Ulrich von Wengland

Im Königreich Wengland herrscht im Jahr 1260 nach dem Tod des alten Königs Martin große Trauer. Sein Nachfolger Prinz Ulrich muss vor der Thronbesteigung eine Zeit der Einkehr einhalten, so will es die Tradition. Doch der Reichsvogt, der für ihn Wengland verwalten soll, hat nur beschränkte Vollmachten. Das weiß auch Ranador, König der mit Wengland seit Urzeiten verfeindeten Wilzen. Wengland ist in großer Gefahr …

Kapitel 1

Ruhe sanft, Martin!

 

 

Wengland erlebte in diesem Jahr 1260 seinen wohl traurigsten Sommer. Nach schwerer Krankheit verstarb Königin Regina am 15. Juni im hohen Alter von knapp neunundsiebzig Jahren. Kaum war sie beigesetzt, da wurde der fast achtzigjährige König Martin sehr krank. Den Tod seiner über alles geliebten Frau konnte der alte König nicht verwinden. Seine Söhne Ulrich und Eginhard waren schon seit vielen Jahren tot, und der frühe Tod seiner Söhne hatte König Martin schwer getroffen. Aber nichts kam dem Schmerz gleich, der ihn seit dem Tod seiner geliebten Regina peinigte. Der alte König fühlte sein Ende nahen und ließ seinen Enkel Ulrich kommen, den einzigen Sohn seines ältesten Sohnes Ulrich, der nun der Thronerbe war.

Ulrich war ein junger Mann von knapp fünfundzwanzig Jahren, mit einer Größe von sechs Fuß hochgewachsen und sehr schlank. Dichte, dunkelbraune Locken umrahmten ein feingezeichnetes, schmales Gesicht, aus dem warme Augen leuchteten, die die Farbe dunklen, transparenten Bernsteins hatten und in denen die Intelligenz des jungen Mannes nicht zu übersehen war. Weil seine Mutter am 8. Oktober 1235 bei seiner Geburt gestorben war, sein Vater vier Jahre später einer Pockenepidemie zum Opfer gefallen war und sein Onkel Eginhard 1243 bei einem Turnier unglücklich zu Tode gestürzt war, hatte Martin Ulrich junior schon seit dem zarten Alter von vier Jahren konsequent zum Thronfolger erzogen. Er hatte ihn von den besten Waffenmeistern seines Reiches unterrichten lassen und sich selbst viel Zeit für ihn genommen. Ulrich hatte viel von seinem Großvater. Nicht nur, dass die meisten Höflinge behaupteten, er sähe ihm sehr ähnlich, ja er sei das getreue Abbild des jungen Martin von Wengland; nein, er war wie sein Großvater ein ausgezeichneter Schwertkämpfer, ein zielsicherer Bogenschütze und galt als im Turniergestech beinahe unschlagbar. Als professioneller Turnierritter hätte er ein Vermögen verdienen können. Doch Ulrich zeichnete die gleiche persönliche Bescheidenheit aus, die auch seinem Großvater zu Eigen war. Außerdem hatte er den ausgeprägten Gerechtigkeitssinn seines Großvaters geerbt, und das hatte in ihm früh das Interesse an den Gesetzen seines Landes geweckt. Ulrich arbeitete gerade an einer Sammlung der in Wengland gültigen Gesetze, als seine Großmutter – für ihn geliebte Mutter – plötzlich erkrankte und kurz danach verstarb. Der junge Mann trauerte noch um die Großmutter, als der Diener des Königs ihn nun zu seinem Großvater rief.

Ulrich trat in das Schlafgemach seines Großvaters ein und wurde blass, als er den kränklichen Zustand des alten Mannes bemerkte. Solange er seinen Großvater kannte, war er ein Mann von eiserner Gesundheit und starker Natur gewesen. Diese starke Natur hatte den König auch schwere Verletzungen bald überwinden lassen. Aber nun schien den alten Mann jeglicher Lebensmut verlassen zu haben.

„Großvater – du nicht auch!“, entfuhr es dem jungen Ritter erschrocken.

„Ulrich, komm her!“, befahl Martin. Seine Stimme klang matt und brüchig. Schweigend trat Ulrich an das Bett seines Großvaters.

„Setz dich, mein Junge“, setzte der alte Mann dann sanft hinzu. Gehorsam setzte sich der Prinz.

„Ulrich – ich werde meiner Regina folgen, daran führt kein Weg vorbei“, erklärte Martin matt.

„Nein, Großvater! Lasst mich noch nicht allein!“, rief Ulrich, als könnte die Lautstärke seinen Großvater retten.

„Ulrich!“, erwiderte der König mit gewisser Schärfe. „Du musst dich schon zusammennehmen!“

Er winkte die Diener hinaus, die Tür schloss sich leise hinter ihnen.

„Es ist nicht leicht für dich, mein Junge, das weiß ich nur zu gut. Fünfzig Jahre ist es her, da saß ich – so wie du jetzt – am Sterbebett meines Vaters Rudolf. Mein Vater hat mir damals deutlich gemacht, dass sich meine Trauer auf die Beisetzung und meine Privatsphäre zu beschränken hat. Wenn du allein bist, mein Sohn, kannst du dein Gemach getrost unter Wasser setzen, wenn dir vor Trauer nach Heulen zumute ist. Aber tue es nie in der Öffentlichkeit! Wenn ich tot bin, trägst du die Verantwortung für Wengland und die guten Beziehungen zu unseren Nachbarn. Du wirst dafür all deine Kraft brauchen. Öffentliche Trauer ist dir dabei nur sehr, sehr hinderlich.

Suche dir beizeiten eine Frau. Es wird Zeit, dass du heiratest und dem Reich einen Erben gibst. Suche dir eine Frau, wie Königin Regina es war. Sie war mir nicht nur eine wunderbare Königin, sie war mein bester Ratgeber, meine Freundin, meine Geliebte – und zur Not meine Klagemauer. Wenn Wengland dir ein solches Juwel nicht bieten kann, sieh dich unter den Töchtern Scharfenburgs um. Ich kann es dir aus eigener Erfahrung nur empfehlen.“

 

Für einen Moment kehrte jenes Glitzern in die Augen des alten Königs zurück, das ihn berühmt gemacht hatte. Viele nannten dieses Funkeln das Feuer der Gerechtigkeit. Martins stets milde Gerechtigkeit hatte ihm den Beinamen der Gütige eingetragen, aber die meisten seiner Untertanen nannten ihn den Großen. Mehr als fünfzig Jahre lang hatte Wengland in Frieden mit seinen Nachbarn gelebt. Der letzte Krieg lag nun schon bald sechzig Jahre zurück. Martin hatte alles daran gesetzt, den Frieden zu erhalten, was nicht hieß, dass er leichtfertig zurückgesteckt hatte. Dennoch hatte es sogar mit den Wilzaren keine Handgreiflichkeiten gegeben. Nur zu diplomatischen Querelen war es mit den kriegerisch veranlagten Wilzaren gelegentlich gekommen.

„Ulrich, mein Junge, ich hinterlasse dir ein Reich, in dem Frieden ist, in dem es den Menschen gut geht. Presse nie deine Untertanen. Lasse ihnen Freiheit und fordere nie mehr als zehn Prozent ihrer Einnahmen. Das genügt, um dir einen königlichen Hof zu finanzieren und dir ein Heer zu halten, das Wengland vor äußeren Feinden schützen kann. Vermeide unnötigen Prunk, der nur Neid hervorruft, halte deine Grafen möglichst an einer kurzen Leine, damit sie das Volk nicht unnötig durch Fronarbeiten von seinem Broterwerb abhalten. Erhalte dir die Freundschaft deines Volkes. Das ist viel wichtiger, als dass deine Grafen deine Freunde sind. Auf ein dir ergebenes Volk kannst du zählen, auf Grafen, die es eventuell auf deinen Thron abgesehen haben, nicht. Das heißt aber nicht, dass du nun die Grafen knechten sollst. Knechte niemanden! Sei du der erste Diener deines Volkes“, erklärte Martin eindringlich. Er nahm Ulrichs rechte Hand, zog den königlichen Siegelring von seinem eigenen Finger und steckte ihn Ulrich an.

„Dies ist das Siegel, das dich zum Regenten dieses Landes macht. Du hast in den letzten Jahren gesehen, dass ich versucht habe, dieses Land möglichst sanft und milde zu regieren. Was meine Regierungszeit anbelangt, kann ich getrost vor unseren Herrn treten. Bei allem, was du tust, mein Junge, frage dich zuerst, ob du es vor Gott verantworten kannst, dann, ob du es vor deinem Volk verantworten kannst und erst dann, ob es dir selbst einen Vorteil bringt. Du wirst einmal König von Gottes Gnaden genannt werden. Erweise dich Gottes Gnade für würdig.

Von diesem Augenblick an bist du der Prinzregent von Wengland. Ich weiß, dass Regierung eine schwere Bürde ist. Aber ich glaube, dass Regina und ich dich mit allem ausgerüstet haben, was du für eine weise Regierung deines Volkes brauchst. Deshalb lege ich das Wohl unseres Volkes getrost in deine Hände. Sei ein ritterlicher Fürst. Scheue dich nicht, dein Leben aufs Spiel zu setzen, wenn das Wohl des Volkes – auch einer einzelnen Person – es erfordert. Scheue dich auch nie, vorsichtig zu sein und einen Plan noch einmal zu überdenken. Verlasse dich nie nur auf deine Ratgeber! Gott hat dir einen Kopf zum Denken gegeben! Benutze ihn, denn du hast die nötige Intelligenz.

Nur eines darfst du niemals tun: Sperre kritische Geister nicht ein! Setze dich mit ihnen auseinander. Wenn ihre Argumente und Vorschläge gut sind, kannst du ihnen folgen. Sind ihre Argumente schlecht, wirst du passende Antworten finden. Aber wenn du sie einsperrst oder verfolgst, werden sie immer mächtiger. Denke daran, mein Sohn!

Die Tradition verlangt, dass du vor deiner Krönung drei Monate in das Kloster Wachtelberg gehst, um dich in Ruhe auf die Bürde der Königskrone vorzubereiten. Nutze diese Zeit! Lerne, Gottes Stimme zu hören und seine Gebote zu befolgen. Vertraue ihm, denn er wird dich führen. Es ist auch eine Zeit, in der du deine Trauer um deine Großeltern bewältigen kannst. Es ist keine Schande, zu weinen, wenn es niemand sieht, außer Gott.“

Ulrich sah auf seinen Ringfinger, betrachtete das Siegel.

„Über all diese Dinge haben wir doch schon gesprochen, Großvater“, sagte er dann.

„Ich möchte, dass du es dir noch einmal in Erinnerung rufst. Du kannst nicht oft genug an das Wohl deines Volkes denken“, erwiderte der König.

„Gilt das auch für eine Heirat?“

„Sicher. Auf jeden Fall langfristig. Such dir deine Frau, wo immer du magst. Nur vor den Wilzaren hüte dich, mein Junge! König Havarik war verschlagen und falsch, König Livor war nicht besser und dem jetzigen König Ranador traue ich nicht über den Weg. An deiner Stelle würde ich keine Wilzarin heiraten, das würde dir nicht nur dein Volk übel nehmen, das würde kein Volk in unserer christlichen Nachbarschaft verstehen. Sieh dich also vor. Ansonsten kannst du deine Frau frei wählen. Sei dir nur sicher, dass du sie liebst, dass sie dich liebt und dass dein Volk sie lieben kann. Als ich nach vielen Schwierigkeiten meine Regina endlich heiraten wollte, befanden sich Wengland und Scharfenburg im Krieg miteinander. Mir war klar, dass Regina nur meine Frau werden konnte, wenn wir Frieden mit Scharfenburg haben würden. Also habe ich mich um Frieden bemüht. Solche Frauen wie meine Regina gibt es nicht oft. Sie sind wie Diamanten im Wüstensand. Aber wenn dir eine begegnet, wirst du sie erkennen. So viel hast du von deinem Großvater“, lächelte Martin.

„Großvater – ich bin nicht du“, wandte Ulrich ein.

