meiner Glaubensbrüder das Gedenken an Jesu Tod etwas zu ernst genommen und sich damit selbst in große Gefahr gebracht. Wenn er nicht rechtzeitig gute ärztliche Hilfe bekommt, wird er sterben.“

„Was… meint Ihr genau, Hakim Ibelin?“

Balian erklärte dem Araber, was der Templernovize getan hatte, verschwieg auch nicht die Zugehörigkeit zum Templerorden. Ali bekam große Augen.

„Und Ihr meint, christliche Ärzte könnten ihm nicht helfen?“, erkundigte er sich.

„Ein Johanniterbruder, der selbst ein guter Arzt ist, hält es beim Stand unserer Medizin, die der Euren weit unterlegen ist, für ausgeschlossen, Sidi“, erklärte Balian. „Der Johanniter hat mit eigenen Augen gesehen, was der Mann sich hat zufügen lassen.“

„Ich habe Euch richtig verstanden, dass der Mann, der in Gefahr ist, ein Templer ist?“

„Ja, das ist richtig.“

„Ihr … erinnert Euch an den Überfall auf meine Karawane?“

„Ja. Ich weiß, es waren Templer. Ich weiß, dass sie religiöse Fanatiker sind, die in Andersgläubigen nur einen vernichtungswürdigen Feind sehen …“

„Warum sollte ich jenen helfen, die mir eher die Kehle durchschneiden würden, als mir in ähnlicher Situation Hilfe zu leisten?“, fragte Ali.

„Wenn Ihr ihm helft, könnt Ihr vielleicht erreichen, dass auch die Templer einsehen, dass Ihr ein Lebensrecht hier habt, dass Ihr Gott auf Eure Weise dient, die ebenso angemessen ist, wie die unsere – weil Ihr barmherzig seid. Ihr könnt meinem König helfen, der den Menschen islamischen Glaubens Jerusalem offen halten will. Ihr könnt dem jungen Templer zeigen, dass ein Moslem nicht der Teufel in Menschengestalt ist.“

„Nun, vielleicht sind Templer für mich Teufel in Menschengestalt …“, gab Ali zu bedenken.

„Bei Eurer furchtbaren Erfahrung kann ich Euch diese Denkweise nicht einmal übel nehmen, mein Freund. Aber … seht, wenn Ihr diesen jungen Mann überzeugt, dass Moslems gute Menschen sind, könnte er seine gute Erfahrung weiter tragen und auch andere Templer von Eurer Güte und Barmherzigkeit überzeugen“, erwiderte Balian.

Ali begann eine schweigsame Wanderung durch den schönen Garten, schien das Für und Wider abzuwägen. Balian ließ ihm Zeit. Schließlich blieb er stehen und drehte sich langsam zu dem geduldig wartenden Kreuzritter um.

„Gewährt Ihr mir freies Geleit?“, fragte er.

„Ich werde Euch selbst wieder hierher bringen, wenn Ihr das wünscht – oder wohin immer Ihr wollt“, versprach Balian. Ali wusste um die Aufrichtigkeit des jungen Barons.

„Ich vertraue Euch, Hakim Ibelin. Um Euretwillen werde ich dem Mann helfen, soweit es in meinen Kräften steht.“

Balian verbeugte sich leicht.

„Ich danke Euch, großer Wesir.“

Ali kam zu ihm und nahm den jungen Christen an den Schultern.

„Ich wünschte, es gäbe mehr Christen wie Euch, Hakim Ibelin. Dann gäbe es hier Frieden. Allah sei Dank, dass Ihr den Weg nach al-Quds* gefunden habt. Doch ich will Euch warnen: Sollte mir trotz Eures Schutzes etwas zustoßen, wird Sultan Saladin jeden Christen umbringen lassen, der seinen Fuß auch nur in Richtung al-Quds bewegen will.“

„Dass die Bitte an Euch, einem Templer Hilfe zu leisten, mit einem Risiko verbunden ist, ist mir klar, Ali ibn Omar; aber wenn es Frieden geben soll, dann sollten alle im Heiligen Land davon überzeugt sein – auch die Templer und auch die nicht weniger fanatischen Mullahs Eurer Religion“, entgegnete Balian freundlich. „Bitte, kommt.“

Karfreitag, 11. April 1186 – Golgatha, Jerusalem

Vor den Augen der entsetzten Menge wurde der junge Novize mit ausgebreiteten Armen an den Querbalken des Kreuzes gefesselt und das Kreuz dann aufgerichtet. Ganz wie zu Christi Zeiten hatte der Zimmermann unter den angebundenen Füßen ein schmales Holzbrett angebracht, auf dem der Gekreuzigte sich abstützen konnte. Diese scheinbare Hilfe war dennoch ein Marterinstrument, das den Todeskampf am Kreuz nur grausam verlängerte. Der Tod am Kreuz trat durch Herz-Kreislaufversagen ein, einen Umstand, den man unter den christlichen Ärzten noch nicht kannte, weil noch kein christlicher Arzt einen menschlichen Körper hatte genau studieren können, schließlich hatte noch keiner in den Menschen hineinsehen können – im Gegensatz zu arabischen Ärzten, die die Innereien des Menschen schon längst genau kannten. Nun tat das Brettchen seinen entsprechenden Dienst und verhinderte tatsächlich, dass der Mann sofort starb. Aus den Evangelien wussten die christlich gläubigen Menschen, dass der Todeskampf Jesu etwa sechs Stunden gedauert hatte. Die Planung der Templer sah vor, dass ihr Novize vor Ablauf dieser sechs Stunden abgenommen werden sollte, schließlich sollte er ja nicht wirklich sterben.

Großmeister de Ridefort und Guy, die in römischer Rüstung unter dem Kreuz standen, sahen dem schrecklichen Schauspiel fasziniert zu. Ja, genauso musste es gewesen sein, als der Erlöser aller Menschen vor über eintausendeinhundert Jahren an derselben Stelle den Kreuzestod gestorben war. Deutlicher konnte man den Menschen nicht vor Augen führen, was der Herr für sie alle getan hatte.

„Mylord, helft mir, ich kann nicht mehr!“, flehte der junge Novize den Großmeister an.

„Gebt ihm zu trinken, er muss noch durchhalten!“, befahl der Großmeister. „Reiß dich zusammen, Georg!“, fuhr er den schwächelnden Novizen dann streng an. „Du willst ein Templer werden!“

„Ja, Mylord, aber ich … habe nicht gewusst … wie schwer es ist …“, keuchte Georg.

„Dumm, dass du dich verschätzt hast, Junge“, kicherte Reynald, der inzwischen die Verkleidung als Simon von Cyrene abgelegt hatte und nun ebenfalls in römischer Rüstung unter dem Kreuz stand. Er steckte einen Schwamm auf seine Lanze, den er vorher in Wasser getaucht hatte und hielt ihn dem Jungen hin, zog ihn aber mit höhnischem Kichern wieder weg, als er trinken wollte.

