Sibylla von Jerusalem besucht Balian von Ibelin in seinem neuen Zuhause in Ibelin, weil sie in ihm einen Ersatz für ihren Gemahl Guy de Lusignan sieht. Sibylla will jedoch mehr als nur einen anderen Gemahl und einen neuen Stiefvater für ihren Sohn – sie sucht nach Liebe.
Die selbst im Director’s Cut etwas knapp geratene Sequenz kommt hier in der ausführlichen Variante, teilweise basierend auf Film und Drehbuch, teilweise aber auch mit spekulativen Elementen.
Wegen meines Erachtens deutlicher Darstellung von Sex
Ab 18 Jahre
Bitte beachtet das.
Disclaimer
Die Rechte an dieser Story – soweit sie nicht ersichtlich vom Film bzw. Buch abweicht –, den handelnden Personen und den gewählten Orten, soweit sie nicht historisch sind, liegen ausschließlich bei 20th Century Fox, William Monahan und Ridley Scott.
Ich habe mir Figuren, Orte und Grundlage der Erzählung lediglich ausgeliehen und verdiene hiermit kein Geld.
Vorbemerkung
Ob in der Kinoversion oder im Director’s Cut – in beiden veröffentlichten Versionen von Königreich der Himmel ist die Episode in Ibelin, Balians Lehen westlich von Jerusalem, in der Tat eine kurze Episode, die selbst in der maximalen Variante vielleicht 15 Filmminuten (wenn überhaupt so viel) einnimmt.
Ich entsinne mich, dass ich in der Kinoversion einen regelrechten Schock bekam, als mit einem Kuss und einer – angedeuteten – Bettszene alles gesagt sein sollte, was zwischen zwei liebenden Menschen geschieht …
Der Director’s Cut brachte dann zwar eine Ausweitung der Beziehung zwischen Balian und Sibylla, die sehr viel weiter ging, auch mehr erklärte, aber immer noch an der Oberfläche blieb. Dem Kommentar von Ridley Scott zum Director’s Cut habe ich entnehmen können, dass er kein Freund solcher Szenen ist und sie den Schauspielern auch nicht zumuten mag. Nun ja, das Bett ist sicher nicht alles, was eine tiefgründige Beziehung ausmacht, Sir Ridley. In der Hinsicht gebe ich Ihnen Recht. Aber so, wie es dann ausgefallen ist, war es mir als Freund beider Beteiligter dann doch erheblich zu wenig.
Den meisten männlichen Wesen, die sich den Film mit mir zusammen anschauten, ging diese Sequenz schon in der Kinoversion erheblich zu weit; das bloße Erscheinen der Prinzessin Sibylla löste bei einigen dieser Adrenalin-Junkies nur bösen Spott aus. Sie waren offensichtlich von Action beseelt, wenn nicht gar besessen und hielten alles für überflüssig, was sich rechts und links daneben abspielte.
Diese Leute haben ohnehin nicht begriffen, dass es in Königreich der Himmel ebenso wenig nur um Action ging wie in Der Herr der Ringe. Solche Hohlköpfe zählen nicht – nicht mal in Gestalt des Ex-Präsidenten der USA, George W. Bush (wobei ich vermute, dass der sich einen Film, in dem Christen gegen die von ihm so gehassten Muslime verlieren, nicht angetan hat. Bei dem etwas desolaten Einspielergebnis der Kinoversion in den USA von gerade mal 46 Mio. US-$ wäre es auf seine 8 oder 9 Dollar Eintrittsgeld dann auch nicht mehr angekommen; nicht mal, wenn seine Entourage von Leibwächtern ebenfalls den vollen Preis hätte löhnen müssen … Aber das nur am Rande.)
Ich weiß mich jedoch in guter Gesellschaft mit Leuten, denen zwischenmenschliche Beziehungen etwas mehr bedeuten und mache mich deshalb daran, mehr Fleisch auf die recht bleich geratenen Knochen zu ziehen.
Wer den Film aufmerksam gesehen hat, muss festgestellt haben, dass Sibyllas Anwesenheit in Ibelin keine Sache von 24 Stunden ist. Als sie Ibelin erreicht, haben Balian und seine Leute gerade erst das große Wasserrad gebaut, das für eine Bewässerung der Felder sorgen wird.
Eine spätere Szene zeigt Sibylla auf der Dachterrasse des Herrenhauses – und zwar inmitten grünender Felder. Bei ihrer Ankunft sind dieselben Felder noch staubtrocken und ohne nennenswerten Bewuchs. Zwar wächst gerade in der Wüste vieles schneller als anderswo, wenn es denn mal regnet, aber hier geht es nicht um Wüstenpflanzen, sondern laut Drehbuch um Melonenfelder, Dattelpalmen und auch Orangenbäume (die Gegend um Jaffa, in der das historische Ibelin liegt, ist bekannt für ihre Zitrusfrüchte!)
Zudem ist ersichtlich, dass Balian nach Sibyllas Ankunft zunächst oben im Herrenhaus wohnt, da er sich auf der Dachterrasse wäscht und rasiert. Später jedoch, als Sibylla ihn mit dem Licht der Liebe überrascht, ist sein Arbeitszimmer unten im Haus, der Speisebereich ist Wohnraum, der eigentliche Wohnraum das Schlafzimmer.
Es ist nicht anzunehmen, dass Balian seine „Innenarbeiten“ gerade in den Räumlichkeiten macht, in denen sein Gast Sibylla wohnt. Offensichtlich haben sie also die Quartiere gewechselt. Auch das bedarf gewisser Zeit.
Langer Rede kurzer Sinn: Sibylla muss ein paar Wochen in Ibelin verbracht haben. Und da lässt sich sicher einiges erzählen …
Eine ergänzende Anmerkung noch:
In den Dialogen des Films sprechen sich Balian und Sibylla stets mit dem distanzierten Ihr an, auch nach dem sie bereits Liebende sind. Mit Verlaub, das ist Blödsinn.
Es mag sein, dass in den so genannten Vernunftehen eine distanzierte Anrede der Ehepartner üblich war (deshalb akzeptiere ich diese Anrede zwischen Sibylla und Guy), bei Liebenden werde ich das in hundert Jahren nicht glauben. Im Englischen, der Originalsprache des Films, gibt es keine Trennung zwischen du und Ihr/Sie, weil es in allen diesen Fällen you heißt. Ich halte das schlicht für einen Übersetzungsfehler im Synchrondrehbuch (ebenso wie die Meter Seide etwas daneben sind, weil die Maßeinheit Meter erst nach 1789 aufkam. Hier sind es Ellen, eine im Mittelalter gebräuchliche Maßeinheit) und gehe ab dem Moment, in dem Sibylla und Balian Liebende sind, auf das vertrauliche du über, jedenfalls, wenn sie allein sind. In Gegenwart von Dritten bleibt es beim distanzierten Ihr.
Einige Begriffe, die vielleicht nicht jedem bekannt sind, habe ich mit * gekennzeichnet und im Glossar nach Kapitel 22 erklärt.
Tornesch bzw. Hengnau (Gemeinde Wasserburg am Bodensee), September 2009
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Kapitel 1
Königliche Reisepläne
Sibylla von Jerusalem hielt es in Jerusalem nicht mehr aus. Guy war fort und stiftete im Osten Unruhe; das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Ihr Bruder Balduin wurde von Tag zu Tag schwächer, und sie litt unter der Vorstellung, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Ihr Sohn Balduin würde seinen Onkel beerben, was für die junge Frau eine fast noch schlimmere Vorstellung war, denn Balduin war nicht von stabiler Gesundheit, in sich gekehrt und schweigsam. Sein größter Schatz waren seine Spielzeugritter, die er zum Teil von seinem Stiefvater Guy geschenkt bekommen hatte. Guy wollte die Aufmerksamkeit des Jungen schon frühzeitig in die richtige Richtung lenken und ihn zum Ritter ausbilden. Für einen künftigen König war das sicher keine schlechte Grundlage, aber Guys Absichten erschienen ihr, wie jede Eigenschaft ihres Gemahls, nur darauf ausgerichtet, möglichst viel Macht in seiner Hand zu konzentrieren – und sie für seine fanatischen Ziele zu nutzen.
Sibylla war selbst machtverliebt. Für eine Person ihrer Herkunft und der Aussicht, eines Tages jedenfalls eine gewisse Zeit über eines der bedeutendsten Königreiche der Christenheit zu herrschen, war das gewiss nicht ungewöhnlich. Aber sie hatte wie ihr Bruder Balduin einen Lehrer gehabt, der ihnen vermittelt hatte, dass der Respekt vor den Muslimen und den Juden eine Voraussetzung zur Erhaltung dieses Reiches war.
Godfrey von Ibelin war dieser Lehrer gewesen. Er hatte nicht zu jenen Kreuzfahrern gehört, die aus religiösem Eifer ins Heilige Land gekommen waren. Godfrey hatte eine gute Zukunft für sich gesucht und daraus auch nie ein Geheimnis gemacht. Aber gerade deshalb hatte die er Bewohner des Heiligen Landes mit anderen Augen betrachtet als die religiösen Fanatiker.
Sibylla war diese Sichtweise ihres Lehrers durchaus logisch erschienen. Sie hatte ihn geliebt, obwohl er ein strenger Lehrer gewesen war. Doch sein Sohn – so wenig äußere Ähnlichkeit er auch mit seinem Vater haben mochte – hatte offenbar die guten Eigenschaften seines Erzeugers wie Mut, Aufrichtigkeit und Entschlossenheit geerbt, die weniger guten wie Strenge und Sturheit aber augenscheinlich ausgelassen.
Die Begegnung mit Balian hatte sie zutiefst erschüttert. Dieser Mann faszinierte sie. Er schien Furcht nicht zu kennen, zeigte keine Unterwürfigkeit. Balduin hatte sie schon bremsen müssen, Balian nicht gleich nach Ibelin nachzureisen, nachdem er die Stadt in Richtung Westen verlassen hatte. Er sollte wenigstens Gelegenheit haben, sich sein Gut anzusehen und sich dort zurecht zu finden – wobei die Bezeichnung Gut für das Dorf und die Ländereien mit einer Größe von etwa tausend Morgen eine wüste Übertreibung war. Ibelin war wahrscheinlich das minderwertigste Lehen, das es im ganzen Königreich Jerusalem gab. Godfrey hatte es mehr als notwendiges Übel angesehen und sich möglichst wenig dort aufgehalten, hatte jede Gelegenheit genutzt, nach Jerusalem zu kommen oder seinen König auf einem Kriegszug zu unterstützen.
Jetzt allerdings, einige Zeit, nachdem Balian Jerusalem in Richtung Ibelin verlassen hatte, platzte Sibylla fast vor Neugier, wie es ihm dort ging … Und dann war da noch die Möglichkeit, die ihr seit jenem Tag durch den Kopf spukte, an dem sie Balian zum ersten Mal gesehen hatte: Ob er Guy ersetzen konnte?
Ihr Sohn Balduin war jedenfalls von seinem so freundlichen Lächeln ganz angetan – abgesehen davon, dass Balian ihm seinen geliebten Bleiritter mit den Rädern so mustergültig repariert hatte, nachdem er im dunklen Flur des Palastes darüber gestolpert war und dem kleinen Ritter die Lanze abgeknickt hatte. Kein Wunder eigentlich, der Mann war gelernter Schmied und verstand sich auf die Behandlung von Metallen, wie sie von Bruder Jean erfahren hatte.
Aber ob er auch als Edelmann bestehen konnte? Die kostbare Tunika und sein männlich-schönes Gesicht mit dem gepflegt wirkenden Bart schienen dies wenigstens äußerlich zu bestätigen, aber gutes Aussehen war wahrhaft nicht alles, und Kleider machten halt Leute … Das Innere konnte ganz anders aussehen, wie sie von Guy nur zu gut wusste. Sibylla wollte Balian deshalb außerhalb der gezwungenen Hofatmosphäre kennen lernen. Dass diese Reise auch eine Flucht vor ihren Sorgen war, war eine ganz andere Sache …
Sie ließ ihren kleinen Hofstaat reisefertig machen und ritt mit einer ansehnlichen Truppe Turkopolen* als Eskorte nach Ibelin. Die Burg an der Pilgerstraße zwischen Jaffa und Jerusalem war zwar kaum einen Tagesritt entfernt, wenn man so schnell und scharf ritt, wie Sibylla es vorzog; aber es war weit genug, um Jerusalem und alle damit verbundenen Sorgen ganz weit hinter sich zu lassen. Fünfzig Meilen zwischen ihr, Guys Intrigen und dem drohenden Tod ihres Bruders – das war genau das, was sie jetzt brauchte: Abstand!
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Kapitel 2
Unerwarteter Besuch
Balian ahnte nichts von den Reisevorbereitungen in Jerusalem und schuftete wie sein eigener Sklave – auch wenn es im Hause Ibelin keine Sklaven gab, weder im Jerusalemer Haushalt noch im Dorf Ibelin an der Pilgerstraße.
Die letzten, die sein Vater noch als Sklaven gehalten hatte, hatte Balian freigelassen, kaum dass der König ihn als Baron von Ibelin bestätigt hatte. Es waren Muslime gewesen, Kriegsgefangene aus der Schlacht von Mont Gisgard, die ihm dafür die Füße geküsst hätten, hätte er es nur zugelassen, dass sie vor ihm zu Boden gegangen wären.
Von ihnen hatte er erfahren, dass Muslime es als Willen Gottes ansahen, wenn sie in Gefangenschaft gerieten, als Strafe für begangene Sünden.
Er hatte begriffen, weshalb Imad auch freiwillig als sein Sklave geblieben wäre, hätte Balian sein Recht ihm gegenüber geltend gemacht. Wie auch Imad hatte er den fünf Männern gesagt, dass er nicht die Absicht habe, Sklaven zu halten oder jemandem solches Leid zuzufügen und ihnen erlaubt, heimzukehren. Alle fünf waren geblieben, weil sie kein Heim und keine Familien hatten, zu denen sie hätten zurückkehren können. Alle fünf Männer hatten ihre gesamten Familien durch Angriffe der Templer und Kämpfe mit anderen Kreuzrittern verloren …
Als Ausgleich für Balians Güte wären sie sogar bereit gewesen, ohne Lohn weiterhin für ihn zu arbeiten, doch er hatte hartnäckig darauf bestanden, ihnen den gleichen Lohn zu zahlen wie allen anderen Dienern.
In Ibelin schöpfte man Hoffnung, denn der junge Herr hatte ein so offensichtliches Herz für die Bedürfnisse der einfachen Landbevölkerung, dass er den Christen unter seinen Dörflern wie die Reinkarnation des Messias, den Juden als Messias und den Muslimen als Abgesandter des Propheten Mohammed persönlich erschien. Er war freundlich, tat an dem, was er vorhatte, fleißig mit – und er wusste, wovon er sprach. Die arabischen Zimmerleute, die das große Wasserrad nach seinen Konstruktionsplänen gebaut hatten, hatten selten einen Europäer mit so klaren Vorstellungen getroffen, wie den jungen Herrn von Ibelin.
Das sonst so verschlafene Dorf war seit Balians Ankunft jedenfalls ein Ort voller Leben und Mut für die Zukunft geworden. Durch die Initiative Balians gab es endlich genügend Wasser, um die Melonenfelder, Palmengärten und Orangenhaine mit Aussicht auf guten Ertrag zu bewirtschaften.
Er, seine Männer und die Dörfler bauten in gemeinsamer Anstrengung das große Wasserrad gerade in das Traggerüst ein, als Sibylla und ihre Reisegesellschaft Ibelin erreichten …
Sie kannte das Gut von früher. Sie und ihr Bruder Balduin waren nicht nur in Jerusalem von Godfrey unterrichtet und erzogen worden; wenn es für den Baron unumgänglich gewesen war, sich auch persönlich um die Pilgerstraße zu kümmern, hatte er oftmals die Kinder Amaurys I. mit auf sein Lehen genommen. Zwar hatte die Erziehung eigentlich Balduin gegolten, aber Sibylla hatte ihren jüngeren Bruder als ältestes der Kinder Amaurys nie aus den Augen gelassen. So war sie ebenfalls in den Genuss der Erziehung und Ausbildung durch Balians Vater gekommen. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie wie ein Ritter reiten konnte. Oft genug hatte sich diese Fertigkeit als ausgesprochen wertvoll für ihren Freiheitsdrang erwiesen. Insbesondere war Ibelin der Ort gewesen, an dem sie reiten gelernt hatte. Bisher war das die Erinnerung an Godfreys Gut gewesen. Ansonsten hatte sie das Lehen als Kind schrecklich langweilig gefunden. Stets war es ein verschlafenes Wüstendorf gewesen, in dem nichts los war. Mit der Zeit hatte sie aber auch die Ruhe dort schätzen gelernt, die sie suchte, wenn die Situation in Jerusalem an ihren Nerven zerrte.
Umso verblüffter war sie über die quirlige Aktivität, die das sonst so stille Dorf erfüllte, als sie mit ihren Begleitern die ersten Häuser abseits der Pilgerstraße passierte.
Ihr Blick suchte nach Balian, von dem sie angesichts des wimmelnden Ameisenhaufens Ibelin erwartete, er werde dieses scheinbare Durcheinander von erhöhter Warte – etwa von den Zinnen der inneren Burg beim Herrenhaus – überwachen. Doch ihre spähenden Augen fanden ihn weder dort noch sonst auf einer erhöhten Stelle mit Überblick.
Einer der Jungen des Dorfes sah die herannahenden Reiter. Sibylla bemerkte seine Aufmerksamkeit und winkte ihn herrisch zu sich. Gehorsam kam der Knabe näher.
„Wo ist dein Herr?“, fragte sie.
„Ich gebe ihm Bescheid“, gab er zurück. „Wer seid Ihr?“
„Das sage ich deinem Sidi selbst“, entgegnete sie.
Der Junge nickte eingeschüchtert. Die Dame musste wohl eine hohe Persönlichkeit aus Jerusalem sein, zumal sie unter einem Banner ritt, das dem des Königreichs Jerusalem höchst ähnlich war. Ihre Turkopolen trugen die Fahne, die statt des silbernen Grundes des königlichen Feldzeichens einen violetten hatte. Das Jerusalemer Kreuz war jedoch das gleiche wie im Wappen des Heiligen Landes. Eilig rannte der Junge fort. Sibylla, ihre Dienerinnen und ihre Turkopolengarde folgten ihm langsam.
Balian dirigierte mithilfe eines stabilen Seils und einer ansehnlichen Anzahl seiner Männer sowie der Dorfleute das widerspenstige Wasserrad in die richtige Position, um das Förderrad in das Gerüst zu bauen. Mitten in der hektischsten Phase zupfte ihn der halbwüchsige Suleiman am Ärmel seines völlig verdreckten, eigentlich weißen Arbeitshemdes.
„Sidi! Jallah!“, sagte der Junge und deutete in Richtung Pilgerstraße.
Der Baron runzelte die Stirn, aber als Suleiman nicht nachließ, winkte er einen weiteren Mann herbei, der in Warteposition stand, um einzugreifen, wenn die bereits am Wasserrad beschäftigten Männer Hilfe benötigten, und drückte ihm das Seil in die Hand. Dann folgte er dem aufgeregten Jungen zum Dorfeingang.
Sibylla erschrak beinahe, als ein völlig verdreckter, aber offensichtlich völlig zufriedener Balian in ihr Blickfeld trat. Selten, das gestand sie sich ein, hatte sie einen Mann von Adel so voller Staub und Dreck gesehen. Selbst sein ebenmäßiges Gesicht hatte mehr Ähnlichkeit mit dem eines Mohren, als mit dem eines weißen Europäers. Er nickte ihr freundlich zu, nachdem er selbst offenbar völlig überrascht war, dass Prinzessin Sibylla nach Ibelin kam.
Die Prinzessin packte die Lust, ihn zu necken. Sie nahm den Schleier ab, der sie vor Wüstenstaub und allzu neugierigen Blicken schützte.
„Ich bin auf dem Weg nach Kanaan“, log sie ungeniert. „Dort hat Jesus Wasser in Wein verwandelt. Aber ein größeres Wunder wäre es, Euch in einen Edelmann zu verwandeln“, sagte sie – und war sich nicht ganz sicher, ob sie das nicht sogar ernst meinte.
Er lachte gewinnend und kraulte ihr Pferd sanft an den Nüstern.
„Das ist gar nicht so schwer“, erwiderte er mit breitem Grinsen. „In Frankreich wird man mit ein paar Ellen Seide zum Edelmann.“
Sibylla lachte hell. Er war nicht nur mutig, sondern auch schlagfertig und durchaus in der Lage, über sich selbst zu lachen, stellte sie zufrieden fest.
„Ich erwarte Eure Gastfreundschaft“, warf sie dann einen Köder aus. Wie würde er wohl auf so eine Unverschämtheit reagieren?
Sein Lächeln wurde sanfter, aber keinesfalls unterwürfig, auch wenn er eine Verbeugung andeutete.
„Sie ist gewährt“, sagte er und trat beiseite. „Latif!“, rief er nach dem alten Haushofmeister, der den Ruf aufnahm und begeistert in die Hände klatschte.
Endlich wieder Besuch aus dem Königshaus! Eilig rannte Latif voraus in das Herrenhaus.
Sibylla war etwas enttäuscht. Sie hatte gehofft, Balian würde sie für diese Unverfrorenheit zurechtweisen, doch er akzeptierte diese Forderung einfach. War er doch nur ein Stiefellecker wie die meisten anderen Adligen, die ihr zu gefallen versuchten, indem sie alles taten, was sie von ihnen verlangte? Eigentlich war er ihr anders erschienen – besonders, als er ihr bei seinem Besuch im Palast gesagt hatte, dass er sich nicht fürchtete, mit ihr allein zu sein – um im nächsten Atemzug mit entwaffnender Ehrlichkeit zuzugeben, dass es in gewissen Grenzen doch so war. Sie mochte diese ehrliche Art, aber was sie vollkommen bezauberte, waren seine warmen Augen, die eine Freundlichkeit und Sanftmut ausstrahlten, die sie noch nie bei einem Mann gesehen hatte.
Die Prinzessin und ihre Reisegesellschaft ritten zum Herrenhaus weiter.
Balian blieb bei seiner Baustelle zurück und sah ihr nach. Wohin wollte sie? Nach Kanaan? Dann hatte der verantwortliche Führer ihrer Turkopolen entweder die Karte falsch herum gehalten, als er den Weg nach Ibelin eingeschlagen hatte – oder sie hatte nicht ganz die Wahrheit gesagt, was ihr Reiseziel war …
Er beschloss, es zunächst so zu nehmen, wie es war. Ob im Orient oder in Europa, es galt überall der gleiche Grundsatz: Wer die Möglichkeit hatte, Reisenden Obdach und Verpflegung zu bieten, hatte auch die Pflicht, dies zu tun. Was immer auch das wahre Ziel der Schwester des Königs war: Sie in seinem Haus willkommen zu heißen, war eine schlichte Selbstverständlichkeit. Immerhin bot sich damit für ihn die Möglichkeit, sie abseits des Jerusalemer Hofes kennen zu lernen.
Ihr Bruder war Balian sympathisch, hatte ihm den Eindruck vermittelt, dass sie dieselben Ziele hatten. Dass der König sich der Ziele von Godfreys Sohn vielleicht noch nicht ganz sicher war, darauf wäre der junge Baron einstweilen nicht gekommen.
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Kapitel 3
Orientalische Sitten I
Reinigung
Im Herrenhaus erklärte Latif Sibylla wortreich, er würde dem jungen Baron schon klar machen, dass er seine Herrenwohnung für die Prinzessin zu räumen hatte. Sibylla nahm es zur Kenntnis und beschloss gleichzeitig, mit Balian über eine andere Lösung zu reden.
Schon früher hatte sie diese Räume belegt, doch seit Diener eher versehentlich in die normalerweise stets offenen Gemächer geplatzt waren, die Godfrey um eine Entscheidung bitten wollten, liebte sie diese zu ebener Erde gelegene Unterkunft nicht mehr wirklich. Aber für diese Nacht wollte sie es so lassen, wie Latif es eingerichtet hatte. Sie kannte ihn schon lange und wusste, dass er es ihr nur recht machen wollte. Sie mochte ihn nicht enttäuschen, bei ihm nicht den Verdacht aufkommen lassen, dass er ihre Wünsche nicht vorausgeahnt hatte. Nichts war im Orient schlimmer, als das Gesicht zu verlieren – das galt auch für alte Haushofmeister …
Dank des Eifers ihrer Dienerinnen war der eigentliche Speisebereich rasch zum provisorischen Badezimmer umgestaltet, damit die Prinzessin und ihre Begleiter sich vom Reisestaub bereinigen konnten.
Ibelin war rustikal; die Prinzessin wusste es nur zu gut. Aber auch, wenn sie Luxus und die Annehmlichkeiten des Orients mehr als nur zu schätzen wusste, war das kleine Dorf samt dem Herrenhaus gerade wegen seiner urwüchsigen Eigenschaften ein von Sibylla besonders geliebter Ort. Ein Ort, an dem sie Ruhe fand.
Sie wies ihre Dienerinnen an, ihre Wanne so zu stellen, dass sie durch die mit Schnitzwerk versehenen Türen hinaussehen konnte, ohne selbst beobachtet zu werden. Interessiert beobachtete sie während ihres Bades Balian, der sich gewandt und sicher auf dem Gerüst bewegte, das sie beim Eintreffen in Ibelin als sichtbarste sachliche Neuerung erspäht hatte. Er befestigte das riesige Wasserrad, sah zwischendurch aber immer wieder zum Herrenhaus hinüber. Die Prinzessin fragte sich, ob sein Blick tatsächlich ihr galt, wie sie hoffte, oder ob er sich eher Sorgen um sein erst vor kurzem bezogenes Heim machte, das ihre Dienerinnen gerade gründlich umkrempelten. Der Gedanke entlockte ihr ein schelmisches Lächeln.
Der Jubel der Bauern, die um das Rad herumstanden, und das zufriedene Gesicht des jungen Barons, als er mit den Befestigungsarbeiten fertig war, riefen Sibylla aus ihren Gedanken zurück. Sie spürte, wie sehr es den neuen Herrn dieses Lehens freute, den Menschen Hoffnung gegeben zu haben.
Die Schwester des Königs gestand sich in diesem Moment ein, dass es sie bisher wenig interessiert hatte, wie es dem einfachen Volk eigentlich ging. Sie spürte, dass sie vor Beschämung rot wurde und war heilfroh, dass sie mit dem Rücken zu Samira, ihrer Leibdienerin, saß. Da musste doch tatsächlich erst ein Mann aus dem einfachen Volk kommen, dessen Vater ein Vertreter des angesehensten Adels im Heiligen Land war, um sie auf dieses Versäumnis hinzuweisen …
Sibylla lächelte erneut. Wenn er es ohne Worte fertig brachte, sie auf Versäumnisse gegenüber dem Volk hinzuweisen, dann konnte dieser Mann in der Lage sein, der Politik im Heiligen Land durch sein eigenes Beispiel eine neue Richtung zu geben. Sie wollte ihn prüfen …
Die junge Frau stieg gereinigt aus der Wanne, ließ sich von ihren Dienerinnen abtrocknen und sich in ein frisches, sehr bequemes Kleid helfen. Dann wies sie diese an, den jungen Herrn angemessen zu empfangen – und Waschwasser für ihn vorzubereiten. Sie hatte den dunklen Verdacht, dass sie Balian erst noch beibringen musste, dass man sich im Orient auch dann vor dem Essen gründlich wusch, wenn das Vorhandensein von Wasser keine Selbstverständlichkeit war.
Die Sonne sank gen Westen, malte die Lehmziegelhäuser knallrot an und verkündete den nahen Abend. Die Leute, die mit Balian an dem Wasserrad gearbeitet hatten, stellten in Erwartung der bald fallenden Dunkelheit die Arbeit an den Wasserleitungen ein und kehrten in ihre Häuser zurück.
Mit dem jungen Herrn kamen Michel und Almaric samt ihren Frauen und Kindern den Weg zum Herrenhaus hinauf. Die Kinder, die den Erwachsenen zum Teil tatkräftig geholfen, teilweise neugierig zugeschaut hatten, lachten und scherzten, die drei Männer waren rechtschaffen müde, völlig verschwitzt und verdreckt. Alle sehnten sich nach einem reinigenden Bad, Balian auch nach einem ruhigen Abend. Sie kamen durch das Tor der Wehrhausanlage, das während des Tages stets offen stand, in den umfriedeten Hof. Almaric und Michel gingen rechtsherum weiter in die Wohnungen der beiden ersten Soldaten Ibelins, Balian bog nach links in das nach Osten ausgerichtete eigentliche Haus des Barons ab, das gleich neben dem Torturm lag.
Er überquerte den Arkadengang, der sich über die ganze Breite der Gemächer im Erdgeschoss zog, die sich aus dem eigentlichen Wohnraum, dem mit einem Raumteiler abgetrennten Speisebereich und einem durch eine Tür verschließbaren Vorratsraum mit Verbindung zum Treppenhaus zusammensetzte. Über den Arkadengang bestand ebenfalls ein Zugang zu den Stiegen nach oben, die zur einen Seite in die oberen Räume führten, in das Arbeitszimmer und das Schlafgemach, von wo aus die Dachterrasse zu erreichen war. Zur anderen Seite gelangte man über das Treppenhaus in die Wehrbereiche des Torturmes und weiter in die Wohnungen des im Herrenhaus lebenden Hauptmanns und seines Stellvertreters. Nach unten führten die Stufen in den Baderaum und die Küche, die beide unter der Terrasse der Herrengemächer lagen.
Als Balian seine Wohnung betrat, beugte sich eine von Sibyllas zahlreichen Dienerinnen hinunter, um ihm die verschmutzten Schuhe aufzuschnüren, doch er hinderte sie sanft und half ihr auf.
