Der Meeresprinz

Nordmitteleuropa im Jahr 1205: Thorsten, der jüngste Sohn des Königs Sigurd von Meerland, und die Reste seines Heeres kehren vom Vierten Kreuzzug zurück, dessen Frevel sie mitgemacht habe. Doch als sie die letzte Düne überqueren, die sie noch von ihrer Heimat trennt, müssen sie feststellen, dass ihr Land im Meer versunken ist.

Es gelingt ihnen, eine Überfahrt nach Thule zu bekommen, einer Insel, die weit draußen im Atlantik liegt. König Christian empfängt die Männer herzlich und bietet ihnen eine neue Heimat. Thorsten gerät bald in die Intrigen des Herzogs von Fjordsand und des Grafen von Svendvik, zumal König Christian ihm die Hand seiner Enkelin und Thronerbin Christine geben möchte und er nicht einmal genau weiß, ob er eigentlich Witwer ist, wie er nach Meerlands Untergang annehmen muss …

 

Prolog

 

Meerland war eine große Insel, eigentlich eine Halbinsel am östlichen Rand des Atlantischen Ozeans. Es wurde regiert von dem seit bald tausend Jahren existierenden Herrschergeschlecht der Seeburger. Die Seeburger und ihre Untertanen hatten den christlichen Glauben früh angenommen und gehörten zu den eifrigsten Verteidigern dieses Bekenntnisses. Wann immer der Papst in Rom zum Kampf gegen die Heiden und zum Schutz des Heiligen Grabes in Jerusalem aufrief, konnte er sicher sein, dass der König von Meerland umgehend mit seinen Rittern aufbrach.

Zu diesem neuen Kreuzzug, dem Vierten, hatte jedoch ausnahmsweise nicht König Sigurd selbst das Kreuz genommen, sondern hatte seinen jüngsten Sohn Thorsten ins Heilige Land gesandt. Sigurd war fast sechzig Jahre alt und gerade erst vom Dritten Kreuzzug zurückgekehrt, als ihn der Brief des Papstes Innozenz erreichte, dass ein neuer Versuch unternommen werden solle, Jerusalem von den Heiden zu befreien. Seine beiden älteren Söhne Jens und Joachim hatten den Vater begleitet, waren wie er jahrelang von ihren Familien getrennt gewesen. Thorsten, der jüngste Sohn, war nur deshalb in Seeburg geblieben, weil er noch nicht volljährig gewesen war – und weil jemand das eigene Reich beschützen musste, solange der König und zwei seiner Söhne mit den meisten Rittern abwesend waren. Das Reich hatte Königin Ragnhild regiert.

Ragnhild hatte ihren jüngsten Sohn an seinem 21. Geburtstag, dem 19. September 1196, zum Ritter geschlagen und ihm aufgegeben, sich bald um eine Ehefrau zu bemühen. Ihr Gemahl und ihre älteren Söhne waren nun gut sechs Jahre fort, es gab keine Nachrichten von ihnen. Königin Ragnhild hatte Grund zu der Befürchtung, dass der König und seine Söhne nicht mehr heimkämen und wollte Thorsten auf die Übernahme des Thrones vorbereiten.

Zu Weihnachten 1196 waren König Sigurd, seine älteren Söhne und zwei Drittel der sie begleitenden Ritter nach Seeburg zurückgekehrt. Als Sigurd hörte, dass Ragnhild nahe daran gewesen war, Thorsten zum König zu krönen, forderte er zunächst von beiden die Erneuerung ihres Treueides sowie einen Reinigungseid. Beide leisteten die geforderten Schwüre ohne schlechtes Gewissen, denn weder der Prinz noch die Königin hatten vorgehabt, dem rechtmäßigen Herrscher den Thron streitig zu machen. Doch Sigurd genügte dies nicht. Er ließ verkünden, dass – falls der Papst erneut zum Kreuzzug aufrufen werde – sein jüngster Sohn Thorsten der Anführer des meerländischen Kontingentes sein werde.

Wenig später erklärte Thorsten seinen verblüfften Eltern, dass er seine Jugendfreundin Ingrid ehelichen wollte. Sigurd war schlicht entsetzt, war Ingrid doch die Tochter eines Fischhändlers in Seeburg … Der junge Prinz erklärte seinem grimmigen Vater, dass er eher auf sein ohnehin begrenztes Thronfolgerecht verzichten wolle, als Ingrid aufzugeben. Sein Vater nahm ihn beim Wort und ließ ihn offiziell auf eine mögliche Thronfolge verzichten. Erst dann stimmte er einer Heirat mit Ingrid zu.

Doch wie wenig dem König die Verbindung seines jüngsten Sohnes mit einer Frau aus dem gemeinen Volk zusagte, bekam das Brautpaar an seinem Hochzeitstag zu spüren. Sigurd verkündete laut, dass sein jüngster Sohn drei Tage nach der Hochzeit zum Kreuzzug aufbrechen werde und bestimmte, dass Ingrid nicht die Privilegien einer Prinzessin Meerlands übertragen würden. Sie durfte ihn nicht einmal auf der Reise begleiten …

Die Meerländer waren die Ersten, die dem Ruf des Papstes Folge leisteten und gleich nach Jahresanbruch 1199 nach Italien aufbrachen, von wo die Kreuzfahrerflotte ins Heilige Land fahren sollte. Der Papst hatte den Beginn des Kreuzzuges auf März 1199 festgesetzt. Die Nordmänner erreichten die Lagunenstadt rechtzeitig, doch vor Venedig war einstweilen Schluss. Die Flotte musste erst noch gebaut werden und sollte nicht vor Mitte 1202 fertig sein. Thorsten sandte einen Boten heim und bat um die Erlaubnis zur Rückkehr, um dann Anfang 1202 erneut aufzubrechen, doch fünf Monate später erhielt er das ausdrückliche Verbot seines Vaters, Italien vor Beginn der Überfahrt zu verlassen – es sei denn in der anderen Richtung, um das Heilige Land auf dem Landwege zu erreichen.

Nach einem großen Kriegsrat entschlossen sich die Meerländer, es auf dem Landwege zu versuchen. Solange sie sich in katholischen Ländern bewegten, erhielten sie jegliche Unterstützung, doch als sie in christlich-orthodoxes Gebiet kamen, begegnete man ihnen mit Misstrauen, sogar mit Hass und bekämpfte sie. Weder Thorsten noch seine Männer wollten gegen Christen kämpfen. Sie waren ausgezogen, um die Muslime aus Jerusalem zu vertreiben. Doch ohne die Unterstützung der Bewohner der Länder östlich der Adria hatten sie keine Chance, ins Heilige Land durchzukommen. Nach schweren Verlusten kehrten sie ein Jahr nach ihrem Aufbruch über Land nach Venedig zurück. Prinz Thorstens Heer umfasste nicht einmal mehr die Hälfte der ursprünglichen Stärke.

Um die Zeit bis zum Aufbruch per Schiff zu überbrücken, verdingten die Männer sich verschiedenen norditalienischen Adligen als Ritter und Reisige. Dann, Mitte Mai 1202, zogen die in Norditalien versammelten Kreuzfahrer nach Venedig, um die Schiffe zu besteigen. Doch statt der erwarteten dreißigtausend Ritter waren gerade zwölftausend gekommen. Der Doge Venedigs, Enrico Dandolo, hatte für die Erstellung der Flotte von fünfzig Schiffen fünfundachtzigtausend Mark Silber gefordert.

Eine Mark Silber entsprach etwa einem halben Pfund[1] Silber, aus dem einhundertzwanzig Denare oder zehn Solidi – auch Schillinge genannt – geschlagen wurden. Denare und Solidi/Schillinge waren seit der Römerzeit in Europa verbreitet und stellten in vielen Ländern immer noch das gängige Zahlungsmittel dar. Für ein halbes Pfund Silber oder zehn Solidi konnte man ein Zugpferd kaufen. Dadurch, dass die Kreuzfahrer die volle Summe für dreißigtausend Männer bezahlen sollten, hatte jeder Einzelne wahrhaft das Dreifache zu bezahlen. Mit solchen Kosten hatte natürlich niemand gerechnet. Schon für die ursprüngliche Summe je Mann hatten manche Haus und Hof verkaufen müssen. Das Geld hatte schlicht niemand.

Doge Dandolo hatte listig angeboten, dass die Kreuzfahrer sich in Venedigs Diensten den Rest des Fahrpreises verdienen sollten – und hatte gefordert, dass sie die Stadt Zara an der dalmatinischen Küste für Venedig erobern sollten. Angeblich schuldete Zara der Lagunenstadt Tribut.

Ein Teil der Kreuzfahrer unter Führung des berühmten Kreuzritters Balian von Ibelin lehnte dies ab und wandte sich nach Genua, um von dort eine Passage zu bekommen. Ihm und seinen zweitausend Männern folgten weitere Ritter aus deutschen Landen, so dass vor Venedig keine zehntausend Ritter mehr waren.

Thorsten, von seinem Vater dazu verpflichtet, auf jeden Fall in den Orient weiterzuziehen und ja nicht vorher umzukehren, entschloss sich auch gegen den Rat seines Waffenmeisters Thorvald, am Zug gegen Zara teilzunehmen.

„Es ist nicht Recht, was wir tun!“, hatte Thorvald gesagt. „Gott wird uns für einen solchen Frevel strafen!“, prophezeite er.

Seitdem waren nun zwei Jahre vergangen, und Thorvald schien Recht behalten zu haben: Von den etwa tausend Männern, die Thorsten auf den Kreuzzug gefolgt waren, lebten noch ganze hundert. Alle anderen waren in den Kämpfen gefallen, die die Kreuzritter um Zara und später Konstantinopel geführt hatten. Sie hatten die Stadt am Bosporus geplündert. Das war der Moment, in dem auch Thorsten begriff, dass es erstens eine Todsünde war, der er und seine Männer sich schuldig machten, weil sie gegen Christen kämpften und zweitens, dass er auf diese Art keinesfalls nach Jerusalem kommen würde …

Er befahl den Abzug nach Norden. Im Sommer 1204 kehrten die Meerländer um – ohne Beute, ohne Ruhm, voller Schuldgefühle und der Ahnung, dass sie besser mit den Ibelinern noch vor dem Angriff auf Zara umgekehrt wären …

Der lange Weg zurück forderte weitere Opfer. Ein ganzes Jahr brauchten die Männer, um den Norden Europas zu erreichen. Als sie in die Lande der Friesen kamen, wo sie das Meer schon fast riechen konnten, waren sie noch fünfzig Männer. Alle anderen waren tot. Sie setzten bei Hammenburch* über die Elbe und kamen durch die westlichen Marschen an den Rand des Meeres, das sie Westersee nannten. Die Männer waren müde und körperlich wie seelisch erschöpft nach fünf Jahren Abwesenheit von zu Hause. Doch jeder Schritt, den ihre ebenso erschöpften Pferde nun in Richtung Meer taten, ließ ihre Zuversicht wachsen, bald wieder in ihrer geliebten Heimat zu sein.

Thorsten sandte seinen Knappen Olaf voraus, um zu erkunden, was sich hinter dem Dünenkamm befand, auf den das kleine Heer zuhielt. Der junge Mann ritt voraus, verschwand für kurze Zeit hinter den Dünen und kehrte dann mit wachsbleichem Gesicht zurück.

„Herr, was dort hinter den Dünen ist, das glaubt Ihr mir nicht!“, keuchte er.

„Was soll ich nicht glauben? Dass dahinter Osterseeburg ist?“, fragte Thorsten spöttisch.

„Ich … ich kann es Euch nicht sagen, Herr. Bitte, seht es selbst.“

Der Prinz trieb sein Pferd die Düne hinauf – und erstarrte. Statt des Stadtbildes der Hafenstadt Osterseeburg auf der Halbinsel Meerland dehnte sich vor ihm die bleigraue, unendlich scheinende Wasserfläche der schäumenden Westersee. Etwa eine Meile von der Düne entfernt ragte gerade noch ein abgebrochener Turm aus den Wellen: die zerstörte Münsterspitze von Osterseeburg!

„Nein!“, schrie Thorsten auf. „Das kann nicht sein! Meerland! Wo ist Meerland?“

Sein verzweifelter Ruf verhallte im Möwengeschrei. Er sah Olaf an, der nur verlegen und nicht weniger verzweifelt auf das weite Meer sah.

„Es … ist nicht mehr da, Herr“, sagte Thorvald tonlos. „Der Herr der Welt hat Meerland ins Meer geworfen. Das ist die Strafe für diesen ungerechten Kreuzzug und die Frevel, die wir an Zara und Konstantinopel begangen haben.“

Im ersten Moment wollte Thorsten aufbegehren, doch Thorvald hatte offenbar Recht. Die Heimkehrer, die nun keine Heimat mehr hatten, brachen in Tränen der Verzweiflung aus. Noch schlimmer war, dass sie nicht einmal jemanden fragen konnten, was geschehen war. Die Gegend war so dünn besiedelt, dass im Umkreis von fünfzig Meilen niemand lebte, der ihnen Auskunft hätte geben können.

Der Schock über das Schicksal Meerlands bewirkte, dass die Männer – hartgesottene Krieger, die vieles gesehen hatten – drei Tage brauchten, um sich klar zu werden, was sie als nun Heimatlose tun wollten. Thorvald war es schließlich, dem eine Idee kam:

„Herr, lasst uns nach Thule reisen“, schlug er vor. Thule war ein Königreich weit im Nordwesten, auf einer nur schwer erreichbaren Insel im nördlichen Meer. Nur mutige Kaufleute hatten sich dorthin gewagt, aber unter diesen Mutigen waren die meerländischen Händler gewesen. Als Thorsten lange Zeit schwieg, hakte Thorvald nach:

„Was ist mit Thule, mein Prinz? Wir warten auf Eure Befehle, Herr.“

Der junge Mann sah den älteren Waffenmeister mit leerem Blick an. Dann nickte er.

„Suchen wir eine Passage nach Thule“, entschied er müde.

 

 

 

Kapitel 1

Thule

 

Thule war ein Königreich, das aus neun Provinzen oder Grafschaften bestand; ein Königreich, das wie Meerland am Meer lag – nur eben weit vom Festland entfernt auf einer großen Insel, je nach Wind mindestens sechs Tagereisen westlich von Britannien und wenigstens halb so groß. Und Thule war dort nicht allein. Die Insel war geteilt zwischen dem Königreich Thule und dem Land Tador. Thule nahm den südwestlichen Teil der Insel ein, Tador den nordöstlichen. Vulkane beherrschten den größten Teil Tadors. Ein natürlicher Graben trennte die beiden Inselreiche. Man sagte, östlich dieses Grabens lebten gefährliche Unwesen wie Trolle und Orks*, aber auch Zwerge, von denen niemand so recht sicher war, ob sie Helfer oder Feinde waren. Der Herr von Tador, so hieß es, sei noch von keinem menschlichen Auge gesehen worden, weil er stets von Nebel umgeben sei. Zu Zeiten, als in Thule noch den alten Göttern gehuldigt worden war, hatte man die Gegend auch schon mit Niflheim verglichen, der Eiswelt der Sagen, und den Herrn auch Niflon genannt. Niemals war ein Thronwechsel in Tador bekannt geworden. Nicht wenige glaubten deshalb, dass Niflon ein unsterblicher Dämon sei.

Das von Menschen bewohnte Königreich litt seit eh und je unter der Nachbarschaft von Tador. Seit verirrte irische Missionare den christlichen Glauben auf die Insel gebracht hatten, gab es sogar Streit unter den Menschen in Thule. Nicht jeder war willens gewesen, den neuen Glauben anzunehmen. In den beiden nördlichen Provinzen Wodanien und Odoheim waren die Missionare abgewiesen oder gar umgebracht worden. Thule hatte sich nie an Kreuzzügen ins Heilige Land beteiligt, weil die Ritter und Soldaten des christlichen Reiches gut mit den abtrünnigen Provinzen und dem Feind im Lande Tador beschäftigt waren.

Das südwestliche Reich lebte von Fischerei und dem Handel mit Stockfisch, aber auch Kupfer, Silber, Gold und sogar Bernstein grub man aus der Erde. Das Wappen Thules war ein besegeltes goldenes Schiff auf blauem Grund. Christian, der König von Thule, war schon alt. Sein Sohn und Thronfolger Carsten war im Kampf gegen die Heiden der nördlichen Provinzen gefallen. Die Hoffnung seines Alters war seine Enkelin Christine, Carstens einziges Kind.

Kurz nach Einbruch des hier stets frühen Winters traf im Hafen von Drakavik, der Hauptstadt Thules, ein Schiff aus dem Süden ein, das Thorsten von Meerland und seine letzten verbliebenen Ritter samt ihren Pferden an Bord hatte. Der Prinz und seine Männer ließen sich den Weg zur königlichen Burg beschreiben und machten sich auf den Weg dorthin.

Der Torwächter erkannte den hellblauen Schild mit der goldenen meerländischen Rose, der das untrügliche Zeichen des Hauses Seeburg war. Er ließ seinem Herrn die Ankunft eines Mitglieds der königlichen Familie Meerlands mit einer Schar meerländischer Ritter ankündigen. Mit Meerland hatten dank der kühnen Seefahrer Meerlands stets gute Handelsbeziehungen bestanden, so dass König Christian bei aller gebotenen Vorsicht vor einer List der nördlichen Abtrünnigen keine Sorge vor einem Überfall hatte. Er befahl, die Reiter in die Burg einzulassen und den königlichen Besucher und seine engsten Gefolgsleute in den Thronsaal zu bitten. Alle anderen sollten in der Vorburg versorgt werden.

Christian empfing Thorsten und drei seiner Männer mit allen Ehren, die einem königlichen Prinzen zukamen.

„Seid mir willkommen, Thorsten, Prinz von Meerland“, begrüßte König Christian ihn. Auch Ihr, Thorvald von Osterseeburg und Ihr, Harald von Westerkerk, Knut von Sonderklit und Eure Männer seid willkommene Gäste in Thule. Was führt Euch her, edler Thorsten?“

Der junge Prinz nahm vor Christians Thron seinen Helm ab und neigte den Kopf vor dem König; seine Begleiter folgten dem Beispiel ihres Prinzen.

„Die Bitte, uns eine neue Heimat zu geben, König Christian“, sagte er. „Über Meerland ist ein Unglück hereingebrochen, das wir noch immer nicht fassen können: Meerland ist von der See verschlungen worden. Wir sind heimatlose Ritter.“

Im Saal war völlig Stille ob dieser katastrophalen Nachricht. Eine fallende Nadel hätte geradezu Lärm gemacht. Dann brachen die meisten der versammelten Höflinge in Tränen tiefer Trauer aus.

„Mein Gott! Thorsten, wann ist das geschehen?“, keuchte der alte König.

„Wir wissen es nicht, Majestät“, erwiderte der Prinz. „Wir kehrten nach fünf Jahren Abwesenheit vom Kreuzzug zurück und fanden dort, wo Meerland einst war, nur noch das weite Meer, aus dem die Reste der Türme von Osterseeburg gerade noch herausragten. Es war auch in der Umgebung niemand, den wir danach hätten fragen können.“

„Was für ein Schock muss es für Euch gewesen sein! Seid meines Beileids versichert, Prinz Thorsten“, versuchte Christian, ihm und seinen Leuten Trost zu spenden. „Euer Unglück erklärt auch, weshalb wir seit langem nichts mehr von den Kauffahrern Eurer Heimat gehört haben.“

„Wir haben alles verloren, was wir hatten“, sagte Thorsten. „So bitten wir Euch, mein König: Nehmt uns als Ritter und Knappen in Eure Dienste. Für Euer Entgegenkommen können wir Euch nicht mehr als unsere Schwerter und unsere Lanzen bieten.“

Der alte König lächelte.

„Das ist mehr als genug, edler Thorsten“, erwiderte er. „Euer Ruhm als ritterlicher Kämpfer und der Eurer Mannen ist durchaus bis nach Thule gedrungen, mögen auch viele Meilen offenes Meer zwischen meinem Land und Eurer buchstäblich untergegangenen Heimat gelegen haben. Es wird mir eine Ehre sein, Euch und Eure Gefolgsmänner als meine Ritter und Knappen anzunehmen. So kniet nieder und schwört mir Treue!“

Die Männer knieten gehorsam nieder, klemmten die Helme unter den linken Arm und hoben die rechte Hand zum Schwur.

„Ich, Thorsten von Meerland, schwöre Euch, Christian, König von Thule, in Treue zu dienen. So wahr mir Gott helfe“, gelobte der Prinz. Alle anderen leisteten in ihrem eigenen Namen den Eid.

„Erhebt Euch als Ritter Thules!“, forderte Christians Kanzler, Jens von Ossenborg, die Flüchtlinge auf, die sich ebenso gehorsam erhoben wie sie in die Knie gegangen waren.

König Christian ließ ein Fest ausrichten, mit dem die Neubürger von Thule willkommen geheißen wurden. Doch wo alle fröhlich feierten, blieb Thorsten ernst, war zum tanzen, lachen und singen nicht zu bewegen.

„Ihr seid so schrecklich ernst, Prinz Thorsten“, störte ihn eine weibliche Stimme aus seinen Gedanken auf. Er schreckte hoch, sah auf und bemerkte Prinzessin Christine neben sich. Er sprang auf und verneigte sich.

„Verzeiht, meine Prinzessin. Ich habe Euch nicht kommen hören“, bat er um Vergebung für seine mangelnde Ehrerbietung.

„Ich habe nichts zu vergeben, Herr Thorsten. Zum einen ist es viel zu laut und zum anderen wart Ihr mit Euren Gedanken offensichtlich sehr weit fort“, erwiderte sie fröhlich. „Nein, ich trage es Euch nicht nach.“

Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über sein Gesicht und ließ erahnen, welche Quelle der Freude der Prinz wäre, würde er strahlend lächeln.

„Ja, ich war weit weg“, bestätigte er. „Auf dem Grund des Meeres; dort, wohin mein Vater, meine Mutter, meine Brüder, meine Schwester und meine Gemahlin vom Blanken Hans* fortgerissen wurden.“

Sein Lächeln erlosch wieder. Es war wie ein Sonnenstrahl, der dunkelgraue Sturmwolken durchdrang und ebenso rasch verschwand, wie er sich gezeigt hatte.

„Es wird dauern, bis ich es verkraftet habe“, ergänzte er. Sie machte einen höfischen Knicks.

„Verzeiht, dass ich Euch gestört habe“, bat sie um Vergebung. Er nickte nur. Sie schwebte wieder davon und ließ den Prinzen mit seinem Kummer allein.

Der Prinz und seine Gefolgsleute bekamen Wohnung auf königlichem Besitz. Sie lebten in einer verlassenen Fischersiedlung am Rand von Drakavik. Die früheren Bewohner gehörten zu jenen, die den christlichen Glauben nicht hatten annehmen wollen und in den nach wie vor heidnischen Norden abgewandert waren, so hatte Kanzler Jens es den Meerländern gesagt.

Ein halbes Jahr verging. Thorvald und die anderen meerländischen Ritter und Soldaten fanden ihr Lachen bald wieder. Nur Thorsten schien es für immer verloren zu haben. Zu groß war seine Trauer um seine Familie, um seine Gemahlin, die nur drei Tage seine Frau gewesen war. Zwar hatte niemand ihren Tod sicher bestätigen können, doch da es auch keine Nachricht von Überlebenden gab, die sich hatten retten können, mussten er und seine Männer annehmen, dass es keine anderen Meerländer mehr gab.

Er versuchte, seine Trauer in sich zu verschließen, doch je mehr er das tat, desto deutlicher wurde sie nach außen. Er mied gesellschaftliche Veranstaltungen, betrachtete den ungeheuren Verlust als Strafe Gottes für das, was er in Dalmatien und in Konstantinopel angerichtet hatte. Sein Haus stand am Meer, er selbst schaute von der Düne daneben so oft hinaus auf das Meer, dass er bald den Beinamen Meeresprinz bekam. Sein hellblauer Schild mit der goldenen Wappenrose darin beförderte dies noch. Doch er konnte das Meer nicht sehen, ohne um seine verlorene Familie zu weinen.

Gegenüber König Christian hatte er nicht erwähnt, dass er kurz davor gewesen war, König von Meerland zu werden. Er hatte es nicht getan, um nicht den Eindruck zu erwecken, nach dem Königsthron seines neuen Landes zu schielen. Aber gerade weil er beinahe König geworden war, hatte seine Mutter ihn in den Jahren der Abwesenheit seines Vaters und seiner Brüder zu einem verantwortungsbewussten Mann erzogen.

Der alte König Christian erkannte bald, was für ein grundzuverlässiger Mensch Thorsten war. Die Aufträge, die er Thorsten gab, erledigte der gewissenhaft und zuverlässig. Christian, der Treue mit Lohn und Ehre vergalt, erhob ihn zu Ostern 1206 zum Grafen von Frederiksmark, der Grenzprovinz zur heidnischen Provinz Wodanien, deren vorheriger Graf ohne Nachkommen verstorben war.

„Wenn Ihr noch einen Wunsch habt, Graf Thorsten, äußert ihn. Ich erfülle Euch jeden Wunsch, wenn ich es vermag“, ergänzte der König. Es war für den alten Herrscher ungewöhnlich, dass einer seiner Ritter niemals etwas für sich selbst verlangte. Doch Thorsten schüttelte den Kopf.

„Den einzigen Wunsch, den ich habe, mein König, kann mir nur Gott allein erfüllen. Ich weiß Eure unendliche Güte zu schätzen und danke Euch für alles, was Ihr für mich und meine Begleiter getan habt, seit wir herkamen. Es wäre unverschämt, darüber hinaus etwas zu begehren. Und was immer Ihr mir geben könntet – es könnte mir meine Ingrid nicht ersetzen“, erwiderte der junge Mann.

„Das verstehe ich, mein Sohn. Auch ich habe lange um meine Gemahlin und um meinen Sohn getrauert“, erwiderte der alte König verständnisvoll. „Dennoch solltet Ihr Euch der Welt nicht völlig verschließen. Ihr schließt Euch aus, vergrabt Euch in Eurer Trauer. Ihr seid mir zu jung dafür, den Rest des Lebens in Traurigkeit und Einsamkeit zu verweilen. Ein halbes Jahr steht Ihr nun in meinen Diensten, doch ich habe Euch noch nie lachen sehen. Gibt es denn überhaupt nichts, was Euch fröhlich stimmen könnte?“

„Wenn es mir einfällt, mein König, will ich es Euch gern sagen. Doch im Moment könnte mich der witzigste Gaukler nicht zum Lachen bewegen“, erklärte der neue Graf. Christian nickte.

„Ihr seid ein ehrenhafter und ernsthafter Mann, Thorsten. Wollt Ihr der Ehrenritter der Prinzessin beim Turnier am kommenden Sonntag sein?“, bot er an.

„Wenn Eure Enkelin durch meine Ernsthaftigkeit nicht in ihrer Feststimmung beeinträchtigt wird, gerne“, nahm Thorsten die hohe Ehre mit einer Verneigung an.

Der Sonntag kam. Thorsten holte Prinzessin Christine in ihren Gemächern zum Turnier ab. Der junge Ritter verneigte sich vor der Thronfolgerin, als eine der Hofdamen ihn zu ihr führte. Den schmachtenden Blick, den die Hofdame ihm zuwarf, ignorierte er vorsätzlich. Es schien ihm wie Ehebruch, sich auch nur ansatzweise mit einer anderen Frau zu befassen, während er genau genommen noch nicht einmal wirklich wusste, ob seine Frau tatsächlich tot war.

„Guten Morgen, Königliche Hoheit“, begrüßte er die Prinzessin. „Euer Großvater hat mich zu Eurem Ritter für dieses Turnier ernannt. Wollt Ihr mir erlauben, Euch zu Eurer Loge zu begleiten?“

Wenngleich der Ton freundlich war, zeigte sich nicht der Hauch eines Lächelns auf den ebenmäßigen Zügen des Prinzen. Christine schenkte ihm ein sanftes Lächeln, das normalerweise auf jeden ansteckend wirkte, der es sah, doch der traurige Ritter erwiderte es nicht.

„Man sagt, Ihr wärt ein tapferer Mann, Herr Thorsten“, lockte sie ihn.