„De Châtillon!“, fauchte der Großmeister „Gebt ihm zu trinken! Und lasst diese Kindereien!“

Reynald verbeugte sich spöttisch.

„Er wollte doch Christus spielen …“

Balian, Almaric und Michel hatten mit Ali ibn Omar Jerusalem erreicht. Balian sah, was sich auf Golgatha tat und jagte durch die nahezu menschenleere Stadt zum Davidsturm weiter.

„Tiberias, Mylord Tiberias!“, rief er und hetzte in das Amtszimmer des Statthalters.

„Balian!“, erwiderte Tiberias erstaunt. „Wie bist du darauf gekommen, dass ich hier bin?“

„Nennt es meinethalben göttliche Eingebung, Mylord. Ich brauche Eure Soldaten. Schnell!“, drängte Balian keuchend.

„Wozu?“

Balian erklärte es hastig und mit kurzen Worten. Tiberias riss entsetzt die Augen auf.

„Wir kommen!“, kündigte er an und hinkte rasch in den Hof hinaus.

„Im Namen des Königs! Nehmt ihn von Kreuz ab – sofort!“ brüllte Tiberias mit weittragender Stimme, als seine Männer ihn in eiligem Galopp zum Hügel von Golgatha begleitet hatten.

„Wer wagt es, diese heilige Zeremonie zu stören?“, fuhr Heraclius dazwischen.

„Eure heilige Zeremonie gefährdet das Leben eines Menschen, Eure Heiligkeit!“ donnerte Tiberias. Er, seine Soldaten und die Ibeliner mit Ali ibn Omar drängten sich ohne viel Rücksicht durch den Templerkordon, der das Kreuz umschloss. Balian und Almaric zogen die Schwerter, ritten zum Kreuz durch und schnitten den völlig erschöpften Novizen von den Balken los. Mit einem Seufzen sank er dem kräftigen Almaric in die Arme. Balian sprang vom Pferd und nahm Almaric den schon fast sterbenden Georg zusammen mit Michel ab. Sie betteten ihn auf Balians Umhang.

„Er braucht sofort Wasser“, sagte Ali. „Rasch, Sidi“,

Balian nahm seine Wasserflasche, stützte Georgs Kopf und flößte ihm vorsichtig Wasser ein. Georg schlug die Augen auf und sah Balians besorgtes Gesicht.

„Danke“, flüsterte er, dann verlor er das Bewusstsein.

„Bringt ihn ins Johanniterhospital!“, wies Tiberias die Helfer an. Balian und Michel bauten, assistiert von Jerusalem-Soldaten, eilig aus Lanzen eine Bahre und trugen zu viert den Bewusstlosen den Hügel hinunter und in die übernächste Gasse, wo das Hospital der Johanniter war.

„Die Vorstellung ist beendet!“, rief Tiberias und winkte den Menschen, damit sie sich zerstreuten. „Geht heim und betet zu Gott, dass dieser Mann gerettet werden kann!“

„Was fällt Euch eigentlich ein?“ brüllte Heraclius. Tiberias sah ihn scharf an.

„Was fällt Euch ein, ein solch unwürdiges Schauspiel zuzulassen, Eure Heiligkeit?“, konterte der Statthalter. „Wenn Ihr meint, den Templern damit wieder zu mehr Ansehen zu verhelfen, täuscht Ihr Euch. Und Ihr auch, Großmeister de Ridefort!“

Die Menge zerstreute sich rasch, die Jerusalem-Soldaten hielten die Templer in Schach.

„Begebt Euch mit allen Euren Brüdern zum Tempelberg in Euer Quartier, Großmeister de Ridefort – und bleibt dort!“, befahl Tiberias.

„Ihr habt keine Befehlsgewalt über den Templerorden!“

„Als Statthalter von Jerusalem habe ich die Befugnis, jeden in sein Haus zu schicken, der die Sicherheit anderer Menschen durch sein Verhalten gefährdet, de Ridefort! Geht jetzt!“

Der Großmeister wusste, dass Tiberias dieses Recht hatte und machte einen Rückzieher. Die Templer, einschließlich Reynald und Guy, zogen sich zum Tempelberg zurück.

„Es wird wirklich Zeit, dass Jerusalem einen anderen Statthalter bekommt“, grollte Gérard de Ridefort auf dem Weg zum Tempelberg. Sein Blick traf Guy, der nur ergeben nickte.

 

Kapitel 9

Karfreitag/Karsamstag

Bekehrung

 

Karfreitag, 11. April 1186 – Johanniterhospital, Jerusalem

Währenddessen kämpfte Ali ibn Omar zusammen mit Jean um das Leben des jungen Novizen. Er hatte die zahlreichen Wunden des jungen Mannes mit heilender Salbe behandelt und ließ ihm immer wieder Wasser geben. Schließlich richtete der Araber sich auf.

„Er wird leben“, sagte er aufatmend. „Bruder Jean, setzt die Behandlung bitte so fort, wie ich es Euch gezeigt habe. Dann wird er genesen. Aber er wird noch lange an den Folgen leiden“, setzte er hinzu. Jean verneigte sich höflich.

„Es wird so geschehen, mein Freund“, versprach er.

„Wo … wo bin ich?“, kam eine leise Frage aus dem Bett, an dem sie standen.

„Ihr seid im Johanniterhospital, aber wir hätten Euch vor Eurer Dummheit nicht retten können, wäre nicht dieser kluge Mann gewesen, der Euer Leben durch sein rasches Handeln bewahrt hat“, erklärte Jean grinsend. Georgs Blick fiel auf den Moslem.

„Ihr … Ihr seid …“

„Ein Moslem, mein Freund“, lächelte Ali ibn Omar. Georg richtete sich mühsam auf und nahm die Hand des Arztes.

„Seid bedankt. Ich stehe tief in Eurer Schuld, Herr. Was wollt Ihr, das ich für Euch tue?“

„Wie wäre es, wenn Ihr darüber nachdenkt, ob Moslems böse Menschen sind?“, schlug Jean vor. Georg hob die Hand zu Schwur.

„Ihr habt mich gerettet. Ich danke Euch und ich schwöre Euch, dass ich gegen Euch nie das Schwert erheben werde.“

„Schwört mir nichts, was Euch Eure Herren morgen schon wieder anders befehlen werden. Doch ich erkenne an, dass Ihr guten Willens seid. Friede sei mit Euch“, verabschiedete sich Ali.

U ’alaykum as-Salam“, erwiderte Georg.

Ali wollte mit Balian, der sich im Hintergrund gehalten hatte, das Hospital verlassen, als Georg Balian als Ritter im Ibelinrock erkannte.

„Wartet, Mylord!“, bat er. Balian blieb stehen.