Samira, die Leibdienerin der Prinzessin, betrachtete das Tun des jungen Herrn mit Misstrauen. Dieser Mann sollte ein wahrhaftiger Baron des Königreichs Jerusalem sein? Nein, das konnte sie nicht glauben. Dennoch gelang es ihr, diesen Gedanken so zu verbergen, dass ihm kein abweisender Gesichtsausdruck auffallen konnte. Sie bedeutete ihm schweigend, gleich auf die Terrasse durchzugehen, was er zu Samiras Verblüffung auch tat. Er hatte dabei nicht einmal wirklich Gelegenheit zu sehen, dass sein Heim radikal verändert war – der Wohnraum zum Schlafgemach und der Speiseraum zum Badezimmer umgestaltet. Lediglich ein paar Vasen mit Blumen fielen ihm beim Durchgehen auf. Als er hinaustrat, schloss Samira hinter ihm gleich die Tür. Verblüfft sah er den kleinen Tisch, der sonst im großen Raum vor dem Kamin stand, mitten auf der Terrasse, darauf eine Schüssel mit Wasser und zahlreichen darin eingeweichten Rosenblättern nebst zwei Flakons, die wohl kostbare Essenzen enthielten, wie sie nur vom Jerusalemer Könighaus verwendet wurden …
Während er noch recht verunsichert auf die ungewohnte Terrasseneinrichtung sah, forderte ein leises Geräusch seine Aufmerksamkeit. Die Tür zum Speisebereich öffnete sich und sein Gast kam heraus, gekleidet in ein weiches Kleid aus rein weißem, plissiertem Musselin, die dunklen Haare offen, abgesehen von zwei dickeren Strähnen, die am Hinterkopf zusammengebunden waren und so das schöne Gesicht freihielten.
Sibylla lächelte ihn freundlich an und streckte ihre rechte Hand nach ihm aus. Balian erwiderte ihr offenes Lächeln scheu und verlegen, als ihm bewusst wurde, dass er, völlig verdreckt und verschwitzt wie er war, für die verwöhnte Prinzessin wohl nicht der angenehmste Gastgeber war.
Sie sah ihn einen Moment lang an. Eigentlich war es erstaunlich, dass dieser Mann, der vor ihr stand, nicht wie ein Ziegenbock stank. Der Umstand sprach dafür, dass er in der orientalischen Sitte des täglichen Bades weniger Unterricht benötigte, als sie zunächst angenommen hatte – mochte sein momentan völlig verdrecktes Erscheinungsbild dem auch heftig widersprechen.
Sie spürte den dringenden Wunsch, ihn zu waschen und das edle Äußere wieder hervorzuzaubern, das sie im Palast von Jerusalem gesehen hatte. Bis zu diesem Tag hatte sie nur ihren Sohn Balduin höchstselbst gewaschen; weder Guillaume von Montferrat noch Guy de Lusignan hatten diesen Wunsch bei ihr geweckt. Aber Balian … Er löste etwas bei ihr aus, das sie für sich selbst nie erwartet hatte. Er gefiel ihr – durch sein zweifelsohne männlich-schönes Äußeres, seinen natürlichen Adel, der Prunk nicht nötig hatte, seine Fähigkeiten, aber auch durch seinen unglaublichen Fleiß. Er machte sie neugierig, es drängte sie, ihn zu berühren und nachzuprüfen, ob dieser Mann nicht eine Vision war, eine Fata Morgana, die nur ihren Träumen entsprang.
Sie nahm ihn an der Hand, und zu ihrer Verblüffung ließ er sich tatsächlich zu dem kleinen Tischchen führen, setzte sich auf eines der Sitzkissen, die sie hatte bereit legen lassen. Sie tauchte ein frisches Leinentuch in das mit Rosenblättern parfümierte Wasser und begann, ihm das Gesicht zu waschen. Doch Balian, erschrocken über ihr Tun, nahm ihr Handgelenk, um sie an diesem Dienst zu hindern, der einer Prinzessin unwürdig war.
Aber sie wollte sich nicht hindern lassen. Diese Berührung machte Lust auf mehr. Er war wirklich real … Seine offensichtliche Ablehnung dieses niederen Dienstes stachelte sie nur an, ihn noch intensiver zu berühren. Sie wünschte sich, dass er sie ebenfalls noch mehr berührte – über diese sanfte, aber bestimmte Abwehr hinaus. Seine Hand war kraftvoll, konnte aber auch unglaublich sanft sein, wie sie gerade festgestellt hatte. Sibylla sah ihm tief in die Augen. Braun waren sie, dunkelbraun, aber transparent wie dunkler Bernstein. So etwas hatte sie noch nie gesehen …
„Das ist nicht unkeusch“, sagte sie und sah ihn noch eindringlicher an. „Ich wasche Euch“, stellte sie klar. Ihre Begründung entlockte ihm ein scheues Lächeln.
„Und selbst wenn es unkeusch wäre – was es nicht ist – diese Gebote gelten nicht für Menschen wie uns. Sie wurden für andere geschaffen.“
In das scheue Lächeln ihres Gastgebers mischte sich sanfter Spott. Es war offensichtlich, dass er diese Worte nicht ernst nahm. Dieses ebenso verlegene wie spöttische Lächeln faszinierte sie. Grundgütiger! Was für ein Lächeln! Wie es wohl aussah, wenn er rundherum zufrieden und glücklich war, wenn schon diese Verlegenheit so verlockend aussah?
Balian war zutiefst verunsichert. Einerseits konnte er nicht dulden, dass sich die Prinzessin so erniedrigte, andererseits war das, was sie tat, wunderschön. Wie lange war es her, dass eine Frau ihn berührt hatte? Ein halbes Jahr? Noch länger? Hatte ihn überhaupt je eine Frau so ohne jede Scheu berührt? Nein, allenfalls seine Mutter, als er noch ein kleiner Junge gewesen war … Als sie trotz seiner Abwehr fortfuhr, ihn zu bereinigen und es auch noch so begründete, gab der junge Mann auf. Er konnte der Schwester seines Königs wohl kaum verbieten, sich ihm dienstbar zu erweisen, wenn der Glaube es sogar forderte – ganz abgesehen davon, dass es schön war, was sie tat und sehr angenehm, sich auch einmal verwöhnen zu lassen. Zwar bemühte er sich verzweifelt, sie nicht anzusehen, weil er meinte, dann für nichts mehr garantieren zu können, aber ihre schöne Erscheinung zog seinen Blick geradezu magisch an. Ohne es wirklich zu wollen, weidete er sich an dem wundervollen Anblick, der sich ihm so greifbar nahe präsentierte.
„Hat man Euch zu essen gegeben?“, erkundigte er sich schließlich, um das Gespräch in eine ungefährlichere Bahn zu lenken. Sibylla grinste verschmitzt und stupste ihn mit dem nassen Tuch auf die Nase.
„Nein“, sagte sie. „Ich sagte, man solle warten, bis der Herr zurückgekehrt ist.“
Balian musste grinsen, auch wenn es noch verlegener wirkte, als bisher. Herr, das war für ihn immer noch eine ungewohnte Titulatur. Er betrachtete sich nicht als Herr dieser Menschen; allenfalls als jemand, der Ideen hatte, den Leuten helfen und in Ibelin einfach nur zu Hause sein wollte. Die Prinzessin tat noch einen letzten Wisch auf seiner rechten Wange, was eine helle Spur in seinem verschmutzten Gesicht hinterließ, dann ließ sie das Tuch ins Wasser fallen.
„Mein Koch wird etwas zubereiten, während Ihr Euch wascht“, sagte sie. Der Baron erwischte sich beim Aufatmen. Sie hatte anscheinend doch nicht vor, ihn von Kopf bis Fuß zu waschen, was zweifellos nötig war.
Sibylla erhob sich und verließ die Terrasse. Balian nahm das Tuch, tauchte es erneut ein, um sich schon vorzureinigen, dann rief er nach Latif.
„Sidi?“, meldete sich der Haushofmeister zur Stelle.
„Bitte, lass mir ein Bad richten“, bat Balian.
„Ja, Sidi, sofort“, bestätigte der Haushofmeister. „Wünscht Ihr die blaue Tunika und ein frisches Hemd?“
Balian nickte müde.
„Sidi …“, setzte Latif an.
„Hmm?“
„Äh, ich … habe der Prinzessin die unteren Räume des Herrenhauses gegeben und Euch einstweilen nach oben verlegt. Ist … Euch das so recht?“
„Ja, ist gut. Du hast eine gute Wahl getroffen.“
„Danke, Sidi“, erwiderte Latif strahlend und verbeugte sich diensteifrig.
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Kapitel 4
Orientalische Sitten II
Gastmahl
Balian badete, nachdem Latif ihm mitgeteilt hatte, dass alles bereit war. Normalerweise nahm er sich Zeit, um in der Wanne zu entspannen und Überlegungen für den kommenden Tag anzustellen. Normalerweise ließ Latif ihm diese Zeit auch, doch an diesem Tag lugte der Haushofmeister entgegen seiner sonstigen Gewohnheit schon bald, nachdem der Baron sein tägliches Bad begonnen hatte, in die Badestube im Souterrain des Herrenhauses.
„Sidi, die Prinzessin hat das Gastmahl auf der Dachterrasse richten lassen“, erklärte er.
Es klang wie eine Warnung, fand Balian. Er wischte sich müde über das Gesicht. Eigentlich hatte er gedacht, bald nach dem Essen schlafen gehen zu können, aber da Sibylla sich praktisch beim ihm oben eingeladen hatte, konnte er das schlecht.
‚Sei nicht so undankbar!’, schalt er sich in Gedanken. ‚Du wolltest sie kennen lernen. Also nutze gefälligst die Möglichkeit, wenn sie dir schon auf dem silbernen Tablett dargeboten wird! Wie viele Barone haben denn überhaupt die Möglichkeit, mit Mitgliedern der Königsfamilie so ungestört zu reden?’
Er beeilte sich, sich abzuwaschen und war auch schon abgetrocknet, bevor einer seiner Diener auf die Idee gekommen wäre, dass der junge Herr schon mit dem Bad fertig sein könnte. Latif hatte ihm ein frisches Leinenhemd, eine saubere Hose und die dunkelblaue Tunika mit der kostbaren Stickerei am Halsausschnitt bereit legen lassen. Balian zog sich an, zupfte die Tunika sorgsam zurecht und achtete darauf, dass der breite Gürtel aus dunkelroter Seide ordentlich saß. Im Spiegel sah er sich amüsiert grinsen.
‚Wann habe ich zuletzt so auf meine Erscheinung geachtet? Als ich Natalies Eltern um ihre Hand gebeten habe … Balian – du bist doch nicht etwa verliebt?’, fragte er sich in Gedanken und ermahnte sich gleich darauf: ‚Bilde dir doch nicht ein, dass sie deinetwegen hier ist! Sei froh über das, was du hast, und versuche erst einmal, dem überhaupt gerecht zu werden!’
Sibylla betrachtete die Einrichtung der Dachterrasse. Zwei mit zahlreichen Kissen weich gepolsterte Diwane, im Orient übliche Liegen, die mit den altrömischen Klinen nahe verwandt waren, standen unter einem Sonnensegel nahe genug bei dem kleinen Tisch, den sie von unten hatte heraufbringen lassen, um ohne Anstrengung an die darauf angerichteten appetitlichen, mundgerechten Häppchen von Lamm und Huhn zu gelangen; sie waren auf orientalische Art zubereitet. Filetierte Orangen und aufgebrochene Granatäpfel standen als süße Beilagen dabei, ebenso ein Hirsemus mit Safran für die herzhafte Begleitung, dazu kandierte Früchte der ganz süßen Art, die im Heiligen Land so geschätzt wurde. Als Getränke hatte die Prinzessin Wein und Orangentee geordert. Den Wein hatte sie aus Jerusalem mitgebracht, der Orangentee war die besondere Spezialität Ibelins, die jeder Besucher dieses Lehens unfehlbar damit in Verbindung brachte. Ja, es sah alles appetitlich und lecker aus, stellte die junge Frau fest. Fehlte nur noch der Hausherr …
‚Wo steckt er eigentlich?’, fragte sie sich, als ihr auffiel, dass die Sonne schon hinter dem Horizont verschwunden war. Nicht mehr lange und die metallenen Terrassenöfen hinter den Diwanen, in denen bereits jeweils ein wärmendes Feuer brannte, würden durchaus notwendig sein, um die Nacht noch im Freien genießen zu können. In der Wüste wurde es rasch kalt …
Die Prinzessin ließ sich auf dem Diwan nieder, der von der Tür der Dachterrasse aus hinter dem Tisch stand. Ihr suchender Blick, der nach dem Hausherrn fahndete, blieb an der Tür zum oberen Schlafgemach hängen, als sie einen leichten Schritt aus dem Raum vernahm. Als Balian auf die Terrasse trat, blieb der Schwester des Königs beinahe die Luft weg.
Da kam ein leibhaftiger Prinz zu ihr – hochgewachsen, schlank und doch kräftig; gründlich gewaschen, elegant und sauber gekleidet … und unglaublich gut aussehend. Ein leichtes Lächeln kräuselte sich um seine Lippen und ließ seine warmen, braunen Augen leuchten. Wundervoll. Die Arbeit unter der Sonne Ibelins hatte seinen Händen und dem Gesicht gesunde Bräune verliehen. Als Sibylla Balian zum ersten Mal in dieser Kleidung gesehen hatte, in der er jetzt erschien, hatte er noch die Spuren des Schiffsunglücks im Gesicht gehabt, hatte noch recht zerschunden ausgesehen von den Schürfungen und dem Sonnenbrand, die er sich dabei zugezogen hatte. Jetzt war davon nichts mehr zu sehen. Sein Gesicht war glatt und ebenmäßig, gleichmäßig gebräunt, der Bart sauber gestutzt. Die junge Frau musste sich beherrschen, um nicht einen sehnsüchtigen Seufzer hören zu lassen. Sie brauchte einige Momente, um sich wieder unter Kontrolle zu haben.
„Wie ich sehe, habt Ihr ein paar Ellen Seide gefunden, Mylord Balian“, grinste sie neckend in Anspielung auf seine eigene spöttische Einschätzung.
Sein Lächeln verbreiterte sich.
„Ja, mein Vater hat mir außer diesem Lehen und seinem Titel noch ein paar Kleidungsstücke hinterlassen, die mir einigermaßen passen“, erwiderte er und verbeugte sich leicht.
„Kommt, setzt Euch“, lud sie ein und wies auf den freien Diwan ihr gegenüber hin. „Genießt, was mein Koch zubereitet hat.“
Er nickte und setzte sich. Auf leisen Sohlen erschien ein Diener, füllte die Gläser und verschwand so lautlos, wie er gekommen war. Der Hausherr erinnerte sich gerade noch rechtzeitig, dass es angebracht war, dem Herrn im Himmel für das zu danken, was hier auf dem Tisch stand. Er bekreuzigte sich und dankte wortlos für die Gaben, die aus Gottes Gnade, aber auch aus harter menschlicher Arbeit entstanden waren. Sibylla nahm sein stummes Gebet zur Kenntnis und tat es ihm gleich.
„Danke“, sagte er an sie gewandt und ließ sich die Leckereien schmecken, die sie hatte auftischen lassen. Die Prinzessin beobachtete ihn eine Weile, aber er aß schweigend und mit Genuss. Sibyllas Koch war nicht umsonst ihr Leibkoch, stellte er schnell fest. Der Mann verstand sein Handwerk. Balian fand diese Häppchen jedenfalls ausgesprochen lecker und langte kräftig zu. Die harte Arbeit, die er in sein Lehen steckte, machte auch hungrig …
Sibylla war verblüfft, dass er zwar schnell, aber dennoch manierlich speiste und sein Tafelmesser benutzte, soweit die Häppchen nicht bereits in mundgerechte Stücke geschnitten waren.
Schließlich griff sie selbst zu und ließ sich ihre Lieblingsleckereien munden. Sie liebte diese Gerichte besonders und konnte sich in dem Genuss regelrecht verlieren. Weltvergessen schleckte sie sich die Finger ab. Dabei spürte sie einen prüfenden Blick und zuckte erschrocken hoch. Balian sah sie amüsiert an und lächelte sanft.
„Was?“, fragte sie. Es klang beinahe scheu.
Sein Lächeln wurde breiter, richtig strahlend.
„Es scheint Jahre her zu sein, dass ich eine Frau essen sah“, sagte er.
„Wirklich?“, hakte sie nach. Er nickte lächelnd. Sie weidete sich an dem schönen Lächeln. Sie wollte es noch nicht erlöschen sehen, aber zwei Dinge brannten ihr auf der Seele, die sie unbedingt ansprechen wollte, auch wenn sie mutmaßte, dass sie geeignet waren, ihn wieder so ernst und schweigsam werden zu lassen, wie er gewöhnlich war.
„Ich … habe Euch heute beobachtet …“, begann sie. Er sah sie interessiert an.
„Man hat Euch eine Handvoll Staub gegeben und … wie es scheint … habt Ihr vor, ein neues Jerusalem zu bauen“, sagte sie.
Balian sah nicht ohne Stolz über das erblühende Land. Er freute sich darüber, dass sie es bemerkt hatte – und dass sie seine Mühen und die der Bauern offenbar zu schätzen wusste.
„Es ist mein Land“, sagte er mit einem Ausdruck völliger Zufriedenheit. „Wer wäre ich, wenn ich nicht versuchte, es zu verbessern?“, fügte er hinzu, den von seinem Ziehvater ererbten Wahlspruch zitierend.
Sibylla lächelte leicht. Dieser Mann war zufrieden; richtig rundherum zufrieden mit seinem Leben – und er war glücklich. Das Leuchten seiner hübschen Augen war der handfeste Beweis dafür. Sein Gesichtsausdruck beantwortete ihre Frage vom frühen Abend … Das Strahlen war zu schön, um es missen zu wollen, aber bevor sie in die Tat umsetzte, was sie vorhatte, musste sie noch eine andere Frage klären – auch auf die Gefahr hin, ihn mit seinen Erinnerungen zu quälen.
♦♦♦
Kapitel 5
Wahrheiten
Sibylla atmete tief durch, wenngleich sie sich Mühe gab, dass Balian ihre Nervosität nicht bemerkte.
„Bruder Jean erzählte mir, was in Frankreich geschehen ist“, sagte sie langsam. Ihr Blick, der sich wieder auf ihn richtete, fand sein Lächeln wie erwartet erlöschen.
‚Was meint sie?’, fragte er sich. ‚Den Tod meines Vaters?’
Er wollte ansetzen, etwas zu sagen, aber sie fuhr fort:
„Ihr habt sie geliebt, nicht wahr?“
Balian war verblüfft. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich für sein persönliches Unglück interessieren würde, das ihn so umgeworfen hatte …
„Das habe ich“, erwiderte er. „Sehr sogar.“
„Wieso hat sie Euch das angetan?“, fragte Sibylla weiter.
Er sah sie eine Weile an. Bis jetzt war sie ihm oberflächlich und einfach unverschämt erschienen; als eine Frau die alles wissen wollte – aber nur, um sich darüber lustig zu machen. Doch ihr Gesichtsausdruck verriet Ernsthaftigkeit und echtes Mitgefühl. Dennoch warnte ihn eine innere Stimme, allzu viel über sich preiszugeben.
„Unser Kind kam tot zur Welt. Meine Frau hat das nicht ertragen können“, sagte er vorsichtig. Sibylla lächelte leicht; sanft genug, um ihn nicht noch misstrauischer zu machen, als er ob des sehr persönlichen Themas bereits war. Aus diesem wortkargen Mann ein Wort herauszubringen war harte Arbeit. Gegen ihn schien eine Auster geschwätzig.
„Totgeburten kommen häufig vor, auch in reichen Familien. Ihr seid noch jung, Eure Frau war es gewiss auch …“, bemerkte sie.
Er nickte nur und schwieg. Nachdem eine gewisse Zeit Schweigen geherrscht hatte, fragte er:
„Weshalb interessiert Euch das?“
Sie überlegte eine Weile. Er hatte Sorge, zu viel über sich preiszugeben, sich ungewollt in ihre Hand zu begeben, erkannte sie. Er war hier fremd und entsprechend reserviert, zumal er nach Jeans Worten noch nicht viel Gelegenheit gehabt hatte, sich in dem höllisch gefährlichen Umfeld des Hofes zurecht zu finden, das eher einer Schlangengrube glich. Er brauchte jemanden, dem er völlig vertrauen konnte – außer Bruder Jean und Raymond von Tiberias, die ihm väterliche Freunde waren. Sie beschloss, mit der Wahrheit herauszurücken, auch wenn sie ihm noch nicht die ganze erzählen wollte …
„Weil Ihr mich interessiert“, sagte sie offen. „Ein Mann, der meinem Gemahl so offen die Stirn bietet wie Ihr, ist ein besonderer Mann.“
Balian war sich noch nicht sicher, ob er ihr vertrauen konnte oder ob sie ihr Wissen nicht irgendwann doch zu seinem Nachteil nutzen würde.
„Was … wisst Ihr von mir?“, fragte er vorsichtig.
Sibylla lächelte.
„Ich weiß, dass Euer Vater nicht mit Eurer Mutter verheiratet war, und ich weiß, dass Ihr nicht adlig erzogen wurdet, sondern als einfacher Mann aufgewachsen seid, dass Ihr das Handwerk der Schmiedekunst erlernt habt und die Schmiede Eures … Ziehvaters … übernommen habt. Bruder Jean war von Euren Hufeisen sehr angetan, wie er meinem Bruder sagte. Nach allem, was ich von Hugo du Puiset weiß, dürfte Euch der Umstand, dass Euer Vater Eure Herkunft verschwieg, das Leben gerettet haben. Der Name du Puiset hat bei meiner Familie keinen besonders guten Klang. Wir ziehen Ibelin vor.“
„Nun, mein Vater ist dann ebenfalls ein du Puiset gewesen. Aber er war der Lehrer Eures Bruders“, erinnerte Balian.
Ihr Lächeln verstärkte sich.
„Das ist kein Widerspruch, Mylord von Ibelin“, erwiderte sie, wobei sie von Ibelin besonders betonte. „Die Familie Ibelin ist ein Zweig der du Puisets – der bessere Zweig.“
„Wieso?“, fragte Balian mit erwachendem Interesse. Er wusste offensichtlich längst noch nicht alles über seine eigentliche Familie …
„Dann kennt Ihr die Geschichte nicht?“, fragte Sibylla. Er schüttelte den Kopf.
„Mein Großvater, Fulko von Anjou, heiratete Melisende von Bouillon, die Erbin der Krone Jerusalems. Balduin von Bouillon, der König, hatte keine Söhne, also erbte seine Tochter die Krone“, fuhr sie fort. „Mit der Heirat erwarb Fulko das Recht auf den Thron. Es gab Adlige, die es für falsch hielten, dass die Krone durch eine Tochter übertragen wurde. Sie vertraten die Ansicht, dass mit dem Aussterben des Königshauses im Mannesstamm der König vom Adel gewählt werden konnte. Zu denen, die meinem Großvater den Eid verweigerten, gehörte Hugo du Puiset, der Graf von Jaffa. Hugo hatte einen jüngeren Bruder namens Barisan. Barisan war jedoch anderer Meinung und teilte die Auffassung der Königstreuen, dass ein Haus nicht allein deshalb ausstirbt, weil es keine männlichen Nachkommen mehr hat. Als mein Großvater gegen Jaffa zu Felde zog, um Hugo zum Eid zu zwingen, trat Barisan du Puiset mit den Truppen seines Bruders Hugo auf die Seite des Königs über. Seine Königstreue bewirkte, dass der Aufstand Hugos zusammenbrach und mein Großvater als König von Jerusalem anerkannt wurde. Das war im Jahr 1131. Die Treue Barisans belohnte mein Großvater mit dem Lehen Ibelin. Unter dem Begründer Eurer Familie wurde die Burg dort drüben gebaut. Und seither ist die Familie Ibelin dem Jerusalemer Königshaus besonders verbunden – und umgekehrt“, erklärte Sibylla.
„Vergebt meine Unwissenheit. Wie passt das dazu, dass mein Vater mir sagte, er habe das Kreuz genommen, um im Heiligen Land eine eigene Existenz zu erreichen? Er kam doch aus Frankreich – lange nach Eurem Großvater“, gab Balian zu bedenken.
„Auch Hugo und Barisan du Puiset waren jüngere Söhne der Familie du Puiset, wie Euer Vater. Der Barisan, der Ibelin als Lehen erhielt, war der Onkel Eures Vaters. Euer Vater und Euer Onkel Hugo in Saint-Martin-sur-Eure sind die Söhne des in Frankreich gebliebenen älteren Bruders du Puiset, der den dortigen Familienbesitz erbte und seine Brüder dazu zwang, ihr Glück anderswo zu machen. Sie entschieden sich für die Neue Welt hier im Osten. Ibelin kam nach dem Tod Eures Großonkels wieder zur Krone und ging an die Johanniter. Eure hiesige Familie hatte inzwischen andere Lehen erhalten, doch der Name Ibelin blieb auch auf Wunsch des Königshauses bestehen. Als Euer Vater dann herkam, erhielt er auf Fürsprache von Raymond von Tiberias Ibelin als Lehen, das damit wieder in die Familie Ibelin zurückkehrte. Selbst die Johanniter haben diesem Ort nicht viel abtrotzen können. Euer Vater …“
Balians Schmunzeln ließ Sibylla abbrechen.
„Was?“, fragte sie verblüfft.
„Almaric sagte mir, mein Vater sei bedeutend gewesen, seine Ländereien seien es nicht. Euer Bericht bestätigt mir, weshalb meine Männer nicht begeistert waren, mich hierher zu begleiten. Ich bin nicht hergekommen, um bedeutend zu sein. Euer Bruder gab mir den Auftrag, die Pilgerstraße zu schützen. Das werde ich tun – und außerdem dieses Land ein wenig verbessern“, sagte er.
„Weshalb wollt Ihr das Land verbessern?“, erkundigte sich Sibylla und naschte noch von den übrig gebliebenen Häppchen.
„Ich möchte etwas für die Menschen tun, die hier leben“, erwiderte er zurückhaltend.
„Was … hat mein Bruder Euch über … Zölle … gesagt?“, erkundigte sie sich.
„Nichts. Ich soll mit meinen Männern die Straße schützen.“
„Ihr … treibt also keinen Zoll ein?“
„Nein.“
„Wovon lebt Ihr dann?“
Balian lächelte.
„Von dem, was dieses Land hergibt. Deshalb will ich es auch verbessern.“
Sibylla war verblüfft. Dieser Mann war wirklich anders als alle anderen, die sie kannte …
„Verzeiht … aber, … ich bin sehr müde und … würde gern schlafen gehen“, sagte er. Sie nickte.
„Ja“, sagte sie und erhob sich. „Gute Nacht.“
„Gute Nacht“, erwiderte Balian mit einem sanften Lächeln, das ihr einen wohligen Schauer durch den Körper trieb. Sie wandte sich zum Gehen, blieb dann aber nochmals stehen und drehte sich wieder um.
„Was … was müsste geschehen, damit Ihr wieder lieben könnt?“, fragte sie unvermittelt.
Er sah sie fragend an, weil diese Frage so gar nicht zu den bisherigen Gesprächsthemen passen wollte. Als sie nichts sagte, antwortete er:
„Zwei Dinge: Die Zeit müsste reif sein und mir müsste die richtige Frau begegnen.“
„Ist sie das noch nicht?“, fragte sie weiter und sah ihn offen an. Er erwiderte ihren Blick zurückhaltend und schweigsam. Sie verstand, dass er darüber im Moment noch nicht sprechen mochte und nickte.
„Gute Nacht“, sagte sie nochmals und verließ die Dachterrasse, ohne ihn darauf angesprochen zu haben, dass sie eigentlich lieber hier oben bleiben würde. Als sie unten in dem großen Raum stand, den ihre Dienerinnen zum Schlafgemach umgestaltet hatten, fragte sie sich, ob sie nicht gerade deshalb nach oben wollte, weil Balian dort war …
♦♦♦
Kapitel 6
Erfolg des Vertrauens
Balian selbst fand erst spät Ruhe, nachdem er sich stundenlang schlaflos herumgeworfen hatte, obwohl er wirklich sehr müde gewesen war. Für die kommenden Tage stand noch einmal eine gehörige Anstrengung an, denn er hatte vor, die neuen Bewässerungsgräben gründlich zu prüfen. Das bedeutete, dass er den ganzen Bereich zwischen Herrenhaus und Dorf Graben für Graben abgehen musste, um nachzusehen, ob alles so funktionierte, wie er es sich vorgestellt hatte.
Für gewöhnlich stand er sehr früh auf, so auch an diesem Morgen, einige Tage nach der Ankunft der Prinzessin. Noch vor dem ersten Hahnenschrei ging der Baron zum Brunnen im Innenhof der Herrenhausanlage, um sich Wasser zum Waschen zu holen. Ganz leise stieg er die Treppe hinunter, um die Prinzessin nicht zu stören, von der er annahm, dass sie noch schlafen würde.
Doch Sibylla schlief ebenfalls nicht mehr. Sie beobachtete, dass der Herr des Hauses mit einer Schüssel Wasser vom Brunnen kam und hinaufging. Leise stand sie auf, schlüpfte in ein leichtes Morgengewand und schlich ihm hinterher.
Das Schlafgemach war noch unaufgeräumt, aber es lag nur das Hemd vom Vortag auf einer Truhe, seine Tunika hatte er auf einem Stummen Diener* aufgehängt, ebenso den dunkelroten Seidengürtel. Balian schien ein ordentlicher Mensch zu sein – jemand, der es nicht anderen überließ, seine Unordnung zu beseitigen. Er hatte sich sogar schon sein Frühstück vorbereitet, ohne einen der Bediensteten damit zu belästigen. Sie schmunzelte. Nein, ein geborener Edelmann war er wirklich nicht – jedenfalls keiner von der Sorte, die sich bedienen ließ.
Leise schlüpfte sie auf die Terrasse und legte ihm alles auf dem kleinen Tisch zurecht, den sie am Vorabend hatte heraufbringen lassen.
Balian bemerkte sie einstweilen nicht, sondern stand – nur mit einer langen schwarzen Hose bekleidet – an seinem Waschtisch, wo er sich mithilfe eines Spiegels den Bart sorgsam zurecht stutzte. Sibylla konnte nicht umhin, den wohlproportionierten, nackten Oberkörper ihres Gastgebers eingehend zu betrachten. Kraftvolle Muskeln prägten die Arme, aber auch den Rücken und die Brust. Sie zeugten davon, wie viel Kraft in diesem Mann steckte. Die Kleidung verbarg den wundervollen Anblick zumeist und täuschte darüber hinweg, dass er eine gehörige Portion Kraft hatte. Sie erwischte sich, leise zu seufzen und davon zu träumen, wie es wohl sein mochte, wenn seine Arme eine Frau liebevoll umfingen. Sie ertappte sich dabei, auf seine verstorbene Ehefrau regelrecht neidisch zu sein, die das Glück gehabt hatte, dass dieser Mann sie geliebt hatte.