„Es gibt Leute, die das behaupten, meine Prinzessin“, erwiderte er zurückhaltend. Ihr Lächeln wurde breiter.

„Ihr habt Euch bemerkenswert schnell angewöhnt, mich mit Königliche Hoheit oder meine Prinzessin anzureden. Ihr seid doch selbst ein königlicher Prinz“, wunderte sie sich.

„Das war ich einmal, Herrin. Das Reich, das mir diesen Titel gab, existiert nicht mehr“, entgegnete er mit einem bitteren Zug um den Mund.

„Ihr seid ein bedeutender Ritter meines Großvaters, Ihr seid ein Graf dieses Landes. Das wird hier nicht jeder“, gab sie zu bedenken. „Aber Ihr seid nicht glücklich. Braucht Ihr die Krone, um wieder lächeln zu können?“

Ihre Worte waren ein Stich in sein Herz. Er war hier, um dem König Thules zu dienen, nicht, um ihm oder seiner Thronfolgerin eben diesen Thron streitig zu machen.

„Selbst wenn ich die Krone Thules erlangen könnte – was nicht mein Recht ist – käme das Lachen wohl nicht wieder. Ich strebe sie nicht an, denn sie stünde mir nicht zu. Sie hätte mir nicht einmal in Meerland zugestanden, schließlich war ich der jüngste Sohn meines Vaters, hatte noch zwei ältere Brüder und habe zudem auf den Thron verzichtet, um meine Gemahlin heiraten zu können. Es trifft mich hart, wenn Ihr mir solches Streben vorwerft“, wehrte er gekränkt ab. Ihr Lächeln wurde strahlend.

„Ihr missversteht mich, Thorsten. Ich werfe es Euch nicht vor“, entgegnete sie und reichte ihm die Hand, damit er ihr vom Sitz aufhelfen konnte. Er tat es mit unbewegter Miene.

„Ich frage mich nur, wie um alles in der Welt Euch ein Lächeln abzuringen ist“, ergänzte sie. „Was geschehen ist, ist furchtbar, kein Zweifel. Doch es ist kein Grund, den Rest des Lebens auf das Lachen zu verzichten. Dafür seid Ihr ein viel zu junger und viel zu gut aussehender Mann. Meerland gibt es nicht mehr; aber es gibt Thule – und das ist nun Euer Zuhause, Prinz Thorsten.“

Er verneigte sich leicht, um sich weiter unter Kontrolle zu behalten.

„Ich war nie von überschäumender Fröhlichkeit. Selbst meiner Gemahlin war ich oft zu ernst“, sagte er.

„Eure Gemahlin?“, wunderte sich Christine. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass dieser Verlust dafür verantwortlich war, dass er das Lachen verloren hatte.

„Bitte, verzeiht mir“, bat sie. Er nickte.

„Wollt Ihr mir nun folgen, edle Prinzessin?“, fragte er. „Der König möchte gewiss das Turnier eröffnen.“

Ein hartes Schlucken mischte sich unter seine Worte.

„Ja, natürlich“, sagte sie und ließ sich von ihm zur königlichen Loge begleiten. Der Hofstaat der Prinzessin folgte ihr und ihrem Ritter.

Wie es sich für einen Untergebenen gehörte, blieb Thorsten vor der Loge stehen.

„Nun kommt schon herein, Prinz Thorsten!“, forderte sie ihn verwundert auf.

„Es könnte Gerede geben, Herrin. Ihr seid die Thronfolgerin, ich Euer Ritter. Es steht mir nicht zu, Eure Loge zu betreten“, wehrte er ab. Er wollte sich nicht in den Vordergrund drängen und andere, alteingesessene Adlige möglicherweise neidisch machen.

„Ich erlaube es Euch nicht nur, ich wünsche Eure Anwesenheit in meiner Loge!“, versetzte sie hoheitsvoll. Immer noch widerstrebend trat er ein und blieb hinter ihrem Hochsitz stehen.

„Nun setzt Euch wenigstens!“, forderte sie ihn auf.

„Hoheit, das muss ich ablehnen. Als Euer Ehrenritter obliegt mir der Schutz Eurer Person“, widersetzte er sich ihrem Wunsch. Seufzend schüttelte sie den Kopf und unterließ es, ihn weiter mit diesem Angebot zu bedrängen. Sie hatte das Gefühl, dass es ein Geheimnis um den Prinzen gab, von dem er fürchtete, dass es offenbar werden konnte, wenn er im Lichte allzu großer Öffentlichkeit stand.

König Christian eröffnete das Turnier, das mit den üblichen Einzelgestechen besonders hervorragender Ritter begann. Jedes Jahr eine Woche nach Ostern veranstaltete Thules König das Turnier um den Königspokal. Es war offen für die gesamte Ritterschaft Thules. Kaum jemand im thulischen Adel ließ sich dieses gesellschaftliche Großereignis entgehen.

Thorsten von Meerland stand aufmerksam, aber regungslos und anscheinend teilnahmslos seitlich versetzt hinter dem Hochsitz der Prinzessin Christine. Die Gesteche, die Massenkämpfe, auch Buhurt genannt, und die Schwertgefechte schienen ihn nicht zu interessieren.

Schließlich kam der Moment der Siegerehrung. Carsten von Fjordsand, der ältere Sohn des Herzogs Nils von Fjordsand, war der strahlende Sieger. Er empfing aus der Hand der Prinzessin den kostbaren Pokal. Sein Blick traf den in respektvollem Abstand hinter dem königlichen Hochsitz stehenden Thorsten.

„Oh, Euch gibt’s auch noch?“, spottete er. „Wohl, hinter dem königlichen Thron kann man sich gut verstecken, wenn man zum kämpfen zu feige ist.“

In Thorstens braunen Augen loderte Zorn auf, doch blieb er nach außen hin beherrscht.

„Königliche Hoheit, ich bitte Euch, mich für eine Stunde aus der Pflicht des Ehrenritters zu beurlauben, um Prinz Carsten für seine beleidigenden Worte zur Verantwortung zu ziehen“, bat er. Die Prinzessin sah ihn mit einem schelmischen Blick an.

„Und … wenn ich Euch … nicht … entlasse?“, fragte sie neckend.

„Dann müsste ich – gegen alle Regeln des Hofes – Prinz Carsten ohne Eure Erlaubnis verhauen. Vielleicht kostet es mich Eure Huld. Aber wenn ich ihn nicht zur Genugtuung zwinge, verliere ich meine Ehre. Das ist gewiss nicht in Eurem Sinne, Hoheit“, erklärte er. Sie antwortete nicht gleich, dafür lachte Carsten schallend.

„Sehr Euch diesen meerländischen Stiefellecker an! Ohne Erlaubnis geht es nicht! Hahaha!“, jubelte er. Sein höhnisches Lachen verstummte abrupt, als ihn ein heftiger Faustschlag am Kinn traf und er ohnmächtig zu Boden ging.

„Vergebt mein rohes Eingreifen, mein Prinz“, bat Thorvald grimmig knurrend um Nachsicht, wobei er den Titel besonders betonte. „Ich kann nicht zulassen, dass Euch dieser Schwätzer beleidigt.“

Thorsten schüttelte unwillig den Kopf.

„Aber dümmer konntet Ihr es nicht anstellen, Thorvald! Jetzt stehe ich auch noch als jemand da, der sich nicht selbst verteidigen kann! Jetzt kann ich mich mit der ganzen thulischen Ritterschaft schlagen!“, grollte er. „Wenn ich Eure Hilfe brauche, sage ich es Euch!“

Das hämische Grinsen in den Gesichtern der beiden Freunde, die Carsten zur Siegerehrung begleitet hatten, sagte alles.

„Hoho, Ihr werdet uns in der Tat Genugtuung für den heimtückischen Angriff Eures Dieners geben müssen!“, johlte Erik von Vikersborg.

„Ihr thulischen Grünschnäbel wagt es also nicht nur, meinen königlichen Herrn zu beleidigen, sondern auch noch mich. Hat Euch die Tracht Prügel im Schwertkampf noch nicht genügt?“, knurrte Thorvald. „Ihr seid in der Ehrenritterpflicht, mein Prinz, ich nicht. Zum Glück brauche ich keine Erlaubnis, um sie gleich zu verhauen!“

Damit drehte er sich um, packte die beiden jungen Adligen am Schlafittchen und warf sie in die Arena hinunter. Der bullige Waffenmeister hatte keine Mühe, beide Ritter allein mit seinen mächtigen Fäusten so zu verprügeln, dass sie für die nächste Zeit Schwierigkeiten haben würden, feste Nahrung zu sich zu nehmen.

Christine sah Thorsten strafend an.

„Und Ihr hindert Euren Waffenmeister nicht daran?“, fragte sie.

„Ich wüsste nicht, warum, Königliche Hoheit“, versetzte er. „Diese beiden Heißsporne haben es herausgefordert. Sie benehmen sich wie ungezogene Kinder, also behandelt er sie wie ungezogene Kinder. Ich denke nicht, dass es in Thule üblich ist, dass sich ein Ritter derart beleidigen lassen muss.“

„Und Prinz Carsten?“

„Ich werde ihn zum Zweikampf fordern, wenn er wieder zu sich kommt. Ich lasse mich nicht einen Feigling und Stiefellecker nennen!“, grollte er. Wenn bisher Traurigkeit der ständige Begleiter Thorstens gewesen war, kam jetzt noch Verletztheit hinzu.

König Christian hatte das Intermezzo an der Ehrenloge der Prinzessin zunächst nicht mitbekommen. Doch nun, als die beiden Adligen, die Thorvald niedergeschlagen hatte, weggetragen wurden, forderte dies auch die Aufmerksamkeit des alten Herrschers.

„Was geht hier vor?“, fragte er streng.

„Erbprinz Carsten hat mich beleidigt“, erklärte Thorsten ungerührt. „Thorvald hat in seiner Loyalität zu mir eingegriffen und Carsten niedergeschlagen. Dafür haben diese Herren, die gerade weggetragen werden, von ihm Genugtuung gefordert – und er hat sie ihnen gegeben.“

„In welcher Weise hat der Erbprinz Euch beleidigt, Graf Thorsten?“

„Er nannte mich einen Feigling, der sich hinter dem königlichen Thron versteckt und einen Stiefellecker, weil ich Eure Tochter um Entlassung aus der Ehrenritterpflicht bat, um Carsten für seine erste Beleidigung zur Rechenschaft ziehen zu können.“

„Wieso habt Ihr ihn nicht gleich gefordert?“, hakte der König nach.

„Weil Eure Majestät mich zum Ehrenritter der Prinzessin Christine ernannt haben. Als Ehrenritter darf ich die mir anvertraute Dame nicht ohne deren Zustimmung verlassen“, antwortete Thorsten. Der König schüttelte den Kopf.

„Ein Ritter hat es nicht nötig, sich die Erlaubnis für ein Duell zu holen, Graf Thorsten“, wunderte er sich.

„In Meerland war es so, auch in Italien und den deutschen Landen. Ich war der Meinung, dass diese ritterliche Regel auch in Thule gilt. Es wäre bedauerlich, wenn ich meine Ritterehre durch einen solchen Irrtum verlöre, mein König“, versetzte der Graf.

„Vor Erbprinz Carsten habt Ihr das Gesicht verloren“, erwiderte Christian, ohne auf Thorstens Vorhalt einzugehen. „Ihr werdet ihn an weiteren Beleidigungen nur hindern, wenn Ihr ihn erschlagt. Doch das werde ich nicht zulassen!“

„Dann entlasst mich aus Eurem Dienst! Ohne Ehre kann ich Euch nicht dienen!“

Der neue Graf spürte, dass er vor Wut zu zittern begann. Im selben Moment wachte Carsten auf, schüttelte sich, stand auf und spuckte Thorsten verächtlich vor die Füße. Bevor er sich versah, bekam er von dem derart Beleidigten in so rascher Folge Ohrfeigen, dass er rücklings aus der Loge stolperte und die Treppe hinunterstürzte. Am Treppenfuß blieb er reglos liegen. Einige der dort stehenden Adligen stürzten hinzu. Einer erhob sich und schüttelte die Faust in Thorstens Richtung.

„Mordbube! Prinz Carsten ist tot! Tod dem Meeresprinzen!“

Thorstens Blick fiel auf König Christian, der ihn geradezu finster ansah.

„Nur zu, Majestät“, sagte er. „Lasst mich töten, und Ihr begeht den Mord, den diese Leute mir anhängen wollen. Ich soll mich nicht beleidigen lassen. Gut. Aber wehren soll ich mich auch nicht. Ich soll für irgendwen oder irgendetwas zum Sündenbock gemacht werden. Ich weiß nur nicht, für was. Vielleicht könnt Ihr mir das sagen, mein König?“

Christian antwortete nicht, sondern winkte zwei Wachen.

„Einkerkern!“, befahl er. Doch zwei Wachen reichten nicht, um den sich heftig wehrenden Thorsten unter Kontrolle zu bekommen. Erst sechs der königlichen Soldaten konnten ihn überwältigen. Mit massiven Ketten gefesselt schleppten sie ihn ins Verlies der königlichen Burg. Weil er auch weiterhin nicht aufgab und erneut versuchte, sich den Männern zu entwinden, kaum dass er wieder etwas Bewegungsfreiheit hatte, ketteten die Wächter ihm die Hände einzeln und so weit voneinander entfernt an die Wand, dass er keine Chance hatte, die Handschelle der jeweils anderen Hand zu erreichen. Die Tür krachte ins Schloss. Abgesehen von dem schwachen Lichtschein, der durch ein kleines, vergittertes Fenster in die Zelle fiel, war es dunkel.

Ohne Tageslicht fehlte es an einer Orientierung, welche Tageszeit war. Thorsten hatte deshalb keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als Kanzler Jens sich die Zelle aufschließen ließ. Es kam ihm bereits wie eine Ewigkeit vor.

„Bringt ihn hinauf!“, befahl der Kanzler. Mit schweren Ketten gefesselt brachten die Wachen ihn in den Thronsaal hinauf.

Der König hörte die Zeugen an, die gesehen hatten, was sich zugetragen hatte. Je mehr Männer aussagten, desto klarer wurde für alle, die im Saal anwesend waren, dass Carsten Thorsten schwer beleidigt hatte; dass niemand dem Einwanderer mitgeteilt hatte, dass sich in Thule ein Ehrenritter am Turnier beteiligen konnte. Lediglich die unmittelbaren Gefolgsleute des Erbprinzen selbst wollten gesehen haben, dass Thorsten Carsten ohne jeden Grund gepackt und die Treppe hinuntergestoßen hatte. Von einem Wortwechsel wollten diese Zeugen überhaupt nichts gehört haben, was alle anderen Zeugen sichtlich in großes Erstaunen versetzte.

Umso erschrockener waren die meisten Anwesenden, als Christian den Aussagen der meisten Zeugen zum Trotz ein Todesurteil verkündete.

„Ihr, Thorsten, Graf von Frederiksmark, seid des Mordes an Prinz Carsten von Fjordsand schuldig. Als Mörder eines Fürstensohnes habt Ihr Euer Leben verwirkt. Ihr werdet am Tage nach Pfingsten hingerichtet. Da Ihr selbst adligen Standes seid, werdet Ihr enthauptet.“

„Na fein“, knurrte Thorsten. „Ich habe zwar nichts verbrochen, aber man kann mich ja mal eben einen Kopf kürzer machen. Bravo! Ich bekomme nicht mal die Gelegenheit, mich gegen die Vorwürfe zu verteidigen, geschweige denn, dass mir die Möglichkeit eines gerichtlichen Zweikampfes geboten wird. Wahrlich, das ist Gerechtigkeit!“

„Das Urteil ist gesprochen!“, entgegnete der König. „In den Kerker mit ihm!“

 

Kapitel 2

Zweite Instanz

 

 

Prinzessin Christine hatte den Schock von den schlimmen Ereignissen des Turniers erst einige Tage später halbwegs überwunden. Sie hatte Thorsten zwar in eine schwierige Lage gebracht, doch die war nicht unlösbar gewesen. Ein Duell hätte die Angelegenheit bereinigt. Vor allem konnte sie nicht begreifen, weshalb Thorsten des Mordes beschuldigt und dafür zum Tode verurteilt worden war, ohne dass er die übliche Möglichkeit bekommen hatte, sich mit einem gerichtlichen Zweikampf gegen die Vorwürfe zu wehren. Unter Adligen gab es kaum eine schlimmere Beleidigung, als jemandem vor die Füße zu spucken. Im schlimmsten Fall hatte sich der Graf gewehrt, im besten seine durch die grobe Beleidigung angegriffene Ehre verteidigen wollen.

Dass Carsten durch die Ohrfeigen die Treppe hinuntergestürzt war, war ein Unglücksfall gewesen. Es hatte – und das hätte die Prinzessin bei allen Heiligen beschworen – niemals in seiner Absicht gelegen, ihn durch die Schläge ins Gesicht zu töten. Sie suchte den Kerkermeister auf.

„Meister Olsen, lasst mich zu Graf Thorsten“, forderte sie ihn auf. Gehorsam schloss der Kerkermeister die Zelle auf und ließ die Prinzessin ein. Der Gefangene erhob sich von der harten Pritsche. Nach der Urteilsverkündung hatte man ihm die Handketten erlassen, doch dafür hatte er Beinketten, die eine Bewegung durch die Zelle bis etwa zehn Fuß vor die Öffnung der Kerkertür erlaubten.

„Guten Morgen, Graf Thorsten“, grüßte sie mit einem verlegenen Lächeln. Er drehte sich um und machte mit einem ausgefallenen Kalkstück einen schrägen Strich durch vier weiße, senkrechte Striche an der Wand hinter sich.

„Fünfter Tag“, sagte er leise. „Was wollt Ihr?“, wandte er sich mit zornigem Unterton an sie. „Habt Ihr mir noch nicht genug Schwierigkeiten gemacht?“

„Ihr seid verbittert – und das zu Recht“, sagte sie mit einer hilflosen Handbewegung. „Ich bin gekommen, um Euch um Verzeihung zu bitten.“

„Verzeihung wofür?“, knurrte er. „Dafür, dass Ihr mich in eine Situation gebracht habt, aus der es offensichtlich keinen Ausweg gab, weil jede Reaktion von mir falsch sein musste? Ich nenne es ein Meisterstück der Intrigantenkunst, Hoheit! Man enthielt mir offenbar absichtlich vor, dass ich mich als Ehrenritter gegen alle Gepflogenheiten der christlichen Welt sehr wohl am Turnier hätte beteiligen können und dass ich ebenso entgegen allen Üblichkeiten Eure Erlaubnis nicht benötigte, um diesem ungezogenen Bengel den Hosenboden strammzuziehen!“, fauchte er. „Ich habe Eurem Großvater treu gedient, seit ich herkam, und betrachtete es als wirkliche Ehre, Euch zum Turnier zu geleiten, obwohl ich mich gern um den Pokal beworben hätte. Ich habe auf die Teilnahme verzichtet, um der mir zugedachten Ehre gerecht zu werden. Es war eine grandiose Falle! Ich muss Euch beglückwünschen. Das haben nicht mal die Heiden fertiggebracht!“

„Ihr … seid nicht bereit, mir meine Verfehlung zu vergeben?“, fragte sie betroffen nach. Er zuckte grantig mit den Schultern.

„Was sollte es nützen, ob ich es tue oder nicht?“

„Ich seid doch Christ“, erinnerte sie. „Es heißt doch: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, zitierte sie das Vaterunser.

„Wunderbar, Hoheit!“, ätzte er. „Die eigene Nase ist auch zum Anfassen gut! Ich habe nichts getan, was von einem Ritter nicht zu erwarten wäre, dessen Ehre derart beleidigt wird! Dass meine Backpfeifen Carsten die Treppe hinunterstürzen ließen und er sich dabei wohl das Genick brach, war nicht meine Absicht! Ich habe nichts getan, was ein Todesurteil rechtfertigen würde! Wer müsste da wohl mit dem Verzeihen anfangen?“

„Bitte, Thorsten, begreift, dass es mir jedenfalls Leid tut. Es war nicht meine Absicht, Euch in den Kerker oder gar aufs Schafott zu bringen. Ich wollte Euch necken. Was daraus entstanden ist, wollte ich nicht“, bat sie nochmals um Verzeihung. Er ließ sich auf die Pritsche fallen und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Großer Gott! Womit habe ich das verdient? Ja, Herr, ich habe in Zara und in Konstantinopel gesündigt. Dafür hast du mir und meinen Gefährten schon die Heimat und unsere geliebten Frauen genommen. Ist das noch nicht genug Strafe? Forderst du jetzt für ein unglückliches Versehen auch noch mein Leben? Soll ich dafür ohne wirklich neue Schuld gerichtet werden?“

„Verliert Euch nicht in Selbstmitleid!“, schalt sie. Er sprang auf.

„Raus! Aber ganz schnell, bevor ich Euch an die königliche Gurgel gehe und mir die Hölle wirklich verdiene! Euch habe ich es zu verdanken, dass ich hier sitze und auf den Henker warte! Verschwindet!“, brüllte er sie an. Erschrocken über den Wutausbruch zog die Prinzessin sich zurück. Sie sah ein, dass sie mindestens an diesem Tag Thorstens Vergebung nicht erhalten würde und verließ den Kerker.

Thorstens Wut ließ ihr keine Ruhe. Sie wollte nicht, dass er unter dem Henkersbeil starb. Mit nichts hatte er den Tod verdient. Sie eilte zu ihrem Großvater.

„Bitte, Majestät: Lasst Gnade walten!“, flehte sie.

„Gnade für wen?“, fragte der alte König.

„Bitte, übergebt Graf Thorsten nicht dem Henker!“

Christian seufzte.

„Du weißt, was geschieht, wenn er nicht hingerichtet wird“, erwiderte er. „Herzog Nils wird den Tod seines Sohnes dann mit einem Krieg rächen. Deshalb muss Thorsten sterben.“

„Carsten war ein Lümmel, dem nie eine Grenze gesetzt wurde!“, widersprach die Prinzessin. „Thorsten hat nichts getan, was von einem Ritter, der übel beleidigt wird, nicht zu erwarten wäre. Ihr könnt ihn nicht für die Frechheit eines Carsten von Fjordsand büßen lassen!“

„Christine, du wirst diesen Thron erben, wenn ich tot bin. Dann wirst du einsehen, dass es Momente gibt, in denen man Zugeständnisse machen muss, um den Frieden zu erhalten“, erwiderte Christian.

„Welche Zugeständnisse habt Ihr Herzog Nils noch gemacht, über die ich vielleicht stolpern könnte?“, hakte sie nach. „Wie viele Unschuldige mussten schon für einen dreisten Frechling wie Carsten den Kopf hinhalten?“

„Das genügt jetzt, Christine!“, wies ihr Großvater sie zurecht. „Solange ich lebe, dulde ich keinen Ungehorsam!“

„Was ist ungehorsam daran, wenn ich wissen will, woran ich bin?“

„Schweig!“, donnerte der König. „Geh‘ mir aus dem Augen!“

„Wie Ihr wünscht“, knurrte sie. „Ich hoffe, Ihr entschließt Euch noch rechtzeitig, mir zu sagen, was ich als Eure Erbin wissen muss.“

Damit verließ sie den Thronsaal. Ihr war eine Idee gekommen, die einen Plan reifen ließ. Wie wäre es, wenn Thorsten ausbrechen könnte und vielleicht auf der Flucht getötet wurde? Es musste ja nicht stimmen – doch wenn der junge Graf und der Frieden damit gerettet werden konnten …

Sie kehrte in den Kerker zu Thorsten zurück. Erwartungsgemäß reagierte er abweisend.

„Was wollt Ihr noch von mir?“, grollte er.

„Hört … hört mich bitte wenigstens an, Graf Thorsten“, bat sie um Gehör. „Ich habe mit dem König gesprochen und musste hören, dass Ihr ein Opfer der Politik seid.“

„Und was sollte es mir nützen, das zu wissen? Tot ist tot!“, knurrte er. Sie lächelte sanft.

„Euer Tod wäre ein Zugeständnis an Carstens Vater, Herzog Nils, damit er keinen Krieg gegen meinen Großvater führt. Aber ich hätte eine Idee, wie Euer Leben geschont und der Frieden erhalten bleiben könnte“, erklärte sie.

„Und?“, forderte er sie zum Sprechen auf.

„Man könnte eine Regelung treffen, dass die Wächter Euch ausbrechen lassen und Herzog Nils erzählen, dass Ihr auf der Flucht umgekommen seid“, eröffnete sie ihren Plan. Er schüttelte den Kopf.

„Dann müssten die Wächter dafür bluten – und das wäre mir auch nicht recht, denn die können noch weniger dafür. Nils würde ihre Köpfe fordern, und Euer Großvater würde das mitmachen, um den Frieden zu erhalten“, entgegnete er. „Ich frage mich nur, was dieser Herzog noch alles fordern kann und bekommt, nur damit ein Frieden erhalten wird, den offenbar allein er mit seinen Drohungen gefährdet.“

„Wir haben Zeit bis Pfingsten. Das sind noch über vierzig Tage. Bis dahin fällt mir sicher etwas ein, wie Ihr am Leben bleiben könnt.“

Die Prinzessin versuchte, ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben, doch es wollte ihr nicht gelingen. Thorsten sah sie traurig an.

„Ich nehme an … als gute Enkelin und Erbin des Throns habt Ihr zunächst den legalen Weg gewählt und Euren Großvater um Gnade für mich gebeten, doch er hat abgelehnt, weil nur mein Tod Herzog Nils von seinen kriegerischen Absichten abhalten kann – nun, vorerst jedenfalls, bis ihm etwas neues einfällt“, mutmaßte er. „Nein, Christine, wenn Thule noch ein Weilchen inneren Frieden haben soll, werde ich mich von der Last meines Kopfes befreien lassen müssen. Ich danke für Eure Bemühungen.“

„Könnt Ihr mir …?“, setzte sie an. Er nahm ihre Hand und tätschelte sie leicht.

„Ist schon gut, ich hab’s begriffen. Eure Absicht war es nicht. Ich vergebe Euch“, sagte er.

„Danke, Prinz Thorsten! Ihr befreit mich von einer großen Last!“, sagte sie sichtlich erleichtert. Dann sah sie eine Weile zu Boden, weil sie seinem Blick nicht standhalten konnte.

„Mein Großvater … hat mir einen großen Gefallen erwiesen, als er Euch zu meinem Ehrenritter bestimmte“, ergänzte sie schließlich.

„Wieso eigentlich?“, wunderte er sich. „Sehr fröhlich bin ich nun wirklich nicht.“

„Nein, vielleicht nicht. Dafür seid Ihr aufmerksam und galant.“

Er schüttelte erneut mit steinernem Blick den Kopf.

„Gebt Acht, meine Prinzessin, dass Euch nicht die Äußerung eines stärkeren Gefühls für mich entrutscht. Ich glaube, ich wäre eine Enttäuschung für Euch“, warnte er.

„Habt Ihr das Eurer Gemahlin auch gesagt, bevor sie sich in Euch verliebte?“, hakte sie nach.

„Was bringt Euch auf die Idee, dass Ingrid und ich aus Liebe geheiratet haben?“

„Weil Ihr meinem Großvater gesagt habt, was immer er Euch geben könne, könne Euch Eure Ingrid nicht ersetzen.“

Er ließ ihre schmale Hand los und hielt sich an sich selbst fest. Er nickte.