„Das redest du dir ein, mein Sohn“, entgegnete der alte Mann. „Du bist der Sohn meines Sohnes, der Kronprinz von Wengland. Ich habe bisher nicht feststellen können, dass du für das Königsamt nicht geeignet wärst. Dass du Zweifel an dir selbst hast, ist natürlich. Ich hatte sie auch. Aber ich kann dir aus Erfahrung sagen, dass das Amt viel Verstand mit sich bringt.“

Er schloss die Augen.

„Lass den Grafenrat kommen, mein Junge“, bat er. Ulrich nickte, stand auf und ging hinaus.

Martin schlug die Augen noch einmal auf und sah zur Decke, an der unter den anderen Wappen des Königreichs Wengland auch das Wappen derer von Ibelin angebracht war. Ein seliges Lächeln schlich sich auf das Gesicht des alten Königs, als er an seinen geliebten Onkel Roland von Ibelin dachte, seinen Erzieher, der ihn zusammen mit seiner Gemahlin Gaëlle alles gelehrt hatte, was ein König wissen musste – und vieles darüber hinaus. Beide mochten ihre eigentlich zweiten Namen angenommen haben, um Verfolgung zu entgehen, doch für ihn waren sie immer die geblieben, als die er sie an seinem achten Geburtstag kennen gelernt hatte. Martin dachte an Ibelin und Jerusalem, wo er mit seinen Erziehern eine Zeitlang hatte leben dürfen. Er schloss die Augen und war wieder dort; in dem rustikalen Gutshaus, vor dem Totentanz …

Quod sumus hoc eritis … So, wie wir sind, so wirst du sein“, zitierte er den Spruch des Totentanzes, den er damals vor fast siebzig Jahren in Ibelin gelesen hatte. „Onkel Roland … Tante Gaëlle … ich komme heim …“, flüsterte er. „Ibelin, Jerusalem … ich komme … Je… ru… salem …“

Leise machte sich seine Seele auf den Pfad zum Himmel. Es war der 12. Juli 1260, der Tag nach dem wenglischen Nationalfeiertag, den Martin unbedingt noch hatte erleben wollen. Am 11. Juli 1210 hatte er mit Regina Wenglands Thron bestiegen. Der 11. Juli 1260 war sein goldenes Thronjubiläum gewesen. Mit fünfzig Jahren Regierungszeit gehörte Martin II. zu den am längsten regierenden Königen Wenglands.

 

„Seine Majestät verlangt nach dem Grafenrat“, sagte Ulrich draußen vor der Tür zu dem Diener, der vor der Tür stand. Unter König Rudolf war der Thronrat, dem seit der Gründung Wenglands im Jahr 887 nur die Grafen der sieben größten Grafschaften Wenglands angehört hatten, auf Anregung von dessen Sohn Martin 1205 zum Grafenrat geworden, in dem alle Grafen Wenglands Mitspracherecht hatten.

„Ich hole die Grafen, Königliche Hoheit“, erwiderte der Diener mit einer Verbeugung und ging fort. Bald kehrte er mit den elf Grafenratsfürsten zurück. Zusammen mit Ulrich, dem Grafen von Steinburg, war der Grafenrat vollständig. Gemeinsam betraten die Grafen das Gemach des Königs. Graf Wedigo von Eichgau sah den König an – und wusste, dass er einen Toten sah.

„Holt sofort den Medicus!“, befahl er einem Diener, der auch sogleich davoneilte.

Wenig später war der Medicus zur Stelle.

„Seine Majestät ist tot. Er ist ganz friedlich eingeschlafen“, sagte der Arzt.

Graf Wedigo wandte sich an Ulrich:

„Der König ist tot – es lebe der König!“

Ulrich schüttelte den Kopf.

„So dürft Ihr mich erst nennen, wenn die Krönung vollzogen ist. Bis dahin bin ich wohl der Thronfolger und Prinzregent, aber noch nicht der König. Traditionsgemäß werde ich mich für drei Monate in das Kloster Wachtelberg begeben. Ich bitte Euch, bis zum Tag meiner Krönung einen Reichsvogt zu bestimmen, damit das Reich nicht ohne Regierung ist“, erwiderte er.

Die Grafen des Rates sahen sich verblüfft an. Graf Siegbert von Karlsfeld fand als Erster die Sprache wieder:

„Wahrlich: Ihr seid der Enkel Eures Großvaters. Als Thronfolger habt Ihr das Vorschlagsrecht. Wer soll das Reich bis zu Eurer Krönung verwalten?“

Ulrich sah in die Runde. Sein Blick blieb schließlich an Siegbert hängen.

„Ihr seid der Älteste, Graf Siegbert. Deshalb schlage ich Euch für das Amt des Reichsvogtes vor“, entschied der Prinz. Die Grafen waren von dem Thronfolger mehr beeindruckt, als sie zugeben mochten. Dem nicht ganz Fünfundzwanzigjährigen hatten sie nicht zugetraut, kluge Entscheidungen zu treffen. Offenbar hatten sie nicht bemerkt, dass Ulrich seinem Großvater in den letzten sieben Jahren kaum von der Seite gewichen war. Der junge Prinz hatte sich bislang unauffällig benommen und sich zu den Problemen der Reichsführung nicht gegenüber den Grafen geäußert. Aber er hatte zugehört und sich mit den anstehenden Aufgaben mehr auseinandergesetzt, als der Grafenrat es vermutet hatte. Die Grafen waren einverstanden. Siegbert wurde im Sterbezimmer des alten Königs zum Reichsvogt bestimmt und sofort auf die Bibel des Königs vereidigt.

Ulrich seufzte leise.

„Bitte, Ihr Herren – lasst mich mit meinem Großvater allein“, bat er. Wedigo begriff und schob seine Fürstenkollegen diskret aus dem Raum. Als die Tür geschlossen war, brach die Beherrschung des Prinzen zusammen. Er fiel auf die Knie und weinte bitterlich.

 

Am darauf folgenden Tag wurden König Martins sterbliche Überreste im Dom zu Steinburg aufgebahrt. Reitende Boten wurden ausgesandt, um den Tod des Königs bekannt zu machen. In Wengland herrschte Trauer. Nicht, weil der Reichsvogt Staatstrauer angeordnet hatte, sondern weil das wenglische Volk seinen König geliebt hatte. So lange es Wengland als eigenes Staatsgebilde gab, war noch kein König oder Herzog so sehr – schon fast närrisch – in Ehren gehalten worden. Der Strom derer, die Martin II. die letzte Ehre erweisen wollten, riss nicht ab. Während der dreitägigen Aufbahrungszeit war ständig eine nicht enden wollende Schlange von Menschen vor dem Dom – und die Besucher schämten sich ihrer Tränen nicht. Der alte König war ein sicherer Garant für Frieden gewesen. Es gab viele Bürger, die nach Martins Tod Angst vor dem hatten, was da kommen würde – und sie ahnten nicht einmal, wie begründet ihre Angst war.

Am dritten Tag nach seinem Tod wurde der verstorbene König feierlich beigesetzt. Die Totenmesse und die Beisetzung in der Königsgruft in der Domkrypta waren so massenhaft besucht, dass es Reichsvogt Siegbert unbehaglich wurde. Aber Martin hatte in seinem Testament ausdrücklich verfügt, dass seine Beerdigung für jeden seiner Untertanen zugänglich sein sollte. Nicht nur das Volk hatte seinen König geliebt, der König hatte auch sein Volk geliebt. Eine Stunde nach der Beisetzung reiste Ulrich nach Wachtelberg ab. Er brauchte jetzt dringend geistlichen Trost, den er sich von den traditionellen Exerzitien erhoffte. Der Reichsvogt sandte erneut Boten aus, die die Thronfolgeregelung und den voraussichtlichen Krönungstermin des Kron­prinzen bekannt machten.

Graf Irnwart von Südwengland kehrte nach Rothenfels, der Hauptstadt Südwenglands, zurück. Diese an Wilzarien grenzende Provinz war wenige Jahre vor der Thronbesteigung König Martins nach einer mehrmonatigen wilzarischen Besetzung durch das militärische Geschick des damaligen Kronprinzen zurückerobert geworden. War Martin schon sonst in Wengland ein beliebter und geschätzter Monarch gewesen – hier verehrte man ihn besonders. Seine gütige und gerechte Herrschaft hatte die Wunden der wilzarischen Besetzung heilen können. Graf Irnwart war immer noch tief vom Tod des Königs getroffen – und er hatte gleich eine böse Ahnung.

„Gott sei Prinz Ulrich gnädig“, brummelte er, als er in der Rüstkammer seine Waffen ablegte.

„Was meint Ihr damit, Herr?“, fragte sein Diener, der ihm die Rüstung abnahm.

„König Martin ist tot“, sagte Irnwart leise. „Prinz Ulrich leistet die traditionellen Exerzitien und Graf Siegbert hat als Reichs­vogt nur beschränkte Vollmachten. Unser südöstlicher Nachbar wird nicht lange warten, fürchte ich. Ranador ist wie sein Vater und sein Großvater auf Südwengland scharf“, orakelte er düster.

„Ihr solltet den Reichsvogt warnen, Herr“, empfahl der Diener.

Irnwart schüttelte den Kopf.

„So klug ist der Reichsvogt auch“, entgegnete er – und unterließ es, Graf Siegbert zu warnen.

 

 

 

Kapitel 2

Hinterlist

 

Noch am selben Abend des Tages, an dem König Martin verstorben war, ritt ein eiliger Bote von der wilzarischen Gesandtschaft zu Steinburg nach Wilzaris, der Hauptstadt des Wilzarenreiches. Fürst Aldaron, der Gesandte des wilzarischen Königs, beließ es zunächst bei einer förmlichen, schriftlichen Beileidsbekundung an den Reichsvogt.

 

Als der Bote Wilzaris mitten in der Nacht erreichte, konnte sein Leibdiener es wagen, den König sofort zu wecken, hatte König Ranador doch einst die Anweisung gegeben, ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit augenblicklich zu informieren, wenn in Wenglands Königshaus etwas geschah. So wurde König Ranador zu nächtlicher Stunde vom Ableben seines Hauptfeindes Martin unterrichtet. Schon längere Zeit hatte er sich mit dem Gedanken getragen, einen neuen Eroberungsversuch zu machen. Aber er hatte es nicht gewagt, solange der König noch lebte.

„Wohl, wohl, dafür hat es sich gelohnt, mitten in der Nacht aufzustehen!“, frohlockte Ranador.

„Herr, Reichsvogt Siegbert kann das Heer nur mit drei anderen Grafen des Rates alarmieren“, setzte der Bote noch zu seinem Bericht hinzu. Der König nickte wohlwollend.

„Du weißt, worauf es ankommt“, lobte er den Boten, der unterwürfig vor ihm kniete.

„Hesekar, mein Kanzler, gib Fürst Aldaron Nachricht! Sagor wird schon etwas einfallen“, befahl Ranador seinem obersten Beamten, der inzwischen hinzugeholt worden war.

„Ja, Herr“, verbeugte er sich gemessen.

 

In der Woche darauf wurde Fürst Sagor von Aldaron, der als Gesandter Wilzariens in Steinburg lebte, ein Bote aus Wilzaris gemeldet, und das Unheil nahm seinen Lauf.

„Lasst den Boten ein!“, wies Aldaron seinen Diener an. Der Bote trat ein, fiel vor dem Fürsten zu Boden und machte den vorgeschriebenen Kotau*.

„Was bringst du?“, fragte Aldaron.

„Eine Botschaft für den großen Aldaron“, sagte der Bote, noch immer vor den Füßen des Fürsten liegend.

„Steh auf!“, sagte der Fürst und nahm das Schreiben seines Herrn. Mit interessierter Miene las er den unmissverständlichen Befehl, den Grafenrat außer Gefecht zu setzen, damit Wengland erobert werden könnte.

„Nur zu gerne!“, knurrte er schließlich. „Lass dir ein frisches Pferd geben, reite sogleich zurück und bestelle Seiner Majestät, dass ich seinen Auftrag gewissenhaft ausführen werde. Sag ihm, dass ich versuchen werde, die Grafen für die kommende Woche in das Jagdhaus Aventur nach Südwengland einzuladen. Sollte das nicht gehen, sende ich eine Brieftaube und teile mit, was ich dann unternehme.“

Der Bote verneigte sich tief, bestätigte den Auftrag und ritt sogleich wieder aus Steinburg fort.