„Ja?“

„Ich bin ein Templer, Mylord, und wir Templer halten nicht viel von den Leuten des Barons von Ibelin. Das heißt … für meine Person muss ich das zurücknehmen. Ich … bitte Euch stellvertretend für den Baron um Vergebung für meine frühere Ablehnung. Ihr habt mir sehr geholfen.“

Balian trat näher.

„Ich bin der Baron von Ibelin“, sagte er. Georg bekam große Augen.

„Wahrhaft?“, fragte er nach. Balian nickte.

„Ihr wisst sicher, dass der Großmeister de Ridefort und noch viel mehr Guy de Lusignan Euch hassen, Mylord. Aber … ich kann Euch nicht mehr hassen, denn Ihr seid ein guter Mensch. Bitte, vergebt mir.“

„Ich habe Euch nichts nachzutragen, schließlich habt Ihr mir nichts getan. Erholt Euch gut“, verabschiedete sich Balian. Der junge Templer hielt ihm die Hand hin, die Balian ergriff und zum Abschied drückte.

„Danke“, flüsterte der Novize mit ehrlicher Dankbarkeit.

„Ihr … habt ein … seltenes Talent, Sidi“, sagte Ali, als sie vor dem Hospital die Pferde bestiegen.

„Was meint Ihr?“, fragte Balian.

„Ihr könnt Menschen für Euch gewinnen, Hakim Ibelin – und das ohne große Mühe. Erlaubt mir einen Rat.“

„Und der wäre?“

„Sollte Euch jemals eine führende Position in Jerusalem geboten werden, nehmt sie um Allahs Willen an, mein Freund. Ihr würdet zwei Welten damit retten – die Eure und die meine“, sagte Ali.

„Ist das so?“, fragte Balian. Ali nickte ernsthaft.

„Dann soll es so sein“, stellte Balian fest und trabte an, um Ali wieder nach Bethlehem zu bringen.

Tiberias hatte darauf geachtet, dass die Templer tatsächlich zum Tempelberg zurückkehrten, dann suchte er das Hospital auf und erkundigte sich nach dem Befinden des Christusdarstellers.

„Dank der Kunst Ali ibn Omars konnte er gerettet werden“, sagte Jean. „Aber ohne Balian wären wir wohl nie an den Wesir von Urfa herangekommen. Der Junge hat ein außergewöhnliches diplomatisches Geschick, Mylord.“

„Deshalb möchte ich ja, dass er mein Nachfolger als Statthalter von Jerusalem wird, Jean.“

„Unser kleiner König hat die Überraschung schon ausgeplaudert, aber ich vermute, Balian hat es noch nicht für bare Münze genommen“, erklärte Jean. Raymond lachte leise.

„Sag nur, der König war bei Balian!“

„Nicht nur der König, auch die Prinzessin“, sagte Jean und nahm ihn beiseite an einen Ort, wo sie niemand hören konnte.

„Ich … habe ihn dazu überreden können, dass er Sibylla hilft, die Herrschaft des Hauses Anjou wirklich zu sichern – auch durch weitere Kinder“, fuhr er leise fort. „Ich vermute, er hat es umgehend in die Tat umgesetzt. Sie waren jedenfalls sehr … glücklich … als sie vom Mittagsschlaf kamen.“

Tiberias’ Gesicht leuchtete auf. Wenn Sibylla ein Kind bekam, das nicht von Guy sein konnte, weil sie sich ihrem Gatten verweigerte, würde der schnell Verdacht schöpfen, dass nur Balian der Vater sein konnte. Balian würde von sich aus nie Guy angreifen, dazu war er viel zu ehrenhaft; er hatte es auch schon ausdrücklich abgelehnt. Guy kannte Gewissensbisse dieser Art nicht und würde seine angegriffene Ehre gewaltsam verteidigen. Würde er Balian zum Zweikampf herausfordern und dabei fallen, wäre der Weg frei für eine friedlichere Herrschaft der Christen im Heiligen Land – und Balian brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben … Er würde Sibylla endlich heiraten können, Balduin hätte eine intakte Familie und bräuchte sich um seine Sicherheit nie wieder Gedanken zu machen. Dieser Stiefvater würde ihn mit dem eigenen Leben beschützen …

Tiberias verließ das Hospital mit dem Gefühl, von einer großen Last befreit zu sein. Sein dankbarer Blick gen Himmel enthielt noch das Stoßgebet, dass Guy der Ernennung Balians zum Statthalter doch noch zustimmen möge.

Karsamstag, 12. April 1186 – Haus des Barons von Ibelin, Jerusalem

Balian und seine Männer kehrten kurz nach Sonnenaufgang heim nach Jerusalem und wollten nur noch schlafen, nachdem sie den Wesir wieder nach Bethlehem gebracht hatten und dieser nur noch seine dort verbliebenen Sachen gepackt hatte und sie dann gebeten hatte, ihn auf der Karawanenstraße nach Damaskus zu begleiten, bis sie auf eine Sarazenenpatrouille stießen. Sie hatten ihn bis weit hinter Nablus an die Karawanenstraße begleitet, wo sie tatsächlich auf sarazenische Reiter gestoßen waren, die den weiteren Schutz des Wesirs übernahmen und waren dann nach Jerusalem zurück geritten. Die drei Männer waren müde und erschöpft wie ihre Pferde, die sie Stallknechten überließen.

Dieser Samstag war ein stiller Tag, ein sehr stiller Tag. In diesem Fall galt das für ganz Jerusalem. Normalerweise war die Stadt stets quirlig und lebendig, hatten die drei Religionsgemeinschaften doch unterschiedliche Ruhetage – die Moslems den Freitag, die Juden den Samstag oder Sabbat, die Christen den Sonntag. Auf diese Weise waren in Jerusalem jeden Tag Händler in und Bauern vor der Stadt aktiv.

Aber der Karsamstag stellte eine Ausnahme dar. Die Juden hatten ohnehin ihren Sabbat und die Christen gedachten still der Grabesruhe Christi. Nicht einmal Kirchenglocken läuteten an diesem Tag*. Und die Moslems, die damit nichts zu tun hatten? Nun, Balduin IV. hatte den Mufti von Jerusalem, den offiziellen Gelehrten islamischen Rechts, der vom Sultan eingesetzt wurde, gebeten, auf die Imame der Moscheen einzuwirken, am ersten Samstag nach dem Frühlingsvollmond auf die Gebetsrufe von den Minaretten zu verzichten. Da es Balduin nur um diesen einen einzigen Tag im Jahr gegangen war und er höflich darum gebeten hatte, hatten die in Jerusalem ansässigen Imame dem König erklärt, dass sie seine Bitte respektieren würden. So schwiegen in Jerusalem am Karsamstag auch die islamischen Pendants der christlichen Kirchenglocke, die laut zum Gebet rufenden Muezzine. Jerusalem schwieg vollständig.