„Ja, Ihr habt Recht. Es war Liebe – von beiden Seiten. Sie brauchte ich nicht vor mir zu warnen, denn wir kannten uns schon als Kinder. Ich war noch nicht mal sieben Jahre alt, da war ich schon wild entschlossen, sie zu heiraten. Sie hatte nur einen kleinen Schönheitsfehler: Sie war die Tochter unseres Hoflieferanten für Fisch. Ihr Vater, Meister Erik, fuhr mit seinem Fischerboot tagein tagaus hinaus auf die Westersee, um Fische zu fangen, die er ab dem späten Vormittag in einer Holzhütte am Hafen von Seeburg verkaufte. Meine Eltern haben das zunächst für das Hirngespinst eines kleinen Jungen gehalten und darüber herzlich gelacht. Es verletzte mich mehr, als ich wahrhaben wollte, doch ich verschloss diese Absicht in mir und sprach nicht mehr darüber. Als mein Vater vom Kreuzzug zurückkehrte, ermahnte er mich, dass ich endlich heiraten sollte. Ich packte die Gelegenheit beim Schopf und erklärte, dass ich Ingrid heiraten würde – oder überhaupt nicht. Ihr könnt Euch denken, was meine Eltern zu dieser Absicht sagten …“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich musste offiziell auf eine eventuelle Thronfolge verzichten“, fuhr er fort. „Die Möglichkeit war ohnehin sehr begrenzt, schließlich hatte ich noch zwei ältere Brüder, die verheiratet waren und auch Söhne hatten, aber meine Eltern – insbesondere mein Vater – bestanden darauf. Mein Vater ordnete auch an, dass ich die meerländischen Ritter in den nächsten Kreuzzug führen sollte, sofern der Papst noch einen ansetzen sollte. Und als wir endlich heiraten konnten, verkündete mein Vater während der Hochzeitsfeier, dass ich in drei Tagen zum Kreuzzug aufbrechen würde. Meine Gemahlin durfte mich weder begleiten, noch wurde sie als Prinzessin Meerlands anerkannt. Fünf Jahre war ich fort. Mein Vater verbot uns sogar die Rückkehr, als wir in Venedig erfuhren, dass die Flotte, die uns nach Akkon bringen sollte, erst gute zwei Jahre später fertig sein sollte. Ich weiß nicht einmal, wann Meerland fortgespült wurde. War es Tage oder Jahre bevor wir zurückkehrten? Gab es Überlebende? Wenn ja, wo sind sie? Ist Ingrid darunter? Ich weiß es nicht. Ich habe Ingrid sehr geliebt und für diese Liebe furchtbar gebüßt.“

„Glaubt Ihr, dass Ihr jemals wieder jemanden lieben könntet?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Das kann ich Euch heute nicht sagen. Zudem weiß ich nicht, ob ich für eine neue Liebe frei wäre. Schließlich habe ich keine Ahnung, ob meine Frau wirklich tot ist. Solange ich das nicht weiß, wäre es offiziell Ehebruch, wenn ich mich mit einer anderen Frau befassen würde. Abgesehen davon habe ich nach dem Willen Eures Großvaters ohnehin nicht mehr lange zu leben. Deshalb mache ich mir um eine neue Liebe keine Gedanken“, sagte er.

Christine begriff die ganze Tragik seines bisherigen Lebens. Für drei Tage Glück hatte er fünf Jahre Abwesenheit auf sich nehmen müssen, um dann bei seiner Rückkehr ein versunkenes Land vorzufinden … Und selbst für diese drei Tage war das Glück nicht ungetrübt gewesen, war der Abschied doch gewiss gewesen.

„Genügt Euch das?“, fragte er, als sie eine Weile nichts gesagt hatte. Wieder war diese unendliche Trauer in seiner Stimme. Sie nickte.

„Ich will sehen, was ich tun kann“, versprach sie und ließ ihn allein.

Sie hatte ihre Gemächer gerade erreicht, als sie eine ihrer Leibjungfern beauftragte, Thorstens Gefolgsleute Thorvald und Olaf zu ihr rufen. Die beiden Meerländer waren nach dem für sie gänzlich unverständlichen Todesurteil gegen ihren Prinzen nur mäßig begeistert, dem Ruf eines Mitglieds der königlichen Familie zu folgen, doch ihnen war auch klar, dass sie mit einer Weigerung nur noch größeres Unheil heraufbeschwören würden. Nachdem die Prinzessin ihnen erklärt hatte, dass sie Thorsten irgendwie retten wollte, löste sich das Misstrauen der beiden Einwanderer.

„Wir könnten ihn befreien“, schlug Olaf vor. „Das wäre das geringste Problem.“

„Ich habe mir gedacht, ihn ausbrechen zu lassen und Herzog Nils zu erklären, dass Thorsten auf der Flucht getötet worden sei“, sagte sie. „Aber der Graf selbst ist der Meinung, dass Nils dann die Köpfe der Wächter fordern würde. Das will er nicht.“

„Nun, wenn die Wächter gleichfalls bei der Jagd getötet werden …“, grinste Thorvald.

Während Christine mit den beiden Gefolgsleuten des Grafen einen Plan entwarf, um Thorsten ungefährdet entkommen zu lassen, ließen sich bei König Christian Boten von Herzog Nils melden. Der alte König ließ die Boten vor seinen Thron kommen.

„Seid gegrüßt, Sigmar von Fjordsand, Nils‘ Sohn. Welche Nachricht bringt Ihr?“, fragte er. Sigmar, der jüngste Sohn des Herzogs, verneigte sich knapp. Zu knapp, um wahre Ehrerbietung vor dem Landesherrn zu zeigen. Die anwesenden Höflinge sahen den stolzen jungen Mann verwundert an.

„Mein Vater, der Herzog Nils von Fjordsand, entbietet Euch seinen Gruß, Majestät. Er hat mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, dass Ihr den Mörder seines Sohnes Carsten zum Tode verurteilt habt. Er ist nur etwas … unzufrieden … dass der Mörder seiner gerechten Strafe noch nicht zugeführt wurde. Er verlangt, dass der Verbrecher innerhalb eines Tages hingerichtet wird“, erklärte Sigmar.

„Er mag auf den Kalender schauen, Herr Sigmar“, erwiderte der König. „Es ist Osterzeit. Euer Vater muss doch wissen, dass Hinrichtungen in der Osterzeit verboten sind!“

„Ihr seid der König! Es ist Euer Gesetz! Ihr könnt dieses Verbot mit einem Federstrich aufheben!“, widersprach Sigmar.

„Ich hebe ein Gesetz nicht auf, weil es einem meiner Vasallen missfällt!“, entgegnete Christian.

„Och, Ihr werdet doch nicht etwa Streit mit Eurem bedeutendsten Vasallen anfangen, Majestät?“, bemerkte Sigmar süffisant. „Ihr wisst doch, welche Macht Herzog Nils repräsentiert“, schob er eine Drohung nach. „Herzog Nils missfällt auch, dass Ihr dem Verbrecher sein Lehen noch nicht entzogen habt. Herzog Nils fordert es als weiteren Ausgleich für das Unrecht an seinem Haus.“

„Ach, tut er das?“, entgegnete König Christian. „Was … fordert … Euer Vater sonst noch?“

„Er verlangt, dass das eingezogene Lehen mir übertragen wird“, setzte Sigmar fort. „Und er ist auch mit der Art der Hinrichtung des schändlichen Verbrechers nicht einverstanden. Enthauptung ist viel zu gnädig, um damit den Tod des Erbprinzen zu sühnen. Herzog Nils verlangt, dass der Verbrecher gehängt, ausgeweidet und gevierteilt wird!“

Die anwesenden Höflinge zuckten erschrocken zusammen. Kanzler Jens sah den König entsetzt an.

„Sigmar!“, platzte er heraus. „Graf Thorsten ist von Adel! Ein Adliger wird seinem Stand angemessen enthauptet!“

„Für Euch Prinz Sigmar, Kanzler!“, wies Nils‘ Sohn den Kanzler zurecht. „Und wenn der Adelsstand einer anderen, wirklich angemessenen Hinrichtung im Weg steht, dann muss ihm der Adelstitel eben entzogen werden!“, fauchte er. Sein Blick wandte sich wieder dem König zu. „Da das Lehen ja ohnehin eingezogen wird, werdet Ihr diesem schändlichen Subjekt doch wohl auch den Adel aberkennen!“

König Christian biss die Zähne zusammen.

„Und was fordert Euer Vater noch – oder war das etwa schon alles?“

„Solltet Ihr Euch nicht in der Lage sehen, die Hinrichtung wie gefordert vollstrecken zu lassen, verlangt Herzog Nils die Auslieferung des Delinquenten, um die Hinrichtung mit eigener Hand zu vollstrecken!“

„Noch was?“, hakte der König nach.

„Ihr habt eine halbe Stunde Bedenkzeit, Majestät.“

Kanzler Jens sah den König mit einer Mischung aus Entsetzen und Beschwörung an, diesen Forderungen nicht nachzugeben. Christian schüttelte den Kopf.

„Das reicht“, sagte er. Er sprach leise, doch der Ton war so drohend, dass es mancher der Höflinge mit der Angst zu tun bekam.

„Seit mein Sohn im Kampf gegen die Heiden im Norden fiel, seit drei Jahren, stellt Euer Vater immer unmäßiger werdende Forderungen. Es fing damit an, dass seine Ritter und Soldaten nicht mehr dem königlichen Befehl unterstellt sein sollten. Angeblich, um die Grenzen besser schützen zu können. Dann wollte er den Tribut nicht bezahlen, sondern das Geld lieber in die Grenzverteidigung stecken. Er hat mir eine Münz-, Zoll- und Rechtshoheit abgenötigt, die über jedes Maß an Belehnung hinausgeht. Königliche Boten werden in seinem Herzogtum an der Ausübung ihres Auftrages gehindert. Leibeigene, die von meinen Vasallen und Untertanen nach Fjordsand geschickt werden, werden beschlagnahmt und an den Hof des Herzogs gebracht. Euer Vater presst benachbarten Vasallen Land ab und verlangt unter Androhung von Krieg von mir, diesen Raub zu legitimieren. Bis jetzt habe ich um des Friedens willen Augen und Ohren verschlossen, habe andere Vasallen um ihre Rechte gebracht und war auch bereit, den Mann zum Tode zu verurteilen, durch dessen Ohrfeigen Euer Bruder zu Tode kam. Aber diese Forderungen schlagen dem Fass den Boden aus! Nein, jetzt ist es wahrlich genug!“, fuhr der König den Boten erbittert an.

„Ihr habt bereits Zeit mit Eurem überflüssigen Gerede vergeudet, Majestät. Wollt Ihr tatsächlich Krieg?“

„Schluss!“, brüllte Christian. „Der Einzige, der Krieg will, ist Euer Vater! Jede seiner immer unverschämteren Forderungen begleitet die Frage, ob ich Krieg will! Nein, ich will keinen Krieg, aber Euer Vater will ihn, wenn er jedes Mal damit droht, falls seine Forderungen nicht widerspruchslos erfüllt werden! Geht und bestellt ihm, dass Thules König sich nicht länger erpressen lässt! Und bestellt ihm weiter, dass ich mir überlege, Prinz Thorsten zu begnadigen und ihm eine angemessene Entschädigung für das ihm angetane Unrecht zu gewähren. Und bestellt ihm weiterhin, dass er innerhalb des nächsten Monats den einbehaltenen Tribut bezahlen soll, denn ich habe bis heute keinen Beweis, dass er tatsächlich Grenzanlagen gebaut hat und sie unterhält.“

„Unrecht? Ich höre nicht recht! Dieser Verbrecher mordet meinen Bruder, den Erbprinzen von Fjordsand, Ihr verurteilt ihn gerechterweise zum Tode – und nun soll er Gnade erfahren?“

„Doch, Ihr hört recht!“, fauchte der König. „Ihr habt mich völlig richtig verstanden, Sigmar! Unrecht! Das Urteil habe ich allein deshalb gefällt, weil Euer Vater mir im Falle eines anderen Urteils mal wieder mit Krieg drohte. Wer immer vor mir zu den Ereignissen vom Turniersonntag gestanden hat, hat erklärt, dass es Euer Bruder war, der Thorsten in einer Weise beleidigt hat, dass er recht daran tat, ihn zu schlagen. Und jeder, der sich dazu geäußert hat, hat auch erklärt, dass es ein Unglücksfall war, dass Carsten die Treppe hinunterstürzte, dass Thorsten ihn keinesfalls erkennbar willentlich hinuntergestoßen hat. Der einzige Grund, weshalb ich entgegen dieser Aussagen ein Todesurteil gefällt habe, war die Forderung Eures Vaters, nicht königliche Gerechtigkeit! Aber das hat ein Ende!“

„Das wird dem Herzog missfallen“, bemerkte Sigmar. „Er wird Euch wohl nicht mehr gewogen sein, Majestät. Er könnte sich vielleicht weigern, den erlassenen Tribut doch zu begleichen.“

Das maliziöse Grinsen des jüngsten Prinzen von Fjordsand sagte alles.

„Ich bin alt, Sigmar. Meine Enkelin wird in nicht allzu ferner Zeit dieses Reich erben. Zu oft habe ich Eurem Vater nachgegeben. Bevor Christine diesen Thron erbt, werde ich die Verhältnisse in meinem Reich wieder geraderücken. Euer Vater entrichtet den Tribut innerhalb eines Monats oder er wird es bereuen!“

„Was wollt Ihr tun, falls er sich weigert?“

„Das wird er dann bemerken, Sigmar. Ich werde meine Pläne nicht einem unverschämten Lümmel offenbaren. Hinaus!“

„Majestät, ich mache Euch darauf aufmerksam, dass Herzog Nils auf dem Weg hierher ist. Und sollte er nicht ein bestimmtes Zeichen auf dem Söller sehen, wenn er den Hafen erreicht, wird er seinen … Erwartungen … durch Vernichtung der leider nicht in die sparsamen Burgmauern einbezogenen Hafens Nachdruck verleihen“, erklärte Sigmar. Jemand tippte ihm auf die Schulter. Der junge Prinz fuhr herum und stand vor dem hünenhaften Thorvald. Bevor er zurückzucken konnte, hatte der ihn schon am Schlafittchen gepackt.

„Und du Würstchen glaubst wirklich, dass du mit heilen Knochen aus dieser Burg kommst, wenn dein Vater den Hafen rupft? Für wie dumm hältst du eigentlich den König dieses Landes?“

Sigmar schnappte nach Luft und wollte eine hochnäsige Erwiderung geben, doch das zornige Knurren anderer Höflinge hinderte ihn.

„Ich danke Euch, Thorvald. Wachen – bindet diesen … Boten!“, befahl Christian. Anderen befahl er, Thorsten aus dem Kerker zu holen.

Wenig später waren die Wachen mit dem an den Händen gefesselten Thorsten zurück.

„Der Gefangene Thorsten von Frederiksmark!“, meldete der Posten. Der König winkte die Wachen mit dem Gefangenen nahe an den Thron.

„Ich habe Besuch von einem Boten von Herzog Nils von Fjordsand“, begann der alte König und nickte in Richtung des von zwei Soldaten bewachten Sigmar. „Der Herzog fordert Eure Auslieferung.“

„Dann, zum Teufel tut es!“, knurrte Thorsten. „Aber es wird nur ein Frieden für kurze Zeit sein, bis Nils weitere Forderungen stellt“, warnte er. „Mein Tod wird nicht die letzte Forderung sein, die dieser … Räuber … stellt, mein König! Eines Tages fordert er Eure Krone! Wollt Ihr ihm alles überlassen?“

„Mäßigt Euren Ton, Graf Thorsten!“, herrschte der König ihn an.

„Ich habe außer dem Leben nichts mehr zu verlieren – und dessen Ende ist bereits geplant!“, versetzte der Gefangene erbittert.

„Nicht ganz, denn Herzog Nils ist weder mit dem Zeitpunkt noch der Art der Hinrichtung einverstanden“, schmunzelte der König. „Und ich selbst auch nicht mehr. Nur gehen die Meinungen darüber recht weit auseinander.“

„Mir wird also nicht mehr die meinem Stand angemessene Hinrichtung gewährt“, stellte Thorsten resigniert fest. „Ich bin enttäuscht, wie schwach Ihr seid, Majestät! Ihr habt den Zeitpunkt verpasst, Nils in die Schranken zu weisen.“

Der König lächelte amüsiert.

„Nicht ganz, mein Sohn, nicht ganz. Es gibt jemanden, der wütend genug ist, Herzog Nils seinen Platz zu zeigen.“

„Wer sollte das hier sein, wenn nicht einmal der König den Mut dazu hätte?“, fragte der Graf verblüfft nach. Christian stand auf und stieg mit einiger Mühe die Stufen zu dem jungen Mann hinunter, der dem König auch mit gefesselten Händen helfen wollte.

„Ihr, wer sonst?“, grinste der König breit.

„Ihr habt mich zum Tode verurteilt“, erinnerte Thorsten.

„Ich hebe dieses Urteil auf“, sagte der König. „Jens!“

Der Kanzler trat hinzu und gab Christian eine Pergamentrolle. Der entrollte sie und zeigte den Inhalt Thorsten.

„Lest!“

Es war das Todesurteil. Der Graf las es mit steinerner Miene. Schließlich rollte der alte Mann das Pergament wieder zusammen.

„Ihr wisst, dass es von einem solchen Urteil nur diese eine Ausfertigung gibt?“, fragte er. Thorsten nickte schweigend.

„Dann seht, was mit dieser einzigen Ausfertigung Eures Todesurteils geschieht“, ergänzte er, stieg recht mühsam die drei Stufen zum Thron wieder hinauf und steckte die Pergamentrolle in ein neben dem Thron stehendes Kohlebecken, in dem ein wärmendes Feuer brannte. Die brennenden Kohlen setzten das Schriftstück in wenigen Augenblicken in Brand.

„Ich gestehe, das ist einer der schönsten Anblicke der letzten Zeit“, sagte Thorsten leise. Der König drehte sich wieder zu ihm um.

„Damit seid Ihr nicht begnadigt, das Urteil existiert nicht“, sagte er. „Für Eure Zeit im Kerker lasse ich mir eine passende Entschädigung einfallen. Nehmt ihm die Ketten ab!“

Die Wachen traten wieder zu Thorsten. Einer schloss die Ketten auf, der andere nahm sie ihm ab.

„Mein Urteil war ungerecht und feige“, gestand Christian und ließ sich mit einem unterdrückten Stöhnen auf den Thron sinken. „Ich weiß nicht, ob es nur Eure hoffnungslose Situation war, die Euch den Mut gab, mir derart die Meinung zu sagen. Doch Ihr habt Euch schon öfter als mutiger Kämpfer erwiesen. Und weil ich Euch so grobes Unrecht antat, bitte ich Euch, eine Bedrohung von Drakavik abzuwenden.

„Steht Nils schon vor dem Tor?“

„Vor den Hafenanlagen, um genau zu sein“, schaltete sich Kanzler Jens ein, der mit der Entwicklung vollkommen zufrieden schien.

„Schwer zu verteidigen“, bemerkte Thorsten. „Habe ich noch die Zeit, mich vom Kerkerdreck zu bereinigen?“

Jens schüttelte den Kopf.

„Ich fürchte, Ihr müsst ungewaschen in die Rüstung“, erwiderte er. „Nils hatte mit seinem Sohn Sigmar ein geheimes Zeichen verabredet, das Sigmar vom Söller geben wollte, wenn Eure Auslieferung bestätigt sei. Da es nicht gegeben wurde, dürfte Nils den Hafen bereits angreifen.“

„Das nennt man, glaube ich, Hochverrat“, sagte Thorsten grimmig. „Ich rüste mich umgehend.“

Er verneigte sich vor dem König und verließ mit schnellen Schritten den Thronsaal.

„Thorvald, seid doch so gut und befördert Prinz Sigmar in den Kerker“, ließ sich der König vernehmen.

„Mit dem größten Vergnügen, Majestät!“, erwiderte der Hüne. „Aber … bevor ich das tue, sollte dieser unverschämte Patron sich angemessen von Euch verabschieden, mein König.“

Er zwang Sigmar in grob in die Knie.

„So verabschiedet man sich von seinem König!“, knurrte er, überließ Sigmar kurz Olaf, um sich selbst mit einer Kniebeuge vom König zu verabschieden, dann packte er mit Olaf den Prinzen von Fjordsand. Zu zweit schleppten sie ihn in den Kerker.

 

Kapitel 3

Annäherung

 

 

Thorsten hatte gerade den Thronsaal verlassen, als der Herold Prinzessin Christine meldete. Sie hatte mit Thorvald und Olaf einen nahezu perfekten Fluchtplan ausgeheckt, wollte aber die grundsätzliche Zustimmung ihres Großvaters haben. Dass das schreckliche Urteil aufgehoben war, wusste sie noch nicht. Christian, der auch schon Thorsten ein wenig hatte zappeln lassen, erlaubte sich mit seiner Enkelin einen ähnlichen Scherz und ließ sie ihren Plan zunächst vortragen.

„Was du vorhast, ist ein großer Betrug“, sagte er, als sie es ihm erzählt hatte.

„Aber es ist die einzige Lösung, wenn auf Thule nicht die Schuld eines Justizmordes lasten soll!“, bekräftigte sie.

„Nicht unbedingt“, entgegnete Christian mit hintergründigem Lächeln.

„Was meint Ihr, mein König?“

„Herzog Nils hat Thorstens Auslieferung gefordert, um ihn durch hängen, ausweiden und vierteilen hinzurichten. Er hält das für die einzig angemessene Strafe“, erklärte der König. Die Prinzessin erbleichte und sank vor dem Thron auf die Knie.

„Nein, Großvater! Das dürft Ihr nicht tun! Und wenn ich dafür auf mein Thronfolgerecht verzichte! Tut das nicht! Bitte, ich flehe Euch an: Lasst Gnade walten!“

„Bedeutet dir das so viel?“

„Ja.“

„Hast du einen Grund für dein Flehen?“, fragte der König mit einem Blick zur Saalpforte, wo eben gerade Thorsten fertig gerüstet in Begleitung seiner Heerführer erschien. Eine knappe, kaum sichtbare Handbewegung des alten Königs ließ die Männer stehenbleiben.

„Es … es mag Euch unglaublich erscheinen, aber …“, stotterte Christine.

„Nun?“, fragte der König mit gespielter Strenge. „Liebst du ihn etwa?“

Sie wand sich noch einen Moment, dann nickte sie.

„Ja“, gestand sie.

„Aha! Wie lange schon?“

„Schon seit dem Tag, als ich Euch bat, mir diesen ebenso tapferen wie … wie schönen … Ritter als Ehrenritter zum Turnier zu geben“, brachte sie mühsam hervor, als gestände sie ein schreckliches Verbrechen.

„Weiß er das?“, hakte Christian nach, dem nicht entging, dass Thorsten einen Anflug von Röte bekam.

„Nein, Majestät. Ich mochte mich ihm nicht aufdrängen, weil er noch trauert.“

Der König erhob sich, worauf alle im Thronsaal Anwesenden das Knie beugten. Langsam, weil ihm seine schmerzenden Knochen den Dienst zu versagen drohten, stieg er zu seiner Enkelin hinunter und half ihr auf.

„Christine, mit deiner Bitte kommst du zu spät“, sagte er.

„Nein!“, schrie sie auf. „Wie konntet Ihr nur so grausam sein?“

Sie schien einer Ohnmacht nahe.

„Herr Ritter, wollt Ihr die Prinzessin bitte stützen?“, winkte er Thorsten herbei. Waffenklirrend eilte er vor den Thron, wo er Christine gerade noch auffangen konnte.

„Du kommst zu spät, weil ich Thorsten bereits von diesem Urteil befreit habe“, schmunzelte Christian, dass sein weißer Bart vor Vergnügen wippte. Die Prinzessin rang eine Weile nach Luft.

„Ihr habt eine seltsame Art, einem gute Nachrichten zu überbringen, mein König“, ächzte sie, während sie sich dem verlässlichen Griff des zu Hilfe gerufenen Ritters überließ.

„Und wo ist er jetzt? Ist er immer noch im Kerker?“, fragte sie, als sie sich etwas erholt hatte. König Christian konnte sich vor Lachen kaum noch halten.

„Nein, ist er nicht“, hörte Christine leise von hinten. Die Stimme klang vertraut und warm, doch die Prinzessin mochte noch nicht glauben, was sie hörte, meinte, ihre Fantasie ginge mit ihr durch. Die Aufregung war zu viel. Sie wurde ohnmächtig.

Thorsten schüttelte nur noch den Kopf.

„Sehr feinfühlig seid Ihr nicht, Majestät“, rügte er. Der König lachte laut.

„Sie scheint sich in Euren Armen sehr wohl zu fühlen. Hütet sie gut“, sagte er schließlich. „Und dann rettet vom Hafen, was davon noch zu retten ist!“

„Wie mein König befiehlt“, bestätigte Thorsten mit einer knappen Verbeugung. Mit einer Kopfbewegung holte er seinen Diener Arne herbei.

„Mach‘ mir die Türen auf!“, wies er ihn an. „Ole, du suchst alle zusammen, die ein Schwert führen können. In zehn Minuten reiten wir!“

„Zehn Minuten?!“, keuchte der Knappe.

„Wenn vom Hafen noch was übrigbleiben soll … Los, beeil‘ dich!“

Ole rannte eilig zu den Stallungen, Arne öffnete seinem Herrn die Türen bis zum Gemach der Prinzessin. Thorsten legte sie behutsam in ihr Bett, nahm ihre Hand und drückte einen beinahe scheuen Kuss darauf.

Auf Oles Alarm hin hatten sich die Ritter und Reisigen* in rekordverdächtiger Zeit gerüstet, die Stallknechte hatten die Pferde gesattelt. Als Thorsten in die großen königlichen Stallungen kam, waren die Männer bereit. Er schwang sich behände in den Sattel, zog das Schwert und stieß es gerade nach oben.

„Für Gott und König Christian!“, rief er. Vielstimmiger Jubel antwortete ihm. Die Torwächter öffneten das Haupttor und Thorstens Heerbann sprengte im Galopp hindurch und eilte zum Hafen. Von dort zeigten schwarze Rauchwolken, dass Herzog Nils seinen Verrat bereits begonnen hatte.

Mit allem mochte Nils von Fjordsand gerechnet haben, aber nicht mit dem Umstand, dass ausgerechnet Thorsten von Frederiksmark die königlichen Truppen führte. Die eher leicht gerüsteten königlichen Soldaten brachen wie die Racheengel in die Reihen der herzoglichen Truppen ein. Thorsten attackierte gezielt den Bannerträger des Herzogs. Der Mann wehrte sich geschickt, aber gegen den zornigen Grafen von Frederiksmark hatte er nur kurz überhaupt eine Chance. Die Fahne fiel, doch Einar, ein Neffe des Herzogs bekam sie im letzten Moment zu fassen und hielt sie mit der Schildhand wieder hoch. Ein fürchterlicher Schlag traf den Wappenschild des jungen Ritters. Einars Augen weiteten sich erschrocken, als er über dem Schildrand Thorstens wütendes Gesicht sah. Noch nie hatte er derart zornige Augen gesehen. Schwarz wie Basalt waren sie. Gegen die harten, präzisen Hiebe des Meerländers konnte er sich nicht lange wehren, dann traf ihn der tödliche Streich.

Herzog Nils sah seinen Neffen fallen. Ein Schrei voller Schmerz und Zorn entrang sich ihm, der das Klirren der Waffen, das Schreien der Verwundeten und Sterbenden und das Stampfen der Pferdehufe übertönte.

„Mörder!“, brüllte er.

„Verräter!“, schrie Thorsten zurück und wandte sich dem Herzog selbst zu. In dem Moment, als ihre Klingen sich trafen, verstummte wie auf Kommando in ihrer unmittelbaren Umgebung die Schlacht.

„Du wirst den Tod meines Sohnes und meines Neffen büßen!“, donnerte Nils, der sich noch einmal von Thorsten absetzte.

„Du wirst für deinen Verrat und deine fortwährende Erpressung unseres Königs bezahlen“, versetzte Thorsten zornig. Sie preschten aufeinander zu, trafen sich, hieben aufeinander ein, dass die Funken sprühten. Thorstens Langschwert traf den eisenbewehrten Holzschild des Herzogs so unglücklich, dass er in zwei Teile zerbrach und der Herzog ohne Deckung war. Nur mit dem Schwert allein konnte Nils sich nicht vor dem Hagel von Schlägen decken, die auf ihn einprasselten. Von vielen Wunden gezeichnet wendete er sein Pferd und versuchte, zu entkommen, aber Thorsten war schneller. Sein Hieb erwischte den Herzog gerade noch am Rücken und warf ihn schwer verwundet aus dem Sattel. Der königliche Heerführer konnte sein Pferd gerade noch stoppen, bevor es über den zu Boden gegangenen Nils hinweg trampeln konnte. Er drehte auf der Hinterhand um, das Schwert hocherhoben.