Aldaron wandte sich an seinen Diener:

„Geh zur Königsburg. Sag dem Reichsvogt, dass der Gesandte Wilzariens um eine Audienz ersucht.“

Der Diener verbeugte sich und eilte sogleich zur Steinburg. Wenig später war er zurück.

„Herr, der Reichsvogt erwartet Euch im Thronsaal der Burg.“

Aldaron zwirbelte sich den Schnurrbart.

„So einen Spaß habe ich mir schon lange nicht mehr gemacht!“, grinste er.

 

Umgehend erschien der Gesandte in der Burg. Zwei Herwigsgardisten geleiteten ihn in den Thronsaal. Der Königsthron am Kopfende des Saales war mit schwarzem Tuch zum Zeichen der Trauer verhüllt. Schwert und Zepter lagen gekreuzt auf den Armlehnen des Thronsessels. Siegbert von Karlsfeld, der Reichs­vogt und die anwesenden Grafen des Grafenrates – Wedigo von Eichgau, Armin von Eschenfels, Timotheus von Sachstal, Irnwart von Südwengland und Benedikt von Wachtelberg – standen vor dem Thron, als Aldaron eintrat.

„Seid gegrüßt, Fürst Aldaron. Ihr hattet um ein Gespräch gebeten?“

„So ist es“, erwiderte der Gesandte und verneigte sich. „Mein Herr, König Ranador von Wilzarien, hat durch mich vom Ableben Seiner Majestät, König Martin II. von Wengland erfahren. Er entbietet Euch durch mich sein Beileid“, verkündete der Wilzare. „Ihr seht wirklich betrübt aus“, setzte er dann hinzu.

„Wir haben unseren König geliebt, Fürst“, erwiderte Siegbert. „König Martins Tod ist ein schwerer Verlust für Wengland.“

Aldaron sah die Thronräte an.

„Erlaubt, dass ich Euren düsteren Mienen etwas Helle verleihe. Sonst war um diese Zeit die Königsjagd in Südwengland. Ich habe diese Jagd immer sehr genossen und möchte sie nicht missen. Ich weiß, dass Euch die Trauervorschriften die Ausrichtung der Jagd verbieten. Deshalb möchte ich die Jagd dieses Jahr veranstalten“, bot der Wilzare an. Siegbert schüttelte den Kopf.

„Wir können in der gegenwärtigen Situation nicht alle Steinburg verlassen – ich schon gar nicht“, gab der Reichsvogt zu bedenken.

„Oh, wie schade“, erwiderte Sagor Aldaron mit gut verdeckter Heuchelei. „Ich hatte wenigstens vier Fürsten des Grafenrates eingeplant. Insbesondere natürlich Euch, Graf Siegbert, und den Kronprinzen. Ich vermisse seine Königliche Hoheit übrigens. Wo ist er?“

„Seine Hoheit befindet sich für einige Zeit auf Reisen. Er wird erst zur Krönung zurück sein“, erwiderte Siegbert, was nur halb geschwindelt war. Schließlich war Prinz Ulrich ja tatsächlich nicht in Steinburg. Der Reichsvogt hatte ein ungutes Gefühl, dem Wilzaren mitzuteilen, wo sich der Thronfolger aufhielt. Unter König Martin hatte es seit Jahrzehnten zwar keinen Krieg mehr mit den Wilzaren gegeben, aber gegen dieses Volk hatten Wengländer immer noch ein tiefsitzendes Misstrauen, das von Generation zu Generation weitervererbt wurde.

„Wäre es denn möglich, eine Jagd in unmittelbarer Nähe von Steinburg zu organisieren?“, hakte Aldaron nach. Siegbert sah seine Grafenratsgefährten an, die ihre Enttäuschung über die ausfallende Jagd am Aventur nur schlecht verbergen konnten.

„Wenn Ihr in Botenweite von Steinburg bleibt, ist es kein Problem“, gab der Reichsvogt nach und meinte, damit die Grafen des Grafenrates für Notfälle in greifbarer Nähe zu haben.

„Nun, dann lasst uns nächsten Sonntag auf die Jagd gehen“, schlug Aldaron einen Termin vor. Die Grafen waren einverstanden. Der Gesandte verabschiedete sich und verließ die Burg, um die Jagd vorzubereiten.

 

Aldaron war kaum im Hause der Gesandtschaft, als er schon eine Botschaft an König Ranador schrieb, sie einer Brieftaube anheftete und das Tier gen Wilzaris auf die Reise schickte. Schon einen Tag später hielt König Ranador die Nachricht aus Steinburg in der Hand.

„Ausgezeichnet!“, lobte der König. „Feldherr Siram soll kommen!“, befahl er dem wartenden Diener.

Wenig später war Siram zur Stelle.

„Ihr habt mich rufen lassen, Herr?“, fragte er in unterwürfiger Verbeugung

„Siram, wie schnell könnt Ihr das Heer zusammenrufen?“, fragte Ranador.

„Fürst Bonat und Fürst Tungur sind mit ihrem gesamten Heer zum Turnier nach Wilzaris gekommen. Damit haben wir fünftausend Mannen in Wilzaris selbst. Mit den noch in Bonat befindlichen Teilen des Heeres und Euren eigenen Mannen sind in fünf Tagen sämtliche unter Waffen stehenden Männer zu mobilisieren“, erklärte der Oberbefehlshaber des wilzarischen Heeres.

„Dann ruft alle sofort zusammen! Am sechsten Tag marschiert das Heer gegen Wengland!“, trug der König seinem Feldherrn auf. Siram verbeugte sich und schlug mit der Faust gegen seine Brust.

„Heil, König Ranador!“, rief er aus. „Schon lange brennen Eure Soldaten darauf, die Schmach von Wilzaris zu rächen!“

„Dann geh und räche meinen Ahn“, entließ Ranador den gehorsamen General.

 

Der Sonntag kam heran, es war der 1. August 1260. Außer Ulrich, der im Kloster Wachtelberg meditierte und Siegbert, der in Steinburg blieb, erschienen sämtliche anderen Grafen Wenglands zur Jagd im Siebensteinforst, der bis ans Südwestufer des Steinburger Sees heranreichte und sich über fast fünfzig Meilen in südwestliche Richtung erstreckte. Der Wald war außerordentlich wildreich und galt als beliebtes Jagdrevier der Steinburger Grafen.

Es war üblich, dass der Jagdveranstalter den Jägern Treiber zur Verfügung stellte. Diese Verpflichtung war für Aldarons Vorhaben besonders günstig. Er teilte den Grafen jeweils zehn Treiber zu, mit denen sie dann in getrennten Gruppen auf die Pirsch gingen. Im Jagdeifer bemerkten die Fürsten nicht, dass ihre Treiber sie immer weiter von Steinburg weglockten.

Fünf Meilen von der Hauptstadt entfernt zückten die Treiber plötzlich ihre Dolche. Ehe die überraschten Grafen reagieren konnten, waren sie überwältigt und wie Karawanensäcke verschnürt. Die Treiber warfen ihre Gefangenen auf die unbequemen Karren, die für das erlegte Wild vorgesehen waren und brachten sie in das im Forst gelegene Jagdschloss der Steinburger Grafen, das nur zur Jagdzeit im Herbst bewirtschaftet war, die übrige Zeit des Jahres aber unbewohnt war. Die Jäger waren selbst zur Beute geworden. Die Grafen wurden scharf bewacht, während Aldaron eine Brieftaube nach Wilzaris schickte, die die Erfolgsmeldung bei sich trug.

 

Als es dunkel wurde, und die Jagdgesellschaft noch nicht zurückgekehrt war, begann Siegbert, sich Sorgen zu machen. Niemand hatte die zur Jagd gerittenen Fürsten nach dem Abrücken wieder gesehen. Für eine groß angelegte Suche war es jedoch schon zu dunkel und so verschob der Reichsvogt die Suche auf den folgenden Tag. Seine Hoffnung, die Grafen würden im Laufe der Nacht zurückkehren, wurde betrogen. Am Morgen war noch immer keiner der Jäger aufgetaucht. Siegbert setzte fünfzig Mann der Herwigsgarde auf die Spur der Jäger. Es war die maximale Anzahl von Soldaten, die der Reichsvogt in seinen beschränkten Vollmachten ohne Genehmigung des Grafenrates einsetzen durfte. Der Grafenrat hatte immer eifersüchtig über seine Kompetenzen gewacht – und eine davon war, dass das Heer nur vom König selbst oder mit der Zustimmung von mindestens vier Grafen mobilisiert werden durfte.

Siegbert wanderte unruhig im Thronsaal auf und ab, bis die Herwigsgardisten am Abend ergebnislos zurückkehrten.

„Nichts, Herr“, meldete ihr Anführer. „Wir haben zwar einige erlegte Wildstücke gefunden, aber es gibt keine Spur von den Grafenratsfürsten und ihren Treibern.“

„Die können doch nicht im Erdboden versunken sein!“, stieß Siegbert hervor.

„Weder Treiber noch …“

„Halt, was war das?“, unterbrach Siegbert den Hauptmann. „Weder Treiber noch Jäger?“

Der Reichsvogt blieb wie angewurzelt stehen.

„Die Wilzaren! Sie hecken was aus! Aldaron hat die Jagd veranstaltet, also hat er auch die Treiber gestellt!“, rief er erschrocken. „Alarmiert sofort die Grenzwachen!“

„Aber, Reichsvogt, Ihr …“

„Zum Teufel mit den Vollmachten!“, fluchte Siegbert. „Beeilt Euch, damit noch was zu retten ist!“, befahl er. Die Herwigsgardisten stürmten davon und galoppierten in die Nacht hinaus, um die Grenzwachen zu alarmieren.

 

Ihre Warnung kam zu spät. Sofort nach Eintreffen der Brieftaube in Wilzaris hatte Ranador den Befehl zum Angriff gegeben, und im Morgengrauen des 2. August 1260, an dem Siegbert noch nach seinen Amtsgenossen suchen ließ, hatten die wilzarischen Soldaten die wenglische Grenze an vielen Stellen überschritten und sofort jeden angegriffen, der sich ihnen in den Weg stellte. Nichts hielt ihnen stand. Rothenfels wurde überrannt, die verwaiste Burg gebrandschatzt, die wenigen Soldaten des Provinzgrafen fielen oder wurden als Gefangene hingerichtet. Wer nicht vor den Wilzaren floh, wurde gnadenlos niedergemetzelt, gleich, ob es Männer, Frauen oder Kinder waren.

Scharen von Flüchtenden strömten in Richtung Steinburg, hart verfolgt von einem gut dreißigtausend Mann starken wilzarischen Heer. Jede Hoffnung, weiter in Richtung Steinburg auf die eigenen Soldaten zu treffen, war vergebens. Wengland hatte in Friedenszeiten knapp tausend Mann als Grenzwachen um das ganze Königreich postiert. Die im Bereich der wilzarischen Grenze befindlichen dreihundert Mann waren gleich die ersten, die dem Ansturm der Wilzaren zum Opfer gefallen waren – und die anderen hatten keine Chance.

Ohne alarmiertes Heer war Wengland wehrlos. Das wilzarische Heer unter dem Feldherrn Siram eroberte den südöstlichen Anteil Wenglands, ohne auf nennenswerte Gegenwehr zu stoßen. Innerhalb einer guten Woche waren die Wilzaren in Steinburg. Erst hier trafen sie auf den ersten Widerstand, doch gelang es Sirams Männern, die Stadtmauer im Schutz der Dunkelheit zu überklettern und die Tore zu öffnen. Nur in die Steinburg selbst kamen sie nicht hinein, weil die Burg unzugänglich auf einem recht steilen Berg auf einer Halbinsel im Alvedra lag und nur über einen durch eine Zugbrücke unterbrochenen Weg zu erreichen war. Die Brücke lag im Schussfeld der Burgbesatzung, wodurch sie gut geschützt war. Die kleine Burgbesatzung leistete erbitterte Gegenwehr, aber sie konnte das Volk außerhalb der Mauern nicht vor dem Feind beschützen …

„Ergebt Euch, Wengländer!“, forderte der von Siram ans Burgtor geschickte Parlamentär.