Balian legte sich in seinem Gemach ins Bett und war bald fest eingeschlafen, die Stille dieses Tages einfach genießend. Die Diener im Haus waren sehr leise, nicht nur, um ihren schlafenden Herrn nicht zu stören, sondern hauptsächlich, um der Grabesruhe Christi Rechnung zu tragen. Balian hatte in seinem Haus außer Christen zwar auch Juden und Moslems als Bedienstete, aber auch die Nichtchristen im Hause Ibelin achteten die religiösen Ansichten ihrer christlichen Kollegen – so wie die Christen in diesem Haus die Ansichten der Andersgläubigen achteten und respektierten.

Wenn es ein Haus im Königreich Jerusalem gab, in dem die unterschiedlichen Glaubensrichtungen des Orients in wirklichem Frieden miteinander lebten, dann war es Ibelin. Man sprach über den eigenen Glauben, ließ sich vom Glauben der anderen erzählen und hatte füreinander Verständnis. Es war einfach selbstverständlich, dass die Moslems am Freitag nicht arbeiten mussten und in die Moschee zum Freitagsgebet gingen, die Juden den Samstag frei hatten und dann die nahe Klagemauer besuchten oder sich in einem Gebetsraum innerhalb des Anwesens zusammenfanden, die Christen die Sonntagsmesse besuchten und den Rest des Tages nach eigenen Vorstellungen gestalteten. Godfrey hatte es so eingeführt und Balian hatte es als selbstverständliche Einrichtung weitergeführt. Seine Bediensteten liebten ihn dafür und hätten einem solchen Herrn auch ohne Bezahlung gedient, aber Balian zahlte auch noch gut, erheblich besser als andere Adlige, die in der Hauptstadt Häuser unterhielten.

Während die meisten anderen Barone Jerusalems in Jerusalem hauptsächlich Sklaven beschäftigten und auf den Landsitzen praktisch nur Sklaven hatten, gab es im Hause Ibelin nicht einen einzigen Leibeigenen. Die letzten hatte Balian freigelassen, kaum dass er als Baron von Ibelin vom König anerkannt und bestätigt war. Jene, denen er die Freiheit geschenkt und oben-drein ein gutes Auskommen als bezahlte Arbeitskraft gegeben hatte, waren der festen Überzeugung, dass Balian von Ibelin so etwas wie ein sehr irdischer Heiliger war … Durch das Stadtlehen Gaza und die reichen Landlehen Nablus und Samaria hatte Balian allerdings auch Einkünfte, die den anderen Adligen des Reiches neidvolle Blässe ins Gesicht trieb und konnte es sich leisten, seine Diener gut zu bezahlen.

Die Sonne stieg höher und beschien eine vollkommen stille Stadt, in der sich nicht einmal der Wind zu regen schien. Sie überschritt den Mittagspunkt und senkte sich langsam gen Abend. Allmählich kam wieder Leben auf, als die moslemischen Händler nach der größten Nachmittagshitze wieder ihre Läden und die Stände in den Basargassen öffneten. Dennoch blieb es insgesamt ruhig und sehr beschaulich.

Bei der christlichen Geistlichkeit begannen kurz vor Sonnenuntergang die Vorbereitungen für die Auferstehungsfeier in der Nacht. Sie würde mit der Lichtfeier beginnen. Das Osterfeuer wurde aus Palmzweigen entzündet – und zwar aus gut getrockneten Palmzweigen. Am Palmsonntag, dem Sonntag vor Ostern, wurden zur Erinnerung an den jubelnden Empfang, den die Bewohner Jerusalems Jesus bei seinem Einzug bereitet hatten, geweihte Palmzweige an die Gläubigen verteilt. Diese Palmzweige steckte man an die Kreuze, die in jedem christlichen Haus üblich waren. Dort blieben sie bis zum Palmsonntag des nächsten Jahres. Dann wurden sie durch neue ersetzt und die alten am Karsamstag in den christlichen Gemeinden als Grundlage für das Osterfeuer der Lichtfeier genutzt. Dieser christlichen Sitte entsprechend brachte einer der christlichen Diener Balians die Palmzweige zur Grabeskirche und übergab sie dort einem der Priester, der mit der Aufschichtung des Osterfeuers beauftragt war.

In Jerusalem gab es zahlreiche christliche Kirchen deren bedeutendste die Grabeskirche war, wo die Könige Jerusalems gekrönt und nach ihrem Tod beigesetzt wurden. Grundsätzlich gingen die Christen in die Kirche, die ihrem Wohnort am nächsten gelegen war. Allenfalls die Konfession – katholisch oder orthodox – sorgte dafür, dass jemand eine weiter entfernte Kirche aufsuchte, wenn die nächstgelegene nicht der eigenen Konfession geweiht war. Die Grabeskirche bildete hier eine Ausnahme, da dort praktisch der gesamte Adel der Stadt Jerusalem zur Messe ging. Balian, dem solche Standesdünkel einfach unbekannt waren, wäre vermutlich woanders zur Kirche gegangen, wäre die Grabeskirche nicht jene gewesen, die in seiner Nachbarschaft war.

Kurz nach Sonnenuntergang weckte Haushofmeister Latif Balian, für den ein Bad und ein kleiner Imbiss bereitstanden. Der junge Baron badete und aß nebenbei schon eine Orange. Diese orientalische Leckerei hatte es ihm angetan, seit er in Messina von seinem Vater die erste Orangenspalte in den Mund geschoben bekommen hatte. Godfrey hatte ihn darauf hingewiesen, dass diese Früchte typisch für das Königreich Jerusalem waren. Tatsächlich hatte Balian in der fruchtbaren Gegend zwischen Jaffa und Gaza unendlich viele Orangen- und Zitronenbäume gesehen. In Ibelin gediehen sie erst seit kurzer Zeit, seit Balian dort mit den Dörflern eine ausreichende Wasserversorgung geschaffen hatte. Nablus und Samaria lieferten gegenwärtig noch den größten Teil des Bedarfs an Zitrusfrüchten, die im Hause Ibelin verarbeitet wurden. Sie fehlten auf keiner Tafel und in keiner der zahllosen Obstschalen, die in fast jedem Raum Ibelins standen und aus denen sich jeder frei bedienen durfte, der gerade daran vorbei kam.

Karsamstag, 12. April 1186 – Davidsturm, Jerusalem

„Mylord, Guy de Lusignan möchte Euch sprechen“, meldete ein Soldat Tiberias. Der Statthalter sah von den Papieren auf, die er gerade las. Mochte der Rest der Christenheit auch Feiertag haben, Raymond von Tiberias nutzte einen so ruhigen Tag wie diesen gern aus, um in Ruhe die Nachrichten seiner Agenten und Informanten im Königreich Jerusalem und in den islamischen Ländern zu studieren und daraus seine Schlüsse zu ziehen.

„Lasst ihn eintreten“, erwiderte Tiberias. Der Soldat machte ein unglückliches Gesicht.