„Wer ist der nächste?“, rief er.

Den Fjordsandern sank der Mut. Ihre Fahne war verloren, ihr Herzog kampfunfähig, dessen Neffe und viele andere gefallen. Sie ließen ihre Waffen fallen und ergaben sich.

Die königlichen Soldaten sammelten die Waffen ein, während die Fjordsander im Unterzeug die von ihnen gelegten Brände selbst löschen mussten.

Die Sonne versank gerade hinter den Hügeln im Westen, als Thorsten und seine Männer die Gefangenen im Triumph nach Drakavik brachten, darunter auch der verwundete Herzog. Die königlichen Soldaten hatten recht wenig Verluste erlitten.

König Christian ließ Thorsten und seine Heerführer gleich in den Thronsaal kommen. Verschwitzt, blutbespritzt, mit verbeultem Helm standen diese Männer vor ihrem König.

„Tapfere Ritter Thules, ich beglückwünsche Euch. Ihr habt einen schlimmen Verrat beendet. Graf Thorsten, tretet vor!“

Der junge Mann tat, wie ihm geheißen.

„Kniet nieder!“, forderte der König ihn auf. Gehorsam sank der Graf auf die Knie.

„Euer Schild … hat sehr gelitten, mein Sohn. Ich möchte, dass Ihr künftig diesen benutzt.“

Christian wies auf den Schild mit dem königlichen Wappen Thules. Der Schild war weiß, darin ein blau gerändertes goldenes Kreuz mit einem zum Schildhaupt verschobenen Querbalken und einem blauen Schiff in der Oberecke. Thorsten glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Er sollte den Königsschild bekommen? Doch bevor er etwas sagen konnte, forderte Christian sein Schwert. Thorsten gab es ihm.

„Ein wirklich gutes Schwert; eines Grafen, sogar eines königlichen Prinzen würdig“, sagte Christian. „Doch Euch gebührt mehr. Ihr werdet keinen Kampf mehr ohne dieses Schwert hier bestreiten.“

Er winkte dem Kanzler, der ihm das königliche Schwert reichte.

„Mein König, das meint Ihr nicht ernst!“, bremste Thorsten, als Christian ihm das Schwert übergeben wollte. „Dieses Schwert gebührt allein Thules König – das bin ich nicht.“

Christian legte das kostbare Schwert auf seinem Schoß ab und strich sich schmunzelnd durch den Bart.

„Ich traue meiner Enkelin viel zu, mein Freund – aber ich nehme nicht an, dass sie jemals ein Schwert führen wird“, sagte er. „Sie wird einen vertrauenswürdigen Heerführer benötigen, wenn sie mich beerbt; einen Heermeister, der ihr treu ist und den sie sowohl als Ritter als auch als Mann schätzt. Ihr seid beides. Deshalb verknüpfe ich dies auch mit der Bedingung, dass Ihr um die Hand der Prinzessin anhaltet.“

„Als gehorsamer Diener meines Königs will ich das tun“, versprach Thorsten.

„Es scheint Euch nicht zu freuen, edler Thorsten“, mutmaßte der König.

„Missversteht mich bitte nicht, mein König. Ich bin kein fröhlicher Gesellschafter. Eure Erbin könnte sehr enttäuscht sein von mir. Und ich hoffe, dass sich nicht andere Grafen Eures Landes brüskiert fühlen, weil Ihr ihnen einen Meerländer vorzieht.“

Christian lächelte sanft.

„Ihr seid kein Meerländer mehr, denn Meerland existiert nun einmal nicht mehr. Ihr seid ein thulischer Graf, mein Freund, der nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte hat. Ihr macht mir davon zu wenig Gebrauch, mein Junge. Und eines Tages, dessen bin ich sicher, findet Ihr auch Euer Lachen wieder. Erhebt Euch!“

Der junge Graf stand auf.

„Ich kenne niemanden außer Euch, der es fertigbringt, direkt aus dem Kerker auf das Schlachtfeld zu reiten und auch noch siegreich zu bleiben. Wer, wenn nicht Ihr, könnte eine Königin erfolgreich stützen?“, ergänzte der alte König.

„Majestät, derlei Lob höre ich nicht gern, wenn es mir allein gilt. Ohne meine Ritter und Soldaten wäre ich nicht viel wert. Mein Erfolg war grenzenlose Wut darüber, dass ich einige Tage schuldlos mit einem Todesurteil in meinem Nacken im Kerker gesessen habe. Der arme Herzog Nils war nur der Erste, an dem ich meine Wut auslassen konnte. Doch ich hoffe zuversichtlich, dass Ihr oder Eure Erbin mich nun nicht vor jedem Kampf einsperrt und droht, mir den Kopf abzuschlagen.“

Der Ton war beinahe fröhlich, aber es zeigte sich nicht der Hauch eines Lächelns auf Thorstens müdem Gesicht. Seine Augen hatten dennoch eine hellere Schattierung, schienen fast zu leuchten. Der König lächelte dafür umso breiter.

„Ich bleibe dabei: Eine tapferere Stütze als Euch kann eine Königin nicht haben. Und wenn Ihr eines Tages Euer Lachen wiederfindet, wird es auch niemanden geben, der Euch einen Ehrenplatz neben ihr neiden wird“, prophezeite er. „Ihr seid müde vom Kampf. Ruht Euch aus. Euren Sieg feiern wir morgen, wenn Ihr und Eure Männer Euch erholt habt.“

Der Heerführer und seine Männer verneigten sich und zogen sich zurück.

Als er sich in den Gasträumen der Burg befand, bemerkte Thorsten, wie müde er tatsächlich war. Er rief nach seinem Diener, der ihm aus dem Kettenanzug half.

„Arne, richte mir bitte ein Bad“, sagte er.

„Sofort, Herr. Heiß wie immer?“

„Ja, nur brüh‘ mich nicht ab“, erwiderte der Graf.

Es dauerte eine Weile, bis Arne das Badewasser erhitzt hatte. Thorsten nutzte die Zeit, um den Bart zu stutzen, was seit seiner Verhaftung unterblieben war. Die Tage im Kerker hatten sehr an ihm genagt, wie er erschrocken feststellte. Eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass er in diesem eher geschwächten Zustand Nils und seine Männer derartig hatte verdreschen können. Sorgsam kürzte er den Bart, bis er kurz, aber immer noch weich genug war, um zarte Frauenhaut nicht zu misshandeln. Wenn er um die Prinzessin werben wollte, sollte er nicht zu stachlig sein …

Schließlich kam Arne und meldete, dass das Bad bereit war. Thorsten entledigte sich des leinenen Unterzeugs und ließ sich seufzend in das heiße Wasser gleiten. Er ließ sich von Arne nur den Rücken waschen, bat ihn, das Badetuch in greifbare Nähe des Badezubers zu legen und entließ den Diener dann. Eine Weile träumte er im warmen Wasser, begann dann, sich sorgfältig zu waschen. In Konstantinopel hatte er sich angewöhnt, wenigstens zweimal in der Woche ausgiebig zu baden und sich sonst vor dem Schlafengehen und nach dem Aufstehen gründlich zu waschen. Wenn sich die Möglichkeit bot, badete er täglich. Im Regelfall ging er auch nicht ungewaschen in die Schlacht. Der Kampf an diesem Tag stellte eine für ihn unrühmliche Ausnahme dar, die er gar nicht erst in die Nähe der Regel kommen lassen wollte.

Irgendwann hatte er das Gefühl, er werde beobachtet. Ärgerlich verwarf er die Ahnung – und wusste nicht einmal, dass seine kriegsgeschärften Sinne ihn nicht trogen. Der scheue Beobachter hatte den badenden Meeresprinzen mehr zufällig entdeckt, konnte den Blick aber nicht mehr von der gefälligen Erscheinung des jungen Mannes abwenden. Durch ein Loch in der Wand, das sie an diesem Tag selbst zum ersten Mal sah, schaute Prinzessin Christine dem Mann, dem ihre Sorge der letzten Zeit gegolten hatte, beim Bad zu.

Die Jahre, seit er Meerland verlassen hatte, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Auf seiner nassen Haut zeigten sich deutlich einige Narben, die auch auf rüde Behandlung als Gefangener schließen ließen. Am linken Oberarm zeichnete sich gut erkennbar ein Halbmond ab. Es gab einige arabische Sklavenhändler, die ihre „Ware“ so kennzeichneten, das war sogar im isolierten Thule bekannt.

Christines Blick glitt weiter über Thorstens ansehnlichen Körper. Unter der Haut präsentierten sich kräftige Muskeln, die von keinem Lot* Fett zu viel umgeben waren. Ein leises Seufzen entrang sich ihr. Eine künftige Königin durfte einem Gast ganz gewiss nicht bei einer so intimen Angelegenheit wie einem Bad nachspionieren! Es schien ihr, als horche der Badende gespannt auf. Sie wurde stocksteif in ihrem Versteck aus Sorge, er könne sie bemerken. Ihrer Meinung nach schlug ihr Herz so laut, dass er es hören musste. Erst, als er sich wieder etwas entspannte, beruhigte auch sie sich wieder. Sie war wohl doch unentdeckt geblieben.

Thorsten konnte das Gefühl, beobachtet zu werden, einfach nicht loswerden. In seiner Ruhe gestört, ohne dass jemand anwesend war, spülte er sich den Seifenschaum vom Körper und stieg aus dem Bad. Bevor er sich ganz in das große Badetuch eingewickelt hatte, präsentierte er sich, ohne es zu ahnen, hüllenlos seiner neugierigen Gastgeberin.

Sie ging wieder in die Schockstarre, als er direkt zu ihr herüberblickte. Ihr blieb die Luft weg, als sie ihn splitterfasernackt in seiner vollen Schönheit sah. Was sie zu sehen bekam, ließ keinerlei Wünsche offen. Die schon länger vorhandene Sehnsucht der Prinzessin bekam neue Nahrung. Ihre heimliche Liebe zu Thorsten war in der letzten Zeit immer stärker geworden. Sie hatte ihm viel Gutes erwiesen in der Hoffnung, er würde ihre Zuneigung erkennen und erwidern. Bislang hatte er eine deutliche Distanz gehalten, hatte sich ganz als der bescheidene Untergebene gezeigt. Für einen Mann, der selbst Sohn eines Königs war, war dies mindestens ungewöhnlich.

Das Wenige, was sie während seiner Kerkerhaft über ihn erfahren hatte, hatte ihr zwar den Grund für seine Distanz und seine Freudlosigkeit verraten, doch gleichzeitig hatte dies auch den Wunsch in ihr geweckt, diese Gründe zu beseitigen. Wenn er wieder liebte, so hoffte sie, würde er vielleicht seine Distanz aufgeben und sein Lächeln wiederfinden.

Doch sie fragte sich, wie sie an ihn herankommen sollte, solange er sich verschloss und sich in die Einsamkeit seines Hauses zurückzog. Es war ihre Idee gewesen, ihn beim Turnier nahe bei sich zu haben. Sie hatte gehofft, ihn in ein weniger formelles Gespräch zu verwickeln, ihn aufzumuntern. Das fatale Ende dieses Turniers hatte ihn aber wohl noch tiefer in seiner Bitterkeit versinken lassen. Doch das tiefe Gefühl in Christine war durch Thorstens Unglück noch stärker geworden.

Er trocknete sich ab, wickelte sich das Badetuch schließlich um die Hüften und rief nach Arne, der auch umgehend erschien.

„Herr?“, fragte er mit einer Verbeugung nach dessen Begehr.

„Du kannst das Bad auslassen, Arne“, sagte der Graf.

„Ihr seid schon fertig, Herr?“, wunderte sich der Diener. „Sonst badet Ihr doch viel länger.“

„Ich bin einfach müde, Arne. Danke für das Bad“, erwiderte Thorsten mit einem unterdrückten Gähnen.

„Sehr wohl. Habt Ihr noch einen Wunsch, Herr?“

„Nein … ah, doch. Sieh doch mal nach meinem linken Oberschenkel. Irgendwas zwickt mich da hinten.“

Von ihrem Versteck aus beobachtete die Prinzessin, dass der Diener das Bein seines Herrn akribisch untersuchte. Niemals zuvor hatte sie sich so sehr in die Rolle eines Dieners gewünscht wie in diesem Augenblick. Sie konnte sehen, dass Arne eine kleine Wunde fand, kurz fortging, mit einem Tiegel und Verbandleinen zurückkehrte, die Wunde mit Salbe behandelte und schließlich verband.

„Danke, Arne“, hörte sie den Prinzen sagen.

Der Diener meinte, aus dem Tonfall herauszuhören, dass seinen Herrn noch etwas anderes zusetzte.

„Euch plagen Sorgen, Herr“, stellte er fest. Thorsten seufzte.

„Nein, ich bin nur müde, sonst nichts. Du wirst auch erschöpft sein. Ruh‘ dich aus, Arne“, erwiderte er. Der Diener lächelte verbindlich.

„Ich will Euch gestehen, dass ich vorhin, als Ihr noch beim König wart, etwas geschlafen habe“, sagte er.

„Auch gebadet?“

„Ja, Herr.“

„Geh‘ jetzt schlafen. Der Tag war anstrengend“, entließ Thorsten den Diener.

„Danke, Herr.“

Arne räumte das Bad fort und verließ das Gemach. Der Graf zog die Vorhänge des Himmelbettes auf. Er nahm das Badetuch von den Hüften, das er neben dem Bett fallen ließ, sank mit einem genüsslichen Seufzen auf das bequeme Lager und zog die Bettdecke über seinen nackten Körper. Im nächsten Moment war er auch schon in den tiefen Schlaf der Erschöpfung gefallen.

Christine wartete noch eine Weile, bis die tiefen, regelmäßigen Atemzüge des Prinzen verrieten, dass er fest schlief. Sie hatte die Geheimtür entdeckt, die in das Gastgemach führte. Leise öffnete sie die Tür und trat in die Zimmerflucht ein. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Bett und setzte sich ganz vorsichtig auf die Kante, um ihn nicht zu stören. Einige Zeit saß sie einfach nur da, sah den heimlich geliebten Mann an. Der Mond ging auf. Er war voll, weil an diesem Tag, drei Wochen nach Ostern, erneut Vollmond[2] war. Das helle Mondlicht fiel durch das Balkonfenster und tauchte das große Himmelbett in zauberhaftes Licht.

Ohne es wirklich zu wollen, streichelte die Prinzessin über Thorstens bärtiges Gesicht. Sein kurzer Bart fühlte sich wunderbar weich an. Ihr zärtliches Tun zauberte ein Wunder herbei: Er lächelte. Abgesehen von einem Lächeln, das er sich bei ihrer ersten Begegnung noch hatte abringen können, das aber zu kurz gewesen war, um eine bleibende Erinnerung zu hinterlassen, hatte sie ihn noch niemals lächeln gesehen. Und jetzt, als er es tat, wurde ihr klar, dass sie längst seine Gemahlin wäre, hätte er sein Lächeln nicht an den Klabautermann verloren. Diesem Lächeln konnte niemand widerstehen.

Sie beugte sich über ihn und küsste ihn. Sie konnte nicht anders.

 

Kapitel 4

Neid

 

 

Während Christine Thorstens unverfälschtem Lächeln verfiel, ließen sich Graf Reynir von Svendheim und sein jüngerer Bruder Ulf bei König Christian melden.

„Was ist Euer Anliegen?“, fragte der König die Brüder.

„Mein König, wir haben vernommen, dass Ihr den Grafen von Frederiksmark aufgefordert habt, um Eure holde Enkelin zu werben. Ist das wahr?“, fragte Reynir.

„Ja, das habe ich. Doch was interessiert Euch das? Meine Enkelin hat Eure Werbung nicht akzeptiert, Reynir“, erwiderte der alte König.

„Mein König, ich bitte Euch, mich nicht falsch zu verstehen. Es … es ist nur so … ist Graf Frederiksmark tatsächlich frei für unsere künftige Königin?“, erklärte Reynir vorsichtig.

„Und wieso sollte er das nicht sein?“, wunderte sich Christian.

„Nun, mein Bruder und ich waren – wenn auch zufällig – Gäste bei Prinz Thorstens Hochzeit in Seeburg. Er ist bereits verheiratet, mein König“, gab der Svendheimer Graf zu bedenken.

„Das ist mir durchaus bekannt, Graf Reynir“, entgegnete Christian. „Meerland ist untergegangen. Es gibt keine Überlebenden außer denen, die herkamen. Und das sind Graf Thorsten und seine Männer. Der Tod seiner Frau hat Thorsten schwer getroffen und ist der Grund, weshalb er so freudlos ist.“

„Nun ja … das hat Graf Thorsten erzählt. Aber … ist das auch wahr?“, streute Ulf Zweifel.

„Was veranlasst Euch zu diesen Zweifeln, Ulf?“, bohrte der König weiter.

„Die Sorge um das Wohl unserer Thronfolgerin“, antwortete Ulf – ein wenig zu hastig, wie Kanzler Jens fand.

„Noch mal: Was veranlasst Euch, Thorsten zu bezichtigen, unserem König nicht die Wahrheit über die Menschen in Meerland gesagt zu haben?“, hakte Jens nach.

„Thorsten kann doch letztlich nicht wissen, was geschehen ist“, gab Ulf zu bedenken. „Er war – wie er selbst gesagt hat – nicht in Meerland, als es versank. Woher will er wissen, dass sie alle tot sind?“

„Habt Ihr denn Grund, anzunehmen, dass es weitere meerländische Überlebende gibt? Oder wollt Ihr einfach nur Zweifel streuen, um zu verhindern, dass ein vom Schicksal geschlagener Mann wieder glücklich wird?“, fragte der König.

„Mein König, es betrübt mich, dass Ihr mir solche Niedertracht zutraut“, wehrte Reynir ab. „Doch nach den Gesetzen unserer Mutter Kirche darf ein verheirateter Christ nur dann wieder heiraten, wenn die erste Ehe durch den Tod des Ehegatten endet. Und diesen Beweis muss der führen, der verheiratet war und eine neue Ehe eingehen will. Wenn Ihr mir dies nicht glauben könnt, weil ich kein Priester bin, bitte ich Euch, den Bischof zu fragen. Ich flehe Euch an, es zu tun, bevor Thorsten seine Werbung ausspricht.“

Der König und der Kanzler sahen sich an. Das Argument konnte Christian nicht einfach in den Wind schlagen … Er nickte langsam.

„Benachrichtigt Bischof Axel!“, wies er den Kanzler an, der sich verneigte und den Thronsaal verließ, um einen Boten zum Bischof zu senden.

Thorsten träumte voller Glückseligkeit von dem kurzen Glück mit seiner Frau. Noch nie zuvor war es im Traum so spürbar für ihn gewesen, dass Ingrid ihn liebkoste und sie sich küssten. Der innige Genuss eines zärtlichen Kusses war zu deutlich, um nur geträumt zu sein. Er wachte auf. Der Traum verblasste, doch der Kuss und das unglaublich zärtliche Streicheln blieben. Er blinzelte und erkannte im Licht des fast vollen Mondes Prinzessin Christine.

Sie zuckte erschrocken zusammen.

„Seid gegrüßt, meine Prinzessin“, sagte er leise.

„Oh, Ihr … Ihr schlaft nicht?“, stotterte sie, vor Verlegenheit hochrot werdend.

„Ihr habt mir einen wunderschönen Traum geschenkt. Danke.“

Er nahm ihre schmale Hand, die noch immer auf seiner Brust lag und drückte einen sanften Kuss darauf. Er richtete sich auf. Im Mondlicht glitzerte ein goldenes Kreuz an einer dünnen, goldenen Kette auf seiner Brust. Ihre Hand glitt sanft darüber.

„Ist … ist das ein Geschenk von … von ihr?“, brachte sie mühsam beherrscht vor.

„Von ihr?“, fragte er nach.

„Nun … von … von Eurer verstorbenen Gemahlin?“, präzisierte sie. Er schüttelte den Kopf.

„Nein, das habe ich in Venedig gekauft.“

„Gekauft?“, schmunzelte sie. „Nicht erbeutet?“

Die Meerländer hatten recht freimütig eingeräumt, an der Plünderung von Konstantinopel beteiligt gewesen zu sein.

„Nein, das habe ich tatsächlich gekauft und es nicht geraubt“, entgegnete er. „Venedig hatte uns Kreuzritter gegen Zara und Konstantinopel gesandt, nicht gegen sich selbst“, erklärte er.

„Bereut Ihr, was Ihr getan habt?“

„Ja, doch diese Reue kommt zu spät. Gott hat mich und alle anderen Meerländer für diesen Frevel gestraft. Es war Unrecht – etwas, was ein Ritter niemals tun sollte.“

Einen Moment war beredtes Schweigen, in dem nur die Hände der beiden jungen Menschen den jeweils anderen zärtlich streichelten.

„Christine …“, setzte er schließlich an.

„Ja?“

„Meine Prinzessin … Euer … Großvater … hat mich aufgefordert, Euch ein treuer Heerführer zu sein“, sagte er.

„Wem könnte ich meine Sicherheit besser anvertrauen als Euch? Ihr seid nicht nur ein treuer Heerführer meines Großvaters, Ihr seid auch ein ebenso mutiger wie galanter Mann.“

Erneut spielte ein Lächeln um seine Lippen, das ihr Herz schmelzen ließ.

„Schon“, räumte er zögernd ein. „Ich gebe mir jedenfalls Mühe, die ritterlichen Tugenden zu erfüllen, auch wenn ich sie auf dem Kreuzzug mehr als nur einmal missachtet habe. Das passiert mir sicher nicht wieder.“

„Aber?“

„In dem Punkt gibt es kein aber. Doch er wünscht auch, dass ich um Eure Hand anhalte“, ergänzte er. „Ich habe ihm auch versprochen, das zu tun …“

„Aber …?“

„Ich muss gestehen, dass dieses Versprechen etwas voreilig war“, sagte er. „Das ist mir durch den wundervollen Traum, den mir Eure Zärtlichkeit schenkte, erst wieder richtig bewusst geworden.“

„Ihr meint … wegen Eurer verstorbenen Frau?“, hakte sie betroffen nach. Er nickte.

„Ich weiß nicht, ob sie wirklich tot ist oder ob sie zu eventuellen Überlebenden gehört. Doch ich wüsste nicht einmal, wo ich nach möglichen Überlebenden Meerlands überhaupt suchen sollte.“

„Und … du würdest es als Untreue ihr gegenüber ansehen, wenn du um mich wirbst, oder?“, fragte sie und umarmte ihn.

„Auf dem Kreuzzug habe ich eine Menge angestellt, auch gründlich gegen die Gebote der Kirche gesündigt, kein Zweifel – aber ich bin Ingrid nie untreu geworden“, erwiderte er. „Ich habe für das, was ich wider die Gebote der Kirche und gegen die Regeln des Ritterstandes getan habe, schon furchtbar gebüßt. Ihr werdet verstehen, dass ich mir nicht noch eine zusätzliche Zeit im Fegefeuer zuziehen möchte, indem ich mich mit meiner zukünftigen Königin verbinde, obwohl ich nicht mit Sicherheit dafür frei bin. Doch ich schwöre Euch, dass ich Euer treuer Diener sein werde, was auch geschieht.“

„Bitte, Thorsten, du bist selbst ein königlicher Prinz. Ich wünsche mir von dir mehr als dass du mein Diener bist. Du bist sehr viel mehr“, flüsterte sie und küsste ihn erneut. Es war für beide ein wunderbarer Genuss.

„Ich würde lügen, behauptete ich, dass mir das nicht gefällt“, sagte er, als sie sich aus dem Kuss lösten.

„Lass uns für heute Nacht so tun, als wärst du ganz sicher frei“, bat sie. „Ich sehne mich nach deiner Nähe. Und ich möchte dich belohnen.“

„Jetzt ist es ohnehin zu spät, um noch zu widerstehen. Für das, was du mir gerade anbietest, nehme ich sogar Höllenstrafe in Kauf“, wisperte er, heiser vor Begehren. „Versteh‘ die Frage bitte nicht falsch: bist du noch Jungfrau?“

„Wieso wäre das wichtig für dich?“, fragte sie und kraulte sanft seinen flachen Bauch. Er seufzte genießerisch.

„Nun ja, einer Jungfrau tut das, was ich mit dir tun möchte, ziemlich weh. Das fordert viel Vorsicht. Eine Frau, die schon mit einem Mann zusammengekommen ist, hat diesen Schmerz hinter sich und freut sich nur noch darauf, dass ihr Mann ihren Schoß besucht“, flüsterte er sanft in ihr Ohr und liebkoste sachte ihr Ohrläppchen.

„Ich weiß, was du meinst. Sei ohne Sorge“, erwiderte sie. „So, wie du mich hältst, wirst du mir nicht wehtun – nicht so wie der, der meine Jungfräulichkeit raubte.“

Sie entledigte sich ihres Nachthemds und schlüpfte unter die Bettdecke.

„Wer hat dir das angetan, meine Prinzessin?“, fragte er, während sie ihn empfing.

„Du hast den Richtigen getötet“, seufzte sie.

„Carsten?“

„Carsten“, bestätigte sie und gab sich ihm voller Wonne hin.

„Schade, dass er sich nur das Genick gebrochen hat“, flüsterte er. „Dafür hätte ich ihn gern noch um die Eier erleichtert.“

Der Morgen fand die Thronfolgerin und den Grafen in inniger Umarmung. Thorsten erwachte langsam, Christine lag in sanftem Schlummer in seinen Armen. Vorsichtig küsste er sie wach.

„Wach auf, meine Prinzessin“, sagte er leise. „Die Sonne geht gleich auf.“

Der Schlaf ließ sie nur zögernd los.

„Schade“, murmelte sie. „Ich habe gerade von dir geträumt.“

„Und was hast du geträumt?“

„Dass du unseren Sohn über das Taufbecken gehalten hast“, flüsterte sie.

„Das ist ein schöner Gedanke. Es heißt ja, dass die Träume der ersten Nacht in einem fremden Bett wahr werden“, sagte er. Sie kuschelte sich dicht an ihn.

„Und … was … was hast du geträumt?“

„Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen sollte …“, seufzte er.

„Würde es mich eifersüchtig machen?“

„Könnte sein.“

„Dann hast du von deiner Frau geträumt“, stellte sie fest. Er schmunzelte.

„Gedankenleserin“, erwiderte er. „Soll ich dich in deine Kemenate bringen?“

„Nein, lass nur. Ich gehe durch die Geheimtür“, wehrte sie mit bittersüßem Lächeln ab. In Thorstens Armen fühlte sie sich geschützt und geborgen. Sie wollte sich eigentlich nicht von ihm trennen, doch war ihr klar, dass es sein musste – jedenfalls bis er offiziell ihr Gemahl werden konnte.

„Sehen wir uns zum Frühstück?“, fragte sie.

„Gern. Wenn du erlaubst, werde ich in der Öffentlichkeit weiter förmlich bleiben“, sagte er und stand auf. Sie erhob sich ebenfalls und ließ sich von ihm ins Nachthemd helfen.

„Bis später“, verabschiedete er sie. Sie lächelte, machte einen angedeuteten Knicks. Er verbeugte sich höflich. Sie schwebte beglückt davon. Doch auf halbem Weg zur Geheimtür blieb sie stehen und drehte sich um.

„Was … was wirst du tun?“, fragte sie. Als er sie nur fragend ansah, präzisierte sie:

„Was deine Frau betrifft … ob sie noch lebt oder doch tot ist.“

Er zuckte mit den Schultern.

„Ganz ehrlich: Im Moment weiß ich es nicht. Ich werde Erkundigungen einziehen müssen, ob jemand etwas von überlebenden Meerländern gehört hat oder gar weiß. Große Hoffnung habe ich nicht, dass irgendwer irgendetwas weiß. Als wir hier ankamen, wusste hier niemand etwas davon, dass Meerland untergegangen war. Man hatte sich nur gewundert, weshalb keine Schiffe mehr von dort kamen. Deshalb glaube ich auch nicht, dass in Thule eventuelle Überlebende gelandet sind.“

„Wirst du um mich werben?“

Er seufzte.