Unten vor dem Herrenhaus kamen die Muslime Ibelins zum ersten Gebet des Tages zusammen und priesen unter Anleitung des Muezzins Gottes Größe. Balian sah ihnen interessiert zu. Inzwischen verstand er das meiste von dem, was die Männer dort unten ausriefen. Die islamischen Gebete ähnelten denen der Christen so sehr, dass er sich fragte, worin eigentlich der Unterschied zwischen Christentum und Islam bestand – sah man davon ab, dass die Mohammedaner Jesus Christus nicht als Sohn Gottes akzeptierten, sondern lediglich als einen seiner Propheten, die Mohammed vorausgegangen waren.
„Sie versuchen eins zu sein – ein Herz, eine Moral“, hörte er hinter sich Sibyllas Stimme.
Er drehte sich um. Sie schien seine Gedanken geradezu gelesen zu haben. Er stellte die Schüssel weg und kam zu dem Tisch unter dem Sonnensegel.
„Ihr Prophet sagt: ‚Unterwerfe dich!’ Jesus sagt: ‚Entscheide dich!’“, fuhr sie in der Erklärung der religiösen Unterschiede zwischen Islam und Christentum fort, reichte ihm ein Glas Tee. Er schlüpfte in ein dunkelgraues Arbeitshemd und nahm ihr mit dankbarem Kopfnicken das Glas ab.
Als er den ersten Schluck getrunken hatte, fragte er:
„Habt Ihr Euch für Guy entschieden?“
Diese Frage kreiste ihm schon durch den Kopf, seit er beim Mahl im Königspalast erfahren hatte, dass Guy de Lusignan Sibyllas Gatte war.
Sie biss sich auf die Unterlippe. Ausgerechnet jetzt musste er sie an diesen ungeliebten Klotz am Bein erinnern! Sie schüttelte den Kopf.
„Guy war die Wahl meiner Mutter“, seufzte sie. „Mein erster Gemahl starb, bevor unser Sohn geboren wurde. Ich war erst fünfzehn.“
Balian spürte den dringenden Wunsch, sie tröstend in den Arm zu nehmen, so einsam und verletzlich wirkte sie im Moment. Er kannte dieses furchtbare Gefühl, und er wünschte es niemandem; am wenigsten einer schönen, jungen Frau wie Sibylla, die es eigentlich verdient hatte, geliebt zu werden. Er versagte sich die Freiheit, weil er ihr nicht den Eindruck vermitteln wollte, er sei nur durch ihre Stellung angezogen. Er ahnte nicht, dass sie sich in diesem Moment für ihn entschieden hatte, als sie die abweichenden religiösen Auffassungen von Christen und Muslimen erklärt hatte – so wenig, wie sie ahnte, dass seine Frage seine Entscheidung für sie beinhaltete. Sie hielt sich an sich selbst fest, als Balian sie nicht umarmte, was sie herbeisehnte.
„Er ist nicht von starker Natur, aber er wird König sein“, sagte sie. „Das Königreich brauchte frisches Blut, hieß es. Meine Mutter nahm, was gerade zu haben war.“
Balian nickte. Guy war also augenscheinlich eine Notlösung gewesen …
Ihm wurde plötzlich klar, über wessen Spielzeug er im Palast gestolpert war.
„Ich traf Euren Sohn“, sagte er mit einem unglaublich freundlichen Lächeln und trank noch einen Schluck Tee.
Sibylla erwiderte sein Lächeln, doch es war eher traurig. Sie dachte an ihren geliebten Sohn, der seinen Vater nie kennen gelernt hatte. So freundlich, wie Balian bei der Erwähnung ihres Sohnes lächelte, würde er ihn gewiss beschützen, ihm möglicherweise sogar ein guter Stiefvater sein – in jedem Fall besser als Guy …
„Habt Ihr noch mehr Kinder?“, erkundigte er sich.
Sie schüttelte den Kopf.
„Würdet … Ihr meinen Sohn beschützen?“, fragte sie.
Er nickte.
„Euer Bruder hat mich beauftragt, die Pilgerstraße zu beschützen. Aber sofern ich wieder nach Jerusalem komme, werde ich das tun“, versprach er mit einem sanften Lächeln, das sie völlig faszinierte. Der ebenso sanfte Blick, mit dem er sie bedachte, ließ sie beinahe schweben.
„Ich … hätte eine Bitte an Euch …“, setzte sie vorsichtig an.
„Ja?“
„Euer Haushofmeister … hat mir die großen Räume unten gegeben. Ich … kenne sie von früher und … würde gern mit Euch tauschen. Hier hinauf gibt es einen eigenen Zugang … Ich … würde … lieber hier oben sein.“
Einerseits gestand Balian sich ein, enttäuscht zu sein; andererseits fiel ihm ein Stein vom Herzen, dass sie ihm nicht direkt auf den Arm sprang. Er lächelte freundlich.
„Gern, wie Ihr wünscht“, sagte er.
Jetzt war es Sibylla, die etwas enttäuscht war. Wieder hatte er augenblicklich nachgegeben …
Als Balian kurz darauf das Herrenhaus verließ, um seine Tagesarbeit zu beginnen, traf er Latif.
„Latif, die Prinzessin wünscht die Räume oben. Bist du so gut, alles zu veranlassen?“, beauftragte er ihn in arabischer Sprache.
„Ja, Sidi. Habt Ihr besondere Wünsche für die Einrichtung unten?“
„Mein Bett ist recht breit. Stell’ es bitte in den großen Raum, das Speisezimmer wird mein Wohnraum und der Anrichteraum einstweilen mein Arbeitszimmer.“
„Ja, Sidi, es wird geschehen, wie Ihr es wünscht“, bestätigte der Haushofmeister und verbeugte sich diensteifrig.
„Danke, Latif.“
Während der Haushofmeister sich mit den anderen Dienern Ibelins daran machte, die Einrichtungen umzuräumen, inspizierte Balian die Felder und die Kanäle, durch die das Wasser zu den Feldern geleitet wurde. In einem der Kanäle fand er eines der kleinen Segelschiffe, die die Kinder durch die Palmrinnen hatten fahren lassen. Es war gekentert und halb vom Schlamm vergraben. Dass Balian mit den Kindern diese kleinen Boote gebaut hatte, war nicht reiner Spieltrieb des jungen Mannes; sie erfüllten durchaus einen ernsthaften Zweck, wenngleich damit viel Spaß für die Kinder verbunden war. Diese Bötchen folgten dem fließenden Wasser. So konnte der Weg des Wassers besser verfolgt werden. Balian barg es, spülte es kurz ab und ließ es dann wieder fahren. Er folgte dem Minisegler, kreuzte dabei immer wieder einmal den Kanal. Das Schifflein fuhr ordentlich in der Mitte der Rinne und präsentierte dem erfinderischen Baron, dass er sich bei dem Gefälle nicht verschätzt hatte. Ja, es lief buchstäblich so, wie er es geplant hatte.
Mit einem zufriedenen Lächeln sah er sich um. Sein Blick streifte die Dörfler, die ihm freundlich und dankbar zunickten. Auf allen Feldern wurde gearbeitet, das Wasser in den Boden eingearbeitet, wo es nicht freiwillig versickern wollte. Die Dämme erfüllten ebenso ihren Zweck und stauten das Wasser oder hielten es fern, wo es im Moment unerwünscht war. An jedem Feld konnte der Zufluss aus der Rinne mit einem Holzbrettchen reguliert werden.
Balian sah eine Karawane, die von der Karawanserei an der Pilgerstraße kam und durch Ibelin selbst in Richtung Gaza weiterzog. Sorgsam mieden die Kameltreiber die frisch bewässerten Felder und lenkten ihre Lasttiere auf den trockenen Dämmen. Er schmunzelte. Als er hergekommen war, waren die Karawanen rücksichtslos über die Felder getrampelt, hatten die karge Saat auch noch zerstört. Das war jetzt vorbei. Ibelin würde in wenigen Tagen grün sein, wenn die ersten Saaten aufgingen. Er freute sich darauf.
Obwohl er sich rasch überzeugt hatte, dass im Wortsinne alles so lief, wie es sollte, nahm er sich den ganzen Tag Zeit, sprach hier mit einem der Bauern, da mit einem Kind, dort mit einer der Frauen.
Sibylla saß oben auf der Dachterrasse, nachdem Latif und seine Helfer alles umgeräumt hatten und bemerkte, dass nach wie vor eifrige Aktivität in Ibelin herrschte. Unmittelbar vor dem Herrenhaus war es bereits leicht begrünt, wo hitze- und trockenheitsbeständige Pflanzen wuchsen, denen schon wenige Tropfen Wasser ausgereicht hatten, um praktisch über Nacht den ersten grünen Schleier über die ehemals staubgrauen Felder zu legen. Weiter entfernt, wo später Melonen wachsen sollten, war jetzt noch Wüste, aber der Fleiß der Bauern und ihres Barons würde auch dort bald buchstäblich Früchte tragen …
Jetzt ließ die Prinzessin sich unter dem Sonnensegel die Hennaverzierungen auf den schmalen Händen von ihrer Leibdienerin Samira erneuern und beobachtete dabei Balian, der mal hierhin, mal dorthin ging, für jeden Zeit hatte und mit jedem sprach, gleich, ob es einer seiner Soldaten, ein Bauer oder eine Waschfrau waren. Ein weinendes Kind holte er von einem Baum herunter und gab es seiner besorgten Mutter zurück.
Sibylla musste lächeln. Wer immer mit Balian sprach, hatte hinterher ein geradezu seliges Strahlen im Gesicht … Es war wirklich etwas Besonderes an diesem jungen Mann.
„Das ist der einzige Mann, der anders ist, als alle anderen“, sagte sie schließlich. Samira sah ihre Herrin an.
„Er ist ein einfacher Mann“, versetzte sie kühl. „Euer Gemahl, der ist ein wirklicher Mann!“
Sibylla sah ihre Leibdienerin eine Weile an. Sie hatte Guy schon länger im Verdacht, dass er sich anderswo holte, was sie ihm verwehrte. Samiras Worte bestätigten ihre Vermutung – und sie hatte damit auch gleich den zweiten Teil dazu gefunden. Doch sie war weit davon entfernt, Samira deshalb böse zu sein. Die junge Ägypterin war eine treue Seele, und wenn sie Guy gab, wonach es ihn verlangte, sollte es Sibylla nur recht sein. Er erwartete es dann jedenfalls nicht von seiner Gemahlin.
Der Blick der Prinzessin suchte erneut nach Balian. Verträumt dachte sie an die dekorativen Grübchen, die sich zeigten, wenn er lächelte. Wie es wohl sein mochte, wenn er richtig herzlich lachte? Er hatte so wunderschöne Augen, die selbst dann noch faszinierend waren, wenn er traurig war. Sie hatte sie schon strahlen sehen, als er so zufrieden von seinem Land gesprochen hatte. Aber wie mochte es sein, wenn er eine Frau voller Liebe ansah? Wieder packte Sibylla der Neid auf seine Frau. Ob sie eigentlich geahnt hatte, was sie getan hatte? Vielleicht nicht, vielleicht hatte der Schock der Fehlgeburt jeden vernünftigen Gedanken erlöschen lassen. Anders war es kaum zu erklären, dass eine Frau ausgerechnet diesen Mann auf derart schreckliche Weise verließ. Sibylla hatte jedenfalls das Gefühl, dass es ihn immer noch schmerzte, dass die Frau, die er so sehr geliebt hatte, ihn einfach allein gelassen hatte. Sie hatte das dringende Bedürfnis, ihn zu trösten, damit nicht die zweifellos erfolgreiche Arbeit hier sein einziger Trost war. Ihr Blick, der wieder auf Samira fiel, ließ in ihr den Entschluss reifen, sich auf ihre Weise bei Guy zu revanchieren …
♦♦♦
Kapitel 7
Unbequemlichkeiten
Später hatte Balian gebadet, saß in seinem neuen Arbeitszimmer und zeichnete Verbesserungen der Befestigungsanlagen von Jerusalem, wie Raymond von Tiberias ihn gebeten hatte. Das Licht diverser Kerzen tauchte das Arbeitszimmer in weiches, warmes Licht und ließ die gesunde Bräune seines ebenmäßigen Gesichtes noch tiefer erscheinen. Ein dünner Gazevorhang trennte den Wohnbereich vom Ruhebereich – und hinter diesem pirschte Sibylla heran, um zu sehen, was er da machte. Leise arbeitete sie sich vor und lugte in das Arbeitszimmer hinein. Der Duft ihres Parfüms machte Balian auf sie aufmerksam. Er sah hoch.
„Ihr habt einen Gast“, erinnerte Sibylla mit einem geheimnisvollen Lächeln. Er sah sie auf eine Art an, die sie nur als kühn bezeichnen konnte.
„Ich bin mir bewusst, dass ich einen Gast habe“, sagte er sanft.
Sie schlug die Augen nieder. Das hier war sein Zuhause, hier war er selbst der Herr. Sie konnte nicht erwarten, dass er sich den ganzen Tag nur um sie kümmerte. Er hatte schließlich etwas zu tun, das hatte sie deutlich gesehen. Das brachte sie auf einen passenden Themenwechsel.
„Ist das, was ich heute gesehen habe, die Art von Arbeit, die Ihr in Frankreich gemacht habt?“, erkundigte sie sich.
„Bei meiner Arbeit in Frankreich war nur die Qualität mein Eigen“, erwiderte er.
Sie begriff, dass er nicht auf eigene Rechnung gearbeitet hatte, mochte er auch ein selbstständiger Handwerksmeister gewesen sein, wie sie von Jean erfahren hatte.
Sie sah auf die Zeichnungen, an denen er arbeitete.
„Das sind die Mauern von Jerusalem! Ihr habt das Davidstor geändert!“, platzte sie heraus.
„Ja, es sollte geändert werden. Es ist … unpraktisch“, gab er mit einem leichten Lächeln zurück.
Sibylla grinste.
„Vor elfhundertfünfzig Jahren ritt Jesus Christus auf einem Esel durch dieses Tor“, versetzte sie kichernd und hob ihre Hände in einer drolligen Geste. „Nach Jerusalem, wie es war und wie es sein wird. Jerusalem ist nicht das, was man praktisch nennt. Um es genau zu sagen … das ist es gewiss zuletzt.“
Balian entlockte ihre Bemerkung ein freundliches Lächeln. Er mochte diese Frau. So, wie sie jetzt war, so gefiel sie ihm – witzig, humorvoll, zu kleinen Neckereien aufgelegt und gänzlich ohne ihr öffentliches Gesicht, das eigentlich gar nicht zu dieser jungen, schönen Frau passen mochte. Sein Lächeln ließ ihres erlöschen. Alles in ihr schrie nach diesem Mann. Auch in seinen Augen flammte das Feuer des Begehrens auf und ließ das Lächeln vergehen. Doch genau in diesem beinahe allzu romantischen Moment, in dem es fast kein Zurück mehr gegeben hätte, läutete eine höchst alarmierte Samira am anderen Ende des Raums ein Glöckchen und brach den Zauber des Augenblicks.
Wenig später waren Hausherr und Gast wieder auf der Dachterrasse des Herrenhauses und speisten dort von dem, was Sibyllas Leibkoch wieder an Leckereien gezaubert hatte. Balian fand, dass der Mann wirklich ein Künstler war.
„Ihr habt einen wirklich guten Koch“, lobte er die Kunst. „Sagt, wer unter Euren Begleitern ist eigentlich der Koch? Ich habe Turkopolen bei Euch gesehen, sonst aber nur Dienerinnen“, wunderte er sich dann.
„Soldat zu sein und dennoch etwas vom Kochen zu verstehen, schließt sich nicht aus, Mylord. Einer meiner Turkopolen kann auch kochen. Es war eher Zufall, dass mein Bruder es erfahren hat. Kerim, mein Koch, ist stumm. Einst war er Sklave in Damaskus, bis er von Eurem Vater in der Schlacht von Mont Gisgard befreit wurde und zu uns kam. Er war verwundet. Als Bruder Jean ihn behandelte, stellte er fest, dass sein früherer Herr ihm die Zunge herausgeschnitten hatte.“
Balian schüttelte nur den Kopf.
„Wieso tut man einem Menschen so etwas an?“, fragte er.
Jetzt war es Sibylla, die ihn verblüfft ansah. Solche Körperstrafen waren doch üblich … Wer etwas stahl, bekam in christlichen Ländern eine Kerbe ins Ohr geschnitten, in islamischen Ländern war er gleich die stehlende Hand los. Und wer ein zu loses Mundwerk hatte, büßte eben die Zunge ein …
„Was hat dieser Mann also getan, dass man ihm diese Grausamkeit angetan hat?“, fragte er weiter, als sie nicht antwortete.
Sie lächelte.
„Ihr seid beim einfachen Volk aufgewachsen, bevor Euer Vater sich offenbarte, oder?“
„Ja“
„Dann wisst Ihr, dass dem einfachen Menschen solche Strafen drohen, wenn er für den Geschmack seines Herrn zu viel sagt oder lügt“, erklärte sie.
„Mich unterscheidet von einem einfachen Mann nichts – nur die Tatsache, dass ich der Sohn eines Barons bin. Davon habe ich aber den größten Teil meines Lebens nichts gewusst. Weshalb erwartet man von mir – als Ritter – dass ich das tue, was dem einfachen Mann verwehrt wird, wofür er sogar hart bestraft wird?“, fragte Balian.
„Eben die Tatsache, dass Ihr der Sohn eines Barons seid“, entgegnete Sibylla.
Balian griente.
„Vor einem Jahr war ich das auch – ohne es zu wissen. Hätte ich zu der Zeit das getan, was von einem Ritter als selbstverständlich erwartet wird, hätte es mich die Zunge kosten können.“
Sibylla sah ihn lange an. Ihr dämmerte etwas, aber noch wusste sie nicht genau, was.
„Was meint Ihr?“, erkundigte sie sich.
„Mein Vater sprach mir den Rittereid vor, in dem es heißt, dass ein Ritter stets die Wahrheit sprechen soll. Das bedeutet für mich, dass ich nicht die Unwahrheit über Dinge sage, die ich getan habe. Es bedeutet auch, dass ich meine Meinung sogar äußern muss, wenn ich den Eid erfüllen will, mag sie auch unbequem sein. Ich sehe keinen Unterschied, ob ich dies als jemand tue, dessen leiblicher Vater ein Baron ist oder als jemand, dessen Ziehvater ein Hufschmied ist. Die Person ist jeweils dieselbe“, stellte Balian klar.
„Worauf … wollt Ihr hinaus?“, fragte Sibylla.
„Darauf, dass jeder Mensch dem anderen gleicht und keiner mehr Rechte hat als der andere.“
„In der Tat, eine solche Äußerung könnte Euch sogar als Ritter die Zunge kosten“, schmunzelte Sibylla. „Wie kommt Ihr darauf, die gottgewollte Ordnung in Frage zu stellen?“
„Ist sie das?“, fragte Balian, ebenfalls schmunzelnd. „Wo steht in der Bibel, dass ein Mann dem anderen zu dienen hat, weil der andere von hoher Geburt ist? Woraus ergibt sich eine hohe oder niedere Geburt?“
Sie aß den Happen bedächtig. Er drohte, ihr quer durch den Hals zu gehen, als sie diese wirklich philosophische Frage von Balian hörte.
„Was, glaubt Ihr, ist die Aufgabe eines Ritters?“
„Die Wehrlosen zu beschützen, so sagte mein Vater. Und ich habe erfahren, dass es unterschiedliche Auffassungen davon gibt, wer als wehrlos zu gelten hat. Ein Priester in den Abruzzen* wurde nicht müde, zu predigen, dass es kein Mord sei, einen Heiden zu töten, sondern vielmehr der Pfad zum Himmel. Und in Jerusalem wurden Templer gehängt, die dem Befehl des Papstes gehorchten, weil sie diesen Worten geglaubt haben.“
„Und … welche Auffassung, meint Ihr, ist richtig?“
„Dass es keinen Unterschied macht, zu welchem Volk ein Mensch gehört, welchen Glauben er hat. Wenn er angegriffen wird und sich dagegen nicht wehren kann, ist er wehrlos, und ich bin als Ritter verpflichtet, ihn zu beschützen. Euer Bruder gab mir auf, dass ich besonders auf die Muslime und die Juden achten soll, denn es sei jeder in Jerusalem willkommen – nicht weil es dem Zweck dient, sondern, weil es richtig ist. Diese Meinung teile ich“, erklärte Balian.
„Ihr sprecht da eine wirklich unbequeme Wahrheit aus. Unbequem jedenfalls für die, die meinen, Muslime seien im Heiligen Land ebenso überflüssig wie Juden und Schmeißfliegen …“
„Also für Euren Gemahl?“, vermutete er scharfsinnig mit einem sarkastischen Funkeln in den Augen.
Sibylla nickte. Sie wusste um die Politik ihres Bruders und die grundsätzliche Ablehnung selbiger durch Guy de Lusignan. Diese Politik war das Ergebnis der Erziehung durch Godfrey von Ibelin – und sie sah in der Person Balian die zweite Frucht dieser Lehre reifen. Ein Erzieher im Königshaus hatte die Zukunft eines Landes in der Hand, denn das, was er seinem Zögling mitgab, bestimmte wenigstens so lange die Politik des Landes, wie der fragliche Zögling die Macht hatte. Balduin würde nicht mehr lange leben, das wusste Sibylla auch. Die Ansicht, die Balian bezüglich der Politik vertrat, entsprach der ihres Bruders. Nur wenn Balian als Erzieher ihres Sohnes tätig wurde, konnte diese Politik, die auch sie selbst für richtig hielt, weiter blühen und das Überleben des Königreichs Jerusalem sichern. Sollte Guy nach dem Tod ihres Bruders mit der Macht eines Bailli* ausgestattet werden, würde Balduin eher die Auffassung der Templer zu seiner Politik machen. In diesem Punkt hatte Balian die Prüfung bereits bestanden, die Sibylla mit ihrem Bruder für den neuen Baron von Ibelin angesetzt hatte.
Jetzt fragte sie sich nur noch, ob er auch in der Lage war, Guy de Lusignan als Ehegatten zu ersetzen. Nach zwei Ehen, die ihr aufgezwungen worden waren, wollte sie endlich eine mit einem Mann eingehen, den sie lieben konnte, wie er war und der sie um ihrer selbst willen liebte; nicht, weil sie eine Prinzessin war. Äußerlich war sie in dieser Hinsicht von Balian längst überzeugt. Aber welche Figur er als Liebhaber machen würde, das war noch zu prüfen; ebenso, was er von ehelicher Treue hielt. Sein Vater wäre da kein Musterstück gewesen – und für gewöhnlich fielen die Äpfel nicht weit vom Stamm …
♦♦♦
Kapitel 8
Träume
Sibylla blieb in Ibelin. Es gefiel ihr dort zunehmend. Das Land erblühte täglich mehr, als die Bewässerung zu wirken begann und die neuen Pflanzen aufgingen. Sie beobachtete Balian bei seinem Tun. Er war mit Herzblut dabei, das war sichtbar. Sichtbar war für sie auch, dass er ernst meinte, was er ihr über seine Ansicht zur Gleichheit der Menschen gesagt hatte. Er war für jeden der Dorfbewohner zu sprechen, verständigte sich – wenn auch noch mit gewisser Mühe, aber mit großer Bereitschaft, zu lernen – auf Arabisch. Dass er gleichzeitig den Leuten im Dorf die ersten Brocken Französisch beibrachte und sie sich bemühten, ihm gelegentlich auf Französisch zu antworten, wenn er auf Arabisch etwas zu fragen versuchte, verdeutlichte Sibylla, dass er die Herzen dieser Menschen gewonnen hatte. Sie betrachteten ihren Baron als einen der Ihren, nicht als auswechselbaren Herrn. Balian war seinen Untertanen keine Last, wie es bei der einfachen Landbevölkerung gerade im Heiligen Land oft der Fall war. Er urteilte ebenso pragmatisch wie sein Vater, stellte sie fest, denn er machte keine Unterschiede, ob ein Christ etwas zu beanspruchen hatte oder ein Andersgläubiger.
„Wir sind jetzt schon zwei Wochen hier, meine Herrin“, sagte Samira zu ihr, während Sibylla über Balian sinnierte und ihn währenddessen von der Dachterrasse aus aufmerksam beobachtete.
„Was willst du mir damit sagen, Samira?“, erkundigte sie sich und reckte sich etwas, um Balian im Blick zu behalten, der gerade so nahe ans Haus gekommen war, dass er von der Terrasse aus nicht mehr ohne Mühe zu sehen war.
„Euer Gemahl wird bald nach Jerusalem zurückkehren, Mylady. Er wird Euch vermissen“, warnte Samira.
„Nein, er ist mit den Templern nach Transjordanien gezogen, um in Reynalds Territorium Jagd auf sarazenische Karawanen zu machen“, erwiderte Sibylla. Sie wunderte sich, mit welcher Kälte sie darüber sprach. Sie wusste, dass ihr Bruder dies nicht guthieß, aber solange die Templer nicht von sich aus einräumten, dass sie unbewaffnete Karawanen überfielen und plünderten, waren ihrem Bruder nach seinem eigenen Rechtsverständnis die Hände gebunden. Doch sie wusste auch, dass Balduin handeln musste, wenn der von ihm beschworene Frieden weiterhin von den Templern hintertrieben wurde. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit – er würde spätestens dann etwas unternehmen müssen, wenn Saladin diese Überfälle leid war. Die Geduld des Sarazenenführers war schon viel zu lange stark strapaziert worden …
„Habt Ihr noch einen Wunsch, meine Herrin?“, fragte Samira.
„Nein, im Moment nicht. Ich gebe dir bis morgen um diese Zeit frei, meine treue Samira“, entließ Sibylla die Dienerin.
Samiras mahnende Worte waren so zutreffend, dass sie jetzt nicht länger warten konnte, um Balian zu locken. Er würde ihr nicht zu nahe treten, das hatte er in den letzten zwei Wochen bewiesen. Er war freundlich und zuvorkommend, durchaus charmant – aber er machte nicht den geringsten Versuch, sich den Happen schmecken zulassen, den sie ihm jeden Abend erneut in immer appetitlicherer Variante vorsetzte. Sie konnte noch so verführerisch gekleidet sein, Balian machte keine Annäherungsversuche. Ehe schien ihm also durchaus etwas zu bedeuten, wenn er respektierte, dass sie eine verheiratete Frau war …
„Und ich möchte bis dahin nicht gestört werden“, setzte sie hinzu. Samira konnte sie gar nicht gebrauchen, wenn sie Balian verführen wollte …
„Danke, Herrin.“
„Du kannst gehen.“
Samira knickste höflich und verließ das Haus, um mit anderen Mädchen zu einem etwas entfernten Teich zu gehen, der gern als Badestelle benutzt wurde.
Sibylla wartete, dass Samira unten wieder erschien, dann machte sie sich daran, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Als Erstes entledigte sie sich des weiten, weißen Kleides, das sie gewöhnlich in Ibelin trug. Dafür nahm sie ein weit ausgeschnittenes, dunkelblaues Kleid aus ihrer Reisetruhe, das sie ohne Dienerhilfe anziehen konnte. Es lag eng an, betonte ihren schlanken Leib und stellte kein Hindernis dar, wenn es ihr gelang, Balian auf seinen Diwan zu locken. Dafür verzichtete sie insbesondere auf jegliche Form von Unterwäsche … Nichts sollte zwischen ihr und dem hübschen Baron sein, wenn sie ihn so weit hatte, wie sie es beabsichtigte.
Balian seinerseits wusste inzwischen kaum noch, wie er sich beherrschen sollte. Er teilte mit Sibylla ein Haus und hatte sich schon manches Mal nur knapp davor zusammengenommen, in der Nacht zu ihr nach oben zu schleichen. Es fiel ihm von Tag zu Tag schwerer, der Versuchung zu widerstehen, der ihre Anwesenheit ihn jeden Tag aufs Neue aussetzte. Zwar hatte er die Tür, die sein jetziges Arbeitszimmer mit dem Treppenhaus im Turm verband, abgeschlossen und den Schlüssel dazu ihrer Leibdienerin Samira gegeben, aber er war nicht sicher gewesen, dass er der Versuchung wirklich standhalten konnte. Schlösser ohne Schlüssel waren für einen Schmied das geringste Problem, wenn er solche Sperren überwinden wollte … In der Woche zuvor hatte er Sibylla deshalb vorgeschlagen, dass er ganz aus dem Herrenhaus ausziehen wollte und für die Zeit ihres Aufenthaltes in das südliche Querhaus ziehen wollte, in dem unten der Stall und oben eine leer stehende Wohnung war. Sie hatte sein Angebot abgelehnt und ihn geradezu gebeten, bei ihr im Haus zu bleiben.
Die täglichen Tischgespräche mit ihr hatten ihn überzeugt, dass sie einer Auffassung waren, was das Zusammenleben der Menschen in diesem Land betraf. Sie liebte ihren Bruder, sie liebte ihren Sohn und hatte deutlich gemacht, dass sie Guy ganz gewiss nicht liebte, dass er ihr aufgenötigt worden war. Dass sie täglich ein bisschen mehr Haut beim Abendessen präsentierte, machte ihm das tägliche gemeinsame Mahl nicht einfacher. Nicht umsonst mied er das Haus am Tage, soweit es irgendwie möglich war, um sie nicht noch zu weiteren Vertraulichkeiten zu ermuntern, die irgendwann seine nur noch mühsam aufrecht erhaltene Beherrschung zusammenbrechen lassen würde. Er wollte sich nicht ausmalen, was König Balduin dazu sagen würde, wenn er, der Baron von Ibelin, die verheiratete Schwester seines Königs verführte …
Jetzt war es ein brütend heißer Nachmittag. Wer konnte, zog sich in die kühleren Häuser zurück. Stunden wie diese waren es, die die wahre Qualität der orientalischen Baumeister bewiesen. Häuser in Europa waren einfach gebaut, was nichts anderes hieß, als dass sie Wände hatten, die in glücklichen Fällen aus Stein bestanden, in weniger glücklichen Fällen aus Lehm und Stroh – in jedem Fall aber im Wortsinne einfach.