„Er … hat einen Boten gesandt und erwartet Euch auf dem Tempelberg, den er, wie er mitteilt, aufgrund Eurer Weisung nicht verlassen darf“, sagte er. Der Statthalter seufzte. Gegen diese Begründung konnte er nicht einmal etwas sagen, entsprach sie doch tatsächlich seiner Anweisung an den Templerorden.

„Gut, mein Pferd und drei Mann Eskorte!“, befahl er und hinkte zum Hof hinaus.

Karsamstag, 11. April 1186 – Tempelberg, Hauptquartier des Templerordens, Jerusalem

Der Wächter am Tor zum Tempelberg sah zu seinem Erstaunen vier Reiter im kornblumenblauen Jerusalemrock, die die Klagemauer in respektvollem Abstand passierten und dann den Tempelberg hinauf ritten. Der Wächter hielt den Statthalter und seine Männer mit grantiger Miene auf. Tiberias genoss bei den Templern den Beliebtheitsgrad eines Skorpions …

„Was wollt Ihr hier?“

„Herr de Lusignan wünscht, mich zu sprechen“, erklärte Raymond mit möglichst neutralem Gesichtsausdruck. Er konnte die Templer aus zweierlei Gründen nicht leiden: Erstens, weil sie den von Balduin IV. beschworenen Frieden hintertrieben, wo immer sie konnten und zweitens, weil sie wegen ihrer Abneigung gegen das Baden zum Himmel stanken. Eigentlich war der Tempelberg als die höchste Erhebung Jerusalems der passende Ort für diese ungewaschenen Ritter; unten im Tal, so spekulierte Tiberias spöttisch im Stillen, wäre bei dem Gestank, den sie verbreiteten, vermutlich das Vieh auf dem Markt krepiert …

Der Wächter ließ Tiberias und seine Begleiter vor dem Tor der Templerfestung warten und suchte Guy auf, der ihm bestätigte, dass er Tiberias hatte rufen lassen. Guy ließ Tiberias in den Felsendom kommen, einst als Moschee gebaut, jetzt als Lager für alle möglichen Dinge von den Templern genutzt. Es versetzte Tiberias einen tiefen Stich ins Herz, als er in den Felsendom trat und mit eigenen Augen sehen musste, wie die Templer die wunderschön geschmückte Moschee für höchst profane Zwecke entweiht hatten. Schritte bestiefelter Füße störten den Statthalter aus seinen trüben Betrachtungen auf.

„Ihr seid tatsächlich gekommen…“, wunderte sich Guy.

„Ihr hattet um ein Gespräch gebeten“, erwiderte Tiberias.

„Ja … Ich … habe wegen Eures Vorschlags nachgedacht“, sagte Guy. Es klang recht zögernd.

„Und zu welchem Ergebnis seid Ihr gekommen?“, fragte Tiberias.

„Dass … dass ich mit der Ernennung des Barons von Ibelin zu Eurem Nachfolger einverstanden bin.“

Tiberias sah den Vormund des Königs einen Moment an und fragte sich, ob dieser ebenso einfältige wie machtgierige Mann wirklich selbst darauf gekommen war, oder ob der Großmeister nachgeholfen hatte. Es konnte ihm gleich sein, sagte er sich dann. Hauptsache, Balian konnte sein Nachfolger werden und den kleinen König unterstützen.

„Danke“, sagte Tiberias und verbeugte sich leicht. „Eurem Ordensbruder geht es übrigens wieder besser. Der Hospitalmeister hält es für denkbar, dass er schon in der nächsten Woche entlassen werden kann. Wollt Ihr das an den Großmeister übermitteln, Mylord?“

„Das werde ich“, versprach de Lusignan und verbeugte sich ebenfalls leicht.

Raymond verließ den Tempelberg mit einem erleichterten Seufzen. Er konnte bald mit seiner Gemahlin nach Tiberias am südlichen Ende des Sees Tiberias zurückkehren und dort seinen Lebensabend verbringen. Balian würde in Jerusalem für Ordnung sorgen. Jetzt brauchte es nur noch den passenden Zeitpunkt, um den jungen Ibelin damit zu überraschen.

 

Kapitel 10

Karsamstag/Ostersonntag

Osternacht

 

Karsamstag, 12. April 1186 – Königlicher Palast, Jerusalem

Die Sonne versank gerade, als Tiberias mit seinen Begleitern durch das Tor des Palastes ritt, um dem König und seiner Mutter die Nachricht zu bringen. Königliche Leibwachen im Jerusalem-Rock begleiteten Tiberias in die persönlichen Gemächer des kleinen Königs und seiner Mutter. Als Tiberias eintrat, sahen Balduin und Sibylla schon am Gesichtsausdruck des alten Ritters, dass er eine frohe Botschaft zu verkünden hatte.

„Guy de Lusignan hat zugestimmt, dass Balian von Ibelin mein Nachfolger wird, mein König!“, verkündete er freudestrahlend.

„Das ist eine wunderbare Nachricht, Graf Tiberias“, erwiderte Balduin, ganz König. Aber dann stürmte er auf den alten Grafen zu und umarmte ihn einfach.

„Ich find’s richtig gut, dass du Guy überreden konntest, Onkel Raymond“, sagte er leise, wieder der Achtjährige, dem die Kindheit viel zu früh beendet worden war. „Dann hab’ ich Balian bald immer bei mir.“

Balduin sah zu seiner Mutter, die einfach nur freudig lächelte und ihrem Sohn liebevoll über den Kopf streichelte.

„Ich … hoffe, Ihr werdet Balian mit der Last seines neuen Amtes nicht allein lassen, Tiberias“, sagte sie, an Raymond von Tiberias gewandt. Tiberias schüttelte den Kopf.

„Nein, das werde ich nicht tun“, versprach er. „Ich werde noch einige Zeit in Jerusalem bleiben und Balian bei seiner neuen Aufgabe beraten, wenn er das wünscht. Mein Haus am See Tiberias bedarf auch noch gewisser Umbauten, die ich meiner Frau überlassen möchte. Sie hat einfach die bessere Hand dafür. Schon deshalb werde ich sicher noch einige Monate bleiben, bis ich mich auf meinen Sitz in Tiberias zurückziehe.“

„Und dann gehst du weg?“, fragte Balduin traurig.

„Graf Tiberias hat viele Jahre für Onkel Balduin und für Großvater gearbeitet, mein Schatz. Er hat es verdient, sich zur Ruhe zu setzen und die Zeit zu genießen“, erklärte Sibylla. „Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, wenn wir Euch zuweilen besuchen?“, wandte sie sich dann an den Grafen. Raymond von Tiberias lächelte verschmitzt.

„Eben deshalb lasse ich mein Haus ja umbauen. Ich … nehme doch an, Ihr kommt dann mit einer entsprechenden Eskorte der königlichen Wachen unter Baron Balians Kommando …“

„Vermutlich“, grinste Sibylla, die diesen Wink mit dem Zaunpfahl nur zu gut verstand. Balduin, mit diesen Feinheiten noch nicht vertraut, sah verblüfft zwischen den beiden Erwachsenen hin und her.