„Ich werde mit deinem Großvater reden und ihm sagen, dass ich das zuerst wissen muss. Ich hoffe, er wird es verstehen.“

Erfrischt und ausgeruht erschien der Graf eine halbe Stunde darauf zum gemeinsamen Frühstück mit den im Schloss anwesenden Vasallen des Königs im Rittersaal. Es gelang ihm, das Glück der vergangenen Nacht zu verbergen. Dass er dennoch gelöster erschien als in den Monaten zuvor, konnte mit der Aufhebung des ungerechten Todesurteils und dem Sieg über Herzog Nils erklärt werden. Jetzt war es der König, der eine betrübte Miene machte, als Thorsten sich vor ihm verneigte und ihm einen guten Morgen wünschte.

„Danke, Graf Thorsten“, erwiderte der alte Mann. „Thorsten … ich … ich habe Euch gestern eine Bedingung gestellt, die … die Ihr nicht erfüllen könnt.“

Bevor der junge Mann etwas sagen konnte, trat der Bischof an den Thron. Er stieß den Bischofsstab hart auf den Steinboden der Halle.

„Wenn Ihr die Hand der Prinzessin als Lohn für Eure Tat verlangt, begeht Ihr eine schwere Sünde!“, fuhr er den Grafen an.

„Guten Morgen, Exzellenz“, wünschte der mit einem Kopfnicken in Richtung des Bischofs.

„Der gute Morgen war beendet, als der König mir von Eurem sündigen Ansinnen berichtete!“, schnaubte der Bischof. „Ich verbiete Euch, an die Prinzessin auch nur zu denken, solange es keinen Beweis dafür gibt, dass Eure Gemahlin tatsächlich tot ist!“

„Und … was ist für Euch ein Beweis, hochwürdigster Bischof?“, fragte Thorsten.

„Der Leichnam Eurer Gemahlin und wenigstens sieben Zeugenaussagen, dass dies Eure Gemahlin ist!“, versetzte der Bischof eisig.

„Die Zeugen wären wohl das geringste Problem. Nur … wo ich einen Leichnam meiner geliebten Frau hernehmen soll, die in den Fluten des Meeres ertrank, ist mir nicht recht klar“, erwiderte Thorsten.

„Das ist Euer Problem, Herr Thorsten!“, knurrte Bischof Axel. „Ohne diesen Beweis werde ich einer Ehe zwischen der Prinzessin Christine und Euch keinesfalls meinen Segen geben.“

Thorsten nickte und verneigte sich in Richtung des Königs.

„In der Tat, Majestät, ich kann Eure Bedingung nicht erfüllen, denn es ist mir unmöglich, den geforderten Beweis anzutreten. Meerland ist versunken. Ich kann also weder ein Grab noch den Leichnam meiner geliebten Gemahlin präsentieren, um zu beweisen, dass ich Witwer bin. Bitte, vergebt mir, dass ich Euch nicht schon gestern auf diese Tatsache hingewiesen habe.“

Die Gelöstheit war aus dem Gesicht des jungen Grafen fortgeweht. Seine Miene war wieder so versteinert wie vor dem Turnier. Er verneigte sich nochmals und wandte sich zum Gehen.

„Wohin wollt Ihr?“, fragte der Bischof verblüfft. Thorsten blieb stehen und drehte sich wieder um.

„Nach Hause, Exzellenz, nach Frederiksvik“, sagte er. „Meine Anwesenheit hier ist nicht mehr von Belang.“

„Heute sollte Euer Sieg gefeiert werden!“, protestierte König Christian.

„Mir liegt nichts daran, mein König. Die Trauer ist zurück. Ich bin dazu verdammt, allein zu bleiben, nachdem mir meine Gemahlin entrissen wurde und ich kein neues Glück empfangen darf. Ruft mich, wenn ich für Euch kämpfen soll. Vielleicht ist es mir dann vergönnt, in der Schlacht für Euch zu sterben. Von heute an kann ich nur noch auf den Tod hoffen.“

Damit kehrte Thorsten dem Thron den Rücken und verließ die Königsburg. Jegliche Freude war in ihm ausgelöscht, als ob eine Riesenwelle über ein mühsam brennendes Feuer hinweg spülte.

„Bisher war ich der Ansicht, der christliche Glaube sei eine Quelle des Trostes, Axel“, brummte Christian bissig. „Ihr führt mir gerade vor Augen, wie sehr ich mich getäuscht habe.“

„Das irdische Leben ist ein Jammertal, mein König“, sagte der Bischof. „Gott wird alle Tränen trocknen.“

„Diese Haltung wird nicht dazu führen, die Heiden im Norden in den Schoß der Mutter Kirche zu lotsen, Bischof“, versetzte der König. „Wenn Ihr die Freude der Auferstehung Christi für die Gläubigen auf das Jenseits verschieben wollt, werden die Heiden sich nicht bekehren lassen.“

„Dann werden sie in der Hölle schmoren, Ihr wisst das“, entgegnete der Bischof kalt.

„Nein, Exzellenz – ich glaube es“, widersprach Christian. „Ob das, was Ihr über das Leben nach dem Tod sagt, wahr ist, werde ich wissen, wenn ich tot bin. Dann weiß ich, ob ich mich in Walhalla wiederfinde oder im Paradies.“

„Ihr meint, es sei falsch, auf dem Beweis der Witwerschaft zu bestehen?“, fragte Axel. „Und wenn seine Frau noch lebt? Was dann?“

Der König sah den Bischof eine Weile an.

„Meine Enkelin braucht einen Gemahl, Axel! Und es sollte ein würdiger Gemahl sein, denn er wird der Vater des künftigen Königs oder Königin sein!“, erinnerte Christian bitter.

„Deshalb hatte ich ja Carsten von Fjordsand so warm empfohlen, mein König. Er ist der Sohn eines mächtigen Fürsten“, erwiderte der Bischof.

„Er war der Sohn eines Fürsten, dessen Macht allein darauf beruhte, dass er mir mit steter Kriegsdrohung Rechte abgenötigt hat, die jenseits jeglichen Vasallentums liegen. Eure Empfehlung war für Carsten die Ausrede, den königlichen Kuchen gleich zu probieren und am Morgen wie Gift auszuspeien!“, fuhr Christian den Bischof an.

„War?“, hustete Axel. „Wieso war?“

„Carsten ist tot“, erklärte Kanzler Jens. „Er ist beim Turnier sehr unglücklich gestürzt und hat sich das Genick gebrochen.“

„In der Tat, das ist ein schreckliches Unglück!“, entfuhr es dem Bischof. „Wie furchtbar für den Vater, diesen hoffnungsvollen Erben zu verlieren!“

„Nils hat noch einen Sohn, hochwürdigster Bischof. Aber bevor ich den mit Fjordsand belehne, geht die Sonne im Westen auf!“, grollte Christian.

„Wieso?“

„Lebt Ihr wirklich so ahnungslos, was sich in Thule tut?“, fragte Jens den Bischof verblüfft. „Was glaubt Ihr, weshalb die Hafenanlagen aussehen, als wären die Orkscharen aus Tador hier gelandet? Das ist Herzog Nils‘ Werk!“

„Er hat doch gewiss gute Gründe gehabt, Euch gram zu sein …“, mutmaßte der Bischof, an den alten König gewandt.

„Geht mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse, Axel!“, befahl der König wütend.

 

 

Kapitel 5

Missgunst

 

Reynir und Ulf hatten sich zum Haus von Ulf in Drakavik begeben, der seinem Bruder als Gesandter am Hof des Königs diente. Als sie einige Tage später erfuhren, welche haarsträubenden Bedingungen Axel für die Ehe zwischen Thorsten und Christine gestellt hatte, rieben sie sich zufrieden die Hände. Damit war einstweilen wirksam verhindert, dass Thorsten die Prinzessin heiratete, als Prinzgemahl der Königin zu groß wurde – und dass die Zuwanderer aus Meerland sich in Thule heimisch fühlten. Diese Männer, die ihrem Prinzen und Thules König so treu ergeben waren, waren dem Svendheimer Grafen und seinem Bruder ein Dorn im Auge.

Andere Nachrichten waren für sie weniger erfreulich: Herzog Nils war am Tag nach seiner Niederlage an den Wunden, die Thorsten ihm geschlagen hatte, im Kerker gestorben. Der König hatte das Lehen Fjordsand auch nicht Sigmar übertragen, dem einzigen noch möglichen Erben Nils‘. Ragnar, Nils‘ Bruder, hatte sich reumütig präsentiert und dem König auf den Knien Treue geschworen. König Christian hatte ihm ob dieses Treuegelöbnisses das Herzogtum Fjordsand übertragen – unter der Voraussetzung, dass der bislang nicht gezahlte Tribut umgehend entrichtet wurde und die Grafschaft Bragenheim von den herzoglichen Truppen geräumt werde. Ragnar hatte dies beschworen und innerhalb weniger Tage auch den Tribut bezahlt und eine schriftliche Bestätigung des Grafen Lasse von Bragenheim vorgelegt, dass die Truppen des Herzogs seine Grafschaft verlassen hatten.

„Auf Nils können wir nicht mehr zählen, Ulf. Sigmar Nilsson ist außer Gefecht, und was von Ragnar zu halten ist, weiß ich nicht. Thorsten ist zwar nach Frederiksvik zurückgekehrt, doch ist mir die Gefahr zu groß, dass Christian Thorsten durch Ehre wieder an den Hof bringt. Der Mann muss weg!“

Ulf wanderte eine Weile auf und ab.

„Er kann Christine nicht heiraten. Der Bischof würde es verhindern“, gab er schließlich zu bedenken. „Sie hat nicht mehr viele Alternativen, wenn es um ihren Gemahl geht. Sie wird dich erhören müssen, Bruder!“

„Sie wird sich gegen eine Ehe mit mir wehren, solange auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass ein anderer den Platz neben ihr auf dem Thron einnehmen wird“, entgegnete Reynir. „Sollte es Thorsten gelingen, den Bischof mit einem anderen Nachweis zu überzeugen, dass er Witwer ist, wird Christian ihn umgehend als Christines Verlobten anerkennen!“

„Axel hat ganz klare Bedingungen genannt. Er kann nicht dahinter zurück“, erwiderte Ulf.

„Er ist wankelmütig und bestechlich, sonst hätte er unser Geld nicht genommen“, gab der Ältere zu bedenken. Ulf seufzte leise. Sein Bruder sicherte sich stets nach allen Seiten ab. Dass er einem Mann nicht vertraute, der sich bestechen ließ, lag dann auf der Hand.

„Thorsten muss weg! Am besten auf eine Reise, von der er nicht zurückkehrt!“, ergänzte Reynir. „Lass dir was einfallen!“

Ulf verneigte sich vor dem Grafen und verließ das Gemach, um an einem ruhigen Ort nachzudenken, wie und mit welchen Mitteln man Thorsten dazu bringen konnte, Thule zu verlassen, um … ja, um was eigentlich? Er brauchte einen guten Grund, um seiner neuen Heimat den Rücken zu kehren … Ulf blieb stehen.

Was wäre ein guter Grund für ihn, Thule zu verlassen?‘, dachte er. ‚Krieg? Nein, dann würde er hier gebraucht. Der einzige Grund, aus dem Thorsten Thule verlassen würde, wäre die Möglichkeit, etwas über das Schicksal seiner Frau zu erfahren. Und wie kriege ich das hin? Ich brauche einen Köder …

Er drehte um und eilte in das Handelsviertel.

Wenig später hatte er das Kontor von Erik Svensson erreicht, einem Kauffahrer und Handelsherrn, der hauptsächlich mit Meerland Handel betrieben hatte.

„Seid gegrüßt, Ulf Knudsson!“, begrüßte ihn der Kaufmann mit einer tiefen Verbeugung.

„Danke ebenso, Herr Erik. Sagt, mein Freund, was sind typische Handelswaren Meerlands?“

„Meerland? Oh, Bernstein, Kupfer- und Silberwaren, aber auch Käse und Fisch“, erwiderte der Kaufmann.

„Welche Dinge hättet Ihr in Meerland niemals einkaufen können, um sie hier zu verkaufen?“, fragte Ulf weiter.

„Meerland hat mit so ziemlich allem gehandelt, was zu kaufen und zu verkaufen war. Die einzigen Dinge, die nicht zu kaufen waren, sondern nur vom Königshaus verschenkt wurden, waren Siegelringe und Petschafte mit der meerländischen Rose.“

„Ihr habt doch gewiss meerländische Siegel in Eurer Geschäftskorrespondenz …“, mutmaßte Ulf.

„Gewiss, Herr“, erwiderte Erik. „König Sigurd hatte mir das Privileg verliehen, eine Niederlassung in Seeburg zu unterhalten. Das Dokument ist natürlich mit seinem königlichen Siegen versehen.“

„Zeigt mir das!“, forderte Ulf ihn auf. Erik verneigte sich und verschwand kurz in seinem Archiv hinter dem  Kontor. Er präsentierte dem Bruder des Svendheimer Grafen ein großformatiges Dokument, das von einem runden Siegel mit etwa einer halben Spanne* Durchmesser geziert wurde.

„Wann wart Ihr eigentlich zuletzt in Meerland?“, fragte Ulf.

„Oh, das ist gewiss schon zwei oder drei Jahre her“, gab der Kaufmann Auskunft.

„Und Eure dortige Niederlassung?“

Erik lächelte sanft.

„Es war mir letztlich zu teuer, dort ein Haus in Hafennähe zu kaufen. Ich habe das Privileg, aber ich habe es nie genutzt, Herr“, erwiderte er. Ulf nickte. Er zog eine doppelte Wachstafel aus dem Wams, die etwa die Größe einer Männerhand hatte. Solche mit einer etwas dickeren Wachsschicht versehenen Holztafeln wurden schon seit den Tagen des Römischen Reiches von Kaufleuten gern als kurzfristiges Notizbuch verwendet. Zum Beschreiben diente ein bronzener Griffel, dessen Rückseite abgeplattet war, um die Notizen wieder zu verwischen, wenn sie nicht mehr benötigt wurden. Ulf prüfte mit einem Fingernagel die Festigkeit des Wachses. Nein, es war zu fest für seine Zwecke. Er legte die ganze Doppeltafel auf den Ofen, der in dem Kontor stand. Auch, wenn es bereits der 1. Mai war, war es in Thule immer noch recht kalt, weshalb der Ofen das Kontor heizte. Nach kurzer Zeit hatte das Wachs die richtige Konsistenz. Ulf drückte das Siegel des Privilegbriefes in seiner Tafel ab und verabschiedete sich von dem ein wenig verblüfft schauenden Kaufmann Erik. An der Tür blieb er noch einmal stehen.

„Das bleibt unter uns, habt Ihr verstanden?“, warnte er den Kaufmann.

„Gewiss, Herr, gewiss!“, versprach Erik eifrig. Der Kaufmann hatte keine Ahnung, was der Bruder des Svendheimer Grafen mit dem abgedrückten Siegel vorhatte.

Ulf eilte schnurstracks drei Gassen weiter, wo der kunstfertige Schmied Leif seine Werkstatt hatte.

„Leif Ragnarsson, ich habe einen Auftrag für dich!“, sagte er, als er die Schmiede betrat.

„Was kann ich für Euch tun, Herr Ulf?“

„Ich möchte ein Petschaft mit diesem Siegel“, sagte Ulf und zeigte dem Schmied die Wachstafel mit dem Siegelabdruck.

„Das … ist die meerländische Rose, Herr“, bemerkte der Schmied.

„Ja. Ich möchte Graf Thorsten ein Geschenk machen. Es wird ihn gewiss freuen, das Siegel seines Vaters als Geschenk zu erhalten“, erklärte Ulf. Leif nickte.

Es wird kein Problem sein. In zwei oder drei Tagen habe ich das fertig“, versprach er. „Eine Krone wird es kosten, Herr.“

„Gut, gut. Mach dich an die Arbeit!“, sagte Ulf. Er wollte schon gehen, als er noch ergänzte: „Thorsten sollte nicht anhand der Handwerkermarke sehen, dass das Petschaft hier in Thule gefertigt wurde …“

Leif verneigte sich.

„Gewiss, Herr.“

Einige gute Woche später ließ sich Ulf bei Thorsten in Frederiksvik melden.

„Heil Euch, dem ruhmreichen Bezwinger des verräterischen Herzogs von Fjordsand!“, pries er, als der Haushofmeister ihn zum Grafen vorließ.

„Danke, danke, Ulf Knudsson“, dankte Thorsten mit steinerner Miene. „Der Dank gebührt nicht mir allein, sondern jedem, der mit mir hinausritt, um Nils an seinem Frevel zu hindern oder ihn jedenfalls zu stoppen.“

„Das ist wahr, Thorsten Sigurdsson, doch wart Ihr der, der diese ruhmreichen Ritter in die Schlacht führte. Ohne Euch wären sie nur halb so erfolgreich gewesen, dessen bin ich sicher“, lobte Ulf ihn weiter.

„Danke. Ihr habt einen weiten Weg gemacht. Ihr werdet doch gewiss nicht nur gekommen sein, um mir eine Lobeshymne zu singen“, mutmaßte der Graf. Ulf lächelte breit.

„Nein. Doch ich habe etwas gefunden, von dem ich glaube, dass es Euch interessieren könnte. Seht!“

Er zog eine Schachtel aus der Tasche, die er Thorsten mit einer angedeuteten Verbeugung überreichte. Der junge Graf öffnete die Schachtel – und erstarrte, als er das große königliche Siegel Meerlands sah.

„Woher habt Ihr das?“, fragte er, sichtlich erschrocken. Ulf grinste.

„Dachte ich mir doch, dass Euch das interessiert …“, sagte er. „Einige meiner Männer haben dies bei einem … Ork … aus Tador gefunden, der unsere Grenze verletzte. Ihr seid König Sigurds einziger noch lebender Sohn, also gebührt Euch das Siegel Eures Vaters.“

„Ich danke Euch, Ulf. Das ist ein wundervolles Geschenk. Aber wie mag ein Ork aus Tador an dieses Siegel kommen?“, wunderte sich Thorsten. Ulf zuckte mit den Schultern.

„Die Möglichkeit ist sicher gering – aber es könnte ja vielleicht sein, dass Eure kühnen Kauffahrer Überlebende aus dem Meer gefischt haben, die nach Thule übersiedeln wollten, wie Ihr das auch getan habt. Aber vielleicht sind sie abgefangen und nach Tador gebracht worden, wer weiß?“

Das war keineswegs unmöglich. Südöstlich von Thule gab es eine starke Meeresströmung, die ein Schiff an die tadorische Küste lenken konnte, wenn der Schiffsführer nicht sehr genau aufpasste oder ein Sturm die Navigation beeinträchtigte – und Stürme waren in diesem Meer eher die Regel als die Ausnahme. Ein zuversichtliches Leuchten erfüllte Thorstens Augen, wenngleich es nicht zu einem Lächeln reichte.

„Ich danke Euch, Ulf Knudsson!“, sagte er. „Nun kann ich hoffentlich klären, was in Meerland geschah – und ob meine geliebte Gemahlin überlebt hat oder … nun ja … jedenfalls werde ich endlich Gewissheit haben.“

„Es ist mir eine Ehre und eine Freude, einem Grafen meines Landes einen Gefallen erwiesen zu haben, Thorsten Sigurdsson. Ich wünsche Euch Erfolg!“, erwiderte Ulf mit einer tiefen Verbeugung, die das verräterische Glitzern in seinen Augen über die schon fast gelungene Intrige verbarg. „Doch lasst Euch warnen: Man spaziert nicht einfach nach Tador und fragt dort nach Vermissten. Ihr werdet sehr heimlich agieren müssen.“

„Nun, dann werde ich mir eine List ausdenken. Ich danke für Eure mahnenden Worte, Ulf.“

Eine weitere Woche später erschien Thorsten im königlichen Palast in Drakavik, um König Christian von der neuen Entwicklung zu unterrichten.

„Seid Ihr sicher?“, fragte der König. „Bislang wart Ihr und Eure Gefährten doch fest davon überzeugt, dass Ihr die letzten Überlebenden Meerlands seid“, wunderte er sich.

„Das ist richtig, mein König. Bis jetzt hatte ich auch nicht dies:“, sagte Thorsten und zog das Petschaft aus der Tasche, das Ulf ihm gegeben hatte.

„Siegelpetschafte mit unserem Wappen durften nicht ins Ausland verkauft werden. Sie wurden ausschließlich für die königliche Familie hergestellt und auch nicht als Geschenke vergeben. Sie sind also mit größter Wahrscheinlichkeit nicht von unseren seefahrenden Kaufleuten hier in Drakavik oder im Kontor von Toldeborg in Fjordsand verkauft worden. Es können deshalb nur Beutestücke sein. Mein Vater hat nie gegen Thule Krieg geführt, es bestand immer ein gutes Verhältnis zu Thule. Deshalb nehme ich an, dass ein oder mehrere Schiffe unserer Handelsflotte mit einigen Überlebenden dem Untergang entkommen sein könnten, vielleicht nach Tador abgetrieben wurden und dort in Gefangenschaft gerieten.“

„Und was habt Ihr nun vor, edler Thorsten?“, fragte Christian.

„Ich werde nach Tiflur segeln und mich als Händler ausgeben. Im Orient habe ich zu feilschen gelernt, das könnte mir helfen.“

„Ihr könntet ebenso in Gefangenschaft geraten wie Eure Landsleute, wenn die Tadorins das Petschaft nicht sogar von anderen erbeutet haben“, warnte der König.

„Ich kann es nicht ausschließen, mein König. Doch ich brauche Gewissheit“, entgegnete Thorsten. „Und ich muss sie mir selbst verschaffen. Das bin ich meiner Gemahlin, meinen vielleicht noch lebenden Landsleuten und auch Eurer Enkelin schuldig.“

„Wieso auch meiner Enkelin?“

„Majestät, es wäre unritterlich, es zu leugnen“, sagte der junge Graf. „Ich liebe Eure Enkelin. Als Ihr mich gebeten habt, um sie zu werben, habt Ihr mir damit ein unfassbar großes Geschenk gemacht. Auch deshalb muss ich wissen, was mit meiner Gemahlin geschehen ist.“

„Nehmen wir einmal an, Eure Gemahlin wäre unter den Überlebenden. Was würdet Ihr tun?“

„Mein König, ich habe meine Frau sehr geliebt“, sagte Thorsten. „Ich habe sehr darum gekämpft, sie heiraten zu können. Sollte … sollte sie noch am Leben sein, werde ich nichts unversucht lassen, sie herzuholen. Dann wird Frederiksmark eine Gräfin haben, und wir werden Euch und Eurer Thronfolgerin in Treue dienen. Eurer Erbin müsste und werde ich dann als treuer Ehemann entsagen.“

Christian nickte.

„Ich sähe niemanden lieber an der Seite meiner Erbin als Euch, Graf Thorsten. Ihr werdet verstehen, dass ich eher hoffe, dass sich herausstellt, dass Ihr tatsächlich Witwer seid. Doch solltet Ihr Eure Gemahlin lebend wiederfinden, werde ich ihr als Eurer geliebten Frau ebenso eine neue Heimat gewähren wie Euch.“

Ein harter Stoß, der die steinernen Bodenplatten traf, störte König und Graf aus dem vertraulichen Gespräch auf. Erschrocken sah der König zur Tür, Thorsten fuhr auf und zog noch in der Drehung das Schwert, um den König nötigenfalls mit seinem Leben zu verteidigen. Bischof Axel stand auf dem halben Weg zwischen Tür und Thron. Unter der metallenen Spitze seines Bischofsstabes zeugten kleine Steinkrümel davon, dass der laute Stoß das harte Aufsetzen des Stabes auf den Steinboden gewesen war.

„Und wer bezeugt Eure Worte, wenn Ihr zurückkehrt und behauptet, Eure Gemahlin sei doch nicht mehr am Leben?“, mischte sich der Bischof in das Gespräch ein. Mit immer noch rasendem Herzschlag senkte Thorsten das Schwert.

„Sollte ich dies von eventuellen Überlebenden Meerlands hören, Mylord Bischof, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um sie hierher zu bringen, damit sie Euch Rede und Antwort stehen können“, sagte er.

„Und das soll ich Euch glauben?“

Thorsten versenkte das Schwert in der Scheide.

„Ihr habt mir gesagt, unter welchen Voraussetzungen Ihr einer Ehe zwischen mir und der Prinzessin zustimmen würdet, Exzellenz. Wenn ich niemanden finden kann, der den Tod meiner Gemahlin vor Euch bezeugt und die Wahrheit seiner Worte beschwört, dann finde ich sie nicht und werde die Prinzessin nicht ehelichen können. Doch wenn es solche Zeugen gibt und sie einen Schwur leisten, dann erwarte ich, dass Ihr ihnen glaubt, es sei denn Ihr könnt einen gegenteiligen Beweis führen.“

Der Bischof kam mit schnellen Schritten auf Thorsten zu, blieb keine ganze Armlänge vor ihm stehen. Der junge Mann zuckte nicht einmal zurück.

„Wer seid Ihr, dass Ihr mir Bedingungen stellen wollt?“, fuhr Axel ihn an.

„Wer seid Ihr, dass Ihr unmöglich zu erfüllende Bedingungen stellt?“, versetzte Thorsten.

„Die Ehe ist ein geheiligtes Sakrament, das nicht leichtfertig gespendet wird. Ihr seid eine Ehe eingegangen. Es ist an Euch, den zweifelsfreien Beweis zu führen, dass diese Ehe nicht mehr besteht, wenn Ihr die Prinzessin heiraten wollt!“, fauchte der Bischof.

„Soll ich das so verstehen, dass Ihr Zeugen nicht einmal dann glauben wollt, wenn sie einen Eid schwören?“, hakte Thorsten nach. „Sollte meine Gemahlin – was ich annehmen muss – ertrunken und im Meer versunken sein, kann ich weder einen Leichnam noch ein Grab präsentieren.“

„Dann habt Ihr Pech gehabt, Graf Thorsten. Dann scheint es Gottes Wille zu sein, dass Ihr allein bleibt. Ihr habt schwere Schuld auf Euch geladen, wie Ihr selbst eingeräumt habt. So ist es offenbar Eure Strafe für die Frevel, die Ihr begangen habt!“

„Macht nur so weiter, Exzellenz. Ich zweifle schon eine Weile an der Gerechtigkeit Gottes. Ist es etwa göttliche Gerechtigkeit, wenn ein junger Ehemann am Tage seiner Eheschließung dazu gezwungen wird, drei Tage später seine Frau für viele Jahre zu verlassen, um heilige Stätten zu befreien? Ist es göttliche Gerechtigkeit, wenn ihm von seinem eigenen Vater verboten wird, heimzukehren, obwohl die vom Papst georderten Schiffe leider erst drei Jahre später fertig sein sollen? Ist es göttliche Gerechtigkeit am heiligen Stand der Ehe, wenn er als gottesfürchtiger Sohn dem Verbot seines Vaters gehorcht? Ist es göttliche Gerechtigkeit, wenn die Erbauer der Schiffe meinen, es seien zu wenige gekommen, um die Kosten zu decken, deshalb den dreifachen Fahrpreis haben wollen und die Ritter als Alternative dazu nötigen, eine christliche Stadt anzugreifen, die ihnen Geld schuldet? Ist es göttliche Gerechtigkeit, die Ritter durch widersprüchliche Behauptungen zu verwirren, dass sie nicht mehr wissen, wem sie glauben sollen und sich in ihrer Verwirrung für den Falschen entscheiden? Ja, ich habe mich an der Plünderung von Konstantinopel beteiligt, Exzellenz. Ich habe mich wie ein Barbar aufgeführt. Das habe ich zutiefst bereut und es vor Gott in der heiligen Beichte bekannt – und zwar schon lange, bevor ich nach Meerland zurückkehren konnte! Damals hat mich ein Priester von meinen Sünden losgesprochen. Es steht geschrieben, dass die Sünden, die von Priestern vergeben werden, auch im Himmel vergeben sind! Ihr wollt dann doch nicht ernsthaft behaupten, Gott würde mich mit Einsamkeit strafen, weil ich eben diese Sünden begangen habe, die ich bereut und bekannt habe, von denen ich durch priesterlichen Segen losgesprochen wurde? Wenn das Euer Gott ist, der seine eigenen Zusagen nicht einhält, überlege ich mir, ob ich Christ bleibe!“

„Graf Thorsten!“, keuchte Axel, erschrocken über den Zornesausbruch und die unverhohlene Drohung, dem christlichen Glauben abzuschwören.