„Nein!“, rief Siegbert von der Mauer zurück. „Die Burg müsst Ihr schon erobern.“

„Wenn Ihr Euch nicht ergebt, wird die gesamte Bevölkerung hingerichtet!“, drohte der Parlamentär. „Wir geben Euch bis Mittag Zeit.“

Siegbert sah nach dem Sonnenstand. Die Mittagsstunde war nicht mehr weit.

„Haben wir eine Chance, uns länger zu verteidigen?“, fragte der Reichsvogt.

„Die Vorräte sind sehr knapp, Herr. Wir haben nur für zwei Tage Lebensmittel“, erwiderte der Hauptmann der Burgbesatzung.

„Hauptmann Daniel, konntet Ihr den Boten zu Prinz Ulrich schicken?“, fragte Siegbert.

„Ja, Herr. Er ist heute im Morgengrauen ausgebrochen.“

„Wen habt Ihr geschickt?“

„Sebastian.“

Siegbert wies nach unten auf den Vorplatz der Burg.

„Wenn Ihr mich fragt, hat der Gefangene dort unten verdächtig viel Ähnlichkeit mit Sebastian“, sagte er. Hauptmann Daniel sah hinunter.

„Himmel! Das ist Sebastian!“

„Ulrich wird also nicht erfahren, was die Wilzaren getan haben!“, seufzte der Reichsvogt. „Er würde mir nie verzeihen, dass ich das Leben von Bürgern und Bauern aufs Spiel gesetzt habe, um meinen eigenen Kopf zu retten. Die Burg wird kampflos übergeben.“

„Wie bitte?“

„Ich sagte, dass wir die Burg kampflos übergeben“, raunzte Siegbert.

„Die Steinburg, Herr?“

„Welche sonst? Burg Rothenfels vielleicht? Los, wird’s bald?“, rief Siegbert zornig.

Die kleine Burgbesatzung öffnete das Tor und ergab sich den Wilzaren. Siram schickte eine starke Besatzung in die Burg. Kaum waren die Männer der Herwigsgarde entwaffnet, als Siram befahl, die feigen Hunde der Burgbesatzung sofort zu köpfen. Siegbert musste den Mord an seinen Leuten mit ansehen.

Was?“, empörte sich Siegbert. „Ihr habt uns …“

„Hört genau hin, wenn Euch jemand zur Übergabe auffordert!“, schnauzte Siram. „Ich habe Euch keinen freien Abzug versprochen. Feiglingen gegenüber, die von bloßen Drohungen zu beeindrucken sind, gilt das Wort eines wilzarischen Feldherrn ohnehin nicht.“

„Ihr hättet die Leute also nicht getötet?“

„Selbstverständlich hätte ich sie hinrichten lassen! Ihr habt mich durch Eure Übergabe nur um das Vergnügen gebracht. Aber dafür habe ich Eure Köpfe. Wo ist übrigens Euer Thronfolger?“

„Er war bei der Jagdgesellschaft“, log der Reichsvogt.

„Du lügst, du Hund!“, fuhr Siram den Gefangenen an.

„Er ist in Sicherheit“, sagte Siegbert dann.

Siram hob sein Schwert und setzte es Siegbert an die Brust.

„Sicherheit gibt es für Euren Thronfolger in ganz Wengland nicht mehr. In wenigen Tagen sind meine Männer bis nach Scharfenburg vorgedrungen. Also?“, versetzte der wilzarische Feldherr.

Siegbert schwieg, fasste einen verzweifelten Entschluss. Noch bevor Siram das Schwert wieder wegziehen konnte, stürzte sich der Reichsvogt in die Klinge, um den Aufenthaltsort des Prinzen nicht doch noch unter der Folter preiszugeben. Siram stieß einen derben Fluch aus und befahl seinem Adjutanten, die anderen Grafen des Grafenrates zu befragen.

„Sie sind nach Wilzaris gebracht worden, Herr.“

„Hast du Fürst Aldaron gesehen?“

„Ja, Herr, aber er ist tot.“

„Wer hat ihn getötet?“, fragte Siram mit knurrendem Unterton.

„Er ist von den Wengländern gehängt worden. Seine Leiche hängt am Galgen im Burghof.“

„Und du hast ihn noch nicht abgenommen, du Wurm?“, schrie Siram seinen Untergebenen an, holte mit dem Schwert aus und traf den Mann tödlich.

„Schafft die Reste weg!“, fauchte er zwei seiner Soldaten an, die eilig gehorchten. „Und nehmt den Fürsten vom Galgen ab. Er war ein Held Wilzariens.“

 

 

Kapitel 3

Fürst Siram

 

Am darauf folgenden Tag meldete ein Bote die Ankunft König Ranadors.

„Seine Majestät ist schon hier?“, fragte Siram verblüfft.

„Ja, Herr. Er möchte in der Steinburg Einzug halten.“

„Die Arbeit ist noch nicht getan, Wengland ist noch nicht vollständig erobert“, widersprach der Feldherr.

„Seine Majestät sagt: Die Eroberung Steinburgs bedeutet die Eroberung Wenglands“, entgegnete der Bote.

„Ich stehe meinem Herrn zur Verfügung“, erwiderte Siram und verbeugte sich.

Wenig später zog Ranador im Triumph in die feindliche Königsburg ein. Siram erwartete seinen Herrn kniend im Burghof.

„Ich beglückwünsche dich, Siram“, sagte der König mit mildem Lächeln. „Es ist bis nach Wilzaris gedrungen, welchen Ruhm du erworben hast.“

„Mein Ruhm ist noch unvollständig, mein Gebieter. Wengland ist erst zur Hälfte erobert, und Prinz Ulrich ist noch nicht in unserer Hand.“

„Das ist eine Frage von wenigen Tagen, Siram“, erwiderte der König sanftmütig. „Erst möchte ich dich belohnen. Komm, erhebe dich und folge mir“, forderte er den Feldherrn auf.

Siram erhob sich und folgte dem König in respektvollem Abstand. Leibgardisten des Königs geleiteten den Hofstaat, zu dem auch ein ganzer Harem von Frauen gehörte, in den Thronsaal.

Mit einer Handbewegung veranlasste Ranador seine Leibwache, das schwarze Tuch vom Thronsessel zu entfernen. Ranador setzte sich gemessen und genussvoll auf den Thron seines Widersachers.

„Siram, wo sind die Insignien des wenglischen Königs? Ich will sie haben.“

Siram kniete ehrfurchtsvoll vor seinem König nieder.

„Die Insignien wurden wohl von der Besatzung versteckt, bevor sie die Burg übergeben haben, Herr.“

„Befrage die Gefangenen. Zepter und Schwert der Könige Wenglands sind meine Beute.“

„Die Gefangenen wurden sofort hingerichtet – wie Ihr befohlen hattet, mein Gebieter.“

„Ohne dass du sie nach den kostbaren Amtszeichen gefragt hast?“

„Ich sollte Wengland für Euch erobern, Herr. Ihr habt mir nicht gesagt, dass Ihr Zepter und Schwert wolltet“, erwiderte Siram und machte Kotau. Jeden anderen hätte Ranador für solchen Widerspruch sofort hinrichten lassen. Bei Siram machte er eine Ausnahme.

„Fordere nicht meinen Zorn heraus, Siram!“, mahnte er. „Deine Leute werden die Burg gründlich durchsuchen, bis sie meine Beute gefunden haben. Aber zunächst sollst du deinen Lohn für deine bisherigen Verdienste haben. Hesekar, mein Kanzler, wo ist mein Schwert?“

„Ich lasse es kommen, Herr.“

Der Kanzler drehte sich um und befahl, den Zeremonien-Bidenhander* des Königs zu holen. Ein Leibwächter des Königs trug das Schwert herbei.

„Siram, komm her und knie vor diesem Thron nieder.“

Der Feldherr gehorchte. Ranador zog das prunkvoll geschmückte Schwert aus der ebenso kostbar verzierten Scheide und hielt es blank in den Händen.

„Siram von Aventur: Als Sohn eines tapferen Fürsten tratest du in die glorreiche Schar meiner Krieger. Du hast dich in ehrlosem Frieden hochgedient und hast in ruhmreichem Kampf Wengland besiegt. Dein Vater, Siram, war vor dir der Fürst von Aventur. Seit seinem Tod vor zehn Jahren ist der Thron verwaist, denn einen Fürstenthron muss ein Mann erobern. Du hast ihn mit der Niederwerfung unseres schlimmsten Feindes – Wengland – erobert. Von nun an sollst du der Fürst Aventurs sein!“

Der König berührte mit dem Schwert Schultern und Haupt des vor ihm knienden Feldherrn.

„Sei mächtig und zeuge viele Söhne, die die unwiderstehliche Kraft ihres Vaters weitertragen. Von heute an hast du ein Anrecht auf den Fürstentrank und den Fürstenharem. Beides wird dich stark machen für deine fürstlichen Aufgaben. Man reiche ihm den Fürstentrank!“

Zwei Diener eilten herbei, einer trug eine Kanne, einer einen goldenen Becher. Der Becher wurde mit dem Trank der tausend Freuden vollgeschenkt. Der König gab einem anderen Diener das Schwert und erhob sich.

„Es ist Sitte, dass der neue Fürst den ersten Becher dieses Trankes vom König selbst erhält und eine Stunde der Freude genießen darf. Richtet einen Raum für den Fürsten her!“

Zwei Diener eilten fort um den Befehl des Königs auszuführen.

Ranador trat zu Siram, gab ihm den Becher, half ihm beim Trinken. Siram nahm den Trank mit genießenden Schlucken. Der Fürstentrank war eine flüssige Delikatesse. Die berauschende Wirkung setzte schnell ein. Siram spürte eine unglaubliche Kraft, die seinen ganzen Körper erfasste. Ein leichter Nebel legte sich um seine Sinne. Er fühlte sich leicht.

„Heram wird dich geleiten, Fürst Siram von Aventur“, hörte er die freundliche Stimme seines Herrn. Der Diener Heram erschien, nahm Siram am Arm und führte ihn aus dem Thronsaal fort.

„Wohin bringst du mich, Heram?“

„In die Fürstenloge, Herr. Der Harem unseres Gebieters ist für den heutigen Tag der deine.“

Heram öffnete eine Tür – und Siram war am Ziel seiner augenblicklichen Wünsche: Mitten im Harem des Königs …

 

Siram wachte auf, als es bereits dunkel war. Der Rausch des Tranks war verflogen, aber er fühlte sich immer noch gut. Das sanfte Kraulen zarter Finger in seinem Haar ließ ihn vor Wonne schnurren. Noch schläfrig schloss er die Augen wieder und gab sich dem wundervollen Kraulen hin, das auch wieder heftiges Begehren auslöste. Leise hörte er ein Gespräch zweier Frauen, das sich um die passende Kleidung für das Fest der Hinrichtung der letzten vier Gefangenen drehte. Siram erfasste plötzlich ein eisiger Schreck. Die Gefangenen konnten nur die verbliebenen vier Grafen des Grafenrates sein! Siram setzte sich abrupt auf.

„Was habt Ihr, Fürst?“, fragte eine sanfte Stimme neben ihm. Es war Adana, die jüngste Tochter des Königs. Ihr warmes Lächeln nahm Siram den ersten heftigen Schreck. Er ließ sich in die Polster zurücksinken. Seine Hand suchte die von Adana.

„Sagt, meine Prinzessin: Welche Gefangenen sollen zur Freude unseres Königs gerichtet werden?“, fragte er und zog die Prinzessin zu sich heran. Sie kam näher und beugte sich über ihn.

„Die Grafen, Fürst“, sagte sie leise und küsste ihn. Siram genoss den Kuss und löste sich vorsichtig daraus.

„Wann soll das geschehen?“, fragte er dann.

„Sobald Ihr gebadet habt und Euch beim König zurückmeldet, Fürst“, erwiderte Adana.

„Wollt Ihr mir einen Gefallen tun, meine Prinzessin?“

Sie nickte.

„Bittet Euren Vater um einen Aufschub der Hinrichtung.“

„Fürst – habt Ihr Mitleid?“, fragte sie belustigt.