Orientalische Baumeister errichteten zwei Wände, zwischen denen eine Luftschicht blieb. Sie konnte durch Schlitze in der Außenmauer zirkulieren und hielt die innere Mauer kühl. Ibelin hatte eine solche Doppelmauer, die für ein erträgliches Raumklima sorgte, wenn die Hitze des Sandes draußen geeignet war, frischgelegte Eier ohne Wasser hart zu kochen. Dazu kamen noch die luftigen Holzschnitzereien, aus denen die Türfüllungen bestanden, und leichte Vorhänge, die zwar Luft hereinließen, die Hitze aber abschirmten. Zuweilen hatte diese Art der Kühlung jedoch den Nachteil, dass die nächtliche Kälte, die sich in Wüstengegenden trotz glühender Tageshitze nach Sonnenuntergang rasch einstellte, zu gut durchgelassen wurde.
Auch Balian wurde es zu heiß. Was er draußen vorgehabt hatte, hatte er erledigt. Die brütende Nachmittagshitze war ein willkommener Anlass, dass er sich zeichnerisch weiter der Umgestaltung der Jerusalemer Mauern widmete, worum Tiberias ihn gebeten hatte. Durchgeschwitzt kehrte er ins Herrenhaus zurück, bat Latif um ein Bad, zog sich danach ein frisches Hemd an. Anschließend gab er dem Haushofmeister auf, er wolle am Nachmittag nicht gestört werden und fühlte sich schon bedeutend besser, als er sein Arbeitszimmer aufsuchte.
Das Arbeitszimmer, der gefangene Raum hinter dem bisherigen Speisebereich der Herrenwohnung, war angenehm temperiert. Die Kühlung durch Doppelmauern, leichte Vorhänge und luftdurchlässige Fensterläden funktionierte so gut, dass Balian sich schon bald aus der Truhe im Wohnbereich einen leichten Kaftan holte, den er überzog. An die sonst allgegenwärtige Hitze hatte er sich schon so sehr gewöhnt, dass ihm Temperaturen, die ihn vor nicht allzu langer Zeit dazu veranlasst hätten, das Hemd auszuziehen, schon völlig normal erschienen und er im Schatten schon fast fror. Als Ausgleich zog er die leichten Schuhe aus, stellte sie neben sich ab und genoss es, seinen Füßen nach einem Vormittag mit geschlossenen Schuhen wieder etwas Luft zu gönnen.
Im Schein einiger Kerzen skizzierte er still und konzentriert die Verbesserungen der Mauern. Doch hin und wieder hielt er inne und dachte an seinen königlichen Gast über ihm.
Seit Sibylla hier war, hatte er ihr öffentliches Gesicht nicht gesehen, und sie schien froh zu sein, es für einige Zeit nicht zu benötigen. Seine Gedanken gingen weiter, die Zeichenkohle sank neben die Skizze, an der er arbeitete.
Zwischen den Worten der Prinzessin hatte er herausgehört, dass sie nur den Sohn von ihrem ersten Mann hatte und sich dem ihr aufgezwungenen Ehemann verweigerte. Doch sie quälte Einsamkeit – vielleicht die gleiche, die auch ihm zusetzte? Bis jetzt hatte er zum Nachdenken wenig Zeit gehabt. Seine neuen Aufgaben hatten ihn stark gefordert und allenfalls dem Handwerker Balian Zeit zum Überlegen gelassen. Der Mensch Balian, auch der Mann als solcher, war in der letzten Zeit etwas zu kurz gekommen. Ibelin war das Paradies, von dem sein Vater so geschwärmt hatte, zweifellos; doch bisher hatte er nur gegeben. Gleichzeitig schalt er sich in Gedanken, nicht so undankbar zu sein. Er hatte die Anerkennung seiner Männer und die Wertschätzung der Dorfbewohner dafür erhalten. Andererseits wäre es schön, würden seine Männer und die Dorfbewohner ihn nicht nur wegen seiner handwerklichen Fähigkeiten und seiner Ideen schätzen, sondern ganz einfach als Menschen, wie er auch sie als Menschen schätzte.
Balian seufzte leise. Wovon träumte er da eigentlich? Auf dieser Welt gab es nichts ohne Gegenleistung … Dennoch verspürte er erstmals in seinem Leben den Wunsch, sich ein paar Tage Ruhe zu gönnen. Einfach mal etwas länger schlafen, es sich gut gehen lassen. Ibelin bot ihm die Möglichkeit dazu. Er schüttelte sich. Müßiggang war aller Laster Anfang, hatte sein Ziehvater stets gesagt …
Er zeichnete weiter, aber nicht mehr so konzentriert wie vorher.
♦♦♦
Kapitel 9
Das Licht der Liebe
Ein leises Türklappen ließ Balian aufsehen. Verblüfft hob er sein Teeglas, in der Meinung, einer der Diener käme trotz seiner ausdrücklichen Bitte, ihn nicht zu stören. Vielleicht, um ihm von diesem wundervollen Orangentee nachzuschenken, für den Ibelin nach Latifs Worten berühmt war. Balian jedenfalls schmeckte diese Durst löschende Köstlichkeit ausgezeichnet.
Doch es war kein Diener, der durch den abgedunkelten Schlafraum kam – es war Sibylla von Jerusalem, die im Schein einer dünnen Kerze den Wohnraum betrat, zur Tür des provisorischen Arbeitszimmers kam und davor stehen blieb. Ihre Blicke trafen sich.
„Ich könnte für immer hierbleiben“, sagte sie, als sie sich an die Türfüllung lehnte.
Er fand diese Vorstellung durchaus reizvoll, wie er sich eingestand.
„Dieses Haus ist das Eure“, erwiderte er und legte die Zeichenkohle weg. Es klang zunächst nach einer schlichten Wahrheit, schließlich war er mit Ibelin vom König belehnt worden. Belehnung bedeutete nichts anderes, als dass ein König seinem Vasallen ein Stück Land wahrhaftig lieh – der König blieb der Grundherr des Lehens, der Vasall wurde keineswegs unabhängiger Eigentümer des Landes, mochte die Verfügungsgewalt des Vasallen über das Land, das ihm gegeben wurde, auch weit über das hinausgehen, was ein bäuerlicher Pächter an Rechten erwarb, wenn er einen Acker pachtete.
Doch für Sibylla klangen die Worte des jungen Barons noch ein bisschen anders. Sie bestätigten, dass sie ein gern gesehener Gast war, vielleicht auch etwas mehr. Für genau dieses mehr war sie jetzt hier. Doch wie es genau aussah, das konnte sie noch nicht ermessen. Sie beschloss, hier näher nachzufragen …
„Warum, glaubt Ihr, bin ich hier?“, fragte sie in geradezu provozierendem Tonfall.
Balian erhob sich und trat zur Tür.
„Ich weiß, dass Ibelin nicht auf dem Weg nach Kanaan liegt“, erwiderte er. Die Prinzessin durfte gern wissen, dass er ihr das vorgebliche Reiseziel von Anfang an nicht abgenommen hatte. Kanaan lag weit im Norden des Königreichs Jerusalem, fast am See von Tiberias. Ibelin dagegen lag nur gut vierzig Meilen westlich von Jerusalem – eine völlig andere Richtung.
Ihre Lippen umspielte ein geheimnisvolles Lächeln.
„Was wisst Ihr noch, Mylord?“, fragte sie mit verführerischem Unterton weiter. Dieser Mann war klug, wusste aber, Diskretion zu wahren.
„Ich weiß, dass Ihr eine Prinzessin seid – und ich bin kein Fürst“, antwortete er. Ihre provokante Frage nach dem Grund ihres Aufenthaltes hatte die Mosaiksteine, die bis vor wenigen Momenten noch ungeordnet seine Gedanken durchkreist hatten, sehr plötzlich zu einem erkennbaren Bild zusammengesetzt. Sie wollte ihn; ihn ganz persönlich …
Balian hielt sich nicht für die passende Partie für eine leibhaftige Prinzessin. Nicht als unehelicher Sohn eines Barons, nicht als der Handwerker, der er war. Er konnte nur hoffen, dass sie seine Mahnung vor einer so unmöglichen Verbindung erkennen würde.
„Ihr seid ein Ritter!“, entfuhr es der Prinzessin. Musste man ihn daran tatsächlich erst erinnern?
„Weder verdientermaßen, noch ist es erwiesen“, gab er zurück. Gewiss, er war zum Ritter geschlagen worden, doch hatte er aus eigener Kraft dazu nichts beigetragen. Knappen lernten viele Jahre das Handwerk des Ritters; lernten, sich bei Hofe zu benehmen und die gesellschaftlichen Regeln des Adels zu beachten – und ein Knappe musste an Kämpfen mit dem Feind beteiligt gewesen sein, um sich für den Ritterschlag überhaupt zu empfehlen. Balian hatte weder alles gelernt, was ein Ritter seiner Ansicht nach wissen musste, sah er von dem Unterricht durch die Männer seines Vaters auf der Reise nach Messina ab, noch hatte er an Kämpfen teilgenommen, in denen er sich für den Ritterschlag qualifizieren konnte. Der Kampf im Wald gegen seinen Cousin Nicolas und dessen Leute, der Odo, Firuz, Philippe und letztlich auch seinen Vater das Leben gekostet hatte, zählte für ihn nicht. Er hatte allenfalls um sein Leben gekämpft, nicht aber nach ritterlichen Regeln. Und damit nicht genug: Er hatte sich auch nicht als Ritter bewährt. Es war seine ihm vom König zugewiesene Aufgabe, für die Sicherheit der Pilgerstraße zu sorgen – doch seit seiner Ankunft hatte er sich vorrangig um Ibelin selbst gekümmert. Sibyllas Hinweis auf sein Ritterdasein erinnerte ihn geradezu an dieses Versäumnis …
Sibylla sah zu Boden. Bescheidenheit, selbstkritische Betrachtung, Zurückhaltung – das alles passte nicht zu den Adligen, die sie kannte. Jene hielten sich für unglaublich wichtige Personen, putzten sich wie die Pfauen und waren beinahe zu fein, das Essen selbst zu kauen. Sie hielten es für eine Selbstverständlichkeit, dass sich alle Welt vor ihnen verneigte, dass sie besser waren, als das so genannte gemeine Volk.
Balian sah seine Berufung in den Ritterstand als Verpflichtung, nicht als Privileg; das wurde ihr jetzt erst richtig bewusst. Dabei war dieser Mann durch und durch edel, bis ins Mark. Um bei ihm den Edelmann zum Vorschein kommen zu lassen, wäre nicht einmal die von ihm selbst spöttisch erwähnte Seide erforderlich gewesen.
Gleichzeitig erkannte sie, dass er längst durchschaut hatte, dass bei so manchem Adligen der Adel nur äußerlich vorhanden war – durch die kostbare Kleidung, die er trug; dessen Adel hatte die Gesinnung nie erreicht oder längst verlassen. Seine Bemerkung bei ihrer Ankunft war scharfe Kritik an diesem oberflächlichen Adel gewesen, der vergaß, dass der Adel nicht um seiner selbst willen geadelt worden war, sondern, dass seine Aufgabe der Schutz des einfachen Volkes war. Das, was er so hart kritisierte, war genau die Art von Adel, die Guy de Lusignan zu Eigen war.
Balian war ihrem Bruder Balduin in seinen Ansichten so unendlich ähnlich. Von dem Johanniterbruder Jean wusste sie, dass Balian lediglich auf der Reise nach Messina von seinem Vater und dessen Männern Unterricht bezüglich der Aufgaben des Adels und hinsichtlich ritterlicher Kampftechniken erhalten hatte. Die Reise hatte von Saint-Martin-sur-Eure bis nach Messina knapp zwei Monate gedauert – wenn er in dieser Zeit derartige Erkenntnisse gewonnen hatte, für die andere Jahre, Jahrzehnte oder gar ihr ganzes Leben benötigten, dann war er ein Mann von ausgesprochen schneller Auffassungsgabe, klug und intelligent. Ja, er war genau der Mann, den sie suchte, um ihrem Sohn einen neuen Vater zu geben – und genau der Mann, den ihr Bruder brauchte, um sein Königreich und den Frieden mit Saladin zu erhalten. Vielleicht auch der Mann, der der leibliche Vater ihrer künftigen Kinder sein konnte, wenn er ein entsprechend guter Liebhaber war …
Sibylla sah wieder hoch und entdeckte in seinen Augen erneut die Einsamkeit, die ihren Gastgeber ebenso quälte wie sie selbst. Sie beschloss, jetzt alles zu riskieren.
„Ich … bin nicht hergekommen, weil … weil ich gelangweilt wäre oder … unkeusch“, setzte sie stockend an. „Ich bin hier, weil … weil es im Osten heißt, dass zwischen einer Person und einer anderen nur ein Licht ist.“
Damit blies sie die Kerze aus und trat nahe zu dem überraschten Balian, der einen Schritt nach hinten tun wollte, doch durch den Türrahmen aufgehalten wurde. Sie legte ihm sanft beide Hände auf die breite Brust und streifte den Kaftan von seinen Schultern. Er begriff und schlüpfte aus dem Obergewand. Es hatte keinen Sinn, vor einer neuen Liebe davonzulaufen, besonders, wenn sie so freimütig geschenkt wurde. Er umarmte sie, zog sie nahe an sich und küsste sie wild und verlangend. Sibylla kam ihm entgegen und hob sein Hemd an, liebkoste sehnsüchtig seinen warmen, muskulösen Oberkörper. Mit einem geschickten Griff zog sie das Hemd über seinen Kopf, als er sie zum Diwan im Wohnbereich trug.
♦♦♦
Kapitel 10
Verbotene Leidenschaft
Das viel zu lang aufgestaute Begehren in zwei jungen Menschen brach sich heftig Bahn, als sie gerade so weit entkleidet auf den Diwan sanken, um sich vereinigen zu können. Sie taten hastig und heißhungrig, was ihre Körper lautstark forderten. Nach einem eiligen ersten Akt, der sie beide nur oberflächlich befriedigte, hob Balian Sibylla hoch und drehte sie um, legte sich unter sie und überließ ihr die Führung für einen zweiten, für den sie sich nun Zeit nahmen, viel Zeit. Er liebkoste zärtlich ihr Gesicht und ihre Schultern, während sie ihr Kleid noch höher schob und seine Hose weiter nach unten. Mit Genuss spürte sie, dass er dabei mithalf und ein solches Liebesspiel ebenfalls genoss.
Ihr Körper bebte vor Erwartung, noch lange nicht zufriedengestellt von dieser ersten Vereinigung, die allenfalls den brennendsten Durst gelöscht hatte. In ihrem Inneren brannte das Feuer des Verlangens schon wieder lichterloh, als sie seine Lippen spürte, die dann zu ihrem Hals wanderten und schließlich zu ihrem Mund zurückkehrten. Seine Liebkosungen waren unendlich sanft. Ebenso sanft vereinigte er sich erneut mit ihr, tat es so vorsichtig und langsam, dass sie schon ungeduldig wurde und von sich aus danach drängte, um ihn wieder ganz tief in sich zu spüren. Es tat ihr so gut, ihn dort zu fühlen, jeden Zoll seiner hitzigen, pulsierenden Männlichkeit zu genießen, der sich an ihrer pochenden Perle entlang schob. Balians Anwesenheit entlockte Sibylla ein lustvolles Seufzen.
Mit einem zärtlichen Lächeln strich er ihr einige vorwitzige Strähnen aus dem Gesicht und tupfte einen Kuss auf ihre Lippen. Die zarte Berührung machte Lust auf mehr. Sibylla hätte geschworen, dass sie noch nie in ihrem Leben in ein so zärtliches, liebevolles Lächeln gesehen hatte. Sie kam ihm entgegen, wollte ihn noch tiefer in sich spüren. Sie erwiderte sein Lächeln und den zärtlichen Kuss, der intensiver wurde, als sich ihre Zungen sanft umspielten. Sie nahm einen sanften, langsamen Rhythmus auf, dem er genussvoll entgegenkam.
Sie verging fast vor Lust, als sie ihren Höhepunkt erreichte und spürte, dass er sich im gleichen Moment tief in ihr ergoss. Voller Wonne flüsterte sie seinen Namen, hörte den ihren ebenso lustvoll gehaucht. Atemlos kamen sie zur Ruhe und lagen einander eine Weile schweigend in den Armen, die Nähe des Anderen genießend. Ihr Kopf lag auf seiner rechten Schulter, ihre Stirn berührte seinen Hals, gerade dort, wo der Puls war. Sie spürte, wie heftig sein Herz hämmerte. Sein rechter Arm umfing sie sanft. Sibylla fand es wunderschön, so bei ihm zu liegen, die Wärme seiner Haut zu spüren. Seine linke Hand zeichnete sacht die feinen Linien ihres Gesichtes nach und wanderte dann zum Rand ihres schulterfreien Kleides.
„Willst du das anbehalten?“, fragte er leise und vertraulich. Sie schüttelte schweigend den Kopf und hob ihn leicht an. Ihre Lippen erreichten dabei gerade seinen Hals. Sie hauchte einen zarten Kuss auf seinen Puls, genoss es, den Schlag seines Herzens an den Lippen zu spüren.
Balian seufzte genießerisch, als ihre Zungenspitze ihn dort berührte. Ihre Zartheit war noch verführerischer als ihre wilde Leidenschaft, mit der sie sich beim ersten Mal geliebt hatten. Mit ihr langsam und lustvoll Liebe zu machen, ließ dieses provisorische Wohngemach zum Paradies auf Erden werden. Der Diwan war bequem gepolstert und mit einer Decke belegt, die die Haut regelrecht umschmeichelte – fast so wie Sibyllas Hände seinen Körper umschmeichelten. Sie ließ es nur zu gern geschehen, dass er ihr Kleid vorsichtig öffnete. Sie schlüpfte heraus, er half ihr, es ganz auszuziehen, während sie ihm mit einem frechen Ausdruck seine Hose herunterstreifte.
„Kann uns jemand stören?“, fragte sie dann doch leicht besorgt, als sie hüllenlos auf der weichen Decke des Diwans lagen und ihr bewusst wurde, dass hier jeden Augenblick ein Diener herein platzen konnte.
„Nein“, flüsterte er nahe an ihrem Ohr. Seine Stimme war so sanft und weich wie der Blick, den er ihr schenkte. „Ich hatte darum gebeten, mich heute Nachmittag nicht zu stören.“
Sibyllas Hand ging auf eine vorsichtige, forschende Reise über seinen wohlproportionierten Körper. An diesem Mann war kein Gran* Fett zu viel, eher etwas zu wenig; aber seine Muskeln fühlten sich unglaublich gut an.
Balian schloss die Augen. War das schön! Die schmalen Hände der Prinzessin glitten behutsam über seine Haut, jeden Quadratzoll vorsichtig und zart erkundend. Sie richtete sich halb auf, um diesen wunderschönen Körper eingehend in Augenschein zu nehmen. Nein, die Marmorstatuen, die die alten Griechen von ihren Göttern geschaffen hatten, waren gewiss nicht schöner, als dieser höchst lebendige Mann.
„Was ist?“, fragte er, als sie innehielt, ihn mit den Händen zu untersuchen und ihn nur noch betrachtete. Verschmitzt lächelte sie ihn an.
„Ich will nur sehen und fühlen, dass das kein Traum war, was ich eben erlebt habe“, sagte sie, beugte sich über ihn und küsste jeden einzelnen der deutlich abgezeichneten Bauchmuskeln. Balian seufzte beglückt. Seine Ehe mit Natalie war glücklich gewesen, ihr Liebesleben wirklich erfüllt – aber das hier war wie aus einer anderen Welt. Es war die pure Wonne, die ihn durchströmte, als er ihre Lippen seinen Leib verwöhnen spürte. Doch als sie in Richtung Lenden weiterwanderten, hielt er sie vorsichtig, aber bestimmt auf.
„Nein, tu das nicht“, bat er keuchend.
„Was?“, fragte sie, während ihre Fingerkuppen sacht die Innenseiten seiner Oberschenkel streiften. Ein zarter Luftzug streichelte seine Männlichkeit.
„Geh da nicht weiter, sonst kann ich für nichts garantieren“, bat er. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, als er sich gegen diese ungehörige Lust wehrte, die ihr einfacher Atem verursachte. Der Luftzug wurde wärmer, streifte den empfindsamsten Punkt, als sie fragte:
„Warum sollte ich nicht?“
„Es ist erniedrigend“, keuchte er.
„Für wen?“, fragte sie und hauchte einen Kuss knapp unter seinen Bauchnabel. Es war wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Weiter unten flatterten noch mehr Schmetterlinge, als ihre Fingerkuppen unendlich zart die Quellen männlicher Leidenschaft berührten.
„Für dich“, seufzte er.
„Aber ich will es“, flüsterte sie. „Ich will, dass du höchsten Genuss empfindest – und ich kann sehr ungehorsam sein. In Sachen Liebe lasse ich mir nie wieder etwas vorschreiben.“
Er konnte sie gerade noch hindern, zu tun, was ihre Lippen unbedingt tun wollten. Mit sachtem Zwang holte er sie wieder auf seine Schulter. Ihre Hand blieb in seiner erhitzten Mitte. Mit einem enttäuschten Seufzer bettete sie ihren Kopf wieder auf seiner Brust.
„Wieso willst du nicht genießen, was ich dir schenken möchte – aus freiem Willen?“, fragte sie verblüfft.
Balian bekam langsam wieder Kontrolle über sich. Er richtete sich halb auf und sah sie an, während seine Hand sanft über ihr Gesicht glitt.
„Sibylla, was du tust, ist wunderschön, das bestreite ich nicht. Aber es ist unwürdig. Nicht nur, weil du eine Prinzessin bist – das würde ich keiner Frau zumuten wollen. Du hättest nichts davon, und das will ich nicht“, sagte er leise. Seine Hände zogen sie nahe an sich.
„Darf ich?“, fragte er. Sie nickte und überließ sich ihm für einen neuen Akt der Liebe, führte ihn in ihre Pforte.
Sie genossen erneut vollkommene Wonne, als Balian sich verschwenderisch ergoss und Sibylla begierig aufsog, was seine Lenden hergaben.
Wohlig erschöpft kamen sie zur Ruhe, lagen atemlos eng aneinander geschmiegt.
„Ich möchte bleiben“, flüsterte sie. Nein, aus diesem Paradies wollte sie nicht wieder fort … Er nickte nur. Ermattet und schläfrig legte sie ihren Kopf wieder auf seine Schulter. Er duftete nach den kostbaren Essenzen, die sie mitgebracht hatte. Sibylla sog den Duft tief ein. Dieser Mann roch gut, sah gut aus, war ein zärtlicher und leidenschaftlicher Liebhaber, gab ihr ein nie gekanntes Gefühl von Schutz und Geborgenheit. Er hatte auch die Prüfung als Liebhaber mit Bravour bestanden, wie sie mit einem glücklichen Seufzer zur Kenntnis nahm. Mit diesem glücklichen Seufzer überließ sie sich dem Schlaf, der wie Blei an ihren Lidern zerrte.
Balian bemerkte schnell, dass die Prinzessin in seinen Armen eingeschlafen war. Einen Moment sah er sie an. Sie schlief friedlich und mit einem glücklichen Lächeln. Dann fiel sein Blick auf den Diwan. Das Möbelstück war zwar breit und bequem, aber für zwei Personen auf Dauer nicht breit genug. Ganz vorsichtig machte er sich aus ihren Armen frei, stand auf und wusch sich zunächst Gemächt und Hände mit dem Wasser, das immer in einer Kanne beim Waschbeckenständer im Schlafgemach bereitstand. Dann legte er sich ein Lendentuch um die Hüften und wollte das große Bett vorbereiten, um Sibylla hineinzulegen und selbst schlafen zu gehen.
Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er feststellte, dass hier schon jemand aktiv geworden war: Ein zweites Kissen war bezogen, ein zweites Laken als Zudecke hingelegt – und schon so hingelegt, dass die Benutzer nur noch einsteigen mussten. Sein Blick ging zurück in sein Wohnzimmer. Das war weder das Werk von Latif noch von Samira … Sibylla hatte diesen Ausbruch der Leidenschaft ziemlich offensichtlich bewusst geplant und höchst selbst Hand angelegt. Sie war also tatsächlich seinetwegen hier …
Er ging zurück zum Diwan, hob die fest schlafende Prinzessin auf seine Arme, trug sie hinüber ins Schlafgemach, legte sie ins Bett und räumte dann noch leise die Spuren des Heißhungers nach Liebe fort. Schließlich schlüpfte er unter sein eigenes Laken und überließ sich ebenfalls einem geruhsamen Nickerchen.
Ibelin war unter der brütenden Nachmittagshitze still geworden. Niemand bewegte sich in der heißen Sonne. Das heftige Liebesspiel im Herrenhaus war unbemerkt geblieben.
♦♦♦
Kapitel 11
Ruhe nach dem Sturm
Der Abend dämmerte bereits, als Sibylla wieder in die Realität Ibelins zurückfand. Ihr Blick fiel auf den entspannt neben ihr schlafenden Balian, der gerade bis zur Hüfte mit dem dünnen Laken bedeckt war.
Ihre Augen weideten sich an dem schönen Anblick, den sein nackter Oberkörper bot. Sie riss sich mit Mühe von dem erneut Liebesappetit machenden Bild los und sah sich um. Alles sah ordentlich und aufgeräumt aus – auch im Wohnraum nebenan. Dann fiel ihr ein, dass sie mit Balian die Räume getauscht hatte und nun wieder dort war, wo sie eigentlich nicht sein wollte. Aber in diesem Augenblick hätte sie nirgendwo anders sein wollen als neben diesem wundervollen Mann in diesem bequemen Bett, bezogen mit frischem, weichem Musselin. Sie dachte mit wohligem Schauer an die Liebe mit ihm und war sicher, für alle Zeiten für jeden anderen Mann verdorben zu sein. Das, was Balian ihr gegeben hatte, konnte ihr kein anderer Mann geben.
Guillaume von Montferrat war anfangs nicht besonders feinfühlig gewesen, hatte sich aber in den wenigen Monaten ihrer Ehe wenigstens zum Besseren entwickelt. Guy war einfach nur grob gewesen. Zwar musste sie sich eingestehen, nicht wirklich zu wissen, ob er sich nicht auch verbessert hätte, weil sie sich ihm seit der Hochzeitsnacht verweigerte, in der sie ihm hatte erlauben müssen, mit ihr zu schlafen, aber sie bezweifelte es einfach. Sie hätte damals keine Chance gehabt, ihm auszuweichen. Reynald de Châtillon und Bertrand de Cormier, die Trauzeugen, die der Tradition entsprechend auch beim Ehevollzug zugegen gewesen waren, hätten sie im Falle einer Verweigerung für eine Vergewaltigung festgehalten …
Der Ehevollzug mit Guy hatte ihrer Ansicht nach auch einer Vergewaltigung geglichen – vor allem, wenn sie die damaligen Ereignisse mit diesem heißen Nachmittag verglich.
Je länger Sibylla darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass de Lusignan sie niemals so behandelt hätte, wie Balian es tat. Nein, solche Zärtlichkeit konnte der Templergönner nicht geben.
Sie sah wieder zu Balian, der auf der rechten Seite ihr zugewandt lag und einen Arm unter das Kopfkissen geschoben hatte.
Nein, wäre dieser Mann ihr Bräutigam gewesen, hätte er keine hilfreichen Komplizen benötigt, um sie zu besitzen. Sibylla freute sich jetzt schon auf das, was sie mit ihrem Bruder und Raymond von Tiberias besprochen hatte: Sollte Balian sich als passender Ersatz für Guy erweisen und er bereit sein, sie zu heiraten, würde sie nach zwei erzwungenen Ehen endlich einen Mann ihrer eigenen Wahl bekommen.
Balian erwachte von einem zärtlichen Kuss.
„Guten Abend“, wünschte Sibylla mit einem sanften Lächeln. „Gut geschlafen?“
Er reckte sich gähnend.
„Ja“, bestätigte er. „Du auch?“
Sie nickte lächelnd. Es war ein wundervolles Lächeln, sanft und liebevoll, wie er es nur von Natalie kannte. Er streichelte sachte ihr Gesicht.
„War es das, was du meintest, als du mir im Palast gesagt hast, du würdest mich lieben?“, fragte er leise. Sie nickte schweigend.
„Und … wie hast du das mit meinem Vater gemeint?“, fragte er.
Sie bekam ein schelmisches Grinsen.
„Er war Balduin, Isabella und mir wie ein Vater. Er war nicht mein Liebhaber, obwohl er einen ausgesprochen guten Ruf als Tröster einsamer Adelsfrauen hatte“, sagte sie.
„Ist … ist es wahr, dass er mit Guys Mutter angebandelt hat?“, fragte Balian weiter.
„Ja – und wahrlich keine Kunst. Sie ging mit jedem ins Bett, der nur den Anschein erweckte, genug … Kraft … zu haben. Dein Vater war wenigstens zwei oder dreimal in der Woche bei ihr – und es heißt, sie hätten sich recht laut amüsiert.“
„Hatte … hatte er noch mehr solcher … Verhältnisse?“, fragte er schluckend. Was für ein Schwerenöter …!
Sibyllas Grinsen wurde noch breiter. Balians Stocken in dieser Frage zeigte ihr, dass er in dieser Hinsicht nicht seines Vaters Sohn war …
„Dein Vater hat nichts ausgelassen, wirklich nichts. Ich glaube, es gab im Palast in Jerusalem keine entsprechend reife Frau, mit der dein Vater nicht geschlafen hat.“
„Wie … würdest du dich selbst in dieser Hinsicht einschätzen?“, erkundigte er sich vorsichtig.
„Ich bin recht wählerisch – und seit heute noch mehr. Niemals hat mich ein Mann so geliebt wie du.“
„Und … wie viele hast du durchprobiert?“, hakte er nach. Sibyllas Grinsen wuchs weiter.
„Eine Prinzessin genießt – und schweigt“, antwortete sie.
Balian nickte. Eigentlich reichte ihm ihr Hinweis, dass sie wählerisch war. Er schenkte ihr ein Lächeln, das bei ihr weiche Knie verursacht hätte, hätte sie nicht im Bett gelegen.