„Majestät, einen heidnischen Grafen werdet Ihr doch nicht in seinem Amt belassen!“, wandte er sich, sichtlich entsetzt, an den König.

„Das überlege ich mir dann, wenn es soweit ist, Axel“, versetzte Christian. „Ich rate Euch, Eure harten Bedingungen zu überdenken. Sie scheinen mir in der Tat unerfüllbar zu sein. Ein Mann Gottes sollte vor ein Sakrament nicht unerfüllbare Bedingungen setzen. Er setzt sich sonst dem Verdacht aus, dass er ein Interesse daran hat, es unnötig zu verweigern. Denkt darüber nach. Und jetzt geht!“

Axel setzte erneut an, aber Christian schnitt ihm scharf das Wort ab:

„Raus, habe ich gesagt!“

Axel zog sich zurück.

„Ich will nicht, dass mein Reich noch weiter zersplittert. Vor allem will ich nicht, dass meine Enkelin auf Eure Treue verzichten muss, ganz gleich, ob Ihr Christ bleibt oder nicht“, wandte sich der König an den zornigen jungen Grafen, der sich langsam wieder beruhigte.

„Meine Worte waren im Zorn gesprochen, mein König. Ich bin christlich erzogen und aufgewachsen. Auch wenn ich seit meinem Kampf mit meinen Eltern um meine Ehe mit Ingrid sehr an meinem Glauben verzweifle, so kann ich mit den alten Göttern erst recht nichts anfangen“, sagte Thorsten. Christian schmunzelte.

„Ihr wart ziemlich überzeugend, mein Junge. Bischof Axel habt Ihr richtig erschreckt – und er hatte es verdient, nachdem er sich ungebeten in unser Gespräch eingemischt hatte. Ich wünsche Euch Glück und Erfolg. Thorsten, Ihr seid der Mann, dem ich mein Reich bedenkenlos anvertrauen könnte. Das sage ich, bei Gott, nicht von jedem meiner Grafen. Christine wird Euch brauchen, ganz egal, ob Ihr ihr Gemahl werden könnt oder nicht. Kommt bald gesund wieder, mein Sohn.“

 

 

Kapitel 6

Besuche

 

Thorsten machte sich unverzüglich an die Vorbereitung der Reise nach Tador. Das Erste, was er wissen musste, war, womit ein thulischer Händler in Tador überhaupt etwas erwirtschaften konnte. Er begab sich ins Handelsviertel der Hauptstadt Drakavik, doch sämtliche Kauffahrer, die dort ihre Kontore hatten, schüttelten den Kopf.

„Nein, Herr. Mit Tador kann ein Händler aus Thule keine Geschäfte machen. Das ist unmöglich!“, wehrte Erik Svensson ab.

„Und wieso nicht?“, hakte der Graf nach.

„Thule und Tador sind Todfeinde, Herr Thorsten. Wenn Ihr Euch dort als Thuler zu erkennen gebt, seid Ihr tot. Ihr hättet – vielleicht – als Meerländer, der Ihr ja tatsächlich wart oder seid, eine gewisse Überlebenschance“, erwiderte Erik. „Kauffahrer Eures früheren Landes sind bis nach Tador gefahren. Das jedenfalls habe ich von Gunnar Johannsson mal gehört. Er war ja einer Eurer Hoflieferanten in Seeburg.“

„Gunnar Johannsson …“, murmelte Thorsten. Er erinnerte sich an den Handelsschiffer aus Seeburg, der die wohl weitesten Fahrten unternommen hatte, die je von einem Meerländer gemacht worden waren. Er hatte sogar behauptet, es gebe jenseits von Thule eine riesige Insel, die er Atlantis genannt hatte. Diese Behauptung hatte ihn fast das Leben gekostet, weil in Meerland niemand an weiteres Land westlich von Thule geglaubt hatte. Selbst diese seine jetzige Heimat war noch in seiner Kindheit als Fabelland angesehen worden, bis Prinz Mats, König Sigurds jüngerer Bruder, mit Gunnar mitgefahren war und Thule selbst gesehen hatte. Gunnar Johannsson war es in seiner bekannten Kühnheit und seinem Wissen um die Tücken der See auch zuzutrauen, dass er das Unglück samt seinem Schiff überlebt hatte … Er hatte mit allem gehandelt, was ihm als bewegliches Gut unter die Finger geraten war.

„Womit könnte man in Tador Geschäfte machen? Hat Gunnar Euch das vielleicht auch erzählt?“, fragte der ehemalige Prinz.

„Ja. Sie sollen ganz wild auf Kupferwaren sein. Ich entsinne mich, dass Leif, der Schmied, für Gunnar Kupferkessel gemacht hat, die er in Tador verkaufen wollte. Als ich ihn später in Seeburg traf, sagte er mir, er habe die Kessel schon am ersten Tag alle verkaufen können.“

Thorsten nickte. Er war für einige Wochen Gefangener eines in byzantinischen Diensten stehenden türkischen Paschas gewesen, der ihn seinem Schmied als Sklaven ausgeliehen hatte. Er hatte von dem türkischen Schmied in der relativ kurzen Zeit, bis seine Männer ihn hatten befreien können, viel gelernt. Den fahrenden Kesselflicker würde er deshalb halbwegs überzeugend spielen können.

„Wie sieht es mit Stoffen aus? Wird man die auch in Tador los?“, erkundigte er sich.

„Stoffe? Kein Gedanke! Diese Tadorins, die Orks, tragen allenfalls Wolfs- oder Bärenfelle als Kleidung. Gewebte Stoffe könntet Ihr wohl nur an Eure früheren Landsleute loswerden – wenn dort überhaupt welche sind“, erwiderte Erik.

„Nun ja, genau nach denen will ich ja suchen“, gab Thorsten zu bedenken.

„Dann könntet Ihr damit Erfolg haben, edler Thorsten. Svenja Olesdottir hat sehr schöne Tuche, die ich in Seeburg immer gut verkaufen konnte.“

„Danke für den Rat, Erik Svensson“, sagte Thorsten und verließ mit einer höflichen Verbeugung das Kontor des Kaufmanns. Erik sah ihm zweifelnd nach.

Bei Schmied Leif bestellte der junge Graf ein Dutzend Kupferkessel in unterschiedlichen Größen.

„Was habt Ihr denn damit vor, Herr? Ihr geht doch nicht etwa unter die Händler! Das ist kein ehrenhaftes Tun für einen vornehmen Herrn wie Euch!“, warnte der Schmiedemeister. Thorsten grinste.

„Ehre bringt mich in meinen Absichten in diesem Fall nicht weiter, mein Freund. Ich will in Tador nach möglichen Überlebenden Meerlands suchen. Kupferwaren sollen dort sehr begehrt sein, wie ich vernommen habe“, erwiderte er.

„Dann hat man Euch hoffentlich auch gesagt, dass Thuler in Tador nicht willkommen sind“, mutmaßte Leif.

„So ist es.“

„Dann werde ich die Kessel wohl besser mit einer anderen Handwerkermarke versehen …“, brummte Leif.

„Ihr habt mehrere?“, wunderte sich Thorsten.

„Wenn man leben will, muss man manchmal … nun ja … Kompromisse machen, Herr. Ich denke, diese Marke hier wird Euch bessere Dienste leisten als meine eigentliche Marke“, sagte der Schmied und zeigte Thorsten einen Prägestempel, der aus den übereinander liegenden lateinischen Großbuchstaben M und W bestand. In der dadurch entstehenden Raute in der Mitte des Zeichens war eine fünfblättrige Rose. Thorsten wollte seinen Augen nicht trauen, erkannte er doch die Marke des meerländischen Hoflieferanten Wilfrid Magnussen.

„Woher habt Ihr diesen Stempel?“, fragte er verblüfft.

„Gunnar Johannsson hat ihn mir besorgt, damit ich ihm Kessel herstellen konnte, die keine thulische Provenienz haben, weil er sie sonst nicht in Tador hätte verkaufen können“, erklärte der Schmied.

„Wie lange seid Ihr im Besitz dieses Stempels?“

„Ach, gewiss schon mehr als zehn Jahre, Herr.“

„Habt Ihr für Gunnar Kessel gefertigt?“

„Ja, eine ganze Menge sogar. Allerdings ist das schon einige Jahre her, mindestens zehn oder zwölf Jahre.“

„So ein Lump!“, entfuhr es Thorsten. „Das erklärt mir, was wirklich geschehen war, als unser Kämmerer Meister Magnussen der Zehntverweigerung bezichtigte, weil er für nur etwa die Hälfte seiner Kessel einen Zehnten entrichtet hatte. Auf den Märkten in Seeburg und Westerkerk waren vor gut zehn Jahren deutlich größere Mengen von Kesseln mit seiner Marke vorhanden, als seine Buchführung hergab. Er behauptete damals, ihm sei einer seiner Markenstempel gestohlen worden. Ich hatte als Statthalter meines Vaters über ihn zu richten und habe ihm das nicht geglaubt. Die überzähligen Kessel waren von gleicher Qualität wie seine – und in ganz Meerland kam ihm keiner in der Schmiedekunst gleich. Es erschien unwahrscheinlich, dass ein anderer Schmied in Meerland seine Marke missbraucht haben konnte. War es ja offensichtlich auch. Und weil es bei uns verboten war, Kupferwaren aus dem Ausland zu verkaufen, haben die Markthändler natürlich alle behauptet, sie hätten die Ware von Meister Magnussen gekauft. Also habe ich ihn wegen Zehntverweigerung zum sechsfachen Zehnt verurteilt und wegen des Steuerbetrugs auch die Hoflieferantenehre entzogen. Die Bruderschaft der Kupferschmiede hat ihm daraufhin die Anerkennung als Meister entzogen und obendrein bestimmt, dass kein anderer Kupferschmied ihn als Gesellen anstellen durfte. Damit war er ruiniert. Er musste sein Leben als Bettler fristen. Er hat mich verwünscht und verflucht. Zu Recht, wie ich jetzt sehe. Vielleicht ist das der Grund für mein Unglück …“

Er seufzte tief.

„Bis wann kann ich die Kessel haben?“, fragte er.

„In einer Woche sollten sie fertig sein, Herr.“

„Danke, Meister Leif. Gehabt Euch wohl“, verabschiedete sich Thorsten und verließ die Werkstatt, um bei der Weberin nach Stoffen zu sehen. Auch die Weberin stellte ihm in Aussicht, einige Stoffe innerhalb einer Woche für den Verkauf fertig zu haben.

Sein nächster Weg führte ihn zum Hafen von Drakavik, wo er nach einem Schiff suchte, das ihn nach Tiflur bringen konnte. Doch keiner der Schiffseigner war bereit, eines seiner Schiffe und dessen Mannschaft zu riskieren, um den Grafen zu seinem Ziel zu bringen.

Ulf von Svendvik, von einem Vertrauten am Hof des Königs über Thorstens Besuch dort informiert, hatte den Grafen von Frederiksmark aus der Königsburg kommen sehen und war ihm unauffällig gefolgt. So wusste er, dass der vom König so hoch geschätzte junge Mann sowohl den Schmied als auch die Weberin besucht hatte. Als er ihn im Hafen mit verschiedenen Schiffseignern sah, war er sicher, dass Thorsten den Köder geschluckt hatte.

Doch nicht nur Ulf hatte ihn beobachtet. Auch eine eher kleine Gestalt, die mühelos zwischen den Heringstonnen im Hafen verschwand, verfolgte den Weg des jungen Mannes. Als es dunkel wurde, kletterte die kleine Gestalt geschickt an der Mauer der königlichen Burg hinauf, dort, wo sich die Gastgemächer befanden.

Thorsten betrat das Gastgemach und war nicht wenig verblüfft, als er im Schein der Lampe, die er in der Hand hielt, eine kleine, bärtige Gestalt von allenfalls vier Fuß Größe in der Balkontür stehen sah.

„Verzeiht, wenn ich nicht durch die andere Tür gekommen bin, doch ich wäre nicht bis hier gekommen, wenn ich es versucht hätte“, sagte der Zwerg, zog höflich den Hut und verbeugte sich.

„Erlaubt, dass ich mich vorstelle: Quirin, Mundins Sohn“, ergänzte er.

„Ich bin Thorsten, Sigurds Sohn. Was führt … Euch … zu mir, Quirin, Mundins Sohn?“, erkundigte sich der Graf, die höfliche Anrede eher etwas zögernd benutzend.

„Die Tatsache, dass Ihr in Gefahr seid, Thorsten. Fahrt nicht mit dem Schiff nach Tiflur! Ihr würdet es nicht überleben“, warnte der Zwerg.

„Und … wer oder was würde mir gefährlich werden?“, hakte Thorsten nach.

„Ulf von Svendvik ist Euch gefolgt. Vom Palast zu Leif dem Schmied und zu Svenja der Weberin. Er ist auch im Hafen gewesen“, erklärte Quirin.

„Ihr seid mir offensichtlich auch gefolgt, sonst wüsstet Ihr das nicht“, entgegnete Thorsten. „Weshalb sollte es eine größere Gefahr für mich bedeuten, wenn Ulf mir folgt?“

„Ihr wisst nicht, wer Ulf von Svendvik ist?“, fragte der Zwerg listig.

„Ich weiß, dass er der Bruder des Grafen von Svendheim ist.“

„Das ist nicht eben viel, Sigurds Sohn“, erwiderte Quirin und setzte sich auf eine Fußbank, die vor dem Sessel am Kamin stand. „Ihr erlaubt doch …?“, bat er verspätet um die Genehmigung. Thorsten nickte und setzte sich in den anderen Sessel gegenüber der Fußbank.

„Ihr könnt auch im Sessel Platz nehmen“, bot er an.

„Oh, da käme ich wohl nicht ganz mit den Füßen auf den Boden – und das mögen wir Zwerge nicht“, grinste der Zwerg.

„Wie Ihr meint“, sagte Thorsten schulterzuckend. „Was sollte ich von Ulf oder Reynir wissen, was ich bisher nicht weiß?“

„Reynir begehrt die Prinzessin zur Frau. Er hat um sie geworben, doch sie hat ihn abgewiesen.“

„Aha. Und weiter?“

„Nun, er ist über die Ablehnung wenig glücklich, wie Ihr Euch denken könnt. Immerhin würde ihm die Ehe mit ihr die tatsächliche Macht über dieses Reich geben“, sagte der Zwerg. „Deshalb hat er gegenüber dem König behauptet, Ihr wärt bereits verheiratet.“

„Nun, das ist keine haltlose Behauptung“, erwiderte Thorsten mit erneutem Schulterzucken. „Ich habe geheiratet. Doch …“

„… Ihr nehmt an, Eure Frau sei der Katastrophe von Meerland zum Opfer gefallen. Aber Ihr seid dessen nicht ganz sicher und wollt Erkundigungen einziehen“, mutmaßte Quirin. „War es nicht Ulf, der Euch etwas schenkte, was diesen Zweifel erst bei Euch ausgelöst hat? Ein Petschaft mit dem Siegel Eures Reiches?“

„Mir scheint, ich müsste größere Sorge vor Euch haben, denn Ihr spioniert mir augenscheinlich ohne jeden Anlass nach. Was soll das?“, knurrte Thorsten.

„Nicht ohne Anlass. Immerhin seid Ihr mein Landesherr, denn mein Heim ist in Frederiksmark an der Grenze zu Wodanien.“

„Und … was veranlasst Euch, Eurem Landesherrn nachzuspionieren?“

„Die Frage, die uns Zwerge seit je her hier umtreibt: Wer ist er? Ist er unser Freund oder unser Feind?“, sagte Quirin. „Euer Vorgänger hat uns in die Berge verjagen lassen, uns unser Gold genommen und viele von uns umbringen lassen. Seit Ihr der Graf von Frederiksmark seid, hat es aufgehört. Doch wir fragen uns natürlich, ob dies Eure Absicht war und ist oder ob Ihr einfach nur nichts von uns wisst.“

„Nun, zunächst einmal weiß ich nichts von Euch, denn niemand hat mir etwas darüber gesagt, dass es Zwerge in meiner Grafschaft gibt. Doch weshalb sollte ich Euch jagen lassen oder Euch um Euer Gold bringen wollen? Meine Untertanen mögen mir Abgaben schulden, doch bestehen sie keineswegs aus ihrem ganzen Vermögen. Wenn Ihr die üblichen Abgaben entrichtet, werden meine Männer Euch ebenso beschützen, wie alle anderen Untertanen meiner Grafschaft.“

„Das … das würdet Ihr tun?“, fragte der Zwerg verblüfft. „Ich habe nie gewagt, dies von einem Menschen hören zu dürfen. Menschen und Zwerge sind hier nicht gerade die besten Freunde.“

„Wieso nicht?“

„Die Reichtümer meines Volkes haben schon immer die Begehrlichkeiten anderer geweckt – ob es Menschen, Orks, Trolle oder Elfen sind. Deshalb misstrauen wir anderen Wesen und ganz besonders denen, die meinen, über uns herrschen zu können. Als Euer Vorgänger erfuhr, dass wir Sehende Steine besitzen, wollte er sie für sich haben. Es hat zum Krieg geführt, der mein halbes Volk ausgerottet hat. Ich habe von den Raubzügen gehört, die Ihr fern im Süden unternommen habt. Deshalb hatten wir Angst vor Euch und haben uns nicht zu erkennen gegeben. Doch Ihr scheint zu bereuen, was Ihr getan habt. Deshalb habe ich den Auftrag meines Vaters Mundin, des Königs der Zwerge, Euch zu beobachten und zu erforschen, was Eure Absichten sind. Und weil ich Euch beobachte, beobachte ich auch Eure Umgebung. Deshalb weiß ich, dass Reynir und Ulf Euch eine Falle stellen wollen. Ihr seid außer Reynir der Einzige, der als Gemahl der Königin infrage käme. Reynir will Euch aus dem Weg haben. Wenn Ihr mit dem Schiff nach Tiflur fahrt, wird es sein Ziel nie erreichen.“

Thorsten stand auf und begann eine unruhige Wanderung. War es eine Falle, in die Ulf ihn mit dem Siegel hatte locken wollen?

„Wenn Ihr mir schon länger folgt und auch meine Umgebung so genau im Auge behaltet … wisst Ihr auch, ob das, was er mir zur Herkunft des Siegels gesagt hat, wahr ist?“, fragte er.

„Es ist nicht wahr, Herr. Er hat es hier anfertigen lassen. Von Meister Leif“, erklärte Quirin. „Meister Leif hat er erzählt, es solle ein Geschenk für Euch sein – ohne Leifs eigentliche Marke.“

Thorsten war mit zwei Schritten an einem Schreibschränkchen und öffnete eine Lade, in der sich seine Siegel befanden. Er nahm das meerländische Siegel zur Hand und untersuchte es näher. Er fand die Meistermarke von Wilfrid Magnussen, die er bisher gar nicht gesucht hatte, weil er keine Veranlassung gehabt hatte, an Ulfs Worten zu zweifeln.

„Ihr wisst, dass Leif diese Marke gelegentlich benutzt …“, warf der Zwerg ein. Thorsten seufzte.

„Im Moment weiß ich nicht, wem ich was glauben soll …“, sagte er. „Aber es ist wahr. Leif hat mir diese Marke gezeigt und mir auch gesagt, wie er an sie gekommen ist. Da Ihr mir auf Schritt und Tritt zu folgen scheint, werdet Ihr wohl auch meinen Besuch bei Meister Leif verfolgt haben.“

Der Zwerg nickte.

„Quirin, ich bitte Euch um einen Rat: Wie kann ich in Erfahrung bringen, ob und vielleicht wo es Überlebende meiner alten Heimat gibt? Wie kann ich erfahren, ob und vielleicht wo meine Frau geblieben ist?“, bat der Graf.

„Vielleicht könnt Ihr mehrere Fische mit einem Haken fangen“, sagte Quirin. „Lasst von Frederiksvik ein Schiff nach Tiflur fahren. Unter Euren Untertanen gibt es gewiss welche, die das für Euch tun würden. Der Schiffer wäre gewarnt, dass er angegriffen wird und könnte sich dagegen wehren. Werden die Angreifer besiegt und als Gefangene hergebracht, könnte das den Verrat beweisen. Ich werde mit meinem Vater reden, dass er die Sehenden Steine befragt. Möglicherweise können sie das Geheimnis lüften.“

„Was würde Euer Vater dafür verlangen?“, erkundigte sich Thorsten.

„Was meint Ihr?“

„Ihr sagtet vorhin, dass Menschen versucht haben, Euch die Sehenden Steine zu nehmen. Euer Vater wird sie also wohl sehr gut hüten und einem Menschen nur ungern Zugang dazu gewähren. Da frage ich mich, zu welchem Preis er dies wohl täte“, präzisierte Thorsten.

„Wir Zwerge wären gern unsere eigenen Herren. Gebt uns frei“, erwiderte Quirin.

„Das ist ein Versprechen, das ich nicht geben kann, Quirin. Auch wenn Eure Heimat in meiner Grafschaft ist, so verwalte ich sie nur im Namen des Königs. Allein der König könnte Euer Reich freigeben. Das bin ich nicht und werde es auch nie sein“, entgegnete der Graf.

„Aber Ihr wollt doch die Prinzessin heiraten. Wenn sie Königin wird, könnte sie dieses Versprechen einlösen“, lockte Quirin.

„Ich verspreche nichts, was jemand anderes einlösen muss, Quirin. Und solange es keine Gewissheit über das Schicksal meiner ersten Gemahlin gibt, wäre diese Ehe nicht möglich.“

Der Zwerg sah den Menschen eine Weile an.

„Es gibt nicht viele wie Euch, weder unter den Menschen noch unter anderen Wesen“, sagte er langsam. „Andere würden alles versprechen und es nicht halten, ganz gleich ob sie das Versprechen aus eigener Kraft erfüllen könnten oder ob jemand anderes dafür einstehen müsste. Ihr bereut, was Ihr anderen angetan habt. Selbst der unter den Menschen als strahlender Held gefeierte König Dietrich von Bern hat den Rosengarten eines meiner Vorfahren ohne jeden Anlass geplündert und hat nicht die Spur von Reue gezeigt. Deshalb hat mein Vorfahr Laurin seine Rosen lieber versteinert, als sie nochmals der Gefahr durch Menschen auszusetzen. Wieso? Wieso bereut Ihr?“

Thorsten setzte sich wieder.

„Weil ich annehme, dass ich so viel Schlimmes getan habe, dass Gott mich dafür mit dem Verlust meiner Heimat und meiner Familie gestraft hat. Mehr will ich nicht anstellen“, erwiderte er. „Ich versuche, mich zu bessern und zurückzugeben, was mir erwiesen wird. Und dabei ist es mir gleich, wie groß oder bedeutend mein Gegenüber ist. Die Menschen meiner Grafschaft sollen sich auf mich verlassen können. Und wenn es Zwerge in meiner Grafschaft gibt, dann sollen sich auch die Zwerge auf mich verlassen können. Ich kann Euch die Freiheit nicht versprechen, aber ich kann Euch versprechen, dass ich Euch ein Herr sein werde, der Euch nicht anders behandelt als alle anderen, die mir untertan sind. Und ich kann Euch versprechen, dass Ihr es nicht bereuen werdet, in Frederiksmark zu leben. Mein Anliegen ist, dass es allen meinen Untertanen gutgeht“, sagte er. Der Zwerg legte den Kopf schief und kratzte sich am Bart.

„Ich werde mit meinem Vater sprechen und ihn bitten, Euch zu helfen, soweit wir Zwerge es vermögen. Ihr verdient eine Chance.“

 

 

Kapitel 7

Informationen

 

Die Herstellung der Kessel, die Thorsten als Handelsware mit nach Tador nehmen wollte, benötigte ohnehin Zeit. Der Graf kehrte deshalb zunächst nach Frederiksvik zurück. Es dauerte keine zwei Tage, bis Quirin erneut sehr heimlich bei ihm erschien und zwei deutlich ältere Angehörige seines Volkes mitbrachte. Quirin verneigte sich vor Thorsten, die beiden älteren Zwerge verweigerten die Ehrenbezeigung gegenüber dem Landesherrn. Als Thorvald seinem Herrn Respekt verschaffen wollte, winkte Thorsten ab.

„Nein, mein Freund“, sagte er und erhob sich. Er stieg die zwei Stufen zu den stolzen Zwergen hinunter und verbeugte sich seinerseits, während Thorvald beinahe in Ohnmacht fiel.

„Willkommen in Frederiksvik“, sagte Thorsten. „Quirin, wollt Ihr mir diese ehrwürdigen Herren vorstellen?“, bat er.

„Ihr seid wirklich anders als andere“, sagte der Zwerg. „Dieser edle Zwerg im roten Gewand ist Mundin, mein ehrwürdiger Vater. Der edle Alte im blauen Gewand ist Malin, meines Vaters Vater.“

„Edler Mundin, edler Malin, was führt Euch zu mir?“, fragte Thorsten mit einem unverfälscht freundlichen Lächeln. Auch die beiden älteren Zwerge verneigten sich nun doch, wenn auch zögernd.

„Ihr wolltet etwas wissen. Wir können Euch behilflich sein“, sagte der älteste Zwerg und präsentierte eine Kristallkugel. „Was möchtet Ihr wissen?“

„Ich wüsste gern, ob es Überlebende des Untergangs von Meerland gibt – und falls ja, wohin es sie verschlagen hat“, erwiderte Thorsten. Der alte Zwerg nickte.

„Wo kann ich mich setzen?“, fragte er. Der Graf nickte Thorvald zu, der Dienern winkte, die einen Stuhl und einen Tisch herbeitrugen.

„Nehmt Platz, edler Malin“, bot Thorsten dem Zwerg im blauen Gewand an. Der alte Zwerg setzte sich schnaufend, von seinem Enkel unterstützt, und nahm die Kristallkugel in beide Hände. Der klare Kristall wurde neblig, der Nebel färbte sich blau, dann grau. Dann winkte Malin dem Grafen, der zu ihm trat und in der Kugel Zeuge eines schrecklichen Unwetters über Meerland wurde.

Ein furchtbarer Sturm riss den Dachstuhl der Seeburg weg. Der hinabstürzende Dachstuhl durchschlug die Kante des Riffs, auf dem Seeburg gebaut worden war. Unter dem Riff tat sich eine Höhle auf. Thorsten glaubte, seinen Augen nicht zu trauen, denn die Höhlung war die gewaltige Schatzkammer Meerlands. Er hatte zwar gewusst, dass unter der Burg eine riesige Kammer gewesen war, er hatte auch gewusst, dass sie im Laufe der Jahrhunderte erweitert worden war, aber dass sie inzwischen praktisch ganz Seeburg unterminiert hatte, das war ihm nicht bekannt gewesen. Die ganze Stadt brach in sich zusammen. In dem vom Sturm aufgewühlten Wasser hatte niemand eine Chance zu überleben.

Ganz Meerland hatte auf einer gewaltigen Halbinsel gelegen, die aus Muschelriffen bestanden hatte. Fast jeder Hausbesitzer in Meerland hatte seinen Keller in diesen Muschelkalk schlagen lassen. Keller waren miteinander verbunden worden. Es war unterhalb des Landes ein ganzes Netz von Röhren entstanden, die sogar mehrstöckig waren. Deshalb war das Muschelriff in seiner Stabilität geschwächt gewesen. Der Zusammenbruch der Riffhöhle unter Seeburg löste ein solches Erdbeben aus, dass auch dieses Netzwerk in sich zusammenbrach und die gesamte Halbinsel bis nach Rungholt im Meer versank. Nur die Münsterspitze von Osterseeburg ragte noch aus dem Wasser.

Das Erdbeben löste Flutwellen aus, die die Küste östlich der Halbinsel bis eine Meile hinter dem normalen Flutsaum überschwemmten.

Drei Schiffe, die im Hafen von Osterseeburg vor dem schrecklichen Sturm Schutz gesucht hatten, wurden wie Nussschalen an Land geworfen und zerbrachen beim Aufprall.