„Nein, aber ich weiß noch nicht, wo der Thronfolger steckt. Graf Siegbert hat sich in mein Schwert gestürzt, um den Prinzen nicht zu verraten. Ich muss die Grafen noch befragen, bevor der Henker sie von ihren Strohköpfen befreit“, erwiderte der Fürst.

„Soll ich sofort gehen?“, erkundigte sie sich.

„Vielleicht nicht sofort, schöne Adana. Ihr erfreut mich“, lächelte Siram. „Sagt mir noch: Wie kommt die Tochter des Königs in seinen eigenen Harem?“

„Mein Vater hat mir Euretwegen diese Ehre erwiesen. Ihr solltet doch mit dem Fürstentum Aventur belohnt werden.“

„Ihr gehört doch nicht zum Fürstentum?“

„Nein, aber ich habe ihn um die Ehre gebeten, Teil Eurer Belohnung zu sein. Ihr geltet als tapferster Feldherr meines Vaters.“

„Dann hat mein Herr mir die größte Belohnung gegeben, die er einem neuen Fürsten geben kann. Geht zu Eurem Vater, wenn ich bade“, flüsterte Siram mit glücklichem Unterton und zog die Prinzessin ganz nahe zu sich.

 

Am Morgen ließ sich die Prinzessin bei ihrem Vater melden.

„Guten Morgen, Adana, mein Liebes“, begrüßte der König seine Tochter. Das helle Rot auf ihren Wangen war deutliches Zeichen, dass sie sich gut amüsiert hatte. „Hat es dir gefallen?“

„Ja, mein König. Ich danke Euch für die hohe Ehre. Der Fürst hat eine Bitte an Euch.“

„Warum kommt er nicht selbst?“

„Er badet gerade. Er bittet Euch, die Grafen zunächst noch nach dem Aufenthaltsort des Thronfolgers befragen zu lassen, bevor sie gerichtet werden.“

Ranador sah seine Tochter an.

„Adana, du weißt, dass ein königlicher Befehl nicht widerrufen werden darf. Mein königlicher Befehl lautete, die Enthauptung zu unserer Belustigung beim Frühstück vorzunehmen“, sagte er.

„Und Ihr könnt bestimmt keinen ausnehmen?“

„Es sind nur vier. Ich komme ja völlig um mein Frühstücksvergnügen“, widersprach der König. Aber es fiel ihm schwer, seiner jüngsten Tochter eine Bitte abzuschlagen.

„Na gut, weil du es bist, mein Kind“, seufzte er ob ihres bettelnden Blickes. „Sag dem Fürsten, ich verschiebe die Hinrichtung von Graf Wedigo um eine Stunde – aber nicht länger. Er mag sehen, was er erfahren kann“, bot er an. Adana verbeugte sich und ging fort, um Fürst Siram zu unterrichten.

Der Feldherr überlegte nicht lange, sondern ging sofort in den Burgkerker, um Graf Wedigo zu befragen. Der Gefangene schwieg auf die Fragen des Fürsten. Siram winkte einem Henkersknecht.

„Bring’ ihn zum Reden!“, befahl der Fürst.

„Herr, das wird nicht gehen“, widersprach der Henkersgehilfe. „Er war so aufsässig und frech, dass der Henker ihm heute Nacht die Zunge herausgeschnitten hat.“

Siram fluchte lästerlich.

„Wo sind die anderen?“

In diesem Moment kam der Henker voller Stolz in den Kerker zurück.

„Das hat den König gefreut: Nur ein Schlag für jeden!“, rief er fröhlich.

„Du Unglücksrabe!“, donnerte Siram. „Wer soll mir jetzt sagen, wo der Thronfolger Wenglands steckt?“

 

 

 

Kapitel 4

Hilfesuche

 

In der Nacht zuvor war einem Gefangenen, einem Mönch namens Kasimir aus dem benachbarten Kloster, die Flucht gelungen. Er verstand soweit wilzarisch, dass er begriffen hatte, in welcher Gefahr der Thronfolger Ulrich war. Pater Kasimir war der Beichtvater des Prinzen, wenn der sich in Steinburg aufhielt. Unter den Klosterbrüdern in Steinburg war er der Einzige, der den Aufenthaltsort Ulrichs kannte.

Die Feierlichkeiten zu Sirams Erhebung in den Fürstenstand gaben Kasimir die nötige Zeit, wenn er davon auch keine Ahnung hatte. Der Mönch eilte zu Fuß nach Norden in Richtung Wachtelberg, immer in der Sorge, von den Wilzarenpatrouillen eingeholt zu werden.

 

Weiter im Norden waren die Wilzaren noch nicht vorge­drungen, weil die Eroberung der Steinburg zunächst die Hauptmacht der Wilzaren gebunden hatte. Auf wenglische Soldaten traf der Mönch aber auch nicht. Je weiter die Zeit fortschritt, desto größer wurde die Gefahr, dass auch die nördlichen Provinzen – Oberwengland, Wachtelberg, Eschenfels und Bauzen­stein – ohne Vorwarnung überrannt wurden. Kasimir war im Zweifel, ob er zunächst die Provinzgrafen warnen sollte, oder ob er direkt nach Wachtelberg gehen sollte, damit Prinz Ulrich etwas unternehmen konnte.

Am dritten Tag nach seiner Flucht kam ihm der Zufall zu Hilfe. Er traf einen Knecht in den Farben des Grafen von Bauzenstein. Kasimir winkte ihm, der Mann hielt sein Pferd an.

„Ihr seid doch ein Kriegsknecht des Bauzensteiners?“

„Seht Ihr das nicht, Pater?“, fragte der Reiter. Kasimir knurrte unwillig.

„Solltet Ihr zufällig bei Eurem Herrn vorbeikommen, berichtet ihm, dass Wengland bis zur Grafschaft Steinburg von den Wilzaren besetzt ist!“, grunzte Kasimir.

„Erzählt keine Märchen, Pater!“, wehrte der Mann lachend ab.

„Herr, erbarme dich dieses Esels von Kriegsknecht und gib ihm das Gehirn zurück, dass du ihm in deinem unergründlichen Ratschluss genommen hast!“, entfuhr es Kasimir. „Ranador selbst hält in der Königsburg Hof, die Grafen des Grafenrates, die in Steinburg waren, sind Gefangene der Wilzaren und sollen hingerichtet werden! Beeilt Euch endlich, um Euren Herrn zu warnen!“, wetterte er. Der Kriegsknecht erschrak. Er hatte begriffen.

„Ich eile, Herr!“, rief er, wendete sein Pferd und galoppierte davon. Kasimir fühlte eine gewisse Erleichterung. Wenigstens Graf Bauzenstein war gewarnt. Und wenn Graf Bauzenstein gewarnt war, würde er bestimmt Boten zu den anderen nordwenglischen Provinzgrafen senden.

Doch er hatte sich getäuscht. Kaum war der Reiter um eine Wegbiegung verschwunden, als der Mönch von dort Kampflärm hörte. Augenblicke später preschte der alarmierte Kriegsknecht um die Biegung, verfolgt von einigen wilzarischen Reitern. Kasimir sprang mit einem Satz in die Büsche und entzog sich den Blicken der Verfolger. Vorsichtig lugte er durch die dichten Zweige eines Eibenbusches. Der Kriegsknecht wurde von den Wilzaren eingeholt, ein Langschwert zuckte durch die warme Sommerluft und der Wengländer fiel tödlich getroffen aus dem Sattel. Die Wilzaren kümmerten sich nicht weiter um den Mann, bogen in den Wald ab und waren verschwunden.

Kasimir sah sich vorsichtig um, dann wagte er, aus seinem Versteck herauszukommen. Ebenso vorsichtig schlich er zu dem Kriegsknecht hin, der neben seinem Pferd lag. Der Hieb des Wilzaren hatte den Helm aufgerissen und dem Mann den Schädel gespalten. Er war tot. Kasimir bekreuzigte sich.

„Der Herr nehme dich auf in die Ewigkeit. Er schenke dir die Ewige Ruhe und leuchte dir das Ewige Licht. Amen“, sprach er leise ein Gebet. Dann sah er zum Himmel.

„Vergib mir, Herr, aber ich brauche das Pferd!“

Der Mönch schleppte den Bauzensteiner ins Gebüsch, schichtete Steine über dem Toten auf, stieg auf dessen Pferd und ritt eilig in Richtung Wachtelberg weiter. Er wusste jetzt, dass die Wilzaren unaufhaltsam näher kamen und dass er nicht mehr viel Vorsprung hatte.

 

Am darauf folgenden Tag erreichte Kasimir endlich das Kloster, das knapp fünf wenglische Meilen von der scharfenburgischen Grenze entfernt war. Er sprang vom Pferd und hämmerte an das Klostertor.

„Gemach, Bruder, Gemach!“, rief der Bruder Torwächter auf Kasimirs trommelndes Klopfen. Schließlich öffnete der Mönch bedächtig das Tor. Kasimir drängelte hinein.

„Oh, Bruder, der Leibhaftige tobt mit seinen Scharen durch Wengland, und du lässt mich beinahe bis zur Ewigkeit warten!“, schimpfte er. „Wo ist Seine Königliche Hoheit?“

„Beim Abt“, antwortete der Torwächter gemessen.

„Und wo ist der?“, fragte Kasimir gereizt.

„Folge mir, Bruder“, erwiderte der Klosterbruder und führte Kasimir in die Klosterkirche. Dem war, als ob er auf glühenden Kohlen lief.

Als sie endlich die Kirche betraten, war der Kronprinz gerade mitten in der Beichte. Kasimir wollte gleich zum Beichtstuhl stürmen, aber der Bruder Torwächter hielt ihn zurück.

„Hast du die Heiligkeit des Ortes vergessen, Bruder?“, mahnte er. Kasimir war einen halben Kopf kleiner als der Torposten, aber er war noch einmal so breit. Er blieb vor dem Wächter stehen, stemmte die Hände in die rundlichen Hüften und ließ seinem Unmut freien Lauf:

„Bruder! Wengland brennt in hellen Flammen, der Kronprinz ist in höchster Gefahr, der Herr hat mich in seiner Güte aus den Händen der Wilzaren errettet, damit Seine Königliche Hoheit gewarnt wird – und du wenglisches Murmeltier redest von heiligen Orten!“, donnerte er. Im klösterlichen Reflex zuckte Kasimir zum Ewigen Licht herum und bekreuzigte sich.

„Vergib mir, oh Herr“, sagte er – deutlich leiser.

Am Beichtstuhl entstand Bewegung.

„Das, so scheint mir, war die Flüsterstimme von Pater Kasimir“, lächelte der Prinz, als er den Pater erkannte. Er trat aus dem Beichtstuhl. Kasimir eilte zu ihm, packte ihn an den Armen.

„Hoheit, eine Katastrophe! Die Wilzaren haben Wengland überfallen, sämtliche Grafen gefangen gesetzt und das Land bis mindestens zur Grafschaft Steinburg besetzt. Ranador hat einen hohen Preis auf Euren Kopf ausgesetzt. Mir sind Wilzaren sogar noch einen Tagesritt vor Wachtelberg über den Weg geritten. Ich bin ihnen nur knapp entkommen! Keiner der Grafen konnte rechtzeitig seine Soldaten gegen die Wilzaren senden!“, berichtete Kasimir hastig.

Was? Warum hat der Reichsvogt das Heer nicht entsandt? Oder mich nicht wenigstens zurückgeholt?“, fragte Ulrich erschrocken.

„Er hatte keine Gelegenheit und keine Zeit, Herr! Den Wilzaren ist es irgendwie gelungen, alle Grafen abzufangen, die sich in Steinburg befanden. Bevor das in Steinburg überhaupt bekannt wurde, war das halbe Land schon von den Wilzaren überrannt. Als der Reichsvogt Euch warnen wollte, war es schon zu spät. Da war Steinburg bereits belagert. Ein Bote, den der Hauptmann Daniel zu Euch schicken wollte, ist in den Belagerungsring geraten und gefangen genommen worden.“

„Weshalb waren nicht die vorgeschriebenen vier Grafen des Rates in Steinburg?“, fragte Ulrich.

„Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, Reichsvogt Siegbert sagte, sie seien zur Jagd im Siebensteinforst gewesen“, erklärte Kasimir. „Herr, es ist jetzt nicht die Zeit, nach Gründen zu suchen!“, setzte er dann drängelnd hinzu. „Es ist momentan eine Tatsache, dass die Wilzaren hinter Eurem Kopf her sind! Es ist zu spät, noch Truppen zusammenzustellen. Die Wilzaren können jede Stunde hier sein. Ihr müsst Wengland verlassen, Hoheit! Sofort!“, forderte der Mönch. Ulrich sah Kasimir betroffen an.

„Wengland verlassen? Kasimir, ich hör’ nicht recht! Das kann ich nicht tun!“, widersprach Ulrich.

„Hoheit, Ihr müsst! Vergesst nicht: Euer Kopf ist eine Menge Geld wert.“

Ulrich grinste schief.

„Wie viel bin ich Ranador denn wert?“

„Hundert Golddenati!“, schnaufte Kasimir. Der Abt und der Torwächter erbleichten. Ulrich schüttelte nur den Kopf.

„So wenig für einen Thronfolger?“, entgegnete er nicht ohne Sarkasmus.

„Nun, es gibt sicher auch in Wengland ein paar Leute, die Euch dafür an den Leibhaftigen persönlich verscherbeln würden!“, versetzte Kasimir.

Ulrich sah den Abt an.

„Pater Abt – ich will mein Volk nicht im Stich lassen. Gebt mir einen Rat“, forderte er den Abt auf. Der Mann strich sich nachdenklich durch den Bart.

„Ich fürchte, Pater Kasimir hat Recht. Ihr lasst Euer Volk nicht im Stich, Hoheit, wenn Ihr flieht. Bleibt Ihr hier und versucht, Ranador ohne Heer die Stirn zu bieten, seid Ihr Euren Kopf los. Wengland wäre ohne Euch ohne Thronfolger. Außer Euch gibt es keinen Erben des Throns aus dem Hause Wengland-Steinburg. Euer Tod würde das Ende Wenglands bedeuten!“

„Pater Abt, das ist Unsinn!“, widersprach Ulrich. „Wenn ich gehe, bleibt Wengland wilzarisch besetzt. Das ist auch Wenglands Ende!“

„Nein. Ihr habt die Chance, Euch im Ausland Hilfe zu verschaffen und Wengland zu befreien. Allein habt Ihr diese Möglichkeit nicht. Es bleibt keine Zeit mehr, die nordwenglischen Teilheere zusammenzurufen. Geht nach Scharfenburg. Eure Großmutter war Scharfenburgerin. Ich glaube nicht, dass der Herzog Euch Hilfe versagen wird“, sagte der Abt.

„Kasimir?“

„Ihr müsst hier verschwinden, Hoheit!“, mahnte Kasimir eindringlich.

Ulrich seufzte.

„Es fällt mir nicht leicht, Wengland zu verlassen“, sagte er.

„Eurem Großvater ist es auch nie leicht gefallen!“, erwiderte Kasimir. „Er tat es für Wengland, für seine Ausbildung und als Diplomat, wie Ihr vielleicht wisst. Tut Ihr es auch!“, beschwor er den Prinzen.

„Na gut, wenn es nicht zu vermeiden ist …“, seufzte der Thronfolger. „Dann lass uns reiten, Kasimir. Je schneller wir in Stolzenfels sind, desto schneller ist Wengland frei“, sagte er dann.

Noch in derselben Stunde brachen Pater Kasimir und Prinz Ulrich nach Scharfenburg auf. Die beiden Reiter mochten gerade die Grenzfurt über den Alvedra nach Scharfenburg überquert haben, als die Wilzaren über das Kloster Wachtelberg hereinbrachen und jeden umbrachten, der sich ihnen in den Weg stellte.

 

Fünf Stunden später hatten Ulrich und Kasimir Stolzenfels erreicht. Herzog Gunther empfing den Prinzen im Thronsaal.

„Seine Königliche Hoheit, Prinz Ulrich von Wengland!“, verkündete der Ausrufer.

„Prinz Ulrich, was treibt Ihr in Scharfenburg?“, fragte Gunther mit düsterer Miene.

„Ich grüße Euch, Herzog Gunther. Fragt lieber nicht, was ich in Scharfenburg treibe, sondern, was mich nach Scharfenburg getrieben hat“, antwortete Ulrich. „Ihr habt vielleicht gehört, welches Unglück über Wengland hereingebrochen ist. Ich bin gekommen, weil Wengland von den Wilzaren hinterrücks überfallen und erobert wurde. Ich bitte Euch um Hilfe.“

Gunther schmunzelte amüsiert.

„Euer Heer hat wohl das Hasenpanier ergriffen!“, lachte er auf.

„Durch unglückliche Umstände konnte das Heer nicht mehr zusammengestellt werden“, erwiderte Ulrich mit erzwungener Ruhe.

„Eure Alarmwege scheinen sehr gut zu funktionieren!“, spottete ein scharfenburgischer Graf. Ulrich rang um Beherrschung.

„Es mag sein, Graf Bernward, dass unsere wenglische Art einen großen Fehler hat und dass Ranador diesen Fehler eiskalt ausgenutzt hat. Das ist eine Sache. Eine andere ist es, die Besetzung Wenglands zu beenden. Und deshalb bin ich hier. Ich erinnere mich, dass mein Großvater mir erzählt hat, Wengland habe Scharfenburg gegen die Wilzaren geholfen. Jetzt bitte ich um die Hilfe Scharfenburgs für Wengland“, erwiderte er.

„Wenn Euer Großvater Euch das erzählt hat, muss es eine halbe Ewigkeit her sein, verehrter Prinz Ulrich“, grinste der Herzog.

„Es mag Euch entgangen sein, dass mein Großvater erst vor kurzem verstorben ist und dass er bis zu seinem Tod der König Wenglands war“, versetzte Ulrich bissig. „Es ist keinesfalls so lange her, dass es nicht mehr wahr ist!“, setzte er gereizt hinzu.

„Hilfe? Von Scharfenburg? Wie komme ich denn dazu?“, fragte Gunther süffisant. „Schlagt Euch das aus dem Kopf!“, entgegnete er.

„Herzog Gunther: Meine Großmutter – Gott sei ihrer guten Seele gnädig – war eine Scharfenburgerin. Wenglands Volk hat Königin Regina sehr geliebt. Scharfenburgs Volk war ihr genauso gewogen. Ich bitte Euch im Andenken Reginas von Scharfenburg um Eure Hilfe“, probierte Ulrich eine andere Ebene zwischenstaatlicher Beziehung aus.

„Ihr verschwendet Eure Zeit“, gab Gunther zurück. „Eure Großmutter stammte aus dem Stolzenfelser Grafenhaus. Stolzenfels ist zwar immer noch die Hauptstadt Scharfenburgs, aber ich bin mit dem alten Grafenhaus nicht verwandt und nicht verschwägert. Vielleicht hat es sich bis nach Wengland noch nicht herum geschwiegen, aber seit fast dreißig Jahren regieren die Markgrafen der Rebmark das Herzogtum Scharfenburg. Die Markgrafen von Rebmark haben keine Verpflichtungen gegenüber Wengland.“

„Abgesehen davon, dass mein Großvater Euch vor zehn Jahren bei dem großen Erdrutsch in der Rebmark Hilfe geschickt hat; abgesehen davon, dass wenglische Soldaten Euch geholfen haben, Eure Grenze in Dunkelfels gegen die Wilzaren zu sichern“, versetzte Ulrich. „Herzog Gunther – ich flehe Euch an: Helft mir, Wengland zurückzuerobern.“

„Nein!“, sagte Gunther hart. „Ich bin kein Freund Wenglands. Ich werde Euretwegen nicht das Leben meiner Ritter aufs Spiel setzen! Verlasst augenblicklich Scharfenburg!“

„Ihr verweigert mir also nicht nur die Hilfe, um die ich Euch bitte; Ihr verweist mich auch des Landes?“, fragte Ulrich verbittert nach.

„So ist es. Verschwindet! Lasst Euch in Stolzenfels nicht wieder blicken!“

Auf einen Wink des Herzogs beförderten die Thronwachen den Prinzen und seinen Begleiter hinaus und gaben Acht, dass sie auch davon ritten.

 

Geht nach Scharfenburg!“, schimpfte Ulrich vor sich hin, als er und Kasimir die Provinz Stolzenfels in westlicher Richtung verließen. „Da hilft man Euch weiter! Ja, von wegen!“, wetterte er.

„Hoheit …“, wandte Kasimir vorsichtig ein, „lasst den Kopf nicht hängen. Vielleicht ist Fürst Dominik bereit, Euch zu helfen“, schlug er vor.

„Dominik? Welche Veranlassung sollte der wohl haben, einem Wengländer zu helfen?“, schnappte der Prinz. „Eher fließt der Alvedra in die Quelle zurück!“

„Zugegeben: Nicht mehr und nicht weniger als der Herzog von Scharfenburg. Aber wenn Ihr Euch nicht gleich freiwillig den Wilzaren ausliefern wollt – was ich nicht annehme – sollten wir es wenigstens versuchen, Hoheit“, empfahl der Mönch unnachgiebig.

„Na gut“, seufzte Ulrich. „Schlimmer als Gunther kann Dominik mich kaum hinauswerfen.“

Der Blick des Prinzen ging gen Himmel. Er sah weniger die im leichten Sommerwind segelnden Schönwetterwolken vor dem blauen Himmel, als dass er danach Ausschau hielt, ob sein Großvater nicht dort oben erschien.

Großvater – was hättest du an meiner Stelle getan?‘, fragte er sich in Gedanken.

 

Nach einer Reise von fast eineinhalb Wochen erreichten er und Kasimir das Fürstentum Breitenstein. Ulrich bat um eine Audienz Fürst Dominik, die er zu seiner Verblüffung sofort gewährt erhielt. Der Fürst empfing den Prinzregenten mit kleinem Zeremoniell. Ulrich trug seine Bitte um Hilfe vor.

„Ich weiß, Fürst Dominik, Ihr schuldet Wengland nichts. Dennoch bitte ich Euch um Eure Hilfe“, schloss der Prinz.

„Hilfe wollt Ihr?“, fragte der Fürst nach.

„Fürst Dominik, mein Reich – vielmehr noch das meines Großvaters, schließlich bin ich noch nicht zum König gekrönt – wurde hinterrücks überfallen und von den Wilzaren erobert. König Ranador hat die Schwäche in unseren Alarmwegen gefunden und genutzt. Nichtsdestoweniger möchte ich das Erbe antreten, das mein Großvater Martin mir hinterlassen hat“, erklärte Ulrich. Fürst Dominik strich sich bedächtig durch den langen Vollbart.

„Ich kann Euch gut verstehen, nehmt das bitte zur Kenntnis, Prinz Ulrich. Vergesst aber nicht, dass Breitenstein ein kleines Fürstentum ist, das sich militärisch mit Wengland oder Wilzarien nicht messen kann. Ich unterhalte kein stehendes Heer wie Ihr. Meine Alarmwege haben noch größere Lücken als die Euren. Zudem betrachtet sich Breitenstein traditionell als neutral. Bei der Rückeroberung Wenglands kann ich Euch nicht helfen, weil mein Heer sich mit Wilzarien nur um den Preis des eigenen Untergangs schlagen könnte. Ihr erwartet das sicher nicht. Aber ich biete Euch an, als mein Gast hier zu bleiben, bis Ihr eine Lösungsmöglichkeit gefunden habt. Euer Großvater war Breiten-stein sehr gewogen, und wir unterhielten freundschaftliche Beziehungen miteinander. Ihr wisst wohl, dass König Martin oft mit meinem Vater im Gebiet von Palparuva gejagt hat. Ich wünsche Euch von Herzen, dass Ihr das große Erbe Eures Großvaters antreten könnt. Er war ein großer König.“

„Ja, sein Tod ist ein schwerer Verlust für Wengland. Für mich selbst ist es ein großes Unglück, denn ich hätte gern noch viel von ihm gelernt. Wie einen Vater habe ich ihn geliebt und er mich wie einen Sohn“, erwiderte der Prinz.