„Dann behalte deine Geheimnisse für dich“, sagte er. „Wo möchtest du essen? Hier auf der Terrasse oder oben?“
„Solange ich die Nacht hier verbringen darf, ist es mir gleich“, gab sie zurück.
Er nickte.
„Gut. Aber bitte leise, damit deine Dienerinnen nicht rebellisch werden.“
Sie schmunzelte.
„Wenn du damit Samira meinst – die ist mit Guy gut bedient.“
Er sah sie verblüfft an.
„Das duldest du?“
„Ja, sonst würde er es von mir verlangen. Solange er sie haben kann und sie ihn zufriedenstellen kann, ist mir alles recht; denn ich habe dich. Was will ich mehr?“
Balian lächelte liebevoll und mutmaßte:
„Vielleicht einen Vater für deinen Sohn?“
Sibylla sah ihn verblüfft an. Konnte er Gedanken lesen?
„Ist … ist das … ein ernst gemeintes Angebot?“, fragte sie, um sicher zu gehen, dass sie sich nicht verhört hatte. „Würdest du mich heiraten, wenn ich von Guy befreit wäre?“
„Wenn er dich freigibt, ja“, erwiderte er. „Obwohl … ich mich frage, ob ich der Richtige für dich bin.“
„Wieso solltest du es nicht sein?“
„Weil mir höfisches Gehabe nicht liegt. Ich bin ein einfacher Mann – und ich brauche etwas zu tun“, erwiderte er. Er wollte nicht, dass sie sich falsche Vorstellungen von ihm und einem Leben mit ihm machte.
„Was zum Beispiel?“, fragte sie. „So etwas wie hier in Ibelin?“
„So in der Art“, bestätigte er. „Und ich will die Schmiedekunst nicht verlernen.“
„Ich … könnte dich die Beizjagd lehren“, schlug Sibylla vor. Ein Mann von Adel am Amboss? Unvorstellbar!
„Was ist das?“, fragte er. Als einfachem Mann war ihm jegliche Art von Jagd verboten gewesen.
„Nun, das ist eine Jagd mithilfe eines Falken. Man jagt damit Fasanen, Rebhühner, hier auch Perlhühner und kleines Wild wie Hasen oder Kaninchen“, erklärte sie. Dann sah sie seinen zweifelnden Blick.
„Das ist für Adlige eine sehr edle Jagdmethode“, wehrte sie seine augenscheinlichen Zweifel ab. „Und gerade hier im Orient ist sie sehr beliebt. Die Araber lieben diese Art der Jagd.“
„Vergib mir meine Unwissenheit. Geschieht das zur Bereicherung des Speisezettels?“, fragte Balian, der keine Ahnung hatte, dass man Rebhühner, Fasanen und Perlhühner essen konnte. Von Hasen und Kaninchen wusste er es durch die Reise mit seinem Vater und dessen Männern, war sich aber nicht ganz sicher, ob das nicht ein Notbehelf gewesen war, weil man weder Ochsen noch Ziegen oder Federvieh lebend mitgenommen hatte. Sibylla lächelte, als ihr der Grund für seine Frage jetzt klar wurde.
„Ja, durchaus. Aber es ist auch zum Vergnügen und macht wirklich Spaß.“
„Wenn es zum Essen dient, gern. Zum Vergnügen werde ich nicht töten und auch nicht töten lassen“, entgegnete Balian ernst. „Als einfacher Mann habe ich mich oft genug darüber geärgert, dass unser Vizegraf und sein Sohn ohne Rücksicht auf Verluste durch die mühsam bestellten Felder geprescht sind, Weinstöcke und Ähren niedergetrampelt haben, um einen Fuchs zu jagen. Ich bin sicher, der Schaden, den sie damit angerichtet haben, war jedes Mal sehr viel größer als die zwei, drei Hühner oder die paar Trauben, die der Fuchs geholt hat. Und obendrein haben sie dann die Bauern, deren Felder sie verwüstet hatten, an Martini an den Pranger gestellt, wenn sie nicht ausreichenden Zehnt* abgeliefert haben. So ein Adliger will ich nicht sein.“
Seine Worte lieferten ihr die nächste Möglichkeit, ihn zu prüfen.
„Wenn jemand deine Felder hier so beschädigen würde: Was würdest du tun?“, fragte sie.
„Wenn meine Männer oder ich seiner habhaft werden würden, würde ich von ihm verlangen, dass er den Schaden wiedergutmacht. Entweder bestellt er das Feld neu, wenn die Saat noch jung ist oder er gibt dem Bauern so viel Geld, dass er sich die nicht geernteten Feldfrüchte bei anderen Bauern kaufen kann.“
„Dieses Land ist dein Land, Balian“, erinnerte sie.
„Ja, ist es. Ich bewirtschafte es mit allen Dorfbewohnern und meinen Männern gemeinsam. Trotzdem hat jede Familie noch ein Stückchen Land bekommen, das sie allein und nur für sich beackert, wo sie ihr Federvieh, ihre Ziegen oder Schafe halten. Sie sollen nicht glauben, nur für mich zu arbeiten.“
„Aber … das sollten sie …“, bemerkte Sibylla verwundert.
Balian schüttelte den Kopf.
„Meine Männer und ich sind hier, weil wir die Pilgerstraße schützen sollen. Ich schließe die Menschen in Ibelin in diesen Schutz ein – ganz gleich, wie sie ihren Gott nennen. Im Rittereid habe ich nichts davon gehört, dass ich Menschen für mich arbeiten lassen kann, einfach, weil ich ein Ritter und Baron bin. Ich betrachte das, was mein Vater mir hinterlassen hat, als Pflicht, nicht als Privileg.“
Sie lächelte und zeichnete mit dem Zeigefinger sanft das Grübchen nach, das sich immer an seinen Mundwinkeln bildete, wenn er lächelte oder – so wie jetzt – nachdenklich die Lippen zusammenkniff.
„Ihr habt nicht nur Pflichten, Mylord. Ihr habt auch Rechte“, schmunzelte sie. „Nutze deine Rechte, Balian. Wenn du es nicht tust, wird man dich verachten“, warnte sie dann.
„Ist man in diesem Fall Guy?“
„Der sowieso. Aber auch der übrige Adel Jerusalems, vielleicht sogar mein Bruder.“
„Und du?“
„Du hast Recht, Adel verpflichtet. Mich verpflichtet er dazu, öffentlich keine Gefühle zu zeigen, nicht einmal meinem Sohn gegenüber. Er verpflichtet mich, öffentlich herrisch zu sein, um meine Stellung zu erhalten. Das ist mein öffentliches Gesicht. Bei dir kann ich diese Pflicht ruhen lassen und ganz Sibylla sein – nur für dich. Dich verpflichtet er, deine Rechte als Herr dieses Lehens nach außen zu verteidigen. Betrachte es als deine ritterliche Pflicht, jeden zur Rechenschaft zu ziehen, der dir Verachtung entgegenbringt. Guy gehört dazu. Er verachtet dich, weil du ein Bastard bist.“
„Und … du?“
„Als ich dich in deinem Stadthaus besuchte, wusste ich, dass du unehelich bist, dass dein Vater dich aber anerkannt hat. Dein Vater war nicht verheiratet. Er konnte keinen legitimen Sohn haben. Ich habe dir gesagt, dass ich dich lieben werde. Und das meine ich so, wie ich es gesagt habe. Liebe schließt Verachtung aus“, stellte Sibylla klar.
„Wie kann Guy eigentlich Ritter des Templerordens sein, aber dein Gemahl?“, fragte Balian nach einer Weile.
„Er ist kein Mönch. Er gehört dem Orden nicht an, unterstützt ihn aber – ebenso wie Reynald de Châtillon. Deshalb dürfen sie den Templerrock tragen, obwohl sie keine Rittermönche sind“, erklärte sie.
Balian nickte. Er hatte an diesem späten Nachmittag wieder eine Menge erfahren. Irgendwann, dessen war er sicher, würde er auch wirklich alles wissen, was er über seine Familie wissen musste …
„Also, wo möchte meine Prinzessin speisen?“, fragte er schließlich.
„Ich lade meinen Ritter zu mir nach oben ein. Wird er kommen?“
„Wie meine Prinzessin befiehlt“, schmunzelte er schelmisch und küsste sie.
„Wieso gibst du mir immer nach?“, fragte sie. „Ich hatte gehofft, dass du nicht so … so … so …“
„Unterwürfig?“, half er ihr aus. Sibylla spürte Röte. Das hatte sie ihm nicht ins Gesicht sagen wollen … Wahrheitsliebe hin, Wahrheitsliebe her …
„Nein, das bin ich nicht. Nicht mehr“, erwiderte er. „Wenn ich deinen Wünschen nachgekommen bin, dann weil du mein Gast bist, nicht weil du die Schwester meines Königs bist. Auch wenn du manchmal eine wirklich freche Art hast, die mich schon zum Widerspruch reizen könnte.“
Er stand auf und zog sich Hose und Hemd an.
Sibylla seufzte leise, als das Hemd den wundervollen Ausblick auf seinen wohlbemuskelten Oberkörper verdeckte. Sie richtete sich halb auf.
„Ziehst du mich auch an?“, fragte sie keck.
Balian setzte sich an ihre Bettseite und verpackte sie sanft in das Oberlaken.
„Wenn du ganz lieb bitte sagst und auf die Knie gehst, überlege ich mir das“, schmunzelte er. Scherzhaft zog sie einen Schmollmund.
„Vorsicht“, warnte er. „Sonst ziehe ich mich wieder aus und wir machen da weiter, wo wir vor dem Mittagsschläfchen aufgehört haben.“
„Und du meinst, das erschreckt mich?“
Balian lachte leise. Es war ein unglaublich sympathisches Lachen, von dem sie gern noch mehr gesehen hätte.
„Nein, aber vielleicht mich. Sibylla, du bist Verführung pur. Nein, ich werde dich nicht anziehen. Wenn du wirklich meine Frau werden willst, dann gewöhne dich daran, dich selbst anzukleiden“, sagte er sanft, aber bestimmt. „Beim Auspacken bin ich jederzeit gern behilflich“, setzte er dann mit breitem Grinsen hinzu. „Erwarte nicht von mir, dass ich mich der Wonne beraube, die dein unbekleideter Anblick auslöst, indem ich das appetitliche Geschenk wieder einpacke, ohne davon zu naschen.“
Sibylla lachte hell und umarmte ihn einfach.
„Oh, Balian, du bist wundervoll!“, lachte sie und lehnte sich an ihn.
Er hielt sie mit einem glücklichen Lächeln in seinen Armen und zog sie nahe an sich. Ihre Hand, die sich unter sein Hemd schmuggeln wollte, hielt er rasch auf und legte sie stattdessen auf seine bekleidete Brust. Dann nahm er ihre andere Hand und führte sie zärtlich an seine Lippen, drückte einen zarten Kuss auf ihre Finger, ohne ihrem Blick auszuweichen.
„Du hast gesagt, du würdest mich lieben. Ist das so? Liebst du mich?“, fragte er flüsternd. Sibylla nickte, im Moment unfähig ein Wort herauszubringen.
„Liebst du mich?“, fragte er nochmals.
Sie sah tief in seine warmen, braunen Augen. Hörte er nicht, dass ihr Herz ganz laut ‚ja’ schrie?
„Ja“, flüsterte sie. „Ja, ich liebe dich, Balian.“
„Ich liebe dich auch, Sibylla“, antwortete er und küsste sie. Es war ein zarter, unendlich liebevoller Kuss; ganz anders als der heißhungrige Ringkampf ihrer Zungen vom Nachmittag, der in ebenso heißhungriger Vereinigung ihrer Körper gegipfelt war.
Sibylla schmolz dahin, aber ihm ging es nicht besser. Dieser Kuss war ein Versprechen, geradezu ein Schwur … Wenn es noch eines letzten Beweises bedurft hätte, dass Balian genau der Richtige war, um Guy de Lusignan an ihrer Seite zu ersetzen, dann war es dieser Kuss.
♦♦♦
Kapitel 12
Liebesmahl
Als Sibylla von ihrem Koch Kerim das Abendessen vorbereiten ließ und Miriam, eine von Balians Dienerinnen, ihr beim Bad und beim Umziehen half – Samira genoss den freien Tag mit anderen Mädchen und jungen Frauen am anderen Ende von Ibelin – lächelte die Prinzessin verträumt vor sich hin. Was hatte Balian nur mit ihr angestellt? Niemals zuvor hatte sie einem Mann gesagt, dass sie ihn liebte. Eher hätte sie sich die Zunge abgebissen, als so etwas zu sagen. Als sie es ihm gesagt hatte, hätte sie beinahe vor Aufregung gestottert, weil sie es unbedingt loswerden wollte. Und noch niemals zuvor hatte sie diese Worte von einem Mann gehört.
Ehen unter Adligen waren keine Sache der Liebe. Bei Familien, die Macht und Ansehen hatten, war die richtige Heirat geradezu überlebenswichtig. Guy de Lusignan war eher eine Notlösung gewesen. Üblicherweise handelten die Eltern von Braut und Bräutigam einen Ehevertrag aus, ohne ihre Kinder zu fragen; nicht selten wurden Adlige schon als Kinder einander versprochen und gar zu häufig sahen sich die künftigen Eheleute vor dem Traualtar zum ersten Mal. Ebenso oft war der Altersunterschied zwischen dem Mann und der Frau immens.
Sibylla kannte das aus eigener Anschauung. Ihr erster Gemahl, Guillaume de Montferrat, war etwa zwanzig Jahre älter gewesen als sie, Guy zählte auch deutlich über zehn Jahre mehr als sie. Zugegeben, sie selbst hatte sich auch schon einen wesentlich älteren Mann ausgesucht – Balduin von Ibelin, Balians Großonkel, der wahrhaftig fast dreißig Jahre älter war als sie. Sie war der Meinung gewesen, ihrer Mutter sogar zuvorgekommen zu sein, wenn sie das Werben des Oberhauptes einer so bedeutenden Familie im Reich von sich aus erhörte, ohne dazu genötigt zu sein. Sie hatte nie begriffen, weshalb Ihre Mutter sich nach dem Tod ihres ersten Gemahls so heftig gegen eine Heirat mit dem Oberhaupt des Hauses Ibelin gesträubt hatte, das dem Königshaus so nahe stand.
Sibylla dachte wieder an Balian, der von der Bedeutung seiner sonstigen Familie im Heiligen Land offensichtlich keine Ahnung hatte. Der Name Ibelin öffnete im Heiligen Land jede Tür – fast jede. Templerburgen waren die Ausnahme. Hier in Ibelin selbst war es wohl anfangs auch der Name gewesen, der Balian die Achtung seiner Bauern eingebracht hatte. Aber jetzt war er es selbst, nicht seine Familienzugehörigkeit, was die Liebe der Bauern und den Respekt seiner Männer auslöste. Es gab nicht viele Adlige, die um ihrer selbst willen geachtet wurden, noch weniger, die aus diesem Grund geliebt wurden; aber Balian von Ibelin gehörte in diese letzte Kategorie. Er hatte die Liebe seiner Bauern, weil er für sie da war, weil er dafür sorgte, dass es ihnen besser ging; weil er nicht vergessen hatte, woher er kam.
Sie hätte noch eine Weile weiter geträumt, hätte ihr Miriam nicht angekündigt, dass der Herr des Hauses darum bat, eingelassen zu werden. Die Prinzessin spürte einen sanften Schauer, der sie durchrieselte, als sie Miriam beauftragte, den Baron einzulassen. In den wenigen Momenten, die vergingen, bis er auf die Dachterrasse trat, hatte sie das Gefühl, ihr Herz bekäme Flügel, die auch noch aufgeregt schlugen. Wieder war er elegant und sauber gekleidet, frisch gebadet und verbreitete einen Duft, den sie von jetzt an bis in die Ewigkeit mit Balian von Ibelin in Verbindung bringen würde. Sie konnte sich kaum beherrschen, nicht vor Sehnsucht zu seufzen, als sie in ein sanftes Lächeln sah und er sich leicht verbeugte. Ihr wurde bewusst, dass sie zum ersten Mal richtig verliebt war. Was für ein wunderschönes Gefühl …
„Guten Abend, Mylord“, flötete Sibylla und reichte ihm die Hand, die er sanft annahm und sich seinerseits nur schwer beherrschen konnte, ihre zarte Hand nicht so wie am frühen Abend wie ein Liebender mit sachten Küssen an den empfindsamen Fingerspitzen zu verwöhnen, sondern eine höfische Verbeugung zu machen und nur den Handrücken der jungen Frau mit den Lippen zu berühren. Bei ihr löste das bereits ein leises, entzücktes Seufzen aus. Die Nacht wollte sie jedenfalls gründlich auskosten …
„Guten Abend, meine Prinzessin“, sagte er leise. Der leise, warme Ton ließ sie schon wieder schweben.
„Setzt Euch, Mylord. Das Essen ist bereitet. Ich hoffe, es wird Euch munden.“
Er lächelte sie an und wandte sich dann an Kerim:
„Shukran, Shadiq“, sagte er. Kerims Gesicht strahlte über den höflichen Dank und die Titulierung als Freund. Eifrig verbeugte sich der stumme Turkopole mehrfach mit gefalteten Händen. Dann wies er mit Handzeichen auf das gebratene Huhn und bedeutete Balian, dass das ganz besonders lecker sei. Die Geste, ein Kuss auf zusammengelegte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, sprach Bände.
„Das werde ich gerne kosten, Kerim“, versprach Balian mit freundlichem Lächeln.
„Danke, Kerim. Du kannst gehen. Miriam, ich brauche dich heute nicht mehr. Baron Balian und ich bedienen uns selbst.“
„Danke, Mylady“, erwiderte die Dienerin, machte einen Knicks und verschwand mit dem selig lächelnden Koch, der ob des Dankes von Balian regelrecht zu schweben schien.
Die Tür zum Treppenhaus klappte und Balian ließ sich auf dem bequem gepolsterten Sitz gegenüber von Sibylla nieder. Einen langen Moment sahen sie sich nur an, dann stand sie auf und schob ihre Kline an seine heran, dass die Möbel mit den Kopfteilen in einem leichten Winkel aneinander standen. Dann ließ sie sich wieder darauf nieder und war ihm so nah, wie sie es wünschte. Er holte seinerseits den kleinen Tisch näher, so dass sie beide ohne Schwierigkeiten an die leckeren Häppchen kommen konnten.
„Huhn?“, fragte er sanft. Sie lächelte nur. Er nahm ein Stückchen Huhn und fütterte sie damit. Sie nahm es mit verführerischem und schelmischem Lächeln, nutzte die Gelegenheit, beim Essen gleich noch einen Kuss auf seine Fingerspitzen zu drücken. Im Gegenzug gab sie ihm ein Häppchen Lamm und wurde ebenso verwöhnt.
Das Abendessen war eine lange und genussvolle Angelegenheit, die die jungen Leute bis weit in die Dunkelheit streckten. Terrassenöfen gaben Wärme und Licht, während zwei liebende Menschen Nähe genossen. Dabei sprachen sie nur wenig. Blicke und Liebkosungen mit Händen und Lippen beim gegenseitigen Füttern sagten mehr als tausend Worte.
Schließlich waren die Platten leer. Balian holte eine Schüssel herbei, damit sie sich beide die Hände waschen konnten. Sibylla wollte sich die Hände reinigen, dann stutzte sie und zog seine Hände zu sich. Er ließ es lächelnd geschehen, dass sie ihm die Hände wusch und gleich die Gelegenheit nutzte, sie zärtlich zu verwöhnen. Er seufzte leise und spürte aufkommendes Verlangen. Sie verstand es, einen Mann gezielt zu reizen.
„Gefällt es dir?“, flüsterte sie und küsste seine Fingerkuppen. Er nickte mit einem sehnsüchtigen Blick.
„Mir auch“, ergänzte sie. „Dich zu berühren, macht dieses Königreich wirklich zum Königreich der Himmel.“
„Ist das so?“, fragte er leise, ein wenig heiser, was seine nur noch knapp beherrschte Erregung dokumentierte. Ihr Lächeln wurde sanfter. Sie stand kurz auf, schob die Klinen ganz zusammen, legte sich wieder nieder, rückte nahe zu ihm und fühlte sich von ihm zärtlich umarmt.
„Ja, ist es“, flüsterte sie. Ohne hinzusehen suchte sie nach seiner freien Hand und drückte einen Kuss auf seine Handfläche. Er schloss die Augen, als zwischen den küssenden Lippen der Prinzessin eine bebende Zungenspitze hervorkam und die pure Leidenschaft auf seine Hand zauberte. Währenddessen öffnete sie mit der anderen Hand ihr Gewand und gab ihm den Weg zu ihrer weichen Haut frei. Seine Hand wanderte von ihrem Gesicht unter zarten Liebkosungen ihres sich ihm präsentierenden Körpers zu ihrem Schoß, während er zart die erblühende Knospe ihrer weichen Brust küsste. Jetzt war es Sibylla, die sich fast verkrampfte, als sie seine Hand an ihrem Schoß und seinen weichen Bart an der Brust spürte.
„Balian, was tust du?“, keuchte sie, als die Hand etwas tiefer einen ganz sanften, kreisenden Tanz begann.
„Das, was dein Gemahl tun sollte“, flüsterte er.
„Das würde ich mir von Guy nicht gefallen lassen“, presste sie hervor, als seine Finger zärtlich ihre Perle liebkosten. Nein, so hatte sie noch nie ein Mann berührt.
„Wieso nicht?“, wisperte er ganz nah an ihrem Ohr, berührte dabei zart mit den Lippen ihr Ohrläppchen.
Sibylla blieb die Antwort schuldig, weil ihr Körper ihr das Wort abschnitt. Schier willenlos ergab sie sich Balians streichelnder Hand, die sie lustvoll japsen ließ. Er schenkte ihr einen hinreißenden Höhepunkt. Sie konnte sich nur mit aller Gewalt beherrschen, ihre Lust nicht laut herauszuschreien, wand sich in überschäumendem Genuss. Ihr Becken hob sich in Ekstase – und dann setzte die Beherrschung aus. Das lustvolle Stöhnen der Prinzessin zerriss die Wüstenstille, in der bisher nur die Zikaden zu hören gewesen waren. Die sanft tanzende Hand war ihr nicht mehr genug. Sie griff mit beiden Händen zu und zwang ihn regelrecht zu sich, öffnete mit eckigen, ungeduldigen Bewegungen seine Hose.
„Bitte!“, flehte sie keuchend. „Tu es!“
Balian war ihr nur zu dankbar, dass sie ihn von der selbst gewählten Zurückhaltung erlöste, die ihm angesichts ihrer hemmungslosen Ekstase immer schwerer fiel. Er drang in sie ein und ließ seinem brennenden Verlangen freien Lauf. Fast noch heißhungriger als am Nachmittag nahmen sie sich gegenseitig.
Samira war inzwischen wieder bei den übrigen Dienerinnen ihrer Herrin im Nebenhaus der viereckigen Herrenhausanlage, das nach der Ankunft der Prinzessin extra für deren Bedienstete hergerichtet worden war. Die Äußerungen unendlicher Wonne auf der Dachterrasse des Herrenhauses konnten dort nicht ungehört bleiben. Samira war entsetzt, dass sie mit anhören musste, wie ihre Herrin lautstark fremdging, noch dazu mit einem Mann, der vor noch nicht allzu langer Zeit als Hufschmied seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Sie selbst war dem Gatten ihrer Herrin zu willen, wann immer er es wünschte. Guy nahm sie dann, stillte seine Begierde und damit hatte es sich. Die junge Ägypterin wusste nur zu gut, dass der Herr nie die Absicht hatte, dass auch sie Lust beim Beischlaf empfand; sie wusste es, sie akzeptierte es. Diener hatten keine Rechte, sie galten vielen Herren nicht einmal als menschliche Wesen. Ein Herr wie Balian, der seine Untergebenen und seine Diener als Menschen, gar als Gleichgestellte behandelte, ließ Samira eher misstrauisch werden, als dass sie dies als angemessen empfunden hätte. Und sie wusste: Ihr eigener Herr wollte alles wissen, was Sibylla betraf. Sollte er jemals herausbekommen, dass seine Gemahlin fremdging, ohne dass Samira ihm davon berichtete, würde es für sie böse enden. Also würde sie ihm – wie in anderen Fällen auch – davon berichten, dass seine Frau ihn mit dem Baron von Ibelin betrogen hatte.
Gleichzeitig packte sie der blanke Neid auf ihre Herrin. Sie hatte den Mann zum Liebhaber, dem Samira sich am liebsten schon am allerersten Abend freiwillig hingegeben hätte, nachdem sie ihn heimlich im Bad beobachtet hatte. Er sah gut aus, war groß und schlank, aber mit so ansehnlichen Muskeln ausgestattet, dass es wohl jedem weiblichen Wesen in Ibelin sehnsüchtige Seufzer entlockte, das Gelegenheit hatte, den jungen Herrn ohne die weiten Hemden zu sehen, die er zu bevorzugen schien. Samira hatte genug Fantasie, um sich auszumalen, was da oben auf der Dachterrasse des Herrenhauses vor sich ging. Das war viel zu schön, um nicht Sünde zu sein …
Sibylla und Balian fielen auf den Klinen in den Schlaf liebesseliger Ermattung. Eng aneinandergeschmiegt überließen sie sich ebenso liebesseligen Träumen. Keiner von beiden bemerkte, dass Samira auf die Terrasse kam und ihre Herrin und den Gastgeber in absolut eindeutiger Verschlingung sah. Sie beschloss, sich hierzu nichts anmerken zu lassen, aber ihrem Herrn in Jerusalem alles genau zu erzählen. Vielleicht ließ er sich dann doch einmal dazu herab, sie so zu lieben, wie Balian es mit ihrer Herrin tat.
♦♦♦
Kapitel 13
Schatten der Vergangenheit
Balian erwachte davon, dass es im Morgengrauen empfindlich kalt wurde. Allein die Tatsache, dass er und Sibylla sich mehr oder weniger angekleidet geliebt hatten, hatte sie davor bewahrt, zu frieren, als die beiden Terrassenöfen mangels Nachschub der Feuerung irgendwann in der Nacht erloschen waren. Aber die Zeit der Morgenkühle war noch um einiges kälter als die ohnehin niedrige Nachttemperatur in der Oase, die Ibelin inzwischen geworden war.
Der junge Baron stand auf und sah sich um. Es war besser, wenn er selbst für Ordnung sorgte, damit nicht noch einer der Diener allein anhand der Unordnung hier bemerken musste, was sich hier in der Nacht zugetragen hatte. Er wollte seine Leute nicht hintergehen, aber er wollte keinesfalls, dass die Prinzessin kompromittiert wurde. Dass es dafür längst zu spät war, ahnte er nicht. Zunächst trug er die im Schlaf zitternde Sibylla in ihr Schlafzimmer, legte sie in ihr Bett, entkleidete sie und deckte sie mit dem Laken und einer zusätzlichen Decke zu. Dann wusch er sich gründlich die Hände und räumte die erneuten Spuren der heftigen Leidenschaft fort, mit der sie sich in der Nacht einander hingegeben hatten. An eine solche Liebesnacht wie diese konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. Natalie und er hatten ohne jede Scheu miteinander geschlafen, durchaus auch mehrfach an einem Abend, manchmal auch geräuschvoll; aber so heftig wie Sibylla und er? Nein.
Die Muslime Ibelins kamen vor der Terrasse des Herrenhauses zusammen, um ihr erstes Tagesgebet zu verrichten. Sibyllas Erklärungen zu den Glaubensunterschieden hallten in seinen Ohren nach. In diesem Moment begriff er, dass er sich mit ihr eigentlich schon wenige Tage nach ihrer Ankunft einig gewesen war – sie hatten es nur beide nicht bemerkt. Sie hatte es ihm so verklausuliert nahe gebracht, dass er es nicht wahrgenommen hatte; und sie hatte seine Frage, ob sie sich für Guy entschieden hatte, ziemlich offensichtlich falsch verstanden. Er lächelte. Es war wundervoll, geliebt zu werden. Dann erlosch sein Lächeln. Sollte Guy davon erfahren, war sein Leben kein Sandkorn mehr wert … Aber solange Sibylla hier war, würde er genießen, was sie ihm so freimütig schenkte, und er würde sie seinerseits mit Zärtlichkeit überhäufen. Sie hatte es einfach verdient, nicht nur als Instrument der Macht missbraucht zu werden, sondern ebenso geliebt zu werden. Dafür wollte er gern sorgen. Schließlich war die Terrasse aufgeräumt, die abgegessenen Speisenteller zusammengestellt.
Einen Moment lang dachte er daran, das Geschirr selbst abzuwaschen, aber er wusste, dass Miriam ihm das übelnehmen würde. Miriam, eine der jüdischen Dienerinnen im Haus, hatte ihm am Tag nach seiner Ankunft sehr deutlich gesagt, dass der Abwasch ihr Ressort sei und sich da niemand einzumischen habe – erst recht nicht der Herr. Sie war richtig beleidigt gewesen, dass Balian überhaupt versucht hatte, sein Teeglas selbst zu reinigen … Von Latif hatte er erfahren, dass sein Vater einmal, unzufrieden mit dem Reinigungsergebnis der Dienerin, selbst Hand angelegt hatte – und alles nur schlimmer gemacht hatte … Miriams spöttisches Grinsen hatte Godfrey tatsächlich dazu gebracht, sie erstens um Entschuldigung zu bitten und ihr zweitens hoch und heilig zu schwören, nie wieder den Abwasch selbst machen zu wollen. Seither verteidigte sie ihre Pfründe beim Abwasch mit Zähnen und Klauen.
Während Balian noch aufräumte, erwachte Sibylla von den Gebetsrufen des Muezzins und fand sich allein in ihrem Schlafgemach wieder. Erschrocken fuhr sie auf. Im ersten Moment wusste sie nicht einmal, wo sie war. Dann erkannte sie den Raum als den oberen Schlafraum des Herrenhauses von Ibelin. Geräusche von der Terrasse störten die Prinzessin auf. Unwillig kam sie hoch, um Samira zurechtzuweisen, dann sah sie Balian, der dabei war, die letzten Reste des Mahles vom Abend zuvor wegzuräumen. Sie lächelte versonnen. Was für ein Mann! Ein Liebhaber, wie man ihn mit der Laterne suchen konnte, ein fleißiger Arbeiter, ein angenehmer Herr für die Menschen, die in Ibelin lebten. Sie dachte an das heitere Lachen, das seine Untertanen im Gesicht hatten, wenn ihr Baron mit ihnen sprach.