Die Vision in der Kugel verblasste, der Nebel wurde wieder blau, es bot sich ein neues Bild. Drei weitere Schiffe unter meerländischer Flagge kamen an den Ort. Thorsten erkannte den Kaufmann Gunnar Johannsson, der mit seinen Seeleuten ebensolchen Schrecken im Gesicht hatte wie er selbst und seine Männer. Sie suchten verzweifelt nach Überlebenden, doch sie fanden keine. Gunnar und seine Leute segelten nach Britannien, kamen an der schottischen Küste an und wurden dort abgewiesen. Ein neuer Sturm aus westlicher Richtung trieb die drei Schiffe weiter nördlich als sie eigentlich hatten fahren wollen – und an die nordöstliche Ecke von Tador! Die riesigen Trolle, die über vierzehn Fuß lang waren, nahmen die Schiffe auseinander, als bestünden sie aus Stroh. Die Seeleute und Kauffahrer wurden von Scharen in grobe Felle gehüllter Orks gefangen genommen und fortgeführt. Erneut verblasste die Vision.

Nochmals wurde die Kugel neblig-grau, dann klärte sich das Bild wiederum, und eine kleine Hafenstadt mit diversen Pieren und zahlreichen Häusern aus Holz wurde sichtbar, über der eine hellblaue Flagge mit dem dunkelroten skandinavischen Kreuz wehte – Meerlands Landesflagge. Ein hölzernes Ortsschild mit der Bezeichnung Sigurdsvik in lateinischer Schrift markierte die Grenze des Ortes.

Thorsten schüttelte sich. Das konnte doch nicht wahr sein!

„Malin, was sehe ich hier?“, fragte er keuchend. „Sind es meine Wünsche oder …?“

„Wer ist noch aus Eurem Land, Thorsten?“, stellte Malin eine Gegenfrage, ohne die Frage des Grafen zu beantworten. Eher unsicher nickte Thorsten in Thorvalds Richtung. Der Zwerg bedeutete dem großen Meerländer, zu ihm zu kommen. Gehorsam trat der Ritter auf das Nicken seines Herrn zu dem alten Zwerg und dessen Kristallkugel, während der Graf sich wieder auf seinen Thron setzte. Zweifel nagten an dem jungen Mann. Das, was er in der Kugel gesehen hatte, hatte er sich in seiner Fantasie schon ausgemalt – abgesehen von der Hafenstadt Sigurdsvik.

Er beobachtete Thorvald, als der in die Kugel sah und kreidebleich wurde. Der sonst so hartgesottene Krieger wankte zurück und brach zusammen. Harald und Knut halfen ihm auf, sahen selbst in die Kugel – und wurden nicht weniger bleich als Thorsten und Thorvald zuvor.

„Was hast du gesehen Thorvald?“, fragte der Graf seinen treuen Gefolgsmann, als der sich etwas erholt hatte.

„Ich … ich sah, dass … Osterseeburg nach einem Seebeben in sich zusammenbrach und nur noch die Münsterspitze stehenblieb. Ich … sah … wie mein Hof mit allem, was da kreucht und fleucht, einfach vom Blanken Hans verschlungen wurde!“, keuchte der Gefragte. Auch Harald und Knut hatten ihre Heimatorte im Meer versinken sehen.

„Edler Malin, sagt uns: Ist das, was wir sehen, die Wahrheit oder sind es Hirngespinste?“, hakte Thorsten bei dem alten Zwerg nach. Dessen weißer Gabelbart sträubte sich, als er sanft lächelte.

„Wieso haltet Ihr das, was Ihr seht, möglicherweise für … Halluzinationen?“, stellte der ehrwürdige Zwerg erneut eine Gegenfrage.

„Weil es für uns wohl einfach unfassbar ist, dass uns durch Eure Kristallkugel offenbar wird, was in unserem früheren Heimatland geschehen sein mag“, erwiderte Thorsten. Malin sträubte sich erneut der Bart, als sein Lächeln sich verbreiterte.

„Geschehen sein mag?“, fragte er. „Ihr seht nichts als die lautere Wahrheit!“, erwiderte er.

„Aber … wie … wie geht das?“, hakte Thorvald schluckend nach.

„Es bedarf schon der Magie, mein Freund. Wer immer in diese Kugel schaut, verbindet sich auf magische Weise mit ihr. Die Kugel vermag zu erkennen, nach welchem Wissen es Euch dürstet. Sie spricht stets die Wahrheit“, erklärte Quirin vorlaut und erntete einen strengen Blick seines Großvaters.

„Sieht sie nur in die Vergangenheit?“, erkundigte sich Thorsten.

„Dem Geübten offenbart sie auch die Gegenwart“, erwiderte Mundin.

„Und … die Zukunft?“, fragte Thorsten.

„Nein, denn die Zukunft hängt von Euren Entscheidungen ab. Wüsstet Ihr – oder wer immer dies auch wünschte – was geschehen wird, könntet Ihr Euch umentscheiden, zeigte die Kugel etwas, was Euch missfallen würde. Nur die Götter selbst wissen, wie unser Schicksal sein soll. Wir Sterblichen erfahren dies erst, wenn es geschieht“, entgegnete Malin. Thorvald wollte aufbegehren, aber Thorsten schüttelte den Kopf.

„Nein, lass‘ es“, sagte er. „Ob wir an einen Gott glauben oder meinen, dass einer allein nicht die ganze Welt regieren kann – das Ergebnis ist wohl dasselbe: Nur Gott kennt die Zukunft, und er will nicht, dass wir wissen, was uns erwartet.“

„Mein Prinz! Ihr seid Christ!“, erinnerte ihn Harald erschrocken.

„Ich habe mein Leben für diesen Glauben eingesetzt“, erwiderte Thorsten. „Wenn ich anderen zugestehe, über ihren Glauben selbst zu entscheiden, bedeutet es nicht, dass ich meinen Glauben aufgebe. Wir sind auf den Kreuzzug gegangen, weil wir Orte zurückgewinnen wollten, die in Händen von Menschen sind, die wie wir an einen einzigen Gott glauben, die ihm aber einen anderen Namen geben und die ihn auf andere Weise verehren. Dass wir nicht bis dort gekommen sind, Harald, können wir auch als Gottes Willen betrachten, die Finger davon zu lassen, andere wegen ihres Glaubens als Feinde zu betrachten. Diesen Fehler werde ich nicht wiederholen. Jedenfalls nicht, solange mein Gegenüber mir wohlgesonnen ist. Wir gewinnen jene, die einen anderen Glauben haben, nicht dadurch für dieses Königreich, wenn wir sie nötigen wollen, ihren Glauben abzulegen. Ich werde die christliche Kirche mit meinem Leben beschützen und das Recht, an Christus zu glauben, jederzeit verteidigen. Doch ich werde nie wieder danach streben, anderen gewaltsam meinen Glauben aufzunötigen.“

Er sah den alten Zwerg an.

„Edler Malin, ich beabsichtige, meine Landsleute in Tador aufzusuchen. Wenn Ihr es vermögt, zu beobachten, was dort geschieht, während ich dort bin, wäre es mir lieb, wenn Ihr das tätet. Und falls ich dort in Gefahr geraten sollte, bitte ich Euch, dies meinem treuen Thorvald rasch mitzuteilen, damit er mir vielleicht Helfer senden kann“, sagte er.

„Würdet … Ihr uns Zwerge im Gegenzug dafür freigeben?“, fragte Malin.

„Das steht nicht in meiner Macht, denn ich bin kein unabhängiger Herrscher und werde es auch nie sein. Doch wenn Ihr mir auf diese Weise helft, will ich mich bei meinem König dafür einsetzen, dass Ihr als ein eigenes Volk anerkannt werdet und größere Freiheit erhaltet. Aber ich kann Euch nicht versprechen, dass er dazu bereit sein wird. Was ich Euch versprechen kann, ist, dass ich jeden meiner Untertanen gleich behandle – die Größe des Körpers spielt dabei keine Rolle.“

Jetzt war es Malin, der den jungen Menschen eingehend ansah.

„Wir Zwerge haben unter Eurem Vorgänger sehr gelitten. Er hat uns genommen, was uns gehörte. Er hat unsere Minen plündern lassen. Doch er hatte einen anderen Blick als Ihr. Ich will Euch vertrauen. Deshalb sage ich Euch, dass Ihr in großer Gefahr seid. Ihr habt Neider. Reist nicht auf die Weise, auf die Ihr reisen wolltet, wenn Ihr es für unumgänglich haltet, nach Tador zu gehen“, sagte er.

„Also seht Ihr doch in die Zukunft?“, hakte Knut nach.

„Dafür muss ich nicht in die Zukunft sehen können“, entgegnete Malin. „Tador ist seit undenklichen Zeiten mit Thule verfeindet. Und ich sage Euch wohl auch nichts Neues, wenn ich sage, dass Euer Herr Neider am Hof hat. Jemand, dem die Prinzessin gewogen ist, hat Neider. Und jemand, der anderen einen anderen Glauben als den an Euren Gott lassen will, ist in noch größerer Gefahr“, erklärte der alte Zwerg.

„Euer Enkel hat dies herausgefunden, als er mir folgte, edler Malin. Er hat mich schon vor diesen Neidern gewarnt. Ich werde Eurer Warnung folgen. Danke“, sagte Thorsten. „Ihr … sagtet, mein Vorgänger habe Euch beraubt. Sagt mir, was er Euch geraubt hat.“

„Den Ring, den Ihr tragt.“

Thorsten sah den Ring näher an, den König Christian ihm als Grafenring gegeben hatte, als Zeichen seines Amtes. Ihm als Menschen passte der Ring gerade auf den linken kleinen Finger. Er bestand aus einem rötlichen Metall, das der junge Graf als Kupfer betrachtete. Ein dunkelblauer, in Fassetten geschliffener, transparenter Stein von fast quadratischem Schnitt schmückte ihn.

„Welche Bedeutung hat dieser Ring für Euch?“, fragte Thorsten. Mundin und Malin sahen sich an.

„Ihr wisst nichts von den Zwergen, oder?“, hakte der jüngere Zwerg nach.

„Nur das, was ich aus Geschichten weiß, die mir meine Mutter erzählte, als ich noch ein kleiner Junge war“, erwiderte Thorsten mit sanftem Lächeln. „Ich habe nie erwartet, dass ich einmal einem Zwerg wirklich begegne – doch jetzt sind drei in dem Haus, das ich bewohne. Was sollte ich von den Zwergen wissen?“

Mundin seufzte.

„Einst … waren wir die Herren dieser Insel. Neun Zwergenvölker lebten hier. Die neun Fürsten der Zwerge bildeten den Rat der Neun. Der Größte unter ihnen war der Fürst des Weißen Berges, der in Tador liegt. Sein Reichtum war legendär. Doch Reichtümer haben schon immer gierige Neider angezogen. Drachen sind sehr empfänglich dafür, Reichtümer unter der Erde zu spüren. Ein Drache brachte den Weißen Berg an sich und mit ihm das stärkste unserer Reiche. Dann kamen die Orks, die uns Zwerge aus dem Nordosten dieser Insel vertrieben und die übrigen fünf Zwergenreiche Tadors vernichteten. Wer nicht vom Drachen oder den Orks umgebracht worden war, zog sich hierher in den Südwesten zurück.

Hier bestanden die drei kleinsten Zwergenreiche, die nach dieser Zeit der Vernichtung und Trauer nun die einzigen sind, die es auf dieser Insel noch gibt. Das Reich des rotgoldenen Saphirs ist das größte dieser Reiche. Der Ring an Eurer Hand ist der Ring aus rotem Gold, der das Herrscherzeichen ist. Doch die Menschen, die vor etwa tausend Jahren herkamen, wollten die Insel selbst beherrschen und die Zwerge nicht als Herren dieses Landes anerkennen. Viele Kriege haben wir gegen die Menschen gefochten. Das Glück war wechselnd. Dann wollten die Tadorins die ständigen Unruhen hier nutzen, um die ganze Insel unter ihre Herrschaft zu bringen. Menschen oder Zwerge können gegen sie nicht bestehen, aber Zwerge und Menschen vermögen sie abzuwehren. Mei… äh, der Ahnherr des rotgoldenen Saphirreiches, Filin, fiel im Kampf gegen die tadorischen Orks an der Seite eines Eurer Vorgänger als Graf von Frederiksmark. Dieser Euer Vorgänger nahm den Ring an sich. Angeblich, um ihn zu verwahren, bis das Erbe geklärt war. Doch er starb, bevor der neue Zwergenherr anerkannt war, und sein Sohn behauptete, nichts davon zu wissen, dass der Ring, den er von seinem Vater geerbt hatte, der Herrscherring des Zwergenreiches ist. Seither wird er vom Grafen von Frederiksmark getragen.“

„Wie … lange ist das her?“, fragte Thorsten. Die Zwerge sahen sich an. Erneut war es Quirin, der gegen die Einwände seines Vaters und Großvaters die Auskunft gab:

„Etwa dreihundert Jahre“, sagte er. Thorsten nickte.

„König Christian hat mir diesen Ring als meinen Amtsring übergeben. Ich kann ihn also nicht einfach hergeben.“

„Edler Thorsten … Ihr wünscht, die Prinzessin zu ehelichen“, sagte Mundin. „Sie wird den Thron ihres Vaters erben und Königin werden. Als ihr Gemahl seid Ihr der König …“

Er brach ab, als er Thorstens abwinkende Handbewegung bemerkte.

„Nein“, widersprach der Graf. „Nach den Gesetzen dieses Landes werde ich nicht König sein, falls ich Gatte der Prinzessin werden kann, sondern Prinzgemahl. Thule kann auch von einer Königin regiert werden. Ich bin froh und glücklich, dass König Christian uns heimatlosen Rittern hier ein neues Zuhause gegeben hat. Dafür dienen wir ihm. Ich werde diese Großzügigkeit nicht missbrauchen, indem ich ein Versprechen gebe, das ich aus eigener Kraft nicht halten kann. Ihr habt mir sehr geholfen mit den Auskünften, die mir Eure Kristallkugel gewährte. Bitte, edle Zwerge, versteht mich, dass ich das, was Ihr mir über Euch selbst gesagt habt, prüfen muss.“

„Haltet Ihr mich für einen Lügner?“, brauste Malin auf.

„Nein, das fiele mir nicht ein. Die Erfahrung lehrt mich nur, eine Geschichte erst dann als Information zu betrachten, wenn sie mir von einer anderen Seite bestätigt wird. Ich habe Euch versprochen, dass ich mich für die Anerkennung Eures Volkes als eigenes Volk mit mehr Rechten als bisher einsetzen werde. Meine Versprechen halte ich.“

Malin betrachtete den jungen Mann so eingehend, dass Thorvald nervös wurde.

„Ihr seht meinen Herrn an, als wolltet Ihr seine Seele finden“, bemerkte er. Malin sah den vierschrötigen Ritter an.

„Ihr habt es erfasst. Und was ich gesehen habe, überzeugt mich, dass Euer Herr wahrhaftig ist.“

Er wandte sich erneut an Thorsten:

„Ich will Euch vertrauen. Wir Zwerge werden über Eure Reise wachen. Tut Euch selbst den Gefallen und nennt denen, die Euch die Liebe der Prinzessin neiden, auf keinen Fall Euer tatsächliches Reisegefährt“, sprach er eine Empfehlung aus, die Thorsten als gut gemeinten Rat entgegennahm. Der junge Graf nickte.

„Was kann ich Euch außer diesem Ring geben, um Euch meine Dankbarkeit zu zeigen?“, fragte er. Die Zwerge sahen sich an. Quirin reagierte erneut als Erster.

„In Eurem Schatz müsste sich eine kleine Truhe mit weißen Edelsteinen befinden, die wie die Sterne selbst leuchten. Gebt sie uns als Zeichen Eurer Dankbarkeit“, sagte er. Thorsten nickte.

„Sie sei Euer“, sagte er. Den Zwergen klappten die Kinnladen herunter. Diesmal fing sich der alte Malin als Erster.

„Die Prophezeiung wird wahr!“, keuchte er. „Bei der Krone Samurins: Die Zwerge werden Eure Freunde sein!“

 

 

Kapitel 8

Ein einfacher Kaufmann

 

Wenige Tage darauf wurde ein Segler im Hafen von Frederiksvik eifrig mit Kisten beladen. Es war die Frederholm, eines der Schiffe der gräflichen Flotte. Die Hafenarbeiter und die Schiffsbesatzung hatten Anweisung, das angebliche Ziel Tiflur mit südlichem Kurs um Thule herum nur dann bekannt zu geben, wenn sich jemand als Graf von Svendheim oder dessen Bruder Ulf zu erkennen gab. Alle anderen sollten nichts erfahren. Thorsten wollte auf diese Weise sicherstellen, dass nur der von ihm als Verräter verdächtigte Ulf von Svendvik um das Ziel wusste.

Als dessen Spione mit der Nachricht nach Svendvik zurückkehrten, die Hafenarbeiter würden nichts zum Ziel des Schiffes sagen, reiste er selbst nach Frederiksvik und fragte am 29. Mai 1206 tatsächlich selbst am Schiff nach. Erst, nachdem er sich als adlige Autorität, als Bruder des Grafen von Svendheim zu erkennen gab, erzählte ihm der Kapitän hinter vorgehaltener Hand, er wolle am 3. Juni nach Tiflur fahren und habe den Grafen Thorsten als Tuchhändler getarnt an Bord. Ulf rieb sich frohgemut die Hände. Endlich konnte er seinem Bruder den Erfolg melden, dass Thorsten nach Tiflur segeln wollte. Der einfache, mit zwei Pferden bespannte gedeckte Wagen, der mit einer Ladung Kupferkesseln Frederiksvik in östlicher Richtung verließ, forderte keineswegs seine Aufmerksamkeit.

Unbeachtet von allem Volk lenkte Arne den Wagen zum Rand des Ortes. Drei Meilen östlich von Frederiksvik hielt er an.

„Wir haben die Stadt verlassen, Herr“, sagte er.

„Danke, Arne. Geh zum Hof dort“, sagte Thorsten, der hinten im Wagen gesessen hatte, und wies auf den Bauernhof, vor dem Arne nach seiner Weisung angehalten hatte. „Er gehört Jens Svensson, dem Bruder des Kaufmanns. Er wird dir ein Pferd geben, damit du nach Frederiksvik zurückreiten kannst. Wir sehen uns, wenn ich zurück bin. Sende eine Nachricht an den König, dass die Frederholm Frederiksvik mit Ziel Tiflur verlassen hat und Svendvik passieren muss. Der Kapitän Alf Magnusson hat Anweisung, nahe der Küste zu segeln und auf Überfälle gefasst zu sein. Ich hoffe, dass die Zahl der Soldaten groß genug ist, um einen Überfall zu vereiteln und die Schuldigen nach Drakavik zu bringen.“

„Ich werde es ihm melden, mein Prinz“, versprach Arne. Thorsten lächelte schief, als er sich die schwarze Gugel überzog, die ihm als Oberbekleidung dienen sollte.

„Nenn‘ mich nicht so. Ich bin kein Prinz mehr“, sagte er.

„Auch wenn Meerland nicht mehr existiert, Ihr bleibt mein Prinz – nein, genau mein König, Herr.“

„Ich bin ab jetzt der einfache Kaufmann und Kesselflicker Sören Sörensson“, griente Thorsten. Arne nickte.

„Natürlich. Wie konnte ich das vergessen? Gehabt Euch wohl“, sagte er und sprang vom Wagen. Thorsten trieb die Pferde an und fuhr in Richtung Norden nach Wodanien.

Einige Tage später rollte der mit Kupferkesseln beladene Wagen an die wodanische Grenze. Wodanien war eines der beiden heidnischen Fürstentümer, die dem König von Thule die Gefolgschaft verweigerten und sich für unabhängig erklärt hatten. Ein Grenzposten trat dem Wagen in den Weg und hielt seinen Speer quer vor sich.

„Halt! Wer bist du und wohin willst du?“, fragte er scharf.

„Ich? Ich bin Sören, der Kesselflicker. Ich flicke und verkaufe Kupferkessel. Möchtet Ihr einen haben, Euer Gnaden?“, bot Thorsten gut gespielt diensteifrig an.

„Nein!“, grunzte der Wächter. „Woher kommst du?“

„Ach, von da“, erwiderte Thorsten und wies mit dem Daumen hinter sich.

„Aus Thule?“, hakte der Posten nach.

„Ja.“

„Weiß du nicht, dass wir keine Thuler bei uns haben wollen?“

„Herr, ich bin nicht aus Thule. Ich habe dort nur gehandelt“, schwindelte der verkleidete Graf.

„Und woher kommst du wirklich?“

„Ursprünglich bin ich aus Meerland. Aber ich ziehe schon seit Jahren durch die Welt, um Kessel zu verkaufen.“

Das war nur halb geschwindelt.

„Wo hast du zuletzt was verkauft?“

„In Frederiksvik, weiter südlich in Frederiksmark.“

„Deine Marktlizenz!“

Thorsten kramte in seinen Taschen und förderte schließlich die Handelserlaubnis heraus, die er sich zwei Wochen zuvor ausgestellt hatte. Grunzend nahm der Wächter die Marktlizenz. Sie trug das Siegel der Grafschaft Frederiksmark und eine Unterschrift, die als Graf Thorsten zu lesen war.

„Was nimmst du für deine Kessel?“

„Ein Silberstück für die kleinen und zwei für die großen Kessel. Das ist spottbillig, Euer Gnaden“, erwiderte der angebliche Händler. Der Wächter nickte.

„Wohin willst du?“

„Nun, ich werde mir wohl in Wodansborg eine Marktlizenz holen müssen. Ich hörte, dort besteht Stapelrecht. Also werde ich meine Waren dort anbieten. Dann will ich weiter nach Norrevik. Wenn es möglich ist, würde ich von dort nach Sofar weiterziehen.“

„Sofar? Du weißt, dass das in Tador ist?“

„Nun, so sagte man mir“, erwiderte Thorsten.

„Dann sag‘ den Posten an der Grenze um Wotans willen nur nicht, dass du schon in Thule gehandelt hast!“, keuchte der Posten. „Mit thulischen Leuten machen die kurzen Prozess!“

„Danke für den Rat, Euer Gnaden.“

„Willst du Ware in Wodanien kaufen und nach Tador bringen?“, fragte der Grenzer weiter.

„Bisher war es verboten, wodanische Kupferwaren auszuführen, gleich ob nach Thule oder nach Tador. Ist das geändert?“, erkundigte sich der angebliche Händler. Thorsten war nicht aufgebrochen, ohne sich über Handelsbestimmungen in Wodanien, Odoheim und Tador zu informieren. Der Posten grinste.

„Ich merke, du kennst dich im Kupferhandel aus. Fahr‘ weiter, Händler!“, sagte er und gab den Weg frei. Thorsten erwischte sich beim Aufatmen. Er hatte gut daran getan, die Händler in Frederiksvik nach dem Handelsgebaren Wodaniens zu befragen.

Das erste Ziel des getarnten Grafen war Wodansborg. Mit dem Hinweis, dass er Meerländer sei, bekam er trotz der letzten Lizenz aus Thule eine Verkaufserlaubnis für Wodanien. Mit der Marktlizenz zog er durch Wodanien, hielt in jedem Dorf und bot seine Ware feil, kaufte einheimische Tonwaren, deren Ausfuhr erlaubt war. In Norrevik besah sich ein Mann die Kupferkessel genau, die Thorsten anbot.

„Das ist die Marke von Wilfrid Magnussen, oder?“, fragte er.

„Ja, wieso?“

„Du stellst sie nicht selbst her?“

„Nein, ich bin Kesselflicker und Händler. Weshalb fragt Ihr?“

„Nun, vor nicht allzu langer Zeit war hier ein anderer Händler mit Kupferkesseln von Wilfrid Magnussen, der sagte, er beziehe die Ware aus Sigurdsvik.“

„Sigurdsvik?“

„Du bist doch Meerländer, oder?“

„Ja.“

„Dann kannst du nur aus Sigurdsvik kommen!“, schloss der Kunde. Thorsten schluckte trocken. Gab es das etwa wirklich?

„Ich ziehe seit langem durch die Lande, seit Meerland nicht mehr ist, aber dort war ich noch nie und habe auch nie davon gehört. Wo soll das sein?“

„Bist du über Island hergekommen?“

„Nein, aus dem Süden über Irland“, antwortete Thorsten wahrheitsgemäß. „Als ich von einer langen Handelsreise nach Meerland zurückkehrte, war es versunken.“

Der Mann kam näher zu Thorsten.

„Ich stamme aus Vikersborg. Das ist in Bragenheim, das zum Herzogtum Fjordsand gehört. Dir kann ich es sagen, denn du bist kein Thuler“, flüsterte der Mann. „Vikersborg liegt an den Bruchbergen, die dieses Land in zwei Teile spalten. Etwas nördlich von Vikersborg liegt Sigurdsvik in einem Landstrich, der auf beiden Seiten von den Bruchbergen umgeben ist. Es gehörte vielleicht zu Tador, war aber vielleicht auch Niemandsland, weil es nur von See her zugänglich ist. Die Tadorins fahren nicht zur See. Dort findest du deine Landsleute.“

„Wieso sind sie dorthin, wenn sie nur ein paar Meilen weiter südlich in Vikersborg hätten landen können?“, wunderte sich Thorsten. Der Mann seufzte.

„Was meinst du, weshalb ich hierher ausgewandert bin?“

„Ich nehme an, Ihr seid kein Christ und möchtet Euch nicht der Kirche unterwerfen“, mutmaßte der getarnte Graf.

„Nein, das hatte andere Gründe. Aber ich kann hier nicht reden. Wenn du mehr wissen willst, komm heute Abend in die Mehlgasse 3. Dort wohne ich. Axel ist mein Name.“

„Ich werde kommen“, versprach Thorsten.

Nach Sonnenuntergang hatte Thorsten die übriggebliebenen Waren wieder in seinem Wagen verstaut und im Hof eines Handelskontors der wodanischen Kaufmannsgilde abgestellt. Die Zugpferde wurden von den Stallknechten gegen ein paar Silberstücke mitversorgt. Von dort war es nicht weit bis zur Mehlgasse, wo er an die Tür des Hauses mit der Nummer 3 klopfte. Es war ein aus Holz gebautes Haus mit einem etwas überkragenden oberen Stockwerk. Oben wurde ein Fenster geöffnet.

„Was willst du?“, fragte eine unwirsche weibliche Stimme.

„Ich möchte Herrn Axel sprechen“, erwiderte Thorsten.

„Ach, du bist es. Komm hinten in den Hof!“

Der getarnte Graf ging um das Haus herum und gelangte durch einen schmalen und schon ziemlich dunklen Gang zwischen einer massiven Steinmauer und dem Haus, zu einem mit ebensolchen Steinmauern gegen die Nachbargrundstücke abgegrenzten Hof, in dem allerlei Gemüse wuchs. Es war nun schon fast dunkel geworden, doch neben der hinteren Tür hing eine mit Pergament verkleidete Lampe, in der eine Kerze flackerte und so die Mündung des Seitenganges und die Türöffnung beleuchtete. Die hintere Tür wurde geöffnet, eine Hand streckte sich ins Licht und winkte den Besucher hinein. Auch der hintere Flur war nur schwach beleuchtet, so dass Thorsten aufpassen musste, wohin er trat. Im von einigen Kerzen und Kienspänen besser erleuchteten mittleren Flur stand Axel.

„Danke, dass du gekommen bist. Das ist Helga, mein Frau. Helga, das ist der Kaufmann von dem ich dir erzählt habe. Wie … ist dein Name?“

„Sören, Sören Sörensson“, stellte der getarnte Graf sich vor.

„Du bist aus Meerland. Und von wo dort?“

„Aus Seeburg.“

„Helga ist aus Goldenhaven, sie ist wie du aus Meerland“, stellte Axel vor. „Komm“, ergänzte er und winkte den Besucher in eine kleine Stube, deren Fenster zum Hof zeigten.

„Helga kann dir sagen, was geschehen ist.“

„Wann bist du von Meerland weg?“, fragte sie, als sie sich auf eine Ofenbank setzten.