„Wann wollt Ihr es ihm sagen?“, frage Sibylla dann.

„Ich denke, heute Nacht bei der Agape nach der Auferstehungsmesse wäre die beste Gelegenheit“, erwiderte der Statthalter. Sibylla und ihr Sohn sahen sich an und nickten.

Osternacht Karsamstag/Ostersonntag, 12./13. April 1186 – Grabeskirche, Jerusalem

Nicht lange nach Sonnenuntergang war Jerusalem, vom Licht des Mondes und der Sterne abgesehen, dunkel – ebenso wie in der vorangegangenen Nacht. Nicht ein künstliches Licht brannte in der ganzen Stadt. Dennoch strömten die Christen in Massen durch die Straßen. Es gab wohl keinen, der jetzt schlief. Doch bei aller Massenhaftigkeit blieb es leise. Kaum jemand sprach und wenn, dann im Flüsterton. Die christlichen Massen suchten die Kirchen auf, um die Auferstehung Christi zu feiern.

Wie üblich versammelte sich der christliche Adel bei der Grabeskirche. Bei der Grabeskirche hieß in diesem Fall direkt vor deren Haupteingang, wo in einem großen Steinkreis die gestifteten trockenen Palmzweige auf einem großen Haufen lagen. Ein Priester der Grabeskirche entzündete sie mithilfe eines bisher abgedeckt getragenen Stundenlichtes* zum Osterfeuer. Als es hell brannte, trat der Patriarch mit seinen Messdienern an das Feuer und begrüßte die versammelte, adlige Gemeinde, segnete das Feuer und bereitete dann die gut drei Fuß hohe, aus fast weiß gebleichtem Wachs gefertigte Osterkerze, indem er mit einem Griffel ein Kreuz in die Kerze ritzte und mit griechischen Buchstaben und arabischen Ziffern bezeichnete. Dazu sprach er folgendes Gebet:

„Christus, gestern und heute“, dazu zeichnete er den senkrechten Balken des Kreuzes auf die Kerze, der knapp einen Fuß lang war.

„Anfang und Ende“, dazu ritzte er den Querbalken, der etwa die Kerze halb umfing. Sah man von vorn auf die Kerze, waren die äußeren Enden des Balkens gerade noch zu erkennen.

„Alpha und Omega“, dazu fügte er über dem senkrechten Balken ein Alpha, den ersten Buchstaben des griechischen Alphabets zu, darunter ein Omega, den letzten Buchstaben des griechischen Alphabets.

„Sein ist die Zeit …“, er schrieb eine arabische Eins in das obere linke Feld zwischen den Kreuzarmen.

„… und die Ewigkeit“, es folgte eine weitere Eins im rechten oberen Feld.

„Sein ist die Macht und die Herrlichkeit“, eine arabische Acht kam in das linke untere Feld.

„… in alle Ewigkeit. Amen.“

Eine arabische Sechs vervollständigte die Jahreszahl 1186 im rechten unteren Feld. Ein Messdiener reichte Heraclius einen silbernen Napf, in dem sich Weihrauchkörner befanden. Üblicherweise wurde aus diesem Napf mit einem Silberlöffel etwas von dem kostbaren, körnigen Harz in das Weihrauchfass nachgegeben, wenn der darin befindliche, brennende Weihrauch mangels Masse zu erlöschen drohte. In diesem speziellen Fall pickte der Patriarch fünf größere Harzkörner aus dem Napf, um sie in die eingeritzten Kreuzbalken der Kerze zu stecken.

„Durch seine heiligen Wunden“, er steckte das erste Weihrauchkorn oben in den senkrechten Balken.

„… die leuchten in Herrlichkeit …“, Korn Nummer 2 steckte im Kreuzungspunkt der Balken.

„… behüte uns …“, er steckte das dritte Korn unten in den senkrechten Kreuzbalken.

„… und bewahre uns …“, Korn Nummer 4 steckte links im Querbalken.

„… Christus, der Herr. Amen.“ Damit steckte der Patriarch das fünfte Weihrauchkorn rechts außen in den Querbalken der Kreuzes.

Einen Augenblick war andächtige Stille, die nur vom Knistern und Knacken der verbrennenden Palmzweige durchbrochen wurde. Dann nahm der Patriarch einen Span, den er am Osterfeuer entzündete und führte ihn zum Docht der Osterkerze, die aufleuchtete.

„Christus ist glorreich auferstanden vom Tod. Sein Licht vertreibe das Dunkel der Herzen!“, rief er.

Die Flügeltür des Haupteingangs wurde geöffnet und die versammelte Gemeinde zog in die noch dunkle Grabeskirche ein. Als Erster betrat der Patriarch die Kirche.

„Lumen Christi!“, rief er dabei. Übersetzt bedeuteten diese Worte Christus, das Licht.

„Deo Gratias!“, antwortete die Gemeinde, was übersetzt Dank sei Gott bedeutete. Die Rufe wurden noch zweimal wiederholt, dann hatte Heraclius mit seinen begleitenden Messdienern und Konzelebranten, den mit ihm die Messe feiernden Priestern, den Altar erreicht, wo die Osterkerze in ihre vorgesehene Halterung gesteckt wurde.

Die hauptsächlich adlige Gemeinde nahm im Schein dieser einen einzigen Kerze ihre üblichen Plätze in der Kirche ein*. Zwei der konzelebrierenden Priester entzündeten Kienspäne, mit denen sie das Licht der Osterkerze weitergaben. Jeder, der in der Kirche war, hatte eine Kerze von zuhause mitgebracht, die nun nacheinander entzündet wurden, ausgehend von den Kienspänen der beiden Priester. Die Lichter schienen geradezu durch die Kirche zu laufen und dann war sie strahlend hell erleuchtet von den vielen Kerzen, die in den Bankreihen in den mitgebrachten Lampen leuchteten.

Tiberias reckte sich vorn in der ersten Bank fast den Hals aus, aber er konnte Balian nicht entdecken. Guy saß etwas erhöht in der königlichen Loge im Altarraum bei seiner Gemahlin und seinem Stiefsohn und konnte über die versammelte Adelsgemeinde hinwegsehen. Auch er suchte vergeblich nach den charakteristischen Ibeliner Röcken, die für gewöhnlich Balian und seine Leute kennzeichneten. Aber dann sah er ganz hinten in der letzten Bank den ungeliebten Rivalen, den er immer noch Bastard nannte. Balian war nicht wie die Ordensritter in Rüstung und Waffenrock erschienen, er trug seine dunkelblaue Festtagstunika, die ihm so hervorragend stand und seinen inneren Adel erst richtig nach außen transportierte. Bei ihm waren Almaric und Michel, seine beiden Stellvertreter, die ihrem jungen Herrn fast überall nahe waren. Auch sie waren zivil, aber ebenfalls dem festlichen Anlass entsprechend gekleidet. Die beiden Hauptleute hatten auch ihre Frauen und Kinder bei sich.