„Ihr seid Eurem Großvater sehr ähnlich, Prinz Ulrich. In der Galerie dieser Burg hängt ein Bild von Martin II., das kurz nach seiner Krönung gemalt wurde. Ihr seid ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Wenn Ihr auch nur einen Funken seines Charakters geerbt habt, werdet Ihr Wengland einmal ein guter König sein.“

„So es je wieder frei ist“, seufzte Ulrich.

„Ihr solltet die Hoffnung nicht aufgeben. Wenn Ranador nicht gerade auf die Idee verfällt, Breitenstein anzugreifen, seid Ihr hier sicher und habt genug Zeit, Euer weiteres Vorgehen zu planen“, beruhigte Dominik den jungen Prinzen.

„Ich danke Euch, Fürst Dominik“, erwiderte der Thronfolger in echter Dankbarkeit.

„Mein Haushofmeister wird Euch Eure Gemächer zeigen“, bot Dominik an. Ulrich und Kasimir verneigten sich und folgten dem Haushofmeister, der sie zu wahrhaft fürstlichen Räumen brachte. Ulrich gestand sich ein, daheim in Steinburg auch nicht komfortabler gelebt zu haben.

 

 

 

Kapitel 5

Unverschämte Forderung

 

Ulrich lebte gut am Breitensteiner Hof. Er war angesehen, und es gab keinen Breitensteiner Ritter, der es abgelehnt hätte, sich mit Ulrich im Turnier zu messen. Dennoch blieb er unruhig, solange er keine Möglichkeit fand, Wengland von den Wilzaren zu befreien. Die wenigen Nachrichten, die nach Breitenstein drangen, machten deutlich, wie grausam die Wilzaren Wengland unterdrückten. Kreuzigung und Rädern schienen an der Tagesordnung zu sein. Ulrich schämte sich in Grund und Boden, weil er allein geflohen war, ohne dafür zu sorgen, dass sich auch sein Volk in Sicherheit hatte bringen können. Und er fühlte einen ungeheuren Druck auf sich lasten, weil er auch drei Monate nach der Eroberung Wenglands noch nicht einmal den Versuch gemacht hatte, seinem Volk zu helfen – jedenfalls warf er sich das vor.

„Das stimmt doch überhaupt nicht!“, widersprach Pater Kasimir dann regelmäßig. „Seit Monaten seid Ihr auf der Suche nach Verbündeten gegen die Wilzaren. Dass mit denen keiner Streit will, ist doch nicht Eure Schuld, Hoheit.“

Ulrich mochte das nicht gelten lassen und war sicher, dass man eines Tages nicht danach fragen würde, wie lange er vergeblich nach Hilfe gesucht hatte, sondern nur danach, wie lange sein Volk unter der Besatzung zu leiden hatte.

 

Zwei weitere Monate waren vergangen, seit der Prinz in Breitenstein Asyl gefunden hatte. Wieder einmal durchmaß er mit unruhigen Schritten sein Gemach. Er hatte jetzt nahezu sämtliche in der Nähe befindlichen bedeutenden Fürsten um Hilfe angefleht, keiner hatte ihm helfen wollen. Es waren nur ein paar wenglische Soldaten nach Breitenstein entkommen, die zwar bereit waren, mit dem Kronprinzen sofort gegen die Wilzaren zu kämpfen. Aber es waren viel zu wenige, um auch nur einen Gedanken an einen Angriff gegen ein fast dreißigtausend Mann starkes Heer zu verschwenden. Die Wilzaren hatten sämtliche Burgen und Befestigungen besetzt. Eine Burg wie die Steinburg mit nicht einmal fünfzig Männern belagern oder gar erobern zu wollen – das war nicht möglich.

 

Kasimir saß an einem Schreibpult und setzte die Chronik der wenglischen Könige fort.

„Hoheit, Ihr seid so unruhig, dass ich mit der Regierungszeit Martins II. nicht weiterkomme“, sagte der Mönch schließlich und legte den Gänsekiel weg. „Was Ihr allein in Breitenstein schon an Schuhsohlen durchgelaufen habt, hat Euer Großvater in seinem ganzen Leben nicht verbraucht …“

„Ich kann nur im Laufen denken, Kasimir. Das solltest du langsam wissen“, gab Ulrich zurück. „Seit Monaten zerbreche ich mir den Kopf, wie ich Wengland befreien kann, aber die Nachbarn, deren Hilfe ich dafür brauche, können oder wollen mir nicht helfen. Ich sehe nur noch eine Möglichkeit: den Kaiser.“

„Mit Verlaub, Hoheit, ich glaube nicht, dass Euch der Kaiser Hilfe senden würde. Zum einen gibt es derzeit keinen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, wohl aber zwei Könige, da sich die Kurfürsten derzeit nicht einig sind, wer das Heilige Römische Reich regieren soll. Sowohl Richard von Cornwall als auch Alfons von Kastilien beanspruchen den Kaiserthron, sind jeweils von einem Teil der Kurfürsten gewählt. Zum Kaiser wurde aber noch keiner gekrönt. Wollt Ihr denn an beide eine Botschaft schicken? Alfons ist in Kastilien, hat sicher seine Schwierigkeiten mit den Mauren, Richard ist in England, nachdem er sich als Graf von Poitou im Kampf um seine dortigen Besitzungen aus Frankreich zurückziehen musste. Er ist Euch verwandtschaftlich am nächsten, aber ich weiß, dass er es Eurem Großvater immer verübelt hat, dass er den Kreuzzug von 1204 abgebrochen hat und sich geweigert hat, den Kreuzzug von 1240 mitzumachen oder auch nur zu unterstützen. Außerdem gehört Wengland nicht zum Reich, weil es unabhängig ist. Welche Veranlassung sollte einer der deutschen Könige haben, Euch Hilfe zu geben?“, gab Kasimir zu bedenken.

„Der Kaiser hat Wenglands Unabhängigkeit vor Jahrhunderten anerkannt“, bemerkte Ulrich.

„Eben!“, versetzte der Mönch. „Genau deshalb glaube ich nicht, dass er Euch helfen wird.“

Ulrich blieb stehen.

„Wir sollten es versuchen, Kasimir. Wenn der deutsche König sich weigert, dann war es die letzte Chance. Wer hat mehr Kurfürsten hinter sich? Richard oder Alfons?“

„Keiner. Alfons wurde von den Kurfürsten von Trier, Sachsen und Brandenburg gewählt, Richard von denen von Mainz, Köln und der Pfalz. Der siebente, der König von Böhmen, mochte sich wohl nicht entscheiden und hat sich mit beiden Wahlen einverstanden erklärt“, antwortete Kasimir.

„Schreib’ an Alfons. Nichts gegen die Geistlichkeit, aber die Weltlichkeit liegt mir mehr“, lächelte Ulrich in Anspielung darauf, dass Richard mehrheitlich von geistlichen Kurfürsten, nämlich von Mainz und Köln, gewählt worden war.

„Ja, Hoheit“, bestätigte der Pater. „Was soll ich schreiben?“, fragte er mit einem Seufzer.

„Schreib’, dass Wengland im August 1260 von den ungläubigen Wilzaren unter ihrem König Ranador überfallen und erobert wurde, und dass ich – Ulrich, Kronprinz von Wengland – den König von Kastilien als den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches betrachte und ihn gegen Erstattung der Kosten bitte, mir bei der Rückeroberung Wenglands behilflich zu sein. Schreib’, dass ich ihm außer den Kriegskosten ein Bündnis anbiete“, gab Ulrich den Rahmen des Briefes vor.

„Soll ich noch etwas zu Eurer Krone schreiben?“, fragte Kasimir.

„Nein, es ist nicht nötig, schlafende Hunde zu wecken.“

Kasimir nickte, tauchte den Gänsekiel in die Tinte und schrieb den verlangten Brief. Nach geraumer Zeit hatte er ein kunstvoll verziertes Schriftstück fertig.

„Ich bin fertig, Hoheit. Wollt Ihr es noch einmal lesen, ob es so recht ist?“

„Ja, gib her.“

Es war in dieser Zeit durchaus nicht üblich, dass ein Mann, der nicht Geistlicher war, lesen und schreiben konnte. In der Regel war diese Kunst den Mönchen, eben den Klerikern, vorbehalten. Wenglands Grafen und Könige bildeten eine Ausnahme, da sich schon König Philipp daran erinnert hatte, dass der Titel Graf ursprünglich den bezeichnete, der schreiben konnte. So hatte er an den Grafentitel die Bedingung geknüpft, dass der Träger lesen und schreiben können musste. Sämtliche bisherigen Könige Wenglands hatten auch dafür gesorgt, dass ihre Kinder schon frühzeitig in dieser Kunst unterrichtet wurden. Ulrich las den Brief durch.

„Sehr gut“, sagte er, nahm die Feder und unterschrieb. Kasimir goss flüssigen Siegellack neben die Unterschrift und Ulrich drückte sein Siegel hinein. Der Brief wurde zusammengerollt und außen gleichfalls versiegelt.

„Kasimir, bitte Fürst Dominik, den Brief so schnell wie möglich expedieren zu lassen.“

„Sehr wohl, Königliche Hoheit.“

 

Kasimir richtete dem Fürsten die Bitte des Prinzen aus. Dominik war auch gleich bereit, einen Kurier zu schicken. Regelmäßige Postdienste gab es nicht, so dass jeder Brief individuell per Boten transportiert werden musste. Dabei war schwer abzuschätzen, wann und vor allem ob ein Brief den Empfänger erreichte. Die Kuriere waren vielerlei Gefahren ausgesetzt und oft sehr lange unterwegs. Obendrein war es Winter. Ulrich war sich deshalb darüber im Klaren, dass er nicht innerhalb weniger Tage Antwort erwarten konnte. Aber nachdem der Brief an den Kastilier abgegangen war, wurde der Prinz zusehends ruhiger.

 

Vier Monate vergingen. Ulrich, nun einigermaßen ruhig, arbeitete an seiner Gesetzessammlung weiter. Der Codex Rex Wenglandia, wie er die Sammlung nannte, nahm konkrete Formen an. Ein Kapitel hatte Ulrich für Gesetzesänderungen reserviert, die er nach seiner Krönung mit Zustimmung des Grafenrates vornehmen wollte. Eine davon war, die traditionellen Exerzitien für den Thronfolger ganz abzuschaffen, eine andere, einem Reichsvogt mehr Kompetenzen einzuräumen. Die Lähmung, die Wengland wegen der drei Monate Interregnum ereilt hatte, sollte sich nicht wiederholen können. Nie wieder sollte das Land wegen einer unsinnigen Regelung in eine solche Katastrophe gestürzt werden. Nun schrieb man den 25. Mai 1261. Ulrich hatte sich gerade eine Gesetzesnovelle notiert, als es klopfte.

„Ja?“, rief er. Die Tür wurde geöffnet und ein Diener des Fürsten kam herein.

„Prinz Ulrich, ein Bote des Königs von Kastilien ist für Euch eingetroffen.“

„Schon? Ich komme sofort.“

Der Diener brachte Ulrich zu Fürst Dominik.

„Ihr scheint ein Glückskind zu sein, Prinz Ulrich“, eröffnete der Fürst. „Nicht nur, dass Euer Brief den Kastilier erreicht hat, auch der Antwortbrief ist angekommen. Diese Botschaft ist für Euch bestimmt“, sagte er und überreichte Ulrich eine gesiegelte Rolle.

„Danke, Fürst Dominik. Ist der Bote noch da?“

„Ja. Moment, ich lasse ihn holen.“

Dominik winkte dem Diener, der davoneilte und wenig später mit dem Herold zurückkehrte.

„Habt Ihr den Brief überbracht?“, fragte Ulrich den Mann mit dem kastilischen Tappert, dem gürtellosen Wappenrock der Herolde.

„Ja.“

„Dann bitte ich Euch, die Antwort an den König mitzunehmen. Es wird gewiss nur bis morgen dauern.“

„Eilt Euch nicht, Königliche Hoheit. Ich werde noch eine Woche bleiben, um mich für die weite Reise etwas auszuruhen“, gab der Bote zurück.