„Guten Morgen“, riss ein Gruß sie aus den Gedanken. Sie schüttelte sich kurz.
„Guten Morgen“, erwiderte sie, als sie sich wieder konzentrieren konnte. Er setzte sich an ihr Bett.
„Hat meine Prinzessin gut geschlafen?“, fragte er sanft.
„Ja“, erwiderte sie. „ Ich hoffe, mein Ritter auch.“
Er nickte und küsste sie. Sie gab sich der Süße des Kusses vollkommen hin.
„Was machst du nur mit mir?“, fragte sie, als sie sich aus dem Kuss lösten.
„Dich lieben, Sibylla“, flüsterte er. „Was hältst du von Frühstück?“
Sie nickte schweigend.
Etwas später hatte Miriam das Geschirr von der Dachterrasse mitgenommen, um es in der Waschküche im Souterrain zu reinigen, hatte Kerim das Frühstück serviert. Sibylla und Balian lagen wieder auf den Klinen unter dem Sonnensegel und ließen sich das Frühstück schmecken. Er schien schon bei seiner Tagesarbeit zu sein. Sein Blick schweifte bald hier hin, bald dorthin, prüfend, beobachtend. Sie sah ihm an, dass er sich im Geiste einen Arbeitsplan zurechtlegte, den er an diesem Tag erledigen wollte.
„Was hast du?“, fragte sie und bediente sich noch aus dem aufgeschnittenen Granatapfel. Balian wandte sich ihr zu.
„Ich habe geschaut, was heute alles zu tun ist – und ich bin spät dran, wenn ich das alles schaffen will, bis es wieder zu heiß wird“, erwiderte er. Sie schüttelte mit einem Lächeln den Kopf.
„Denkst du manchmal auch an etwas anderes als an Arbeit?“, fragte sie. Er lächelte.
„Ja, heute Nacht“, antwortete er. Nachdenklich pickte sie den nächsten Granatapfelkern aus der Schale.
„Du … bist oft so ernst, Balian. Selbst wenn du glücklich bist, lachst du nicht laut. Wieso nicht?“, fragte sie. Er zuckte mit den Schultern.
„Ich habe nie Zeit gehabt, mich zu amüsieren. Schon als Junge habe ich meinem Vater in der Schmiede geholfen. Dann war ich sein Geselle, habe schließlich die Schmiede geerbt. Wir haben von Frühling bis Herbst von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gearbeitet, im Winter sogar vor Sonnenaufgang. Es war ein hartes Leben“, sagte er.
Sibylla nickte.
„Bruder Jean sagte, du seiest im Krieg gewesen …“, setzte sie an. Balian nickte.
„Als Reiter und als Maschinist.“
„Maschinist?“
„Ja“
„Was für Maschinen waren das?“, fragte die Prinzessin interessiert.
„Kriegsmaschinen wie Trébuchets*“, antwortete er.
„Und was hast du dort genau getan?“
„Wieso willst du das wissen?“, erkundigte er sich.
„Ich … ich weiß so wenig von dir.“
„Es ist auch nicht besonders interessant“, wehrte er ab und wollte sich erheben.
Sie bekam ihn an der Hand zu fassen und hielt ihn fest.
„Nein, lauf nicht weg. Ich möchte es wissen, weil du mich interessierst.“
Er seufzte. An dieses Kapitel seines Lebens wollte er nicht gern erinnert werden.
„Ich werde mein Wissen nicht missbrauchen. Das verspreche ich dir“, sagte sie. Er setzte sich wieder und suchte einen Moment nach Worten. Niemals hatte er über diese Zeit gesprochen. Die Leute in Saint-Martin-sur-Eure kannten die Sache jedenfalls so weit, wie sie sich im Dorf abgespielt hatte. Wirklich interessiert hatte es sie nicht.
„Na schön“, seufzte er. „Mein Onkel, der Vizegraf, hatte Streit mit einem anderen Fürsten. Der andere sprach die Fehde aus und überfiel mit seinen Männern die Dörfer meines Onkels. Auch Saint-Martin-sur-Eure wurde gebrandschatzt. Sie hatten es auf die Schmiede abgesehen. Mein Vater – mein Ziehvater – und ich konnten unsere Werkzeuge, einiges an Rohmaterial und die Ambosse gerade noch in Sicherheit bringen; aber die meisten fertigen Waffen und Hufeisenrohlinge wurden geraubt und die Schmiede zerstört. Meine Mutter wurde vergewaltigt und mein kleiner Bruder halbtot geschlagen, weil mein Vater und ich uns versteckt hatten. Mein Vater stellte sich schließlich, weil die Männer des fremden Fürsten drohten, meine Mutter und meinen Bruder zu töten. Auch ihn haben sie halbtot geschlagen und ihm die rechte Hand abgehackt, damit er nicht mehr schmieden konnte. Mich haben sie nicht gefunden, weil ich einen Weg in die Burg gefunden hatte und der Vizegraf mir Zuflucht gewährte.
Nach zwei Tagen zogen die fremden Soldaten ab. Mein Onkel und der Erzbischof brauchten unbedingt einen Schmied und eine funktionierende Schmiede. Unsere war die einzige in allen sieben Dörfern, die zum Lehen meines Onkels gehörten. Also wurde die Schmiede auf mich übertragen. Ich war gerade achtzehn Jahre alt und wurde zum Schmiedemeister ernannt. Der Vizegraf half beim Wiederaufbau der Schmiede mit seinen Männern aus. Dabei fand einer seiner Leute Zeichnungen von mir, die Konstruktionen von Kriegsmaschinen waren. Der Vizegraf verlangte, dass ich ihm eine solche Kriegsmaschine baute. Ich tat es und sie funktionierte so, wie ich es mir gedacht hatte. Mein Vater platzte beinahe vor Stolz, dass sein Sohn nun dem Fürsten selbst dienen konnte.
Mein Onkel wollte den Überfall auf seine Dörfer rächen und zog etwa ein Jahr später gegen seinen Feind in den Krieg. Er nahm mich mit. Ich sollte ihm als Reiter dienen, die Kriegsmaschinen bedienen und warten. Dass mein Vater für den Unterhalt der Familie nicht mehr sorgen konnte, war unerheblich. Auch, dass meine Mutter und mein Bruder immer noch unter den Folgen des Überfalls litten, zählte nicht. Über ein ganzes Jahr war ich abwesend.
Als ich endlich zurückkehrte, war mein Vater tot, meine Mutter vor Hunger völlig verwirrt und mein kleiner Bruder schon im Kloster. Meine Mutter hatte ihn in ihrer Not dort abgegeben. Mein Onkel hatte gegen seinen Feind keinen Erfolg gehabt, hatte drei seiner sieben Dörfer und eine kleinere Burg an seinen Feind verloren. Ich hatte drei Monate in einem finsteren Verlies zugebracht und schreckliche Angst gehabt, dass jemand herausbekam, dass ich der Schmied von Saint-Martin-sur-Eure war. Ich wäre mindestens meine rechte Hand los gewesen, wenn nicht gar den Kopf …
Mein Onkel machte mich für den Misserfolg verantwortlich – wie alle anderen, die außer mir den Krieg überlebt hatten. Er hatte für uns alle Lösegeld bezahlt. Ich habe nie erfahren, wie viel; aber ich habe von da an für ihn arbeiten müssen. Das Material bekam ich gestellt, meine Arbeit für ihn verrechnete er mit dem gezahlten Lösegeld. Für jede Arbeit für andere brauchte ich seine Erlaubnis und musste von den Einnahmen einen doppelten Zehnt an ihn abführen. Ich habe fast wie ein Leibeigener für meinen Onkel geschuftet. Mein einziges Glück war Natalies Liebe. Sie richtete mich wieder auf, als ich nicht mehr konnte.
Ich baute die Schmiede wieder auf. Das einzige Stück, das von der Schmiede meines Vaters übriggeblieben war, war der Firstbalken mit seinem Wahlspruch: Was für ein Mann ist Mann, der nicht die Welt verbessern will? Zwei Jahre habe ich gebraucht, um alle Schäden zu beseitigen und so viel Geld auf die Seite zu legen, dass ich an eine Heirat denken konnte. Die Aufträge des Bischofs für Mauereisen für seine neue Kirche und Altargeschirr für die bestehende Kapelle halfen mir dabei. Dann endlich lief alles so, wie ich es mir vorstellte. Ich denke nicht gern an diese Zeit“, erklärte Balian.
Sibylla zog ihn an der Hand zu sich auf die Kline. Er setzte sich zu ihr und überließ ihr seine Hand, die sie sanft streichelte.
„Jean erwähnte, dass du sehr einsilbig warst, als Odo dich darauf ansprach“, sagte sie.
„Wundert es dich?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf und strich ihm sanft über das Gesicht.
„Das ist vorbei. Jetzt bist du ein Baron Jerusalems, du hast ein eigenes Lehen, die Liebe des Königs und die seiner Schwester. Was muss man dir noch bieten, damit du wirklich glücklich bist?“
Er lächelte.
„Nichts. Ich bin glücklich“, erwiderte er. „Und doch frage ich mich, was aus diesem Königreich wird, wenn dein Bruder stirbt. Er hat mir gesagt, dass er keine dreißig Jahre werden wird. Was wird dann?“
Jetzt war es Sibylla, die einen bitteren Ausdruck im Gesicht bekam.
„Mein Sohn wird König und ich werde ihm als seine Regentin helfen, so gut ich es vermag. Wirst … wirst du mir dabei helfen, Balian?“
„Das werde ich“, versprach er leise und drückte einen sanften Kuss auf die Fläche ihrer Hand. Ihre Augen füllten sich mit Tränen des Glücks.
„Mein Ritter!“, flüsterte sie. Balian zog sie an sich und trocknete ihre Tränen mit zärtlichen Küssen.
♦♦♦
Kapitel 14
Das Liebesnest
Eigentlich hatte Sibylla Ibelin verlassen wollen, sofern sie ihre Prüfung des neuen Barons abgeschlossen hatte. Mit seinem wahrhaft bravourösen Bestehen der Prüfung als Liebhaber war ihre Liste in dieser Hinsicht vollständig abgearbeitet.
Aber jetzt, nachdem sie diese Wonnen mit ihm erlebt hatte, fehlte ihr jeglicher Antrieb, dieses Paradies der Sinnenfreude zu verlassen. Sie schob den Tag des Abschieds immer wieder hinaus, wollte sich noch nicht von ihm trennen, wollte Balian und die Geborgenheit in seinen Armen nicht missen. Dieser Mann machte sie mit seiner Leidenschaft und Kraft schlicht süchtig nach sich, viel mehr aber noch mit seiner Sanftheit und seiner Wärme.
Zwei weitere Wochen hatte sie ihren Besuch auf diese Weise ausgedehnt. Balian stellte keine Fragen, wie lange sie zu bleiben gedachte. Ihm selbst ging es keinesfalls besser als der Prinzessin. Er war ebenso süchtig nach ihr wie sie nach ihm, er genoss ihre Gegenwart in vollen Zügen. Immerhin gelang es ihm, seine Tagesarbeit weiterhin in der gewohnten Regelmäßigkeit zu tun, auch wenn er etwas länger schlief und nicht mehr buchstäblich mit den Hühnern aufstand.
Doch beiden war klar, dass sie nicht für immer bleiben konnte, mochte dies auch ihrem Wunsch entsprechen.
Die Realität holte Sibylla schließlich ein, als sie gut zwei Wochen nach der ersten leidenschaftlichen Nacht mit Balian frühmorgens aus einem Albtraum hochschreckte. Bislang waren ihre Träume hier in Ibelin friedlich oder voller Wonne gewesen. Im Traum hatte sie sich mit ihrem Bruder heftig gestritten, der ihr Eigensucht vorgeworfen hatte – und dass sie ihren Sohn vernachlässigte.
Die Prinzessin bekam ihren rasenden Herzschlag nur schwer unter Kontrolle. Als sie feststellte, wo sie war – in Ibelin, im Herrenhaus, in Balians Schlafgemach, in seinem Bett, neben sich die wunderbare Wärme des Hausherrn, der neben ihr entspannt schlief – beruhigte sie sich wieder etwas. Aber ihr Blick, der durch den Raum schweifte, hakte sich an dem Totentanz im jetzigen Wohnraum fest, der sie wieder an ihren Albtraum erinnerte. Genau genommen erinnerte sie sich an den Inhalt ihres Traums nur wegen dieses Totentanzes, der bewusst machen sollte, dass der Tod niemanden ausnahm, weder Mann noch Frau, weder arm noch reich, weder einfache Menschen noch Adlige. Jetzt gemahnte sie der Totentanz an den unausweichlichen und nicht mehr fernen Tod ihres Bruders und die Tatsache, dass ihr Sohn Balduin seinem Onkel als König auf dem Thron nachfolgen sollte. Es war ihr schlechtes Gewissen, das ihr den Albtraum beschert hatte, erkannte sie. Niemals zuvor hatte sie ihren Sohn so lange in Jerusalem allein gelassen.
Ihr Blick fiel auf Balian, der sich inzwischen ihr zugewandt auf die Seite gelegt hatte und weiterhin in tiefem Schlaf lag, den rechten Arm entspannt unter den Kopf geschoben. Sibylla musste schmunzeln. Sie hatte selbst versucht, so zu liegen, hatte diese Lage aber eher als verknotet empfunden, gewiss nicht als entspannt. Von Balian wusste sie jedoch, dass diese Lage für ihn die bequemste war – und dass er sie nur einnahm, wenn es ihm richtig rundherum gut ging. Sie schloss daraus, dass ihr Geliebter in dieser Nacht sehr viel angenehmere Träume hatte als sie …
Ihre Hand stahl sich unter dem Laken heraus, um ihn zärtlich zu streicheln. Dabei fiel ihr Blick auf ihre beringten Finger. Kein Finger ihrer Hände war ohne Ring. Sie wusste, es wurde nun doch Zeit für den Abschied, aber sie wollte nicht gehen, ohne ihm etwas zu geben, das ihn an sie und ihre gemeinsame Zeit hier in Ibelin erinnern sollte und das die Hoffnung ausdrücken sollte, eines Tages ganz zu ihm zu gehören – samt ihrem Sohn.
Eher versehentlich berührte ihre Hand Balian sacht an der linken Schulter, und er blinzelte noch recht verschlafen auf ihre Hand. In dem frühen Licht wirkten seine braunen Augen fast schwarz, doch es war kein Ärger, der sie so dunkel erscheinen ließ; er war einfach nur gerade aufgewacht …
Ihr rechter Zeigefinger wies auf den Ring, den sie am linken Zeigefinger trug.
„Dieser hier ist aus Frankreich. Ich bin nie dort gewesen“, sagte sie, und es klang bedauernd, wie sie es sagte. Ihr Großvater war Franzose gewesen, ihr Vater Amaury schon im Heiligen Land geboren, wie sie und ihr Bruder auch. Schon Balduin hatte es immer bedauert, das Land seiner Ahnen nie gesehen zu haben – und ihr ging es nicht besser.
„Dieser hier ist von meinem Bruder – damit wir den Tod nicht vergessen“, fuhr sie fort und wies auf den am Mittelfinger der linken Hand befindlichen Ring.
„Und diesen … hab’ ich gekauft, als ich dich sah“, ergänzte sie und zog den Ring mit einem rechteckigen roten Stein in Goldfassung vom Ringfinger der linken Hand und gab ihn Balian als verspätete kleine Morgengabe.
Eigentlich gab der Mann der Frau nach der ersten gemeinsamen Nacht eine solche Gabe – als Entschädigung für die verlorene Jungfräulichkeit. Doch in diesem Fall hatte Sibylla die Initiative ergriffen und mit Balian angebandelt und nicht er mit ihr. Insofern gehörte es sich auch, dass sie ihm dafür etwas gab, weniger als Entschädigung – schließlich war er schon verheiratet gewesen und sie war es jetzt noch – sondern aus Dankbarkeit. Es war ihre Art, sich für die schöne Zeit bei ihm zu bedanken.
„Du lügst“, erwiderte er neckend mit einem verschmitzten Grinsen und fröhlichem Blitzen in seinen hübschen, braunen Augen. Er spürte unbändiges Glück, sie schon morgens neben sich liegen zu sehen. Ganz vorsichtig nahm er den kostbaren Ring aus ihrer Hand.
Sibylla stand auf, wickelte sich in die seidene Überdecke und ging barfuß zu einem kleinen Tisch, auf dem neben aufgeschnittenen Granatäpfeln und frisch gepflückten Orangen in einem Schälchen die Kerne eines weiteren Granatapfels lagen. Granatäpfel waren in Palästina heimische Früchte, die nicht nur vielseitig verwendbar waren – aus der ganzen Frucht ließ sich eine tiefschwarze Tinte herstellen, die Schale diente zum Färben der Wolle in Gelb-, tiefen Blau- und Schwarztönen für im Orient hergestellte Teppiche, die Kerne waren schmackhaft und gesund, aus dem Fleisch ließ sich roter Saft gewinnen, der in der Küche gut zu Wildfleisch und Geflügel passte – sie waren auch eng mit der Symbolik verknüpft.
In der christlichen Symbolik stellten sie die Gemeinschaft der Glaubenden in der Kirche selbst dar, waren aber auch ein Gleichnis für den Priesterstand. Im letzteren Fall stellte die harte Schale die priesterliche Askese dar, die unzähligen Kerne, die sich in jeder Frucht fanden, die reiche Frucht, die das Priestertum haben sollte. Weiter im Osten, in Cathay*, verband man den Granatapfel allerdings mit der Fruchtbarkeit der Frau, zuweilen auch mit der Kraft des Mannes und damit mit reichem Kindersegen …
Sibylla, die um die Symbolik dieser Frucht sehr wohl wusste, hatte sie eher wegen der fernöstlichen Betrachtungsweise in dem mit Balian geteilten Schlafgemach. Granatapfelkerne nach einer Liebesnacht zu essen machte Lust auf mehr am Morgen. Und von Balian konnte sie gar nicht genug bekommen … Ganz abgesehen davon, dass sie auch gut schmeckten und den ersten Hunger am Morgen etwas dämpften …
Mit einer Silbernadel pickte sie einen Kern auf und schob ihn als ersten Happen in den Mund. Der junge Baron richtete sich halb auf und sah die Prinzessin sehnsüchtig an. Er war nach Natalies Tod innerlich schon selbst fast gestorben, hatte nicht mehr gewusst, wie es war, zu lieben oder sanfte Frauenhände über seinen Körper gleiten zu spüren, war etwas aus der Übung gekommen, eine Frau glücklich zu machen. Aber Sibylla hatte seine verschütteten Kenntnisse ebenso sicher geweckt, wie der Angriff seines Cousins Nicolas auf seinen Vater und dessen Gefolgsleute Balians verloren geglaubte Kampftüchtigkeit wieder hervorgebracht hatte. Ihre Nähe machte süchtig nach mehr. Er wollte sie wieder spüren, ihre Sanftheit genießen und mit ihr vor Wonne vergehen.
Sie spießte einen zweiten Granatapfelkern auf die Nadel und schlenderte auf Zehenspitzen und mit verführerischem Drehen ihres Körpers wieder zum Bett zurück. Die aufgespießte Frucht ließ sie ein paar Mal um Balians Mund kreisen, der zunächst vergeblich danach schnappte. Mit einem verspielten Lächeln fütterte sie ihn schließlich mit der Süßigkeit und erntete einen liebevollen, glücklichen Blick von ihm. Balians Lächeln wurde breiter und zärtlicher. Er hob den Arm und zog sie wieder zu sich. Sie schlüpfte wieder unter die Decke, umarmte ihn und versank mit ihm in einem ebenso zärtlichen wie verlangenden Kuss. Granatapfelkerne verfehlten eben nie ihre Wirkung …
Ibelin war keinen ganzen Tagesritt von Jerusalem entfernt, aber doch weit genug, um ungestört von allen, die etwas dagegen haben konnten, die Freuden einer neuen Liebe zu genießen.
♦♦♦
Kapitel 15
Düstere Wolken
Doch Sibylla spürte, dass etwas nicht stimmte, dass sie dringend nach Jerusalem zurückkehren musste … Sie konnte nicht wirklich wissen, dass ihr Gemahl mit Reynald und den Templern zum ungezählten Mal eine sarazenische Karawane angegriffen hatte, aber sie wusste nur zu gut, dass er alles unternehmen würde, um den fragilen Frieden, der nur auf dem Wort ihres Bruders und des Sultans beruhte, massiv zu stören. Guy wollte Krieg, Reynald wollte Krieg, der Templergroßmeister wollte Krieg – und alle beriefen sich dabei auf Gottes Willen.
Sibylla glaubte nicht daran, dass Krieg Gottes Wille war. Godfrey hatte sie anderes gelehrt, in den letzten Wochen hatte sie es erst recht begriffen, dass Gottes Wille viel eher in dem lag, was in Ibelin Realität geworden war: Frieden unter den Religionen im Heiligen Land.
Zwei Nächte später erwachte sie erneut aus demselben Albtraum, der sie schon einmal gequält hatte. Jetzt, dessen war sie sicher, würde auch Balians Liebe sie nicht wieder zur Ruhe bringen können. Es fiel ihr mit jeder Stunde, die sie länger hier war, umso schwerer, sich von ihm zu trennen, aber sie wusste, dass es sein musste – nicht nur, weil ihr Sohn dringend seine Mutter brauchte.
Sibylla begann zu frösteln, als ein kalter Windhauch durch die offenen Schnitzelemente und die leichten Vorhänge zog. Sie rollte sich zusammen, dann spürte sie eine warme Hand auf ihrer Schulter.
„Was hast du?“, fragte Balian leise.
„Mir … mir ist kalt“, gab sie zurück und rückte nahe zu ihm. Er umarmte sie und zog sie nahe an sich. Seine Wärme war ihr nahe. Sie genoss die Wärme, aber sie entspannte sich nicht. Er stand auf, nahm aus einer Truhe warme Decken und breitete sie über die Prinzessin und sein eigenes Laken. Diese Nacht war wirklich kalt. Dann legte er sich wieder zu ihr und zog sie sanft an sich. Sie ließ es nur zu gern zu und schmiegte sich wie schutzsuchend an ihn, seine Wärme genießend.
Trotz seiner Zärtlichkeit und Wärme gelang es ihr nicht, sich wieder zu entspannen.
„Es ist nicht nur die Kälte …“, flüsterte er sanft und küsste sacht ihren Nacken. Ein wohliger Schauer durchrann sie, als sie seine Lippen und den weichen Bart knapp unter dem Haaransatz im Nacken spürte, wo sie so besonders empfänglich für seine Zärtlichkeiten war.
„Oh, Balian!“, hauchte sie verzückt und führte seine Hand, die warm auf ihrer Schulter lag, zu ihrer Brust. Er streichelte sachte ihre weiche Brust, liebkoste zart die erblühende Knospe. Sie spürte eine Hitzewelle durch ihren Körper branden, die zu einem guten Teil auch mit dem Feuer seiner sich erhitzenden Männlichkeit zusammenhing. Sie hörte ihren Namen heiser gehaucht, drehte sich zu ihm um, warf sich ihm entgegen und nahm ihn mit inzwischen geübtem Schwung auf. In wortlosem Einverständnis liebten sie sich, sanfter, als Sibylla eigentlich wollte; aber gerade diese Sanftheit ihres Geliebten riss sie fort.
Als sie schließlich zur Ruhe kamen, weinte Sibylla hemmungslos. Balian hielt sie schützend in den Armen.
„Sag mir, was du hast“, bat er und küsste sacht ihre Tränen fort.
„Morgen früh werde ich abreisen“, flüsterte sie tränenerstickt.
„Bleib“, bat er. In bitterer Trauer schüttelte sie den Kopf, ihr Weinkrampf verstärkte sich noch. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie ihm sagen konnte, weshalb sie fort musste:
„Ich habe einen sterbenden Bruder und ein Kind, das König sein wird.“
Sie sah auf und sah den Schock in seinem Gesicht. Er hatte die Tatsache, dass sie eine königliche Prinzessin war und einen Sohn hatte, der das schwere Amt seines vom Tod gezeichneten Onkels übernehmen würde, in den letzten beiden Wochen recht erfolgreich verdrängt. Es dauerte eine Weile, dann nickte er ergeben.
„Ich bringe dich nach Jerusalem“, versprach er leise. Sie schüttelte erneut den Kopf.
„Mein Bruder hat dir eine bestimmte Aufgabe gegeben. Erfülle sie!“
Es dauerte wieder eine Weile, bis er zu reagieren schien, doch in Wahrheit war es der harte Kampf, den er mit sich austrug, ob er seinem Herzen oder dem Befehl seines Königs folgen sollte – und sich schließlich für den Gehorsam entschied.
Am folgenden Tag sorgte eine sichtlich zufriedene Samira dafür, dass das Gepäck der Prinzessin noch während ihres Frühstücks mit dem Baron fertig gepackt und auf die Saumtiere verladen war. Dann half sie der Prinzessin in ihre Reisekleidung und den Turban. Es klopfte an der Tür. Auf das Nicken der Prinzessin ließ Samira Balian ein.
„Lass uns allein, Samira!“, befahl Sibylla. Die Dienerin verneigte sich.
„Ja, Herrin“, sagte sie, machte einen Knicks und verließ die Gastwohnung. Er trat zu Sibylla und umarmte sie.
„Du willst wirklich gehen?“, fragte er leise und wehmütig. Sie nickte, brachte aber kein Wort heraus, schmiegte sich nur mit leisem Seufzen an ihn.
„Und ich soll dich wirklich nicht begleiten?“, fragte er weiter. Sie schüttelte den Kopf, immer noch unfähig, etwas zu sagen. Balian und sein kleines Paradies Ibelin zu verlassen, schnürte ihr fast die Luft ab. Sie schwieg, als ihre Hand sanft an der Kette entlangfuhr, an der ihr Geschenk hing
„Du trägst ihn?“, fragte sie stockend. Er nickte schweigend und hob sanft ihr Kinn an, um sie zu küssen, doch sie wehrte ihn sachte ab.
„Nein, tu das nicht. Wenn du mich jetzt küsst, erliege ich dir sofort und bleibe.“
„Mir wäre das sehr recht …“, flüsterte er und spürte, dass sie geneigt war, ihm nachzugeben, dass nur ihr Verstand sie fortzog.
„Es muss sein. Bitte!“
Er nickte und gab sie frei. Sie raffte ihr Reitgewand und stieg die Treppe hinunter. Balian hatte das Gefühl, eine eiserne Kralle lege sich um sein Herz. Seine Nächte würden wieder einsam sein, wenn sie fort war. Kein helles Lachen mehr im Haus, wenn sie sich über etwas amüsierte, keine Überraschungen mehr, für die die Prinzessin immer gut war … Er mahnte sich zur Beherrschung. Sie war die Frau eines anderen. Wenn sie ihm diese Zeit voller Zärtlichkeit und Leidenschaft geschenkt hatte, war es an ihm, dafür einfach dankbar zu sein, statt sich in unerfüllbaren Träumen zu ergehen. Ibelin und die Menschen, die es bewohnten, waren auch noch da und brauchten die Aufmerksamkeit ihres Barons – ebenso die Pilgerstraße.
Er folgte ihr in den Hof. Schweigend gingen sie nebeneinander über den Hof des Herrenhauses. Sie mochte sich noch nicht losreißen von dem erholsamen Aufenthalt in Ibelin, aber wenn sie weiter ausblieb, würde das zu Suchaktionen von Leuten führen, die den Templern und damit Guy nahestanden – und die würden schnell ergeben, dass sie nicht in Kanaan gewesen war, was sie gegenüber ihrem Gemahl als Ziel ihrer Reise angegeben hatte. Außer Balduin wusste nur Tiberias, wo die Schwester des Königs sich aufhielt. Die königlichen Geschwister hatten möglichst genau wissen wollen, wer Balian von Ibelin wirklich war und welche Ziele er hatte. Balduin wusste, wie unglücklich seine Schwester in ihrer Ehe mit Guy de Lusignan war – und er wusste um die Gefahr, die der Templergönner eines Tages darstellen würde, wenn sein Neffe die Krone erbte. Beide sahen in Godfreys Sohn eine Alternative, die sich nun als möglich erwiesen hatte. Sibylla würde ihrem Bruder einen bestimmten Vorschlag machen …
Balian hatte von den Plänen der königlichen Geschwister keine Ahnung. Sibylla hatte trotz vieler langer und auch vertraulicher Gespräche diesen gewissen Umstand geflissentlich verschwiegen. Seine von Verlusten gequälte Seele hatte Heilung bei ihr gefunden. Er hatte über seinen Kummer reden können, was unendlich viel wert war; er hatte in ihr eine Frau gefunden, für die körperliche Begegnung nicht eheliche Pflicht, sondern zärtliches Vergnügen war. Sie hatte in ihm etwas wiedererweckt, von dem er angenommen hatte, es sei mit Natalie gestorben: die Fähigkeit, eine Frau zu lieben und sie glücklich zu machen. Aber sie war die Frau eines anderen … Was sie ihm von Guy erzählt hatte, war alles Mögliche, aber ganz sicher keine glückliche Ehe. Dennoch wussten sie beide, dass Sibylla in den goldenen Käfig in Jerusalem zurückkehren musste, sollte ihre Liebe vorerst unentdeckt bleiben. Er seufzte tief. Es fiel ihm schwer, sie herzugeben und sie gehen zu lassen.
Stallknechte brachten die Pferde der Prinzessin und ihres Gefolges. Balian half der Geliebten ritterlich in den Sattel. Sie beugte sich zu ihm, war versucht, ihn zu küssen. Im letzten Moment besann sie sich und nahm den Ring, den sie ihm als Zeichen ihrer Liebe geschenkt hatte, den er an einer einfachen Kette um den Hals trug. Sie drückte den eigentlich seinen Lippen zugedachten Kuss auf den roten Stein in der Fassung des Rings.
„Was wird aus uns werden?“, fragte sie voller Wehmut. Er rang sich ein tapferes Lächeln ab.