Guy nickte Tiberias zu, um ihn aufmerksam zu machen. Raymond folgt dem Blick des königlichen Vormunds und begann sich zu fragen, weshalb Guy ihm so bereitwillig half, Balian zu finden. Der Graf von Tiberias wusste nur zu gut, wie wenig Guy Balian mochte. Er nickte Guy dankend zu. Nein, Balian jetzt nach vorn zu holen, war unangebracht.

Der Patriarch setzte die Osternachtsfeier fort mit dem großen Osterlob, das im Messbuch etwa drei volle Seiten einnahm. Dann folgten die Lesungen aus der Bibel – es waren derer sieben aus verschiedenen Abschnitten der Bibel – von der Erschaffung der Welt, der Berufung Abrahams, dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, von Gottes Weisheit, die er den Israeliten durch die Propheten offenbart hatte. Dann folgten noch die Lesung aus einem der Paulusbriefe und das Evangelium, die frohe Botschaft von der Auferstehung Christi. Die dann folgende Tauffeier erinnerte die Christen an die eigene Taufe, auch wenn keine Taufe eines zum Christentum gekommenen Menschen zelebriert wurde, was in der Osternacht durchaus vorkommen konnte. Die Eucharistiefeier mit Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi und die Austeilung des Brotes als heilige Kommunion vervollständigte die Feier der Osternacht. Zwischen den Messtexten sangen Mönche sakrale Choräle, die zu den jeweiligen Texten passten. Die gesamte Messe mochte mit allen Texten, Ritualen und Gesängen etwa zweieinhalb Stunden dauern.

Balduin, der es nicht gewöhnt war, lange über Mitternacht hinaus wach zu bleiben, drohte mehrmals einzunicken, wurde aber entweder von seiner Mutter oder seinem Stiefvater weder geweckt.

Schließlich entließ der Patriarch die Gemeinde unter Halleluja-Rufen und lud zur Agape* nach der Messe in den Palast des Patriarchen ein. Dieses traditionelle Liebesmahl, das schon die ersten Christen begangen hatten, bedeutete, dass jeder, der daran teilnahm, etwas zu essen und zu trinken mitbrachte und alles unter allen geteilt wurde, ohne auf die Person zu sehen. Balian, der es von seinem Haus nicht weit hatte, hatte reichlich mitgebracht, ebenso wie die königliche Familie; die Templer, die es vom Tempelberg her relativ weit hatten und zudem ein persönliches Armutsgelübde abgelegt hatten, steuerten wenig bei. Auch mancher Adlige, der außerhalb Jerusalems lebte und nur zur Messe in die Grabeskirche kam, hatte eher wenig Proviant für die Agape dabei.

Ostersonntag, 13. April 1186 – Palast des Lateinischen Patriarchen, Jerusalem

Im großen Saal des Palastes hatten Diener des Patriarchen bereits das Agape-Bankett vorbereitet. Der Symbolik bedingungsloser Liebe folgend, erhielt der gesellschaftlich am niedrigsten stehende Teilnehmer der Agape den Ehrenplatz am Kopfende der Tafel gegenüber der großen Tür. In diesem Fall war es die kleine Agnes, Almarics jüngste Tochter, die gerade sechs Jahre alt geworden war. Ihre Eltern saßen bei ihr und ihnen gegenüber hatte auf ausdrücklichen Wunsch von Agnes Balian Platz genommen. Wie von selbst sortierte sich Balduin neben Balian und zog seine Mutter gleich mit, was bei Guy einen indignierten Gesichtsausdruck hervorrief. So nahe wollte dem Bastard nicht sein, es hätte ihm nur wieder den Appetit verdorben … Er schlich sich ans andere Ende der Tafel, wo auch die meisten Templer Platz genommen hatten und sich um den Patriarchen scharten. Tiberias nutzte den freigewordenen Platz neben Sibylla und setzte sich dort zwischen sie und den Johanniter Jean.

Die Diener trugen auf, was die Teilnehmer des Mahles mitgebracht hatten. Raymond von Tiberias wartete nur, dass alle Wein in den Bechern hatten und der Patriarch als der eigentliche Gastgeber die Tafel eröffnet hatte. Dann erhob er sich. Alle sahen ihn wie gebannt an, war es doch gänzlich unüblich und geradezu unfein, dass sich jemand von einer eben erst eröffneten Tafel erhob. Es wurde schlagartig still im Raum.

„Eure Heiligkeit, mein König, versammelte Barone und Ritter Jerusalems!“, begann Tiberias. „Ich diene den Königen des Heiligen Jerusalem nun gut vierzig Jahre, seit mein Vater mich an meinem sechzehnten Geburtstag zum Ritter schlug. Viele Schlachten habe ich geschlagen, lange Jahre in Gefangenschaft verbracht und bin so manches Mal nur durch Gottes Gnade am Leben geblieben. Seit fast fünfzehn Jahren bin ich Statthalter dieser heiligen Stadt und seit König Balduin IV. mit Sultan Saladin einen Friedenspakt schloss, kämpfe ich für den Frieden, was zuweilen nicht einfach ist“, fuhr er fort, und sein Blick traf die versammelten Tempelritter um den Patriarchen. „Nun bin ich fast sechzig Jahre alt, älter als die meisten Menschen heute überhaupt werden. Ich … sehe mich nicht mehr wirklich in der Lage, das verantwortungsvolle Amt des Statthalters in angemessener Weise zu tragen. Es … gehört in die Hände eines Jüngeren, der die Ideen Balduins IV. ebenso trägt und für sie kämpft, wie ich es stets getan habe. Daher werde ich dieses Amt nun aufgeben. Ich habe König Balduin V. als meinen Nachfolger einen tapferen jungen Ritter vorgeschlagen, der seinen Mut und seine Opferbereitschaft vor Kerak eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat.“

Balian spürte, dass er rot wurde und suchte unauffällig nach einem Mauseloch, in dem er verschwinden konnte, aber er fand keins. Der ebenso liebevolle wie feste Druck von Sibyllas Hand an seiner ließ Gewissheit werden, was er Augenblicke zuvor nur befürchtet hatte.

„Ich meine Balian von Ibelin, Godfreys Sohn, der nicht nur unserem König treu ergeben ist, sondern auch für eine Verständigung mit den Sarazenen Sorge tragen kann“, sprach Raymond Balians Befürchtung laut aus. „König Balduin V. hat meinem Wunsch entsprochen und Balian von Ibelin zu meinem Nachfolger bestimmt. Ich wünsche ihm in diesem wirklich nicht einfachen Amt Erfolg und Gottes Segen.“

Der Graf von Tiberias erhob seinen Becher.