„Seid bedankt für Eure Eile, in der Ihr das Schreiben herge­bracht habt. Ihr könnt ja kaum zwei Monate unterwegs gewesen sein“, erwiderte Ulrich. „Ich werde Euch die Antwort mitgeben, wenn Ihr abreist.“

Ulrich zog sich in seine Gemächer zurück, wo er das Siegel aufbrach.

 

Wir, Alfons X., von Gottes Gnaden König von Kastilien, durch Wahl deutscher König, Regent des Heiligen Römischen Reiches, grüßen Euch, Ulrich, Kronprinz von Wengland. Wir haben Euer Hilfsersuchen vernommen und geprüft. Wir werden Euch mit Freuden helfen, Euer Reich von den ungläubigen Wilzaren zu befreien. Gern haben Wir vernommen, dass Ihr Uns die Kriegskosten erstatten wollt und Uns darüber hinaus ein Bündnis anbietet. Die Güte Eures Heeres ist Uns wohlbekannt. Wir sähen es allerdings lieber, wenn Uns Euer Heer nicht nur im Bündnisfall, sondern stets zur Verfügung stünde.

 

Wir bedingen daher, dass Wengland nach der Befreiung von den Wilzaren ein Teil Unseres Reiches wird. Euch, Prinz Ulrich, bieten Wir für Euer Einverständnis den Titel des Herzogs von Wengland, der Euch Wengland als erbliches, kaiserliches Lehen garantiert.

 

Selbstverständlich habt Ihr Uns die Treue zu schwören. Wir erwarten Eure Antwort.

 

Ulrich war entsetzt. Er gab Kasimir den Brief des kastilischen Königs.

„Ich fasse es nicht: Der Preis für die Hilfe wäre die Königskrone!“, stieß er hervor.

„Ich habe Euch gewarnt, Königliche Hoheit“, erwiderte Kasimir. „Was gedenkt Ihr zu tun?“, fragte er dann, als er den Brief gelesen hatte.

„Die Königskrone zu verspielen, nein, das würden mir meine Ahnen nie verzeihen; vor allem König Philipp nicht. Wenn der Kastilier mir nur um diesen Preis helfen will, verzichte ich dankend. Gott allein weiß, wie Wengland von den Wilzaren zu befreien ist – aber nicht um diesen Preis! Kasimir, schreib’ folgendes an den Kastilier:

 

Ich, Ulrich von Wengland, Graf von Steinburg, durch königliches Siegel Prinzregent des Königreiches Wengland, grüße Eure Majestät Alfons X. König von Kastilien und deutscher König, Regent des Heiligen Römischen Reiches.

 

Wohl habe ich Euer Hilfsangebot geprüft, aber es will mir nicht annehmbar erscheinen. Kaiser Arnulf erkannte Wengland einst als unabhängiges Königreich an. Diese Krone gebe ich nicht leichtfertig her. Wenn Ihr mir Hilfe nur um den Preis der Krone gewähren wollt, ziehe ich mein Hilfsersuchen an Eure Majestät hiermit zurück. Seid meiner Verbundenheit gewiss, aber verlangt nicht, dass ich Wengland nicht nur unter Euren Schutz, sondern unter Eure Souveränität stelle.

 

„Ist das nicht ‘n bisschen grob?“, fragte Kasimir zweifelnd.

„Schreib’ es!“, befahl Ulrich. Achselzuckend schrieb Kasimir den Brief, Ulrich unterschrieb und siegelte das Schreiben. Der Bote bekam das gesiegelte Schreiben ausgehändigt, womit er am Ende der Woche in Richtung Spanien davon ritt.

 

Fürst Dominik war nicht entgangen, dass sein Gast über den Inhalt des Briefes, den er aus Kastilien erhalten hatte, sehr aufgebracht war. Er bat Ulrich zu sich.

„Ihr habt den Kastilier um Hilfe gebeten, nicht wahr?“, mutmaßte der Fürst. Ulrich bestätigte es.

„Wärt Ihr bereit, mit mir darüber zu reden?“

„Ja. Ich habe den König von Kastilien, der auch König des Reiches ist, um Hilfe gebeten. Er will sie mir auch geben, aber er bedingt, dass ich die Königswürde aufgebe und Herzog unter kaiserlicher Oberhoheit werde. Dieses Angebot scheint mir völlig inakzeptabel. Ich habe dem Kastilier geantwortet, dass ich unter diesen Umständen seine Hilfe nicht in Anspruch nehme.“

„Oha, da begebt Ihr Euch auf gefährliches Glatteis, Prinz Ulrich!“, entfuhr es dem Fürsten. „Den deutschen König zu rufen ist riskant. Ich fürchte, er wird über Eure Ablehnung nicht einfach hinweggehen“, warnte Dominik.

„Schon möglich. Ich hätte allerdings größere Sorgen, wenn ein Staufer oder ein Welfe Kaiser wäre. Im Moment sind sich die Kurfürsten des Reiches nicht einig, wer eigentlich König sein soll. Die eine Hälfte möchte Alfons, die andere Richard von Cornwall zum deutschen König haben. Beide haben keine große Hausmacht. Alfons ist in Spanien gut mit den Mauren beschäftigt, und Richard weiß von nichts. Es war mir jedenfalls eine Lehre, den Kaiser zu rufen. Das probiere ich sicher kein zweites Mal. Ich hoffe auf die Uneinigkeit im Reich“, erklärte Ulrich.

„Was wollt Ihr dann zu Wenglands Rettung unternehmen?“

„Ich weiß es noch nicht. Der Kaiser, besser: Einer von denen, die Anspruch erheben, es zu sein, schien mir die letzte Möglichkeit zu sein, die sich nun zerschlagen hat.“

Fürst Dominik überlegte eine Weile.

„Ulrich, ich nehme nicht an, dass Ihr damit schon auf Wengland verzichtet“, sagte er dann. Ulrich schüttelte den Kopf.

„Nein, durchaus nicht.“

„Ihr werdet ein großes Heer brauchen – und sehr viel Geld.“

„Ist mir klar.“

„Wisst Ihr schon, woher Ihr das nehmen wollt, wenn Ihr nicht gerade zum Raubritter werden wollt?“

„Nein, bisher noch nicht“, gestand Ulrich.

„Ihr seid ein guter Kämpfer, wie ich in vielen Turnieren gesehen habe. Wenn es nicht unter Eurer Würde wäre, in die Dienste eines kleinen Fürsten zu treten, wüsste ich vielleicht etwas, was Euch zu Geld kommen lassen würde.“

„Sprecht, Fürst Dominik. Mein Großvater war sich nicht zu schade, einem benachbarten Fürsten zu dienen, um Wengland zu helfen – und ich bin auch nicht zu stolz dazu.“

„Ich habe gehört, dass mein Nachbar, der Graf von Falkenstein, einen Junker sucht.“

„Was bezeichnet er als Junker? Ich kenne darunter nur den niedersten Ritterrang.“

„In Falkenstein ist das eine Bezeichnung für den Befehlshaber der Kriegsknechte, die dort Schutztruppe genannt werden. Soviel ich weiß, war Euer Großvater der erste Junker von Falkenstein.“

„Ich danke Euch, dass Ihr mir von dieser Möglichkeit berichtet habt. Ich lasse Euch innerhalb eines Tages wissen, ob ich Euren gastlichen Hof verlasse, Fürst Dominik“, verbeugte Ulrich sich.

„Prinz Ulrich – missversteht mich nicht. Ihr seid mir ein willkommener Gast, der mir ein Freund geworden ist. Ich weiß sehr zu schätzen, dass Ihr Euch meiner Söhne angenommen und sie in den ritterlichen Tugenden unterwiesen habt. Wenn ich ehrlich bin, lasse ich Euch nur ungern ziehen. Versteht meinen Hinweis auf Falkenstein bitte nicht als Hinauskomplimentieren.“

Ulrich lächelte.

„Nein, Fürst Dominik, so habe ich Euch auch nicht verstanden. Es ist sehr freundlich, wenn Ihr mich auf Falkenstein hinweist. Ich in Euch sehr dankbar dafür. Seid versichert, dass ich die Zeit, die ich an Eurem Hof verbringen durfte, nicht bereue. Ihr habt mir sehr geholfen, und ich habe versucht, mich irgendwie erkenntlich zu zeigen. Ich hoffe sehr, dass ich Euch diesen unschätzbaren Freundschaftsdienst eines Tages wirklich vergelten kann“, erwiderte er.

„Ulrich, solltet Ihr den Posten in Falkenstein nicht annehmen können und sollte es Euch nicht gelingen, Wengland zurückzu­erobern – in Breitenstein seid Ihr jederzeit willkommen. Wenn Euch Euer Status als Kronprinz nicht die Annahme eines ausländischen Lehens verbieten würde, hätte ich Euch mit der Herrschaft Palparuva belehnt.“

„Es wäre mir eine Ehre gewesen, Fürst Dominik. Sollte Wengland für mich unmöglich werden, komme ich gern auf Euer Angebot zurück.“

Fürst Dominik stand von seinem Thron auf und ging die zwei Stufen zu Ulrich hinunter.

„Geht mit Gott, Prinz Ulrich“, sagte er und umarmte den Prinzen.

„Ich danke Euch, aber ich gebe Euch morgen definitiven Bescheid“, sagte Ulrich und erwiderte die brüderliche Geste des Fürsten.

Später berichtete Ulrich Pater Kasimir von den Aussichten in Falkenstein.

„Das Problem ist nur: Herzog Gunther hat mich des Landes verwiesen. Ich darf nicht nach Scharfenburg – und Falkenstein ist nun einmal ein Teil Scharfenburgs!“, seufzte er.

„Oh, Hoheit – so würde ich das nicht sehen. Herzog Gunther hat uns hinausgeworfen, ja, das stimmt. Aber er hat nur gesagt, dass wir uns in Stolzenfels nicht mehr sehen lassen dürfen. Von ganz Scharfenburg war nicht die Rede“, erwiderte Kasimir grinsend. „Und außerdem – o Schande, dass mir das nicht früher eingefallen ist – müsste Graf Dietrich von Falkenstein eigentlich ein Verwandter von Euch sein.“

„Bitte?“

„Ja! Wenn ich mich recht erinnere, hat Graf Alwin von Falkenstein Simon von Scharfenburg zum Erben eingesetzt, den zweitälteren Bruder Eurer Großmutter. Dietrich ist sein Enkel. Er müsste ungefähr in Eurem Alter sein. Wenn Dietrich Euer Großvetter ist, darf er Euch als einem Verwandten nach scharfenburgischem Recht Hilfe nicht versagen“, erklärte der Mönch.

„Kasimir – du klerikaler Hornochse! Warum fällt dir das jetzt schon ein, nachdem ich acht Monate vor mich hin grüble und keinen Ausweg finde?“, fauchte Ulrich. Dietrich war beinahe der einzige Fürst in der Gegend, den er nicht angeschrieben hatte, weil er von einem so kleinen Fürsten ohnehin keine Hilfe erwartet hatte.

„Verzeiht. Wenn ich auch ein Mönch bin, so bin ich doch nur ein fehlbarer Mensch, Hoheit. Ich hab’s einfach vergessen“, erwiderte Kasimir kleinlaut. Ulrich umarmte den Pater.

„Ist gut. Entschuldige meine Heftigkeit. Du würdest mir raten, nach Falkenstein zu gehen?“

„Unbedingt, Königliche Hoheit! Zumal, wenn der Posten des Junkers frei ist.“

„Also, Pater Kasimir: Wir reisen nach Falkenstein! Es hat schon meinem Großvater Glück gebracht – warum nicht auch mir?“

 

Wie versprochen, teilte Ulrich Fürst Dominik am folgenden Tag seine Absicht mit.

„Ich wiederhole es: Geht mit Gott, Prinz Ulrich. Wenn Ihr je wieder Asyl braucht, steht Breitenstein Euch offen.“

„Danke für Eure Gastfreundschaft, Fürst Dominik. Lebt wohl“, verabschiedete sich Ulrich. Wenig später ritten er und Kasimir durch das Tor der Burg in Richtung Falkenstein davon.

 

Hier endet die Leseprobe. Wenn dir diese Probe gefallen hat, findest du das ganze Buch mit 340 Seiten hier:

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Taschenbuchausgabe 16,00 €

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