„Das wird die Welt entscheiden – so wie die Welt immer entscheidet“, erwiderte er fatalistisch. Nichts in seinem Leben hatte bisher Bestand gehabt. Wie konnte er auch nur ansatzweise hoffen, dass diese verbotene Liebe eine Zukunft hatte, die er selbst beeinflussen konnte?
Hufschläge forderten die Aufmerksamkeit aller, die im Torbogen des Herrenhauses standen. Ein Reiter in sarazenischer Rüstung hetzte den Weg zum Herrenhaus hinauf. Der Mann wirkte mindestens so erschöpft wie sein Pferd. Almaric rannte hinaus, hielt das scheuende Pferd, zwei Wächter stützten gerade noch den Boten, bevor er aus dem Sattel kippte. Der Mann konnte nur noch leise flüstern – doch was er sagte, war alarmierend genug. Almaric drehte sich um.
„Mylord! Eine Karawane wird überfallen. Er fleht um Hilfe!“
Balian ließ das Halfter von Sibyllas Pferd los und kam eilig vor das Tor.
„Wo ist das geschehen?“, fragte er den Sarazenen.
„Einige Meilen südlich von Jaffa. Werdet Ihr uns helfen, Balian ibn Barzin?“
„Das werde ich“, versprach er. „Helft ihm!“, wies er dann seine Männer an. „Almaric: Dreißig Mann bereit machen lassen. Wir reiten umgehend.“
Während die Männer die Pferde sattelten, beeilten sich Balian, Almaric, Michel und die aufgerufenen dreißig Mann, sich umzuziehen und sich zu rüsten. Es dauerte nicht lange, bis sie sie bereit waren.
„Wir kommen mit euch“, sagte Sibylla. „Der König wird wissen wollen, wer hier Karawanen überfällt.“
„Wie meine Prinzessin wünscht“, erwiderte Balian und verneigte sich leicht im Sattel.
♦♦♦
Kapitel 16
Ermittlungen
Die Pilgerstraße verlief zwischen Jaffa, wo die Pilger ankamen, und Jerusalem, was deren Ziel war. Einige Meilen östlich von Jaffa kreuzte eine der wichtigsten Karawanenstraßen im Heiligen Land die Pilgerstraße. Sie berührte nach Süden alle Häfen und führte über Gaza nach Alexandria. Nach Norden setzte sie sich bis nach Antiochia über alle Häfen fort. Diese Straße war eine der Lebensadern des Königreichs Jerusalem. Wenn die Kaufleute dort keine Sicherheit vorfanden, war es um Jerusalem geschehen.
Balian, seine Männer und Sibylla mit ihren Begleitern jagten eilig an den Ort des Überfalls, den der Sarazene beschrieben hatte und der kaum eine Wegstunde zu Pferd entfernt war. Geier wiesen ihnen den Weg. Sibylla und er sahen sich vielsagend an. Zu retten gab es hier nichts mehr, das wussten sie bereits, bevor sie den genauen Ort des Massakers erreicht hatten, an dem sie nur noch Leichen fanden – teilweise schrecklich zugerichtete Leichen.
Der Baron sah sich im Sattel um. Sie folgte seinem Blick und stellte fest, dass er die Spuren genau betrachtete.
„Sie sind von dort oben gekommen und haben die Karawane in der linken Flanke angegriffen. Sie haben sie regelrecht niedergeritten“, sagte er schließlich und wies auf eine Hügelkette links von der Karawanenstraße.
„Wer hat das getan?“, fragte sie. Balian stieg vom Pferd und betrachtete die Spuren näher. Er stützte sich dabei auf sein Schwert und schien es als Peilhilfe zu benutzen, um die Spuren quasi zu vermessen.
„Die Abdrücke sind tief. Pferde und Reiter waren schwer. So tiefe Abdrücke hinterlassen nur christliche Ritter“, sagte er und wies auf die unterschiedlich tiefen Hufabdrücke seiner Männer und der leichtgerüsteten Turkopolen Sibyllas.
Die Prinzessin notierte im Geist eine weitere Fähigkeit des neuen Barons, die ihn vielleicht sogar als künftigen Konstabler Jerusalems empfahl, als obersten Heerführer und Sicherheitsverantwortlichen für die Stadt Jerusalem selbst. Raymond von Tiberias war nicht mehr der Jüngste und hatte schon einmal um seine Entlassung gebeten. Balduin hatte sie verweigert, weil es keinen passablen Ersatz für Graf Tiberias gab.
„Michel, Almaric: Seht euch um, was ihr an Toten finden könnt!“, wies Balian seine beiden Stellvertreter an. Beide winkten einigen Männern, machten sich dann auf, um das ganze Schachtfeld abzusuchen.
Alle Toten, die die Männer fanden, waren Sarazenen. Aufgespießt, enthauptet, erschlagen; ein reich gekleideter Mann war praktisch längs in zwei Hälften geteilt. Balian erkannte ihn wieder. Es war jener Mann, der auf Arabisch zeternd aus dem Amtszimmer von Raymond von Tiberias gekommen war, als Balian zum ersten Mal dort gewesen war. Der Hieb war mit großer Wucht geführt worden. Nur ein schwer gerüsteter Ritter mit einem großen, schweren und sehr scharfen Schwert konnte diesen Schlag getan haben, bei dem auch noch die Durchschlagskraft eines schnellen und schwer gerüsteten Pferdes hinzukam. Dieser Überfall war ohne jeden Zweifel von christlichen Rittern verübt worden.
Erschüttert bedeckte Almaric das Gesicht eines kopfüber tot an seinem Kamelsattel hängenden Karawanenreisenden. Dieser Mann war kein Soldat gewesen. Er trug nicht einmal eine sarazenische Stoffrüstung, sondern einen Turban und die übliche bunte Zivilkleidung der Araber. Die Kamele hatten ausschließlich Waren geladen, die Händler nach Alexandria brachten, um sie dort zu verkaufen: Melonen, Kürbisse, Orangen, aber auch Gewürze, die wohl über Damaskus aus Indien oder gar Cathay gekommen waren. Nur wenige Männer waren überhaupt bewaffnet gewesen. Es sah danach aus, als habe Nasser, der reiche Händler, der schon mehrfach Klage gegen Reynald geführt hatte, wohl Unterstützung bei einem seiner Glaubensbrüder gesucht und gefunden.
Balian selbst stieß schon bald auf ein totes Pferd, das zwar keinen Sattel mehr trug, aber Kopfgeschirr, das für christliche Ritter typisch war. Er kniete bei dem Pferd nieder und untersuchte eine Wunde in dessen rechter Hinterhand.
„Das ist keine Kampfverletzung“, bemerkte er. „Hier wurde ein Brandzeichen herausgeschnitten.“
„Reynald hat das getan. Die nächste Templerburg ist nur fünfzehn Meilen entfernt“, sagte Almaric.
„Mylord!“, schrie Michel. „Christliche Tote! Versteckt!“
Balian und Almaric eilten zu ihm. Der Sergeant wies auf eine weiße Hand, die aus dem Sand schaute. Der schneidende Wind hatte den hastig über den Toten aufgehäuften Wüstensand rasch wieder verweht. Auf den Wink des Barons legten er und seine Männer die eilig verscharrten Toten frei. Es waren unübersehbar Europäer, die hier tot im Sand lagen. Sie alle waren nackt.
„Templer“, konstatierte Almaric.
„Woran seht Ihr das, Almaric?“, fragte Sibylla. Der Prinzessin war völlig klar, dass hier nicht nur Reynald, sondern auch Guy mit seinen Männern am Werk gewesen war. Sie wollte aber wissen, woran es jemand anders erkennen konnte, der die Hinterlist ihres Gemahls nicht so intensiv kannte wie sie.
„An den nackten Körpern allein nicht, Mylady. Doch diesen hier kenne ich“, sagte er und wies auf einen der Toten. „Ich weiß, dass er Spanier war und zu Reynalds Templertruppe gehörte. Außerdem …“
Almaric ging hinüber zu einem weiteren toten Pferd, das nur noch das Kopfgeschirr trug und dem ebenso das Brandzeichen weggeschnitten worden war. Er löste das Kopfgeschirr und zeigte es Sibylla.
„Und außerdem am Templerkreuz an der Verzierung des Halfters“, erklärte der Hauptmann.
„Wieso gibt sich jemand so viel Mühe, Brandzeichen zu entfernen und eigene Tote verschwinden zu lassen, wenn er solche offensichtlichen Spuren zurücklässt?“, fragte Balian, als er das Geschirr näher betrachtete.
„Das Tatzenkreuz allein weist nicht auf die Templer hin, Mylord. Auch Ibelin führt ein Tatzenkreuz im Wappen, ebenso die Johanniter. Aber weder wir noch die Johanniter verzieren damit die Pferdehalfter. Die Sarazenen wissen das aber nicht. Sie hätten auf die Idee kommen können – und vielleicht auch sollen – dass wir diesen Überfall verübt haben. Man könnte versuchen wollen, Euch den Überfall in die Schuhe zu schieben, Mylord. Der König muss umgehend erfahren, was hier geschehen ist. Wir sollten einen Reiter nach Jerusalem senden.“
Almaric drehte sich um und sah Sibylla an.
„Es sei denn, meine Prinzessin überbringt die Nachricht selbst“, sagte er an sie gewandt. Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bleibe bei Euch.“
Balian trat an ihr Pferd und hielt es am Kopfgeschirr.
„Reynald hat das hier getan. Ich werde nach Kerak reiten.“
Sie nickte.
„Reynald hat dies getan. Aber nicht allein. Nicht allein, Balian.“
„Guy?“, fragte er. Sibylla nickte.
♦♦♦
Kapitel 17
Die Verteidigung von Kerak
Balian und seine dreißig seiner Männer begleiteten Sibylla – eigentlich nach Jerusalem, das auf dem Weg nach Kerak lag. Sie hatten Ibelin gerade wieder passiert, als ihnen auf der Pilgerstraße ein eiliger Reiter im Jerusalemrock entgegenkam. Offenbar erkannte der Mann schon von weitem, dass der Schutzherr dieser Straße ihm gerade entgegenkam. Er winkte hektisch.
Balian ließ halten und ritt ein Stück vor, Sibylla folgte ihm unaufgefordert.
„Mylord Balian! Ich habe eine Nachricht vom Konstabler Tiberias für Euch: Er weist Euch an, umgehend nach Kerak zu reiten und das Volk dort zu beschützen. Der König ist ebenfalls auf dem Weg dorthin, hat aber meist Fußtruppen bei sich und wird Kerak vielleicht nicht rechtzeitig erreichen!“, rief der Bote.
„Rechtzeitig wofür?“, fragte die Prinzessin.
„Salahadin hat mit zweihunderttausend Mann den Jordan überschritten und marschiert nach Kerak, um Reynald für seine ständigen Provokationen zu bestrafen. Gerade erst hat er wieder eine Karawane überfallen und bis zum letzten Mann niedergemacht. Der König hat deshalb schon einen Prozess geführt, als die Nachricht des Sultans eintraf. Graf Tiberias meint, er wird sich zuerst gegen Kerak wenden. Es eilt, Mylord!“
„Wir beeilen uns!“, versprach Balian.
„Wir kommen mit!“, entschied Sibylla. Balian sah sie verblüfft an. Dann wurde ihm klar, dass er ihr nicht befehlen konnte, nach Jerusalem zu gehen – hier, außerhalb von Ibelin, hatte sie das Sagen …
Als sie Reynalds Festung erreichten, war von Balduins Heer noch nichts zu sehen. Allerdings hatte der König nach den Worten des Boten einen großen Teil Fußtruppen bei sich. So war die rein berittene Truppe um Balian und Sibylla erheblich schneller gewesen.
Panische Menschen rannten in Richtung der Burg, kamen auf Kamelen, mit Kindern und Alten, trugen, was sie hatten retten können.
„Schnell! Schnell!“,
war ein verzweifelter Ruf, der immer wieder zu hören war.
Im Sonnenglast erkannte Almaric in der Ferne eine dünne, dunkle Linie.
„Reiter der Sarazenen!“, meldete er seine Beobachtung an Balian. „Sie kommen um Reynald einzuschließen. Außerhalb der Mauern sind die Menschen in Gefahr. Salahadin wird diesem Trupp mit Sicherheit folgen.“
Der Baron nahm die Warnung auf und traf seine Entscheidung. Er beugte sich zu Sibylla hinüber.
„Begebt Euch jetzt in die Festung“, sagte er. Sie nickte.
„Haya bena!“, kommandierte sie. Sie selbst, ihre Leibdienerin und ihre Turkopolen im Jerusalemrock gaben ihren Pferden eilig die Sporen und galoppierten in die noch immer offene Burg, während Balian sein Pferd anspornte und mit seinen Männern den Sarazenen entgegen ritt.
Die Prinzessin und ihre Leibdienerin jagten samt ihren Begleitern in die Burg hinein. Von oben, vom Söller her, begrüßte Reynald sie mit einem Weinkelch in der einen und Trauben in der anderen Hand.
„Besucher!“, jauchzte er spöttisch. Er sah in seinem karottenroten Festtagsgewand nicht danach aus, als bereite er sich auf einen Kampf, gar eine Belagerung seiner Burg vor.
Bei Balians Truppe, die sich zu einer Linie formiert hatte und auf den Befehl ihres Anführers wartete, erschien ein junger Tempelritter.
„Mylord Balian! Mylord Balian!“ rief er. Der Baron ließ sein Pferd einige Schritte aus der Reihe vortreten, um sich dem Templer zu zeigen.
„Mylord, Reynald bittet Euch, Euer Heer nach Kerak zu führen.“
„Danke, aber nein!“, wehrte Balian ab. „Wenn wir das tun, werden diese Menschen sterben. Wir halten die Sarazenen so lange auf, bis der König eintrifft.“
„Wie Ihr meint“, entgegnete der Templer und jagte zurück. Almaric sah seinen jungen Herrn an.
„Wir können sie nicht angreifen … und überleben“, gab er zu bedenken, als er die große Zahl der sarazenischen Reiter richtig übersah.
Die Prinzessin eilte gleich nach oben auf die Festungsmauer, um nach Balian und seinen Männern Ausschau zu halten. Als sie dort ankam, verbeugte sich einer von de Châtillons Dienern ehrerbietig vor der Prinzessin.
„Mylady …“
Auch Reynald entging ihr forschender Blick nicht. Er räusperte sich, um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten, doch sie beachtete ihn nicht.
„Was betrachtet Ihr da?“, fragte er grob und grußlos. Sie sah hinaus zu dem kleinen Häuflein Soldaten im Ibelin-Rock, die sich einer vielfachen Übermacht entgegenstellten, um den fliehenden Bauern Gelegenheit zu geben, Keraks sichere Mauern zu erreichen.
„Einen Ritter … seine Männer“, sagte sie leise. Es kostete sie unendliche Mühe, ihr öffentliches Gesicht zu wahren und nicht zu zeigen, welch furchtbare Angst sie um den Geliebten hatte, der sich in ein aussichtsloses Gefecht begab …
Balian sah seinen Hauptmann verstehend an und schaute sich dann unter seinen Männern um. Nein, er konnte ihnen nicht einfach befehlen, ihm in den Tod zu folgen, aber er konnte diese Bauern auch nicht ohne Schutz lassen.
‚Beschütze die Wehrlosen!’, hallte der Schwur in seinem Inneren nach. Wenn diese Bauern nicht wehrlos waren, wer dann?
„Es gibt sicher eine Legende, wie viele Sarazenen einer von uns aufwiegt …“, mutmaßte er und sah Almaric an. So stolz, wie sich die christlichen Adligen üblicherweise gaben, wären sie von einem Verhältnis eins zu eins, ja auch von drei zu eins tief beleidigt gewesen, dessen war er sicher.
„Meistens sagt man zehn“, erwiderte der Hauptmann. Balian nickte. So in der Art hatte er es ihnen auch zugetraut. In gewissen Grenzen stimmte dieses Gerücht sogar – jedenfalls bei einem Reiterangriff, was auf die wesentliche schwerere Panzerung der christlichen Ritter zurückzuführen war. Er hatte etwa dreißig Mann; was sich da am Horizont zeigte, waren nach seiner Schätzung nicht mehr als dreihundert; vielleicht würde das Gerücht seinen Männern etwas Vertrauen zu ihm einflößen – oder noch besser: Ihnen zu sich selbst.
„Steht ihr mir bei?“, fragte er in die Runde. Almaric nickte mit einem Lächeln. Wortlos senkten die übrigen Männer ihre Visiere, zogen die Schwerter, machten die Lanzen zum Angriff bereit. Ihren Herrn im Stich zu lassen, kam für keinen von ihnen in Frage, ob es diese Legende von der Stärke der Kreuzritter gab oder nicht. Auch Balian zog sein Schwert, küsste ehrfürchtig die Klinge, die sein Vater ihm eben für diesen Zweck übergeben hatte, für den er sie jetzt erstmals benutzen wollte. Dann streckte er es gerade nach vorn.
„Vorwärts!“, kommandierte er.
Die ganze lange Reihe nebeneinander stehender Reiter ritt an, sortierte sich zu einer Zweierreihe und stürmte den herannahenden Sarazenen entgegen.
„Aufteilen!“, kommandierte der Baron. Die kleine Truppe von allenfalls dreißig Reitern teilte sich aus der Zweierreihe wie ein sich entfaltender Vorhang und attackierte in voller Breite und rasendem Galopp die ihnen entgegenkommenden Sarazenen.
Die Sarazenen ihrerseits gaben ihren Pferden ebenfalls die Sporen, wichen zu beiden Seiten hin aus – und überflügelten die christlichen Ritter, kreisten sie ein.
Der Zusammenprall aus dem vollen Galopp war fürchterlich. Es schepperte metallisch, als Schwerter und Speere auf Rüstungen und Schilde prallten; es klang dumpf, wenn Pferdeleiber zusammenstießen. Innerhalb von Augenblicken war ein unübersichtliches Getümmel auf der weiten Ebene vor Kerak.
Ein Axthieb warf Balian aus dem Sattel. Er verlor den Helm, behielt aber Schwert und Schild in den Händen. Ein Sarazene wollte den Moment nutzen und ihn mit dem Speer aufspießen, doch warf sich der junge Baron geistesgegenwärtig beiseite. Der tödliche Speerstich traf sein Pferd und tötete den Rappen. Sofort stürzten sich drei oder vier Sarazenen auf ihn, aber Balian wusste sich zu wehren – rechts mit dem langen Schwert, links teilte er mit dem Schild aus, einem verpasste er einen Tritt in die Weichteile.
Es war ein wildes Gemetzel; Blut spritzte aus aufgeschlitzten Leibern, Sarazenen und Kreuzritter sanken auf den heißen Wüstenboden. Balian wurde es in dem heftigen Kampf, in dem er schon einige Sarazenen außer Gefecht gesetzt hatte, unter der ledergefütterten Kettenkapuze zu heiß. Er zog sie ab, um mehr Luft zu bekommen. Drei Sarazenen wollten den kurzen Moment nutzen, in dem der Baron nicht wie ein Berserker um sich schlug. Sie stürzten sich auf ihn und rangen im Nahkampf mit ihm. Er hielt sie sich vom Leib, aber ein vierter kam von hinten an ihn heran und zog ihm eine Art Keule mit einer kinderfaustgroßen Verdickung am Ende des Schaftes über den Kopf. Er sackte zusammen und blieb bewusstlos liegen.
Von der Festung aus war es trotz des aufgewirbelten Staubs unübersehbar, dass der Kampf verebbte – und dass von den Ibelinern keiner mehr auf den Füßen stand oder gar noch im Sattel saß. Sibylla spürte einen tiefen Stich im Herzen. Erschüttert schloss sie die Augen und presste die Lippen zusammen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Balian noch lebte, war nicht groß. Die Tat war heldenhaft gewesen, denn die fliehenden Bauern hatten die Burg erreichen können, weil die Männer Ibelins die Sarazenen beschäftigten und sie aufhielten.
‚War der Preis nicht zu hoch, den deine Tat gefordert hat?’, durchzuckte es die junge Frau. Ihm offenbar nicht, sonst hätte er sein Leben nicht für diese Menschen aufs Spiel gesetzt. Er hatte den Rittereid hinsichtlich des Schutzes Wehrloser absolut ernst genommen. Er war wirklich der vollkommene Ritter. Sibylla fürchtete nur, dass er der beste Ritter Jerusalems gewesen war …
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Kapitel 18
Freundlicher Feind
Der Staub des wilden Kampfes legte sich. Die Sarazenen trieben die Überlebenden als Gefangene zusammen, suchten dann unter den Liegengebliebenen nach verwundeten Überlebenden, sonderten die definitiv Toten ab.
Michel und Almaric saßen erschöpft auf dem Boden. Es war vorhersehbar gewesen – aber der Hauptmann hatte auch gesehen, dass die Flüchtlinge die Burg erreicht hatten und den Sarazenen vollzählig entwischt waren. So gesehen war die Attacke ein Erfolg gewesen – aber um welchen Preis? Das letzte, was er von Balian gesehen hatte, war, dass er gegen drei oder vier Sarazenen gerungen hatte und leblos zu Boden gegangen war. Almaric trauerte schon um seinen jungen Herrn, als vier Sarazenen ihn herantrugen. Jeder hatte sich einen Arm oder ein Bein des Herrn von Ibelin gegriffen. Sein Kopf hing reglos herunter.
Die Soldaten brachten den leblos scheinenden Anführer der Franken vor ihren prächtig gerüsteten Kommandeur, ließen ihn zu dessen Füßen unsanft bäuchlings auf den Boden fallen. Er blieb liegen und rührte sich nicht. Ein fünfter Soldat ließ das Schwert von Ibelin neben seinem Eigentümer achtlos fallen.
Almaric und Michel sahen sich betroffen an, als der Anführer der sarazenischen Vorhut sein nur wenig gebogenes Schwert zog und es vor sich herunterstieß, nachdem er zunächst eher vorsichtig mit der Spitze Balians Haar sondiert hatte. Doch er hatte ihm nicht etwa den Gnadenstoß gegeben, sondern die Klinge gut zwei Handbreit von dessen Gesicht entfernt in den Boden gerammt.
Die tiefstehende Sonne spiegelte sich über einen polierten Schild in der ebenso blanken Klinge des Sarazenenführers. Der Strahl fiel genau auf das linke Auge des Gefangenen. Der Anführer wartete geduldig, bis der Franke von sich aus eine Regung zeigte.
Helles Licht blendete Balian. Nur mühsam fand er mit brummendem Schädel in die Wirklichkeit der Wüste vor Kerak zurück. Er blinzelte, bemerkte, dass er auf dem Bauch lag. Immerhin – er lebte, auch wenn sein Kopf sich anfühlte, als wäre er unter den eigenen Schmiedehammer geraten … Langsam drehte er den Kopf und sah hoch. Sein Blick fiel auf zwei kostbar geschmückte Reitstiefel, die keine ganze Elle von seiner Nase entfernt waren.
„Eure Güte wird unter Euren Feinden bekannt sein, bevor Ihr ihnen begegnen werdet, mein Freund“, drangen bekannte Worte an sein Ohr. Er stützte er sich stöhnend auf den Armen hoch und brachte es fertig, weiter nach oben zu sehen. Er fand das lächelnde Gesicht eines ihm gut bekannten Sarazenen: Imad! Noch immer halb auf dem Bauch liegend, presste Balian heraus:
„Ihr wart nicht der Diener dieses Mannes!“
Imad schüttelte mit einem geradezu schelmischen Grinsen den Kopf.
„Nein“, lachte er unterdrückt, „er war mein Diener!“
Balian rappelte sich mit einiger Mühe auf die Knie auf. Gerupft, das Gesicht in der rechten Hälfte mit Schweiß und Sand verklebt, auf der linken Seite noch die Blutspur der Platzwunde, die der Hieb mit der Keule verursacht hatte, bemühte er sich, nicht gleich wieder umzukippen. Die Welt drehte sich immer noch leicht um ihn. Er sah Imad an.
„Was … wird aus uns werden?“, fragte er, unbewusst Sibyllas Worte zitierend. Imads Lächeln war pure Güte.
„Das, was Ihr verdient. Man erntet, was man sät. Das habt Ihr doch schon gehört, nicht wahr?“
Ergeben nickte Balian. Man hatte ihm erzählt, dass die Sarazenen gefangene Kreuzritter in der Regel töteten. Der junge Mann schloss mit dem Leben ab und erwartete den tödlichen Hieb. Er wollte nicht darauf hoffen, dass Imad ihm aus Dankbarkeit für seine eigene Großmut das Leben schenken würde – erst recht nicht, wenn er vielleicht mit ansehen musste, wie seine treuen Gefolgsleute an seiner Statt geköpft wurden.
Doch so drohend, wie diese Worte zunächst klangen, waren sie nicht gemeint. Imad winkte leicht mit der Hand.
„Steht auf“, setzte er freundlich hinzu. Balian nahm sein Schwert und stützte sich damit vollends auf. Als er stand, schien die Welt sich wieder heftiger zu drehen, aber der durchdringende Ton, den er hörte hatte nichts mit seinem Brummschädel zu tun. Es war ein Signalhorn der Armee Salahadins …
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Kapitel 19
Jerusalem erwacht
Imad wies mit dem Kopf zur Festung. Das Signal war für ihn das Zeichen, dass er nun nicht mehr allein über das Schicksal dieser Kreuzritter zu entscheiden hatte.
„Ihr dürft Euch nach Kerak zurückziehen – aber Ihr werdet dort sterben“, erklärte er weiter. In seiner Stimme klang hörbares Bedauern mit.
„Mein Herr ist hier“, setzte er hinzu, was wohl heißen sollte:
‚Ginge es nach mir, wären du und deine Männer ab sofort frei.’’
Tatsächlich marschierte hinter dem Sarazenen ein großes Heer auf, das von Sultan Saladin geführt wurde – dem einzigen Mann, dem Imad ad-Din, so sein voller Name, Rechenschaft schuldig war.
Balian spürte ein leichtes Dröhnen im Boden; ein Dröhnen von vielen Füßen und Hufen. Er sah sich halb um und bemerkte im Sonnenglast das goldbeschlagene Heilige Kreuz, das Truppen des Königs von Jerusalem mit sich zu tragen pflegten. Noch bevor er sagen konnte:
‚Und da kommt meiner!’,
hatte Imad die Zeichen ebenfalls erkannt.
„Sagt Salahadin, dass Jerusalem gekommen ist!“, befahl er einem reitenden Boten, der augenblicklich kehrt machte und zu Saladin jagte.
Balian und Imad standen nahe beieinander und sahen sich zwischen den sich von beiden Seiten nähernden Truppen Balduins und Saladins. Der christliche Baron schwieg müde und erschöpft. Immerhin – die Bauern hatten entkommen können, denn er fand nicht einen einzigen getöteten Bauern unter den Opfern dieses harten Kampfes …
Die Heere näherten sich. Aus den Reihen beider Seiten löste sich je eine kleine Gruppe von allenfalls acht bis zehn Reitern, angeführt von ihren Königen. Balduin, abgesehen von dem blauen Jerusalem-Wappenrock ganz in Weiß gekleidet, trug seine Ausgehmaske aus kunstvoll damasziertem Silber, jedoch ohne naturalistische Augenbrauen und Bart, die seiner sonst täglich getragenen Maske ihr Leben verliehen. Er ritt einen Araberschimmel.
Saladin war völlig in Schwarz gekleidet – wenn die Stoffe auch kostbar mit Gold durchwirkt waren – und ritt einen Rappen edelster arabischer Zucht, der vor Temperament eine volle Drehung machte, bevor er sich vor dem Schimmel zügeln ließ.
Oben, auf dem Söller der Burg Kerak, sah Sibylla zu ihrem ebenso großen Entsetzen wie zu ihrer großen Freude, dass ihr Bruder selbst gekommen war – und sie sah Saladin.
„Salahadin!“ entfuhr es ihr leise. Dann wurde sie gewahr, dass Balian ihr direkt gegenüberstand, wenn auch eine gute Meile entfernt. Die Erleichterung, die sie spürte, durfte sie nicht zeigen, aber einen stummen Dank an Gott konnte sie sich erlauben. Ihr Geliebter lebte!
Saladin und Balduin begrüßten einander in der Mitte zwischen ihren Heeren.
„Ich bitte Euch, mit Eurem Heer abzuziehen und mir diese Angelegenheit zu überlassen“, forderte der Sultan von Ägypten den König von Jerusalem auf. Er sprach gutes Überseefranzösisch, wenngleich mit unüberhörbarem Akzent.
„Ich bitte Euch, Euch wohlbehalten nach Damaskus zurückzuziehen“, erwiderte Balduin. Saladin sah den jungen Christenkönig einen Moment an. Er wusste, wie krank der junge Monarch war, dass dessen Leben an einem seidenen Faden hing – auch ohne die islamische Tradition, Todesurteile in Form einer seidenen Schnur zu verkünden …
Wenn Balduin sich in seinem Zustand herbemühte, hatte das einen Grund, das war dem Sultan klar.
„Reynald de Châtillon wird bestraft werden, das schwöre ich!“, sprach der christliche König Saladins Hoffnung aus. „Zieht Euch zurück, oder wir werden hier alle sterben“, setzte er hinzu.
Der Sarazenenführer überlegte eine Weile, ob er es sich leisten konnte, Reynald nicht selbst für seine fortdauernden Provokationen zu strafen. Balduin würde sein Wort halten, daran zweifelte er keinen Augenblick. Der Wortlaut des christlichen Rittereides war ihm bekannt, und er wusste, dass Balduin IV. diesen Eid für sich ernst nahm. Was er versprach, würde er halten. Das Problem waren nur jene, die sich an die Zusagen des Königs oder Saladins nicht hielten …
Es waren quälend lange Momente, in denen alle, die die beiden Könige von fern beobachteten, gespannt warteten, was nun geschehen würde; Balian von Ibelin und Imad ad-Din ebenso wie Sibylla auf dem Söller von Kerak oder die Ritter und Soldaten beider Heere.
„Kommen wir überein?“, fragte Balduin schließlich, um das Verhandelte abzuriegeln. Saladin nickte.
„Wir kommen überein“, erwiderte er langsam. „Ich werde Euch meine Leibärzte schicken“, setzte er hinzu, als Balduin leise stöhnte. Der König von Jerusalem hob die Hand zum Gruß.