„Im Frühling 1199, als auch unser Kreuzzugsheer aufbrach. Umstände hinderten mich an einer Rückkehr und so kam ich erst 1204 zurück. Doch als ich über die Düne vor Dynebjerg kam, sah ich nur noch die zerstörten Türme von Osterseeburg“, erklärte Thorsten. „Was ist geschehen?“

„Du weißt sicher, dass unser König seinen jüngsten Sohn zum Führer des Kreuzzuges bestimmte“, sagte Helga. Thorsten nickte.

„Da du aus Seeburg bist, wirst du sicher auch wissen, dass Prinz Thorsten während seiner Hochzeitsfeier den Befehl des Königs bekam, drei Tage nach der Hochzeit mit dem Heer aufzubrechen.“

Erneutes Nicken des Besuchers.

„Es war ein Frevel. Das haben alle gesagt, Edle des Landes wie einfache Menschen. Er durfte nicht einmal seine Frau mitnehmen, obwohl sie ihm nun angetraut war. Ein halbes Jahr nach dem Aufbruch des Heeres kam ein Bote des Prinzen, der um die Erlaubnis zur Rückkehr bat, weil die Schiffe in Venedig erst Jahre später fertig werden sollten. Doch der Bote wurde mit der Nachricht zurückgeschickt, dass keiner von ihnen zurückkehren sollte, ohne im Heiligen Land gewesen zu sein. Sie sollten dort warten, bis die Schiffe fertig seien, aber keinesfalls umkehren. Jeder hat gesagt, dass dies Gottes Strafe nach sich ziehen wird. Und so ist es auch gekommen. Drei Monate danach, im Winter 1200, tobten ständig Unwetter über Meerland. Drei schreckliche Sturmfluten brachen über uns herein. Seeburg und Goldenhaven waren die ersten Städte, die untergingen. Ihr wisst sicher auch, dass Meerland auf einem nur scheinbar sicheren Grund stand.“

„Ich erinnere mich, dass es Kalkstein war.“

„Ja. So hart, dass man daraus Kellergewölbe aushöhlte. Mein Vater war der Baumeister Björn. Er sagte, dass der Boden unter Seeburg in den Jahrhunderten, in denen es schon stand, weitgehend ausgehöhlt worden war und nur noch wenige verbliebene Säulen alles stützten. Bei der ersten Sturmflut im Februar 1200 wurde die Burg abgedeckt, ein Teil der Mauer brach zusammen und der Blanke Hans hatte freie Bahn. Die Wellen zerstörten innerhalb von Augenblicken die gesamte Stadt. Es konnten sich nur ganz wenige retten, die in den Stadtteilen weiter hinten lebten, aber es waren vielleicht fünfzig Leute.

Wir konnten von unserem Haus aus sehen, wie Seeburg versank. Dann knackte es schon unter uns. Mein Vater schrie noch, dass wir das Haus verlassen müssten. Ich war zufällig an der hinteren Tür, als unser Haus wegsackte. Ich konnte mich gerade noch mit einem Sprung retten, aber sonst niemand. Ich bin nur noch gerannt und konnte mich in den Wald retten. Wer außer mir noch davongekommen war, zog nach Moldeborg. Es dauerte aber nur wenige Tage, bis auch dort der Boden nachgab. Wir flohen weiter ins Landesinnere, aber auch Middelborg brach ein paar Tage nach dem Untergang von Moldeborg zusammen. Wer übrig blieb, ging nach Osterseeburg. Die zweite Flut, die keine zwei Wochen nach der ersten kam, riss die Reste der Muschelbänke weg. Die Küste hatte da schon Osterseeburg erreicht. Die dritte Flut spülte Osterseeburg fort. Sie kam mitten in der Nacht, weshalb nur wenige aus Osterseeburg entkommen konnten. Dynebjerg war unsere letzte Zuflucht. Alle Überlebenden suchten dort Schutz. Aber es war nicht für lange, und wir ahnten es auch. Alle Brunnen in Dynebjerg reichten bis in die Muschelbänke. Das Wasser war salzig, man konnte es nicht mehr trinken. Wir waren vielleicht noch tausend Menschen, hauptsächlich Männer. Ich gehöre zu den wenigen Frauen, die es geschafft haben.

Wir hatten Glück, dass nur zwei Tage nach dem Versalzen der Brunnen die Schiffe von Gunnar Johannsson kamen. Er und Wilfrid Magnussen nahmen es auf sich, für uns eine neue Heimat zu suchen. Gunnar steuerte die Schiffe nach Thule. Ein Sturm trieb uns ab, so dass wir nicht nach Drakavik kamen, sondern in Vikersborg landeten. Wir dachten, jetzt würde alles gut, aber das war es nicht. Herzog Nils von Fjordsand ließ erklären, dass seine Lande nicht genug Platz für uns hätten. Es gäbe aber ein unbesiedeltes Land, ein Tal in den Bruchbergen, das bis ans Meer reichte. Er wollte, dass wir uns dort ansiedelten und dieses Land seiner Herrschaft unterstellten. Gunnar fragte, wem das Land denn gehöre. Darauf ließ Nils uns mitteilen, dass uns das nichts anginge. Wir sollten es besiedeln. Gunnar weigerte sich, anderen ihr Land wegzunehmen. Nils ließ ihn einfach hängen. Alle Frauen und Kinder wurden von den Männern getrennt und die Männer gezwungen, das Land in Besitz zu nehmen. Zum Beweis sollten sie den Kopf eines Tador-Orks bei Herzog Nils abliefern. Ihnen wurde angedroht, dass alle Frauen und Kinder umgebracht würden, wenn sie nicht gehorchten. Sie taten es, aber Nils gab nur wenige Kinder und fast keine Frauen heraus. Die meisten ließ er als Sklavinnen verkaufen, auch mich. Ich hatte Glück und wurde von Axels Eltern gekauft. Axel ließ mich frei und wir heirateten, aber andere haben nicht so viel Glück gehabt.

Die Männer hatten inzwischen Sigurdsvik gegründet, aber als Nils die Herausgabe der Geiseln verweigerte, verweigerten sie den geforderten Tribut. Nils ließ seinen Sohn Carsten auf sie los. Sie konnten ihn abwehren, indem sie die Schiffe schon auf See versenkten. Dieses Tal ist nur von See her erreichbar, weshalb es auch unbesiedelt war, obwohl es eigentlich zu Tador gehörte. Nils befahl daraufhin, alle noch in Bragenheim lebenden meerländischen Frauen und Kinder töten zu lassen. Das war vor zwei Jahren. Axel gab alles auf, um mich zu retten. Wir zogen hierher nach Wodanien.“

Helga liefen die Tränen über die Wangen. Thorsten war bleich geworden.

„Was … ist aus … aus der königlichen Familie geworden?“, fragte er stockend

„In Seeburg gab es keine Überlebenden. Unter denen, die fliehen konnten, ist kein einziger Seeburger. Die Burg stand ja ganz nah an der Küste. Sie brach zuerst zusammen. Das kann niemand überlebt haben. Und ich sage dir: Es geschieht ihnen recht – sehe ich von der unglücklichen Ingrid ab. Sie hatte ihren Ehemann gerade drei Tage und hat ihn nie wiedergesehen.“

„Danke“, sagte er mit trockener Kehle. „Wie komme ich nach Sigurdsvik?“

„Es ist am anderen Ende dieser Lande“, sagte Axel. „Du müsstest durch das ganze Bruchgebirge. Mit einem Wagen ist das nicht zu schaffen. Aber ich habe ein Schiff und kann dich hinbringen. Es ist eine lange Fahrt, denn wir müssen einmal um diese ganze riesige Insel fahren. Und wir werden Abstand zu Thule halten müssen, denn ich fahre unter wodanischer Flagge. Wodanien betrachtet sich als unabhängig von Thule. Nördlich herum ist es noch gefährlicher, den die Tadorins hassen alles, was westlich dieser Berge lebt.“

„Wann kannst du fahren?“

„Morgen früh.“

 

 

Kapitel 9

Niemandsland

 

Es war schon unter normalen Umständen eine Reise von einer ganzen Woche, um von der nordwestlichen Seite der gewaltigen Insel zu deren Südostseite zu gelangen. In dem Fall hielt man sich aber dicht unter der Küste. Axel fuhr einen Kurs, der erheblich weiter vom Land entfernt war. Von dort konnte er zwar noch die höchsten Berge der Bruchberge sehen, konnte aber einigermaßen sicher sein, dass sein kleiner Segler von dort kaum bemerkt wurde. Wegen der größeren Entfernung benötigte das Seemöwe genannte Schiff fast zehn Tage, bis es südöstlich von Sigurdsvik war. Erst dann schlug Axel einen Kurs ein, der direkt auf die Talschaft zuführte, in der die meerländische Siedlung lag.

Je näher die Seemöwe dem Ufer kam, desto deutlicher wurde, dass über den Häusern die Flagge Fjordsands wehte, eine schwarze Flagge mit einem weißen Leoparden darin. Ein Leopard, ein schreitender Löwe wie im englischen Wappen.

„Seltsam“, sagte der Kapitän. „Als ich das letzte Mal herkam, wehte hier noch die meerländische Flagge. Wir müssen vorsichtig sein.“

Er wies einen seiner Matrosen an, die dänische Flagge zu setzen.

„Es wird besser sein, wenn du mit keiner Silbe erwähnst, dass du in Wodanien Handel getrieben hast. Zeig besser deine thulische Handelserlaubnis vor“, wandte er sich an Thorsten. „Bisher gab es hier kein Stapelrecht, aber wenn Fjordsand dies annektiert hat, dann wird sich das vermutlich geändert haben“, ergänzte er.

„Danke für den Rat“, erwiderte der angebliche Händler.

Wenig später lief der kleine Segler in den Hafen ein. Es waren drei Landstege, die ins Meer hinaus gebaut worden waren. An der Seebrücke, die Axel ansteuerte, kam dem Schiff bereits ein Mann im schwarz-weißen Gambeson Fjordsands entgegen und wies auf einen freien Platz. Axel steuerte sein Schiff dorthin.

„Nicht schlecht!“, brummte der Fjordsander. „Mit der Nussschale von Dänemark hierher! Ihr seid mutig. Willkommen in Carstensvik.“

„Ah, als ich das letzte Mal hier war, hieß das hier noch Sigurdsvik“, bemerkte Axel. „Seit wann ist es umbenannt?“

„Seit Herzog Nils dafür gesorgt hat, diesen meerländischen Namen zu tilgen. Dreckiges Pack!“, grunzte der Beamte und spuckte wütend aus.

„Nanu? Seit wann gibt es in Fjordsand Vorbehalte gegen Meerländer?“, hakte Thorsten ein.

„Seit es ein paar meerländische Ritter nach Thule verschlagen hat und Prinz Thorsten von Meerland unseren Prinzen Carsten ermordet hat! Aber dem wird es bald an den Kragen gehen, keine Sorge!“, schnaubte der Beamte. „Womit handelt ihr?“

„Wir wollten Kupferkessel bei Meister Magnussen einkaufen“, antwortete Thorsten.

„Meister Magnussen? Der sitzt in Vikersborg im Kerker, der verdammte Meerländer! Seinen Laden hat Meister Henner übernommen. Dritte Straße links!“, erwiderte der Beamte. „Wie lange bleibt ihr?“

„Bis wir die Kessel haben. Dann fahren wir wieder ab“, sagte Axel.

„Wie lange, habe ich gefragt!“, knurrte der Fjordsander.

„Bis heute Abend“, erwiderte der Wodanier.

„Gut. Zehn Fillinge!

„Zehn … was bitte?“, stotterte Axel.

„Fillinge. Das ist Geld! Silber! Kommt ihr aus Blödvik?“

„Nein, aus Frederiksvik“, versetzte Thorsten. „Dort wurde mit thulischen Kronen bezahlt. Von Fillingen habe ich noch nie in Thule gehört.“

„Ihr kommt aus Blödvik!“, seufzte der Beamte. „Das hier ist das Herzogtum Fjordsand, ihr Dummbarsche! Wir haben unsere eigene Währung!“

„Nun gut. Wie viel ist das in thulischen Kronen? Die kann ich Euch bieten“, entgegnete Thorsten.

„Fünfzehn Kronen“, sagte der Beamte. Thorsten bezahlte die Liegegebühr, mochte sie ihm auch als blanker Wucher erscheinen. In Frederiksvik verlangte er zwei Kronen Liegegebühr – für eine ganze Woche! Er und Axel stiegen aus, um zum früheren Laden von Meister Magnussen zu gelangen. Axel ließ sein Schiff von seinen Matrosen so vertäuen, dass ein Handgriff genügte, um das Tau vom Poller zu lösen.

Wenig später standen Thorsten und Axel im Laden von Meister Henner.

„Ihr wünscht?“, fragte der Mann hinter dem Ladentisch.

„Kupferkessel“, erwiderte Thorsten. „Wenn Ihr thulische Kronen als Bezahlung akzeptiert – oder meerländische Roslinge.“

„Roslinge oder Torlinge, wenn Ihr genügend habt“, grinste der Mann. „Woher kommt Ihr, dass Ihr solche Münzen noch habt? Seit Meerland untergegangen ist, habe ich keine mehr gesehen. Selbst, als dies noch Sigurdsvik hieß, habe ich nur thulische Kronen bekommen.“

„Aus Meerland“, erwiderte Thorsten. „Und Ihr?“

Der Händler sah ihn eine Weile an.

„Wenke!“, rief er dann. Umgehend erschien eine Frau in der Tür, zu der fünf Stufen vom Laden hinauf führten.

„Henner?“

„Kümmere dich um den Laden, Frau! Ich bin mit diesen Kunden im Lager!“, erwiderte der Inhaber. „Folgt mir, bitte“, wandte er sich dann an die beiden Männer, die vor dem Ladentisch standen.

Wenke kam in den Laden hinunter, Henner lotste Thorsten und Axel noch ein Stockwerk tiefer in den Keller. Dort unten drehte er sich um und sank dann vor Thorsten auf die Knie.

„Vergebt, dass ich Euch nicht gleich angemessen begrüßte, Herr. Seid Ihr gekommen, um uns zu retten?“

„Ihr seid Meerländer?“, fragte Thorsten, ohne die größer werdenden Augen seines Kapitäns zu beachten.

„Wie wir alle hier“, erwiderte Henner. Thorsten half ihm auf.

„Steht auf. Vor mir wird nicht gekniet.“

„Aber Ihr seid doch …“, sagte Henner, aber Thorstens Handbewegung ließ ihn verstummen.

„Sprecht es bitte nicht aus, Herr Henner“, warnte der Prinz. „Sagt mir: Wann ging Meerland unter – und was ist aus der Königsfamilie geworden?“

„Meerland ging im Februar 1200 unter, Herr. Die königliche Burg war das erste Haus, das der Blanke Hans verschlang. Niemand ist entkommen – abgesehen von Euch, der Ihr nicht in Meerland wart. Ich und wenige andere konnten gerade noch fliehen, weil wir im hinteren Teil Seeburgs wohnten. Nach nicht mal einem Monat gab es kein Meerland mehr. Als Dynebjerg weggespült wurde, hatten wir vielleicht tausend Überlebenden das ungeheure Glück, dass Gunnar Johannsson von einer Reise zurückkehrte und uns aufnehmen konnte. Er und Wilfried Magnussen brachten uns hierher. Wir wollten nach Drakavik, wurden aber abgetrieben und landeten in Vikersborg. Dort haben wir angelegt, aber Herzog Nils wollte uns dort nicht haben. Er verlangte, dass wir diese Küste hier in Besitz nehmen – für Fjordsand natürlich. Es war Niemandsland, weil die Tadorins weder Schiffe haben noch die Berge überqueren können. Deshalb hatten wir keine Schwierigkeiten, die Küste hier in Besitz zu nehmen. Aber Herzog Nils ließ unsere Frauen und Kinder gefangen setzen, damit wir auch gehorchten. Auf die Nachricht, dass wir das Land in Besitz genommen hatten, brach er sein Wort, die Frauen und Kinder vollzählig zurückzugeben. Er ließ von jeder Familie nur ein Kind frei und nur die Hälfte der Frauen. Er verlangte Tribut von uns – und zwar alles, was wir erwirtschafteten. Seither kommen jeden Monat drei Schiffe aus Vikersborg, um den Tribut einzufordern. Sie lassen uns gerade so viel, dass wir nicht verhungern, damit wir auch brav weiterarbeiten. Bis vor drei Monaten wurde noch geduldet, dass wir unter unserer eigenen Flagge leben. Den Ort hatten wir nach Eurem Vater benannt – Sigurdsvik. Doch vor drei Monaten kam Prinz Siegmar mit zehn Schiffen, ließ uns alle gefangen nehmen und verlangte, dass wir die Flagge Meerlands einholten, uns der Herrschaft des Herzogs unterwerfen und den Namen Carstensvik akzeptieren. Wilfried Magnussen wies darauf hin, dass Herzog Nils uns das thulische Bürgerrecht gegeben hatte und auch zugestimmt hatte, dass wir unsere Flagge benutzen und das Recht hatten den Ort so zu benennen, wie wir es wollten. Er wurde gefangen genommen und fortgebracht. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Prinz Siegmar übertrug mir sein Geschäft, weil ich ihm in meiner Angst Treue schwor. Und seither gilt hier auch die fjordsandische Währung Filling“, erklärte Henner.

„Das heißt, dass Herzog Nils sich von Thule losgesagt hat, verstehe ich das richtig?“, fragte Thorsten.

„Nach allem, was die Fjordsander hier schon angestellt haben, kann ich nicht glauben, dass irgendwer in Thule überhaupt weiß, dass Nils sich diese Bucht untertan gemacht hat“, erwiderte Henner.

„Wie viele seid Ihr?“

„Noch etwa siebenhundert.“

„Was habt Ihr an Kupferkesseln da?“

„Zehn Stück. Vier Fillinge kosten sie pro Stück. Das entspricht zwei thulischen Kronen.“

„Gut. Ich nehme fünf Stück und gebe Euch zwanzig Kronen. Ich kehre zunächst nach Frederiksvik zurück und werde mit König Christian sprechen, ob er zustimmt, dass Ihr nach Frederiksmark übersiedeln könnt. Und sollte er das tun, werde ich mit einer ganzen Flotte kommen, um Euch hier abzuholen“, versprach Thorsten.

„Das werdet Ihr ganz sicher nicht!“, kam eine Stimme vom oberen Ende der Lagertreppe. Thorsten, Axel und Henner fuhren erschrocken herum. Am Treppenkopf standen Soldaten im fjordsandischen Wappenrock.

„Und … weshalb nicht?“, fragte Thorsten so harmlos wie möglich.

„Weil Fjordsand allenfalls einzelnen Schiffen ein Anlegerecht erteilt – und es den Bewohnern von Carstensvik ausdrücklich verboten ist, Fjordsand zu verlassen. Und wer es als Auswärtiger wagt, Bewohner von Carstensvik dazu aufzuwiegeln, ihren Herrn zu verlassen, der hat den Tod verdient!“, knurrte der Soldat. „Packt ihn!“, befahl er.

Bevor die Soldaten die Treppe herunterkommen konnten, warf Thorsten den Kupferkessel, den er in der Hand hielt, mit solcher Wucht auf den befehlsführenden Soldaten, dass der davon glatt umgeworfen wurde. Mit einem Satz war Thorsten heran und entriss dem Mann das Schwert. Einen Fuß auf dessen Hals gesetzt, hielt er ihm die scharfe Klinge an die Kehle.

„Keinen Schritt weiter oder Euer Oberhaupt ist tot!“, drohte er. Die Soldaten zögerten. Eine solche Blitzreaktion hatten sie bei einem Kaufmann nicht erwartet.

„Verschwindet!“, befahl Thorsten scharf. Die Männer zögerten weiter. Er riss den Anführer auf die Füße und hielt ihn so vor sich, dass die Fjordsander keine Chance hatten, Thorsten anzugreifen, ohne ihren Anführer zu gefährden.

„Das werdet Ihr bereuen!“, knurrte der Anführer.

„Abwarten“, versetzte Thorsten. „Sollten Eure Leute mich oder meine Begleiter angreifen, sterbt Ihr auf jeden Fall mit mir – wahrscheinlich sogar früher. Überlegt Euch, ob Euch Euer Leben lieb ist oder ob Ihr es nutzlos opfern wollt.“

Der Anführer der Fjordsander gab seinen Widerstand auf und ließ sich von Thorsten hinaufführen. Seine Männer wichen zurück, verließen den Laden und stoben dann panisch davon.

„Henner, holt Eure Frau und kommt mit. Ihr seid hier nicht mehr sicher. Beeilt Euch!“, wies er den Händler an, der nur stumm nickte und dann seiner Frau winkte. Thorsten verschnürte den Anführer der Fjordsander, knebelte ihn und ließ ihn hinter der Ladentheke liegen, nachdem er ihn mit einem kräftigen Hieb mit dem Schwertheft bewusstlos geschlagen hatte. Henner, seine Frau Wenke und Axel folgten dem Prinzen, der zunächst vorsichtig aus der Ladentür peilte und die Straße leer vorfand.

„Schnell! Zum Schiff!“, befahl er. Eilig liefen die drei Männer und eine Frau zum Hafen. Kaum hatten sie die Straße an den Piers erreicht, als aus den darauf einmündenden Gassen Soldaten im Fjordsander Wappenrock stürmten, die ihnen den Weg abschneiden wollten.

„Lauft!“, befahl Thorsten, der zurückblieb, um die Flucht zu decken. Sie erreichten die Pier, an der das Schiff vertäut war, sprangen an Bord. Thorsten focht mit den vordersten Soldaten einen wilden Kampf, zog sich langsam zurück.

„Kommt!“, rief Axel. Thorsten stach zu, fällte den vordersten Soldaten und rannte dann die Pier entlang. Einer der Männer im Fjordsand-Rock griff schneller zum Bogen als es dem Meerländer lieb sein konnte, nockte einen Pfeil ein und schickte ihn dem Fliehenden hinterher. Thorsten, der den Pfeil nicht sehen konnte, wurde im Rücken rechts in Höhe des Schulterblatts getroffen. Der Einschlag ließ ihn zwei Schritte nach vorn stolpern, dann stürzte er ins Wasser.

Axel, der seinen Segler nur noch mit der Hand am Anlegesteg festhielt, ließ los, sprang an die Pinne und lenkte seine Seemöwe um die Pier herum.

„Fischt ihn auf!“, befahl er. Drei der Seeleute sprangen an die Backbordseite des Seglers und angelten mit langen Stangen nach Thorsten, der sich mit letzter Kraft an einer davon festhalten konnte, bis die Männer ihn an Bord ziehen konnten.

Axel riss die Pinne herum, um mit dem Wind von den Stegen fortzusegeln. Die Seemöwe nahm rasch Fahrt auf, entfernte sich von der Bucht.

„Bringt ihn ins Deckszelt!“, wies er seine Matrosen an, die Thorsten in das vor dem Heck an Deck aufgebaute Deckszelt brachten. Wenke und Henner folgten ihnen.

„Ich brauche ein scharfes Messer, Verbandzeug – und heißes Wasser!“, sagte die Frau. Die Matrosen sahen sie verblüfft an.

„Heißes Wasser gibt es auf See nicht“, versetzte einer.

„Dann wenigstens sauberes Wasser!“, knurrte Wenke. Der Matrose begriff und brachte ihr, was sie verlangte.

„Verzeiht, aber ich muss Euch wehtun“, bat sie um Vergebung. Thorsten, der nur noch knapp bei Bewusstsein war, nickte schwach.

Axel bemerkte, dass in Carstensvik Rauch aufstieg. Es war an einer anderen Stelle als der Laden von Meister Henner lag. Der Südostwind – seltene Erscheinung in dieser Gegend, in der West- oder Nordwestwind dominierte – nötigte den Kapitän, gegen den Wind zu kreuzen. Dass der Rauch ein Signal war, wurde ihm eine gute Stunde später klar, als von Vikersborg her drei Schiffe mit voll geblähten Segeln in Richtung Nordwesten fuhren. Die schwarz-weiß gestreiften Segel machten deutlich, dass es Schiffe aus Fjordsand waren. Er brauchte nicht einmal die Flagge zu sehen.

„Beim Klabautermann!“, entfuhr es Axel. „Herzog Nils‘ Seesöldner!“

Die Seemöwe war ein wendiger und schneller Segler, aber dennoch ein reines Handelsschiff, das eher auf den Transport von Ladung ausgelegt war als auf Schnelligkeit und Kampf. Die Schiffe des Herzogs waren allerdings wie Wikingerdrachen gebaut, die schmale Rümpfe hatten. Ein schmaler Rumpf garantierte hohe Geschwindigkeit, die mit langen Riemen noch verstärkt werden konnte.

Axel sah auf den kleinen Windzeiger an der Mastspitze. Auf dem jetzigen Kurs lief die Seemöwe direkt auf die Schiffe aus Vikersborg zu. Er riss die Pinne herum und drehte die Seemöwe auf einen nördlichen Kurs. Er war weit genug vom Land entfernt, um auf diesem Kurs nicht auf die tadorische Küste aufzulaufen. Den Matrosen befahl er, das Segel nach Backbord zu trimmen, so dass es den Wind voll aufnahm. Die Seemöwe schoss geradezu durch die Wellen.

„Sie fahren nach Carstensvik!“, rief einer der Matrosen.

„Sie werden uns bald folgen, wenn wir nicht ganz schnell außer Sicht sind und Kap Tiflur erreichen!“, keuchte der Kapitän. Sorgenvoll beobachtete er die fjordsandischen Schiffe, die Carstensvik anliefen.

Ein fürchterlicher Schrei aus dem Deckszelt lenkte den Kapitän von der Beobachtung ab.

„Knut, sieh nach, was da los ist!“, wies er einen der Matrosen an.

Knut betrat das Deckszelt und bemerkte, dass Wenke eine blutige Pfeilspitze beiseite legte, mit dem gelieferten Wasser den Rücken des Verwundeten abwusch und dann einen festen Verband anlegte.

„Was war das?“, fragte er.

„Die Reaktion eines Verletzten, dem eine Pfeilspitze aus dem Leib geschnitten wird“, erwiderte Wenke. „Die Wunde müsste eigentlich ausgebrannt werden, aber ich habe begriffen, dass auf einem Holzschiff kein Feuer gemacht werden kann. Wohin segeln wir eigentlich?“

„Nach Norden. Aus Vikersborg sind drei Schiffe gekommen. Sie laufen zwar Carstensvik an, aber Axel nimmt an, dass sie uns bald verfolgen werden. Zuvor war dort Rauch aufgestiegen. Er meint, das sei ein Signal für Herzog Nils‘ Seesöldner gewesen“, erklärte Knut.

„Nach Norden? Nach Tador? Ist das nicht zu gefährlich, wenn wir als Menschen uns diesem Ort nähern?“, hakte Henner erschrocken nach.

„Ja und nein. Die Tadorins werden uns nicht gefährlich werden, weil sie keine Schiffe haben. Aber das Wetter im Norden der Insel ist unberechenbar. Es kann von eben auf jetzt ein entsetzlicher Sturm losbrechen“, erklärte Knut.

[1] Pfund: altes Gewichtsmaß, im 13. Jh. ca. 450 g. 1g Silber = 0,47 €, 450 g = 211,50 €

[2] Vollmond am Montag, dem 24. April 1206.

 

 

Glossar

 

 

Blanker Hans: norddeutsche Bezeichnung für das Meer im Allgemeinen, im engeren Sinn für eine Sturmflut.

 

Hammenburch: alte, phonetisch an der örtlichen Aussprache orientierte Bezeichnung für Hamburg.

 

Lot: altes Gewichtsmaß, ca. 16 g.

 

Ork: Der Begriff Ork ist durch die Bücher Der Hobbit und Der Herr der Ringe von J.R.R. Tolkien zwar populär geworden, erfunden hat Tolkien den Begriff jedoch nicht. Bereits der antike römische Schriftsteller Plinius der Ältere verwendet orc als Bezeichnung für ein Seeungeheuer (Orca als Bezeichnung für den Schwertwal soll darauf beruhen). Auch die keltische Urbevölkerung der Alpen in Tirol kannte Orks als bösartige Dämonen, die nach ihrer Vorstellung die Berggipfel bewohnten.

 

Reisige: Berittene, nichtadlige Kriegsknechte im Mittelalter.

 

Spanne: altes Längenmaß, ca. 15 cm

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