„Auf Balian von Ibelin, den neuen Statthalter Jerusalems!“

Abgesehen von den Templern, die lieber einen aus den eigenen Reihen an diesem Platz gesehen hätten und einem offensichtlich enttäuschten Amaury de Lusignan, Guys jüngerem Bruder, der ebenfalls bei den Templern saß und sich große Hoffnungen auf diesen Posten gemacht hatte, waren die Anwesenden von der Wahl des jungen Barons von Ibelin hörbar zufrieden, wie der Jubel zeigte, in den die Tischgemeinschaft ausbrach. Alle tranken auf Balians Wohl, der am liebsten im Erdboden versunken wäre, schätzte er derlei Aufmerksamkeit für sich doch überhaupt nicht.

Raymonds aufmunterndes Schulterklopfen nötigte den jungen Mann, sich ebenfalls zu erheben und auf Tiberias’ Ansprache zu antworten. Zögernd und mit eher weichen Knien stand er auf.

„Es wird mir in diesem Raum vermutlich niemand glauben – aber ich bin von dieser Ankündigung völlig überrascht“, sagte er. „Weder habe ich mich um dieses Amt beworben, noch bin ich mir sicher, es im Sinne des Grafen von Tiberias weiterführen zu können. Ich … habe einst geschworen, ein guter Ritter zu werden und habe bisher versucht, es auch zu sein. Ob ich es bin, dieses Urteil überlasse ich anderen. Aber wenn es der Wunsch meines Königs ist, dann werde ich als treuer Baron des Königreichs Jerusalem dieses Amt annehmen und es führen, so gut ich es vermag“, erklärte er, von der Souveränität, mit der er diese Worte aussprach, selbst am meisten überrascht. „Und ich hoffe zuversichtlich, dass der Graf von Tiberias mir hilft, es auszufüllen; schließlich habe ich mit dieser Art von Amt keine Erfahrung und möchte möglichst keine Fehler machen, die Jerusalem schaden könnten“, schob er dann geschickt Tiberias den Ball wieder zu.

„Seid unbesorgt, Balian. Ich werde Euch helfen“, versprach Raymond. „Und ich werde nicht eher nach Tiberias fortgehen, als Ihr mich lasst.“

Tiberias reichte Balian die Hand, die dieser ergriff und fest drückte. Auf die Hände der beiden Männer legte sich eine schmale Frauenhand.

„Seid sicher, Mylords, ich werde auf Euch beide Acht geben …“, versprach Sibylla. „Auf Euch, Raymond von Tiberias, dass Ihr wirklich tut, was Ihr gerade zugesagt habt – und auf Euch, Balian von Ibelin, dass Ihr das Amt im Sinne meines Sohnes führen werdet.“

Balian neigte leicht das Haupt vor der Prinzessin.

„Ich bete, dass ich die Ansprüche stets erfüllen kann, die Ihr an mich stellt, meine Prinzessin“, erwiderte er lächelnd. Die Doppeldeutigkeit, die in dieser Antwort lag, begriffen nur jene an der Tafel, die um die Liebe zwischen Sibylla und Balian wussten – Tiberias, Jean, Almaric und auch Balduin, den kein Geschenk glücklicher machen konnte, als die Tatsache, seinen geliebten Wunschstiefvater nun immer bei sich haben zu können.

Ostersonntag, 13. April 1186 – Königlicher Palast, Platz vor dem Palast, Jerusalem

Im strahlenden Licht des Ostermorgens erhielt Balian den kornblumenblauen Waffenrock der Jerusalem-Ritter von seinem jungen König, der es sich nicht nehmen ließ, ihm den Rock selbst anzulegen, mochte er mit seiner eigenen Größe von knapp vier Fuß dem sechs Fuß großen Balian auch nur bis zur Brust reichen. Als Balian vor ihm kniete, war Balduin sehr versucht, ihn einfach zu umarmen, aber in dieser Öffentlichkeit besann der Junge sich auf das anerzogene öffentliche Gesicht und zwang sich zu einem geradezu hochnäsigen Gesichtsausdruck, als seine Mutter ihm leise erklärte, dass der König das Recht hatte, von seinem treuen Vasallen den Friedenskuss auf die Wange zu fordern.

„Ihr dürft … mir den Friedenskuss geben, Baron Balian. Ich erlaube Euch, mich auf die Wange zu küssen“, erklärte der kleine König. Balian konnte nicht anders. Er musste einfach grinsen, so wie der Junge ihn ansah und gab ihm den verlangten Kuss. Balduins stolze Haltung brach zusammen, er umarmte Balian doch – und erntete dafür tosenden Jubel. Die Lautstärke gab dem Jungen die ersehnte Gelegenheit, Balian zuzuflüstern:

„Ich hab’ dich lieb, Papa.“

Jerusalem hatte einen neuen Statthalter, der die Heilige Stadt im Sinne des friedliebenden Königs verwalten würde …

Ende

 

 

Glossar

 

al-Quds: Arabischer Name für Jerusalem

Agape: griechisch für die buchstäblich bedingungslose Liebe, die für das Wohlergehen anderer sorgt, ohne dafür Dank und/oder Anerkennung zu erwarten.

Glockenstille: Bis heute schweigen in christlichen Kirchen die Glocken vom Gloria in der Abendmahlsfeier des Gründonnerstags bis zur Auferstehungsfeier in der Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag. Erst mit dem Gloria in der Osternacht beginnen die Glocken wieder zu läuten – sowohl die am Altar während der Wandlung benutzten Schellen als auch die im Glockenturm hängenden Geläute werden dann wieder angeschlagen und läuten die Osterfreude in die Welt hinaus (konkret bezogen auf die katholische Kirche, Anm. d. Verf.)

Klafter: Altes Längenmaß, ca. 1,80 Meter

Kerze in der Nacht: Im Dunkel der Nacht kann eine einzige Kerze in einem großen Raum unglaublich viel Licht geben. Wer es nicht glauben mag, dem sei die Feier der Osternacht in der Kirche wirklich empfohlen. Ich habe es selbst erleben dürfen (Anm. d. Verf.)

Pfund: Altes Gewichtsmaß, 0,5 kg

Rais: Arabischer Verwalter eines Ortes. Titel und Funktion wurden von den Kreuzrittern des Königreichs Jerusalem für ihre Verwalter arabischer Herkunft übernommen. In der Regel blieb sogar der Inhaber der Funktion nach dem Übergang des Ortes in christliche Hände in seiner Position – jedenfalls unter christlichen Herren, die wie Balduin von Jerusalem dachten…

Spanne: Altes Längenmaß, ca. 15 cm

Stundenlicht: Kerze mit bekannter Brenndauer. Solche Kerzen wurden als frühe Uhren benutzt und fanden erstmals in den Klöstern Verwendung. Dort war wegen der regelmäßigen nächtlichen Gebetsstunden eine Zeiteinteilung unabhängig vom Sonnenlicht erforderlich.

 

 

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