„As-Salam ‘alaykum“, grüßte der Christ.
„U ‘alaykum as-Salam“, erwiderte der Moslem, wendete sein Pferd und ritt zurück.
Saladin lag am Frieden ebenso viel wie dem jungen König von Jerusalem, aber dafür musste Balduin leben, doch es stand schlecht um ihn, das wusste Saladin nur zu genau. Auch sarazenische Ärzte konnten die Lepra nicht heilen, an der er litt, aber sie konnten sie lindern und sein Leben damit verlängern – und damit den Frieden. Balduin nahm es nickend zur Kenntnis und drehte dann nach Kerak ab.
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Kapitel 20
Der Kuss des Friedens
Der König von Jerusalem ritt durch ein Spalier seiner Ritter im kornblumenblauen Wappenrock bis in den Burghof hinein.
Reynald hatte den König bereits kommen sehen. Er war ein Lump, aber gewiss kein Feigling. Ihm war – eingedenk der Worte Tiberias’ – völlig klar, dass seine Herrlichkeit in Kerak beendet war. Doch er schlich nicht etwa wie ein geprügelter Hund in den Hof, nein, er rauschte im vollen Festtagsornat in den Hof, laut verkündend:
„Ich bin Reynald de Châtillon!“
Doch dann verneigte er sich ehrerbietig vor König Balduin.
Balian und seine überlebenden Männer waren inzwischen in der Burg angekommen und standen in der Nähe des Tores, als Balduin hereinkam. Ein Stallknecht nahm den Hengst des Königs am Zügel und gab ihm eine bestimmte Hilfe. Das gut dressierte Pferd kniete im Burghof nieder und ermöglichte es seinem durch die Lepra schon schwer behinderten Herrn Balduin, sein noch beweglicheres rechtes Bein über den Widerrist zu schwingen und nahezu ebenerdig abzusteigen. Der König zog mit der rechten Hand seine Reitgerte aus der Halterung neben dem Schwert
„Auf Eure Knie!“, zischte Balduin zornig. Reynald ging gehorsam in die Knie.
„Tiefer!“, forderte der König scharf und wies mit der Reitgerte weiter nach unten. Reynald folgte brav der Bewegung bis knapp vor den Kotau*. Balduin zog seinen linken Handschuh aus. Seine linke Hand hatte keinen vollständigen Finger mehr; mindestens das obere Glied war bereits infolge der Lepra weggefault. Schwärende Wunden überzogen die Hand, ein Ekel erregender Gestank ging von dem faulenden Fleisch aus. Aber mitten in dieser verfallenden Hand steckte der königliche Siegelring am Rest von Balduins linkem Ringfinger.
„Ich … bin Jerusalem!“, fauchte er zornig. Er bemerkte nicht, dass Guy de Lusignan nicht weit entfernt stand und diese Worte mit leicht gesenktem Kopf und tückischem Blick aufnahm.
„Und Ihr … Reynald … werdet mir den Friedenskuss geben!“, befahl er dann und hielt de Châtillon die lepröse Hand hin. Reynald zögerte einen Moment, dann griff er zu und bedeckte die verwesende Hand über und über mit Küssen, bis Balduin sie ihm entzog und ihm links und rechts mehrfach die Reitpeitsche ins Gesicht schlug, dass de Châtillon schließlich zu Boden ging.
Ächzend wandte sich der König nach Vollzug der ersten Strafe ab; er hatte seine Kräfte überschätzt. Balduin taumelte und knickte ein.
„Wache!“, befahl Tiberias. Die Wachen griffen rasch zu und bewahrten den König davor, ganz zu Boden zu gehen. Sie stützten ihn und geleiteten ihn zu einer auf Tiberias’ Befehl vorsorglich mitgenommenen Liegesänfte. Er hatte sich, wie von Raymond befürchtet, einfach übernommen.
Reynald sah auf, zerschunden und zerschlagen, und blickte in Tiberias’ grimmiges Gesicht.
„Was gibt’s hier zu sehen?“, knurrte er. Der Graf zog spöttisch eine Augenbraue hoch.
„Einen toten Mann!“, versetzte er. „Reynald de Châtillon, Ihr seid verhaftet – und verurteilt!“, verkündete der Statthalter dann. Wachen packten Reynald und brachten ihn fort.
Balduin lag in der Sänfte, sah sich um und fand den vom Kampf gezeichneten Balian unter dessen Männern bescheiden am Tor stehen. Der König winkte ihn zu sich. Es dauerte einem Moment, bis von Ibelin begriff, dass er selbst gemeint war. Unsicher ging er zu der Sänfte und kniete daneben nieder.
„Wenn Ihr so weitermacht, werde ich eine Aufgabe für Euch finden müssen“, sagte Balduin anerkennend. Er hatte den jungen Baron noch unterschätzt, das gestand sich der König ohne Schande ein. Balian von Ibelin war eine Zierde der christlichen Ritter im Heiligen Land. Es wurde Zeit, ihm die entsprechende Anerkennung dafür zu geben.
„Das heißt … wenn Gott Euch entbehren kann!“, setzte er hinzu. Was Sibylla ihm eben kurz berichtet hatte, klang nach Todessehnsucht des jungen Herrn von Ibelin. Das Grinsen konnte Balian unter der silbernen Maske nicht sehen, aber es klang durch die Worte des Königs hindurch. Doch er war noch nicht soweit, diese Bemerkung als lockeren Scherz hinzunehmen.
„Gott kennt mich nicht!“, wehrte er ab. Wenn Gott nicht zu ihm sprach, nahm er ihn einfach nicht wahr, sagte sich Balian. Balduin hob begütigend die rechte Hand.
„Aber ich … kenne Euch!“, erwiderte er mit einem leisen Lachen.
Balian verstand nicht die ganze Tragweite dessen, was Balduin eben gerade gesagt hatte. Sibyllas Bruder war König von Gottes Gnaden, so verstanden sich alle christlichen Könige. Wenn ein König einen Mann kannte, spätestens dann kannte auch Gott, der dem König schließlich besonders nahe war, diesen Mann. Balduin spürte die Demut und die Bescheidenheit des jungen Barons, der seiner eigenen Meinung nach nur seine ritterliche Pflicht erfüllt hatte. Dass er sich gerade dadurch deutlich von der überwiegenden Zahl der christlichen Ritter abhob, war ihm überhaupt nicht bewusst. Balduin schätzte genau diese Haltung – und Balian ganz persönlich. Der wortkarge, zurückhaltende Baron, der sich nicht vordrängte, lieber im Hintergrund blieb, der lieber handelte, war ein leuchtendes Vorbild als treuer Diener des Königs und Beschützer der wehrlosen Bauern. Doch während Balian dies als selbstverständliche Pflicht betrachtete, löste dies bei anderen ätzenden Neid aus – bei Guy zum Beispiel, der ihm mit kaum verhohlenem Hass ansah.
Tiberias trat an die Sänfte, Balduin gab ihm ein Zeichen.
„Haya bena!“, befahl der Statthalter. Vier dunkelhäutige Diener in muslimischer Kleidung hoben die Sänfte auf und trugen den todkranken König aus der Burg Kerak fort.
Balian stand unschlüssig dort, wo er neben der Sänfte des Königs gekniet hatte. Raymond klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und stieg dann in den Sattel seines Pferdes.
„Ich brauche dich in Jerusalem“, sagte er zu Balian und verließ dann ebenfalls die Burg.
Reynald sah völlig verblüfft auf Balian, der den ganzen Ruhm erntete, obwohl er danach nicht strebte, bis ihn die Wachen abführten. Balian sah ihm nach, griff am Halsausschnitt in sein Kettenhemd und zog Sibyllas Ring heraus, als er die Prinzessin auf halbem Weg zum Tor des Palas stehen sah und bedachte ihr Geschenk mit einem zärtlichen Kuss der Dankbarkeit. Dieser Ring war sein Talisman, sein Schutz.
Doch nicht nur sie bemerkte Balians liebevolle Geste, auch Guy nahm sie wahr und zog die richtige Schlussfolgerung, als sein Blick dem des Barons folgte – zu seiner Gemahlin … Das würde dieser Bastard büßen!
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Kapitel 21
Ehre
„Der König verlangt nach Euch, Guy!“, störte Tiberias’ Ruf Guy aus seinen finsteren Gedanken über Balian auf. Er sah hinaus vor die Burg, wo die Träger der Liegesänfte stehen geblieben waren und ging auf Raymonds Wink dorthin.
„Mylord de Lusignan, ich beauftrage Euch, die Ärzte, die Saladin senden will, sicher nach Jerusalem zu eskortieren. Ihr seid mir persönlich dafür verantwortlich, dass sie Jerusalem heil erreichen!“, befahl Balduin mit aller Schärfe in der Stimme, zu der er im Moment noch fähig war.
„Wie Ihr wünscht, mein König“, bestätigte de Lusignan und verbeugte sich leicht. Auf Balduins Wink setzten die Sänftenträger ihren Weg fort, Guy biss sich auf die Lippe. Ausgerechnet er sollte arabische Ärzte für seinen Schwager holen! Die Versuchung, die ihn überkam, die Ankunft der Ärzte zu verzögern oder gar ganz zu verhindern, war groß, aber ihm war im nächsten Moment völlig klar, dass er eine solche Tat nicht lange überleben würde …
Während Guy beim König war, stand Balian immer noch in der Nähe des Tores und schien zu überlegen, was er nun tun sollte. Die Wachen, die Reynald festgenommen hatten, brachten den Gefangenen zu einer größeren Gruppe von Jerusalem-Rittern, aber Reynald gelang es, sich loszureißen und zu Balian zu stürmen.
„Was wolltest du damit beweisen?“, fuhr er ihn an. Ibelin blieb zwar stehen, verbog sich aber dennoch ein Stück nach hinten, um sich nicht noch eine Kopfnuss von Reynald einzufangen.
„Nichts“, sagte er schlicht.
„Und was sollte das dann?“, bohrte Reynald weiter.
„Menschen retten“, versetzte Balian.
„Du hättest mir beinahe noch mehr Mäuler zu stopfen gegeben, als ich ohnehin schon durchfüttern muss und noch mehr Mist zum Beseitigen! Du musst über Belagerungen noch viel lernen!“, fauchte de Châtillon und versuchte die Wachen wieder abzuschütteln, die ihn gerade wieder zu fassen bekamen. Balian sah ihn einen Moment kühl an.
„Ihr habt eine interessante Auffassung vom Schutz Wehrloser, Mylord“, sagte er und ließ Reynald mit den Wachen stehen. Der Templergönner sah ihm verblüfft nach, verrenkte sich fast den Hals, als die Wachen ihn grob abschleppten.
„Aber es war großartig!“, flüsterte de Châtillon dann.
Fast im selben Moment jubelten die im Burghof befindlichen Flüchtlinge und die Truppen Jerusalems abgesehen von den meisten Templern Balian zu, der sich recht verstört nach dem Grund des Jubels umsah und feststellen musste, dass er selbst gemeint war.
„Godfreys Sohn hat mit hundert Mann zehntausend die Stirn geboten!“, rief ein Ritter im Templerrock laut, der als einer der wenigen Templer dem Baron von Ibelin zujubelte. Es war jener Ritter, den Reynald ausgesandt hatte, um Balian und seine Männer hinter die Mauern von Kerak zu bitten.
„Hoch, Balian!“, setzte er laut hinzu.
„Balian! Balian! Balian!“, jubelte die Menge der Truppen.
Raymond von Tiberias war der Erste, der dem Sohn seines Freundes anerkennend auf die Schulter klopfte. Es folgten so viele, dass der junge Mann schnell das Gefühl hatte, allein unter dem Schulterklopfen zusammenzubrechen und vor Jubel taub zu werden. Er lächelte scheu und versuchte vorsichtig, sich davon zu machen, aber man ließ ihn nicht gehen. Reynald, der inzwischen gefesselt auf einem Pferd saß, konnte es kaum fassen, dass Balian zum einen so gefeiert wurde und dass er sich zum anderen daraus gar nichts zu machen schien. Es schien ihm nicht einmal wirklich zu gefallen, so scheu, wie er sich gab. De Châtillon schüttelte nur noch den Kopf. Der Bengel war so bescheiden, dass es schon wieder unverschämt war!
Der Konstabler war ans Tor zurückgekehrt und fing Guy ab, der gerade in die Burg zurück wollte.
„Der König hat Euch einen Auftrag gegeben, Mylord“, erinnerte er den Gemahl der Prinzessin.
„Dafür brauche ich meine Männer!“, zischte de Lusignan. Tiberias lächelte hintergründig und gab einem Hauptmann im Templerrock einen Wink, der mit den Reitern Guys und dessen ledigem Pferd aus dem Burgtor kam. Mürrisch saß Sibyllas Gemahl auf und ritt mit seinen Männern davon.
Raymond überzeugte sich, dass de Lusignan wirklich fort war, dann ging er zurück in die Burg. Auf den Schultern seiner Männer gelangte Balian inzwischen in den Palas der Burg, wo Sibylla ihn hoheitsvoll empfing.
„Ehre dem Baron von Ibelin, der verdientermaßen Ritter ist, dessen Tapferkeit erwiesen ist!“, verkündete sie laut, als sie Tiberias am Eingang der Halle sah, der ihr das eben verabredete Zeichen gab, dass Guy fort war. Die Anwesenden ließen den immer noch verwirrten Baron hochleben. Er hob abwehrend die Hände.
„Ich habe meine Pflicht als Ritter erfüllt, Wehrlose zu beschützen. Meine Männer haben Euer Lob ebenso verdient. Gedenkt auch der Männer, die die Rettung der Menschen mit ihrem Leben bezahlt haben“, sagte er. Sibylla kam mit hoheitsvollem Lächeln auf ihn zu, der sich ehrerbietig leicht vor ihr verneigte.
„Ehre, wem Ehre gebührt, Mylord Balian. Ich kenne Eure Männer und weiß, dass sie von sich aus diesen Angriff nicht gewagt hätten. Ihr seid ein Ritter – verdientermaßen und erwiesen. Ihr seid ein vollkommener Ritter, denn es gibt nicht viele, die ihr Leben für gewöhnliche Bauern zu opfern bereit wären.“
„Und wer soll Felder bestellen und für Nahrung sorgen, wenn die Bauern nicht geschützt werden?“, fragte Balian mit leicht hochgezogenen Brauen. Sibylla lachte hell. Dann verlor sich ihr Lachen, als sie bemerkte, dass er immer noch aus einer Platzwunde am Kopf blutete.
„Ihr seid verwundet. Lasst Euch helfen, Mylord Balian“, bot sie freundlich an. Er neigte leicht den Kopf.
„Auch unter meinen Männern gibt es Verletzte. Bitte, lasst auch ihnen helfen, Mylady.“
„Gewiss, Mylord“, lächelte sie und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange, was von ihrem Hofstaat mit lautem Jubel quittiert wurde.
„Einen Helden, der sein Leben für andere riskiert, darf sogar eine verheiratete Prinzessin küssen, wenn sie dies als Ehrenbezeigung tut“, flüsterte sie ihm rasch zu. Er erwiderte ihr Lächeln und verneigte sich nochmals leicht, ein sanftes Lächeln auf den Lippen, dass es ihr ganz heiß werden ließ. Dann folgte er einem Johanniter, der ihn in ein Gemach ein Stockwerk höher geleitete, wo der Ordensbruder die Wunde an Balians Kopf auswusch und dann mit sauberem Leinen verband.
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Kapitel 22
Heldenlohn
Der Johanniter war kaum weg, als Balian sich seines blutbesudelten Waffenrocks, des Kettenhemds und seiner übrigen Kleidungsstücke entledigte, um sich zunächst gründlich zu waschen. Das kühle Wasser tat auf der verschwitzten Haut wohl und entlockte Balian ein zufriedenes Seufzen. Er ließ sich Zeit, sich sorgsam vom Dreck zu bereinigen, rasierte sich Wangen und Kinn nach, stutzte sorgfältig den Bart, achtete aber darauf, dass er dabei nicht zu kurz und kratzig wurde. Ein schelmisches Lächeln schlich sich auf sein Gesicht.
‚Guy ist hier. Du glaubst doch nicht wirklich, dass sie heute Nacht zu dir kommt!’, mahnte er sich in Gedanken. Aber er wollte sich erlauben, von Sibylla zu träumen …
Die hielt es nicht mehr aus; sie musste unbedingt zu Balian. Leise schlich sie davon. Raymond bemerkte, dass sie sich zurückzog und lenkte Reynalds Gemahlin Stephanie ab, damit die Prinzessin tun konnte, was sie tun wollte, ohne dabei in den Verdacht des Ehebruchs zu geraten. Tiberias war in den Plan der königlichen Geschwister eingeweiht, Balian als Alternative für Guy de Lusignan zu prüfen. Alle drei wussten, dass de Lusignan die Politik des Königs für einen Verständigungsfrieden mit den Sarazenen hintertrieb, wo er nur konnte. Raymond sah in Balian auch einen Nachfolger für sich selbst als Konstabler, vor allem aber sah er ihn mindestens als Bailli für den künftigen jungen König Balduin V. – und er sah ihn als besten Ersatz für Guy an Sibyllas Seite. Ihre Reaktion auf Balian nach dem Angriff auf die Sarazenen hatte sowohl Tiberias als auch ihren Bruder Balduin überzeugt, dass sie sich rettungslos in Godfreys Sohn verliebt hatte. Seine Reaktion, nach der glücklichen Rückkehr ihr Geschenk zu küssen, hatte beiden bestätigt, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte und sie nach zwei erzwungenen Ehen jemanden heiraten würde, den sie liebte – noch dazu einen Mann aus dem Hause Ibelin, das dem Königshaus so treu ergeben war …
Die Prinzessin kannte Burg Kerak gut genug, um zu wissen, wo ihr Ritter untergebracht war. Leise öffnete sie die Tür zu dem Gemach, in dem sie den geliebten Mann vermutete und stellte fest, dass sie richtig getippt hatte. Er lag – sauber gewaschen, den Bart frisch gestutzt – schlafend in einem bequemen, großen Bett, in dem auch eine zweite Person ohne weiteres Platz fand. Ihren Ring trug er auch im Schlaf an der Kette um den Hals. Sibylla verschloss die Tür. Sie wollte auf keinen Fall gestört werden, wenn sie Balian den verdienten Lohn für sein Heldentum gab.
Sie entkleidete sich, wusch sich ebenfalls, betupfte Handgelenke, Hals und eine Stelle hinter dem Ohr mit einem kostbaren Parfüm, das sie in Ibelin benutzt hatte, wenn sie mit Balian geschlafen hatte. Er sollte auf keine andere Idee kommen, als seine Sehnsucht nach ihr stillen zu wollen und es augenblicklich zu tun, wenn er erwachte. Bis dahin wollte sie ihn zärtlich darauf vorbereiten.
Sie schlüpfte unter das Laken, das seinen ebenso schlanken wie muskulösen Körper nur zur Hälfte bedeckte, legte sich neben ihn. Schon dieser Anblick löste schier unerträgliche Sehnsucht nach ihm bei Sibylla aus. Ihre schmale Hand stahl sich umgehend zu ihm. Sie kraulte ihn sacht an den deutlich abgezeichneten Bauchmuskeln, liebkoste zart jeden einzelnen davon. Er seufzte beglückt im Schlaf und flüsterte ihren Namen. Sie rückte ganz nah zu ihm, beugte sich über ihn und verwöhnte seine breite Brust mit zarten Küssen, während ihre Hand seine Männlichkeit suchte, fand und sanft umschloss. Er stöhnte leise und lustvoll. Als sie ihn auf die Lippen küsste, wachte er auf und blinzelte sie verschlafen an.
„Sibylla?“, fragte er schlaftrunken.
„Ja“, hauchte sie. „Ich bin hier, ganz nahe bei dir, mein Liebster.“
Sie schmiegte sich dicht an ihn. Er seufzte leise und voller Sehnsucht. Es war wunderschön, was die Prinzessin da tat. Er überließ sich willig ihren zarten Händen, ließ sich von ihr verwöhnen. So geweckt zu werden, war der Himmel auf Erden. Langsam wurde er wacher – und bemerkte, dass er nicht in seinem Bett zu Hause in Ibelin war. Er zuckte hoch.
„Was ist denn, mein Liebling?“ fragte sie und streichelte ihn beruhigend.
„Wo …? Das … das ist Kerak, oder?“, keuchte er erschrocken.
„Ja, ist es.“
„Und Guy?“, fragte er besorgt. Sie lächelte sanft und zog ihn in die Kissen zurück.
„Den hat mein Bruder zu Salahadin gesandt, damit er die Ärzte holt, die der Sultan ihm versprochen hat. Er ist nicht hier, und die Tür ist verschlossen. Niemand wird uns stören“, flüsterte sie. Er umarmte sie, zog sie ganz nahe an sich.
„Dann weiß dein Bruder Bescheid?“, erkundigte er sich, während seine Hände sachte ihre Hüften liebkosten. Sie schloss verzückt die Augen, als sie spürte, wie sanft seine Hände waren. Sie brachte kein Wort heraus, nickte nur. Seine Lippen berührten ihre Halsbeuge.
„Wer weiß noch, was hier geschieht?“, fragte er weiter.
„Tiberias“, stieß sie mühsam hervor, als sie seine Lippen an der erblühenden Knospe ihrer Brust spürte.
„Und sie sind beide einverstanden?“, fragte er weiter.
„Ja“, hauchte sie. „Balian … bitte …“
„Ja?“, flüsterte er.
„Ich will dein sein.“
Sie streckte sich ihm entgegen, zog ihn an sich und ließ ihn in sich hinein. Er seufzte genießerisch, als die Prinzessin ihn in sich aufnahm. Er vollendete die Vereinigung sanft, dann liebten sie sich voller Wonne. Ein hinreißender Höhepunkt erfüllte ihre Wünsche. Balian ergoss sich mit lustvollem Seufzen tief in ihr, Sibylla nahm begierig auf, was er in sie senkte. Sie ließ ihn erst fort, als der letzte Tropfen vergossen war. Beglückt lagen sie einander in den Armen und überließen sich dem Schlaf liebesseliger Ermattung.
Der frühe Morgen fand die Liebenden immer noch dicht aneinandergeschmiegt. Balian erwachte davon, dass ihm etwas fehlte: der inzwischen so vertraute Ruf des Muezzins von Ibelin im Morgengrauen. Er fand sich Haut an Haut mit Prinzessin Sibylla in einem bequemen Bett wieder, musste erneut erst einmal darüber nachdenken, wo er eigentlich war. Sein Blick fiel auf sie, die den Kopf auf seine Schulter gelegt hatte. Er küsste sie sacht auf das offene Haar, streichelte sanft ihren Nacken. Wohlig schnurrend kam die junge Frau zu sich.
„Guten Morgen“, flüsterte er sanft. Sie sah auf, ihr Blick tauchte in den seinen, in warme, braune Augen, die sie voller Liebe ansahen. Wortlos hob sie den Kopf und küsste ihn. Ihre Zungen streichelten sich, genossen sich. Erst nach einem sehr langen Kuss lösten sie sich voneinander.
„Guten Morgen“, antwortete sie dann und tupfte noch einen Kuss auf seine Lippen. „Wie fühlst du dich?“, fragte sie dann und strich sacht über den Kopfverband.
„Es geht mir gut“, erwiderte er.
„Du solltest für eine Weile einen Turban tragen. Er schützt vor der Sonne und Schlägen auf den Kopf“, empfahl sie.
„Ist dir das nicht zu Arabisch?“, fragte er mit einem schelmischen Lächeln, das sie erst einmal bei ihm gesehen hatte: An dem Morgen, als sie ihm den Ring geschenkt hatte. Dieses Lächeln bewies, dass er im Moment rundherum zufrieden und unbändig glücklich war. Sie schüttelte den Kopf.
„Wir … sollten bald aufstehen und …“
„… uns trennen?“, mutmaßte sie. Er nickte.
„Ich will nicht mehr von dir getrennt sein. Ich werde mich von Guy scheiden lassen.“
„Und Guy? Lässt er sich auch scheiden?“, fragte er. Sie wich seinem Blick aus. Sie wusste nur zu gut, dass ihr Gemahl sich niemals freiwillig von ihr trennen würde. Sie und ihr Sohn waren für ihn Mittel zum Zweck, um die Macht in Jerusalem zu erlangen. Sibylla, Balduin und Tiberias wollten das verhindern – dafür musste Balian unbedingt bereit sein, Sibylla zu heiraten.
„Mein Bruder braucht dich. Komm mit nach Jerusalem!“
„Das werde ich“, versprach er. „Ich werde für dich, deinen Bruder und deinen Sohn da sein.“
Wenige Stunden später zog das Heer Jerusalems unter Führung von Graf Raymond von Tiberias von Kerak nach Jerusalem ab. Den Ehrenplatz an der Spitze hatte ein kleines Häuflein tapferer Soldaten unter dem Banner von Ibelin, angeführt von ihrem Baron, dessen Mut und Tapferkeit ihm Ruhm und Ehre eingebracht hatte, der die Liebe der Schwester des Königs hatte. Balian von Ibelin bedeuteten Ruhm und Ehre nichts, die Liebe der Prinzessin aber beinahe alles …
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Fortsetzung folgt
Glossar
Abruzzen: Gebirge in Zentralitalien.
Bailli: Im Königreich Jerusalem ein zeitweise für den König herrschender Regent, z.B. wenn der König unmündig oder regierungsunfähig krank war.
Cathay: Alter Name für China.
Gran: Alte Maßeinheit zwischen 0,017 und 0,8 g oder 1/12 Karat, je nachdem, ob Gold, Perlen, Edelsteine oder Medikamente gewogen wurden.
Kotau: Im Orient und in Fernost gebräuchlicher Gruß, bei dem sich der Grüßende dem Höhergestellten zu Füßen wirft und mit der Stirn den Boden berührt. Von der Haltung her etwa vergleichbar mit der Gebetshaltung der Muslime, wenn sie sich kniend mit dem Kopf bis auf den Boden neigen. In extremen Fällen bedeutet Kotau auch, sich vor dem Herrscher auf den Bauch zu legen.
Rais: Verwalter der Güter im Heiligen Land. Die Sarazenen führten das System ein, die christlichen Eroberer führten es – oft mit denselben Personen wie vor der Eroberung – weiter.
Stummer Diener: Möbelstück, um insbesondere Herrenoberbekleidung über Nacht aufzuhängen, die am folgenden Tag erneut getragen werden soll.
Turkopole: Leichte Reiterei der Christen im Heiligen Land während der Kreuzzüge, spezialisiert auf die Kampfweise der Sarazenen (sie konnten vom galoppierenden Pferd Pfeilhagel abschießen und verstanden sich auf den Angriff mit der leichten Lanze oder dem Wurfspeer). Es handelte sich um im Land geborene Männer, die zwar wenigstens ein christliches Elternteil haben mussten, selbst aber nicht unbedingt Christen sein mussten; im weiteren Verlauf der Geschichte wurde diese Regelung jedoch geändert.
Trébuchet: Auch Blide genannt. Dreibeiniges Belagerungsgerät, das am eigentlichen Wurfarm zusätzlich eine sehr lange Schleudervorrichtung aus Seilen und einer Art Sack hat, mit der das Geschoss (meist aus Stein) über größere Entfernungen geschleudert werden kann.
Zehnt: Es handelt sich um eine jährliche Abgabe von – ursprünglich – zehn Prozent der geernteten Früchte sowie des geschlachteten Viehs. Diese Abgabe wird bereits im Alten Testament der Bibel erwähnt und wurde seit der Etablierung des Volkes Israel in Palästina an die Priester und Leviten gezahlt. Der Grund dafür war die Tatsache, dass diese Personen ihr ganzes Dasein ausschließlich dem geistlichen Dienst verschrieben hatten und deshalb ihren Bedarf an Nahrungsmitteln nicht aus eigenem Ackerbau oder Viehzucht decken konnten. Sie wurden deshalb durch das Volk Israel auf diese Weise ernährt.
Im Mittelalter war es aus denselben Gründen zunächst weiterhin eine Abgabe an die örtliche Geistlichkeit. Mit dem Entstehen rein weltlicher Herrschaftsgebiete wurde der Zehnt aber auf die weltlichen Herren ausgedehnt.
Auch die weltlichen Herren bestellten nicht selbst den Acker oder züchteten das Vieh zum Eigenbedarf nicht selbst, sondern waren mit ihrer Aufgabe ausgelastet, den Bauern durch ihre Waffen Schutz zu geben und nicht in der Lage, ihren Nahrungsbedarf durch Anbau oder Zucht selbst herzustellen. Insbesondere in weltlichen Herrschaften hatte der Bauer den Zehnt sowohl an die örtliche Geistlichkeit als auch an den weltlichen Herrn abzuliefern, also mindestens zwanzig Prozent seines Ertrags herzugeben.
Da der Ertrag vom Erfolg der Ernte und der Viehzucht abhing, konnte durch Missernten infolge von Wettereinflüssen der Zehnt ebenfalls unterschiedlich groß ausfallen. Für die empfangsberechtigten geistlichen und weltlichen Herren folgte daraus, dass die Menge der bäuerlichen Abgaben nicht genau planbar war. Sie forderten schließlich feste Mengen von Schlachtvieh und Feldfrüchten, um die Ernährung ihrer Haushalte sicherzustellen. Ab diesem Zeitpunkt galt zwar noch die Bezeichnung Zehnt, die wörtliche Bedeutung von zehn Prozent des bäuerlichen Ertrags ging jedoch verloren. Die Bauern erbrachten teilweise einen „Zehnt“ von bis zu dreißig Prozent ihres Ertrags – ganz abgesehen von den zusätzlichen Arbeiten, die für den Grundherrn zu leisten waren, den so genannten Fronarbeiten, auch Hand- und Spanndienste genannt.
Grundsätzlich galt diese Abgabe für die Bauern. Da aber auch Handwerker (wie hier Balian) und Händler mindestens nebenbei Landwirtschaft zur Eigenversorgung betrieben, hatten sie ebenfalls entsprechende Abgaben zu leisten. Bei Handwerkern und Händlern konnte es vorkommen, dass der Zehnt nicht nur in Naturalien, sondern auch in Geld gefordert wurde – die Geburt der Steuern …
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